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Benutzername: 
dj79
Wohnort: 
Ilsenburg

Bewertungen

Insgesamt 200 Bewertungen
Bewertung vom 15.05.2019
Das wilde Leben der Cheri Matzner
Barone, Tracy

Das wilde Leben der Cheri Matzner


sehr gut

Vom Schicksal vorbestimmtes Leben?
Hundert Prozent „Happy Family“, so der Titel der englischen Originalausgabe, ist vermutlich nicht zu erreichen. Manchmal spielt einem das Schicksal übel mit, dann wieder bekommt man ein besseres Lebenslos zugeteilt. Das turbulente, aber nicht unbedingt wilde Leben der Cheri Matzner spiegelt genau diese Grundthematik wider.

Der vierteilige Roman beginnt mit den Umständen, wie Cheri auf ihre Adoptiveltern Cici und Solomon Matzner trifft, wie die beiden sich kennengelernt hatten. Wir lesen über die ablehnende Haltung ihrer Familien bezüglich ihrer Beziehung und begleiten Cici im Krankenhaus bei der Fehlgeburt ihres Kindes. Als sie danach in ein emotionales Loch fällt, weiß sich Solomon nicht anders zu helfen, als schnellstmöglich ein „neues“ Kind - Cheri - zu adoptieren.

Während der Roman im ersten Teil recht chronologisch erzählt wird, sind die Teile zwei und drei eher von spontanen Sprüngen an verschiedene Punkte in Cheris Leben gekennzeichnet. In meiner Wahrnehmung steht dabei weniger eine vollständige Geschichte im Vordergrund, sondern vielmehr eine Begründung oder Herleitung von Cheris Gefühlsleben, ihrer Zweifel und Gedanken nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip. Die Ereignisse untereinander stehen kaum im Zusammenhang, hatten jedoch starken Einfluss auf ihre Entwicklung. Meine liebste Szenerie im Roman erlebt Cheri gemeinsam mit ihrem grummeligen „Großvater“, weil bei mir diese Stelle tatsächlich einen wilden Eindruck hinterlassen hat. Ansonsten war Cheris Leben turbulent, manchmal gefährlich, zeitweise frustrierend und nervig, Leben halt. Der vierte Teil lässt schließlich dieses Tohuwabohu im Roman rund erscheinen, bildet gemeinsam mit Teil eins einen gelungenen Rahmen.

Auch wenn der Roman insgesamt gut erzählt ist, war es mir teilweise zu viel, zu viele Ereignisse und zu viele Personen. Bis auf Cici und Cheri, die wir näher kennenlernen durften, blieben die Personen blass, nur angerissen, charakterisiert oft nur durch eine einzige Handlung. Die meisten tauchen kurz in der Geschichte auf und verschwinden wieder. Das fand ich schade. Ich hätte lieber weniger Charaktere kennengelernt, dafür aber intensiver.

Fazit: Wer für ein Lesevergnügen Chronologie benötigt, sollte hier lieber verzichten. Allen, die beim Lesen gern Puzzleteile sammeln, diese zum Ende hin zusammensetzen und fehlende Teile mit eigenen Gedanken füllen, kann ich die vielseitige Cheri Matzner nur empfehlen.

Bewertung vom 02.05.2019
Der Zopf meiner Großmutter
Bronsky, Alina

Der Zopf meiner Großmutter


ausgezeichnet

Bissige Zuneigung
Max und seine Großeltern fliehen aus der dahinscheidenden Sowjetunion und kommen als Achteljuden bzw. mit kaum noch ermittelbaren, jüdischen Wurzeln nach Deutschland. Dort wohnen sie in einem, zum Flüchtlingswohnheim umfunktionierten, ehemaligen Hotel einer Kleinstadt. Max‘ Großmutter, Margarita Iwanowna, wettert mit einem Mundwerk, das mit Seife ausgewaschen gehört, gegen die Unterbringung, gegen die deutschen Ärzte und das deutsche Schulsystem, gegen Juden und andere Religionen, eigentlich gegen die ganze Welt. Sie beleidigt ihren Enkel und ihren Ehemann, Tschingis Tschingisowitsch, der stoisch sein Schicksal erträgt.

Wegen unzähliger, von der Großmutter angedichteter Krankheiten muss Max sehr auf seine Gesundheit achten. Süßigkeiten und Kuchen wurden von seinem Speiseplan verbannt, dafür gibt es leicht verdauliche, wenig schmackhafte Breie aus Gemüse oder Getreide. Wir lernen Mäxchen kurz vor seiner Einschulung kennen und begleiten ihn bis ins Teenageralter. Obwohl seine Großmutter ihn stets klein redet, ihm quasi überhaupt nichts zutraut, meistert Max kleine und große Herausforderungen am Band. Eigentlich möchte Margarita nur jegliche Gefahr von ihm fern halten. Das einfach mal zuzugeben, scheint ihr unmöglich. Alles, was sie Max zur Liebe tut, macht sie ihm zum Vorwurf. Max navigiert von klein an klug durch das Minenfeld der Erziehung und hält sämtlichen Demütigungen stand. Dafür mag ich ihn unheimlich gern.

Als sich der gepeinigte Großvater Tschingis neu verliebt, lässt er seine „alte“ Familie nicht einfach im Stich, sondern kümmert sich verantwortungsvoll um alle Familienmitglieder. Wie er in seiner ruhigen Art die Patchworkfamilie managet , verdient meinen vollen Respekt. Irrwitziger Weise mag ich trotz ihrer Schnodderigkeit und Unterdrückungsmentalität, trotz des permanenten Mobbings, das sie auf ihr Umfeld prasseln lässt, Margarita Iwanowna am meisten. Vielleicht hatte ich auch ein wenig Mitleid mit ihr. Für die Auswanderung hat sie neben ihrer Heimat ihr gesamtes früheres Leben aufgegeben. Am Ende möchte sie doch auch nur das beste für ihre Familie.

Alina Bronsky lässt uns über Dinge lachen, worüber man eigentlich nicht lacht. Sie lässt die Großmutter Dinge tun, die tabu sind. So wurden wir doch erzogen. „Der Zopf meiner Großmutter“ spricht alle bösen Gedanken, die vielleicht den ein oder anderen bei der Kindererziehung beschleichen, laut aus. Die Angst um ein Kind wird durch das Erzählen von „Schauermärchen“ an das Kind weitergegeben. Der rasante Schreibstil, die unterschwellig mitschwingende Boshaftigkeit haben mir so gut gefallen, dass ich unbedingt noch mehr Bronsky-Bücher lesen möchte.

Bewertung vom 02.05.2019
Die Geschichte der schweigenden Frauen
Shah, Bina

Die Geschichte der schweigenden Frauen


sehr gut

Thrillerartige Dystopie
Eigentlich müsste in Green City das weibliche Geschlecht aus einer erhöhten Machtposition heraus agieren können, nachdem durch einen für Frauen tödlichen Virus ihre Anzahl erheblich dezimiert wurde. Sie sind die einzige und letzte Chance für Green City zu überleben. Nur die besten Männer wären von den wenigen Frauen auserwählt, eine Familie gründen, der gesamte Arbeitsaufwand und die Versorgung der Familien würde von Männer erledigt werden. Das Kinderhaben wäre durch die Unterstützung so attraktiv, dass der Fortbestand von Green City gesichert wäre...

Die Realität von Green City sieht jedoch ganz anders aus. Die eigentlich wertvollen Frauen werden in einen goldenen Käfig gesperrt und vollgepumpt mit fruchtbarkeitssteigernden Medikamenten zu Gebärmaschinen degradiert. Obwohl ihnen materiell vermutlich nichts fehlt, ist ihr Leben wenig lebenswert. Wie Vieh werden sie mit verschiedenen Männern zusammen gebracht, ihre Körper als Brutschränke ausgezehrt, bis sie zusammenbrechen. Der Begriff der Zwangsverheiratung erscheint dabei fast noch beschönigend. Da das Zusammensein von Mann und Frau einzig dem Zweck der Fortpflanzung dient, gibt es Liebe und Zuneigung nur zwischen Müttern und ihren Kindern, ansonsten ist das Leben kalt und einsam.

Vor diesem Hintergrund gefällt mir das etwas düstere Cover mit der hübschen, aber stark geschwächt wirkenden jungen Frau. Obwohl sie eine wunderschöne Aussicht genießen könnte, wirkt sie abgewandt vom Leben, mutet depressiv an. Gelungen finde ich zudem die Wiederholung einzelner Bildausschnitte auf dem Buchrücken und auf der Rückseite. Die zweisprachige Betitelung der Kapitel hatte etwas Schönes.

Einige wenige Frauen schaffen es, sich dieser Realität zu entziehen. Sie leben im Untergrund, in der sogenannten Panah, und verdienen ihren Unterhalt mit Etwas, das in Green City verboten ist, unter drakonische Strafe gestellt ist, Zuneigung ohne Sex. Zu ihnen gehören auch Sabine, Lin und Rupa. Da die wohlhabenden Männer, die diese Dienste in Anspruch nehmen, irgendwann mehr wollen, gerät das ganze Konstrukt aus den Fugen.

Die Welt von Green City ist recht rudimentär beschrieben, gerade so umfangreich, wie es für das Verständnis der Geschichte erforderlich ist. Vermutlich dadurch erscheinen bestimmte Fakten, die keine weitere Verwendung finden, wie der Ultimative Krieg, etwas aufgesetzt. Die Unterdrückung der breiten Masse innerhalb des Überwachungsstaates und das Hinwegsetzen der staatlichen Elite über die eigenen strengen Regeln empfand ich dagegen äußerst glaubwürdig. Die Entwicklung der Protagonistin Sabine ist nachvollziehbar. Bei ihr hätte ich mir allerdings eine umfangreichere Ausprägung ihrer Emotionen gewünscht, sowie einen deutlicheren Austausch mit Lin und Rupa. Die Drei wirken deshalb nicht richtig wie eine eingeschworene Gemeinschaft, die gegen den Rest der Welt antritt und zusammen rebelliert.

Ich mochte die indisch-asiatische, vielleicht auch etwas arabische Atmosphäre des Romans. Aus dem Rahmen fällt dabei nur der recht deutsche Name Sabine. Die indische Version Sabina hätte mir persönlich besser gefallen. Durch das Kippen der eingefahrenen Struktur kommt Geschwindigkeit in „Die Geschichte der schweigenden Frauen“, die in der zweiten Hälfte auch mächtig an Spannung zulegt. Das Gedankenspiel der Verknappung von Frauen war sehr interessant. Insgesamt ist diese Dystopie vielleicht nicht perfekt, hat dennoch einen guten Unterhaltungswert.

Bewertung vom 17.04.2019
Was uns erinnern lässt
Naumann, Kati

Was uns erinnern lässt


ausgezeichnet

Kati Nauman verbindet in ihrem Roman geschickt die moderne, vernetzte Welt von heute mit einem herrlichen Stückchen Erde, das mitsamt der dort lebenden Familie im Verlauf der DDR-Geschichte vom Rest der Welt abgeschnitten wurde – abgeschnitten von der Telefonleitung, von der Postzustellung, sowie von der medizinischen Notversorgung. Dieser scheinbare Widerspruch bildet das Verbindungselement zwischen zwei Handlungssträngen, die die Geschichte des Hotels Waldeshöh von den 1950er bis in die 1970er Jahre einmal live und einmal rückblickend begleiten.

Die Moderne wird durch die junge Milla vertreten, deren Leben von einer gewissen Trostlosigkeit geprägt zu sein scheint. Als Alleinerziehende entgleitet ihr der langsam erwachsenwerdende Sohn Neo, der bisher ihr Leben bestimmt hat. Ihr Brotjob in einer Anwaltskanzlei ist auch nicht gerade erfüllend. Begeistern kann sie sich für Lost Places, Orte, die vor vielen Jahren verlassen wurden und wie eine Zeitkapsel das vergangene Leben in Form von zurückgelassenen Gegenständen konserviert haben. Das Spekulieren über die kleinen Geheimnisse der ehemaligen Bewohner befriedigt Sensationsgelüste und voyeuristische Bedürfnisse. Millas größter Traum ist die Entdeckung eines solchen Lost Place, und zwar als erste. So ist sie in 2017 im Thüringer Wald abseits der Wanderwege unterwegs und findet einen überwucherten Keller.

Die Vergangenheit verkörpert Christine Dressel, die im Hotel Waldeshöh aufgewachsen ist. Sie hat den Ausbau der innerdeutschen Grenze miterlebt, am eigenen Leib viel intensiver als die meisten DDR-Bürger erfahren, welche Bedeutung und Auswirkungen diese Grenze für die einfachen Leute hatte.

Ich konnte mich mit beiden Protagonistinnen identifizieren, die Nöte und Sorgen beider gut nachvollziehen, Millas Hin- und Hergerissenheit bezüglich der Sinnhaftigkeit ihrer Freizeitaktivitäten sind mir ebenso ein Begriff wie die Heimatverbundenheit von Christine. Selbst Andreas, Christines Bruder, der im Roman unnahbar und ein wenig grummelig erscheint, konnte ich gut verstehen. Diese Reserviertheit gegenüber Unbekanntem, nicht nur Menschen, sondern auch „neumodischem Schnickschnack“, ist, so glaube ich, ein typisches Verhalten für diese Generation. Ich mochte Andreas sehr, und zwar mitsamt seines Schäferhundes Lux, der genauso tickt wie er.

Für mich war „Was uns erinnern lässt“ genau das, was der Titel aussagt, ein Anschub, mich zu erinnern: an meine eigene Kindheit im Sperrgebiet, an einen Kindergeburtstag im 500 Meter Schutzstreifen, an den vorgezeigten Pionierausweis, um den Schlagbaum zu passieren. Es war eine Erinnerung an die Angepasstheit der Menschen in der DDR, an den Ärger, den ich bekam, weil ich draußen beim Spielen „Like A Virgin“ von Madonna vermutlich falsch, aber erkennbar sang. Das hatte ich schon fast vergessen. Die Darstellung war für mich durchweg glaubwürdig, nichts schien mir übertrieben. Ich bin dankbar für diesen Roman. Sehr gern empfehle ich ihn allen Wissenden und erst recht allen "Unwissenden", die wo anders aufgewachsen oder später geboren sind, weiter.

Bewertung vom 08.04.2019
An den Ufern der Seine
Poirier, Agnès

An den Ufern der Seine


sehr gut

Von dj79




Noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges steigt der Leser in das intellektuelle und künstlerische Leben von Paris, genau genommen dem Rive Gauche, ein. Begleitet werden namenhafte Literaten und Künstler, zwischen 1900 und 1930 geboren, beim „Abhängen“ in Cafés und Bars, bei ihren diversen Liebeleien, aber auch beim disziplinierten Schreiben von Essays und Romanen, sowie beim Meinungsdiskurs und der Entwicklung neuer politischer Ideen. Mache, wie Jacques Jaujard, der Direktor des Louvre während des Zweiten Weltkrieges, werden dabei nur kurzzeitig betrachtet, bedeutende Größen, wie Jean Paul Sartre, Albert Camus, Pablo Picasso und allen voran Simone de Beauvoir wird durchgehend Aufmerksamkeit geschenkt.

Zu Beginn liest sich dieses sehr schön, in den französischen Nationalfarben, gestaltete Sachbuch eher wie ein Roman. Ich bin tief in das Pariser Lebensgefühl eingetaucht. Wenn auch einen marginal kleinen, aber sehr passenden Einblick gewährt das Schwarzweißfoto des Covers. Dennoch ist das Leben während des Weltkrieges und in der Nachkriegszeit nicht nur Eitel Sonnenschein, sondern auch gekennzeichnet durch Entbehrungen, Hunger und Kälte, sowie durch politische Emanzipation der Intellektuellen als dritte Kraft neben den Gaullisten und den Kommunisten. Da Agnès Poirier sehr detailliert auf die magischen Jahre von Paris eingeht, entstehen in der zweiten Buchhälfte Längen, die kleinteiligeres Lesen provozieren. Der Lesefluss wird somit etwas ausgebremst.

Dennoch bin ich begeistert von der Offenheit der Protagonisten, von dem Ausleben ihrer Sexualität, ihrer damit einhergehenden Beziehungsflexibilität und der Fortschrittlichkeit ihrer Gedankenwelt. Ihre Erkenntnisse belegt Agnès Poirier mit zahlreichen Zitaten, wodurch das Sachbuch sehr glaubwürdig und perfekt recherchiert erscheint. Besonders gut gefallen hat mir aus „Frauen und Mythen“ von Simone de Beauvoir: „Die Frau ist ‚zugleich Eva und die Jungfrau Maria. Sie ist Idol und Dienerin, Quelle des Lebens und Macht der Finsternis; sie ist das elementare Schweigen der Wahrheit und ist Arglist, Geschwätz und Lüge; sie ist Heilerin und Hexe, sie ist die Beute des Mannes und sein Verderben, sie ist alles, was er nicht ist und was er haben will, seine Negation und sein Seinsgrund.‘“ (S. 352). Simone de Beauvoir hat mich auch insgesamt am meisten beeindruckt.

„An den Ufern der Seine“ hat mir trotz kleiner Schwächen im Sinne des Leseflusses sehr gut gefallen. Gern empfehle ich dieses Sachbuch weiter.

Bewertung vom 01.04.2019
Die Farben des Feuers / Die Kinder der Katastrophe Bd.2
Lemaître, Pierre

Die Farben des Feuers / Die Kinder der Katastrophe Bd.2


gut

In einer Zeit, wo die Emanzipation der Frau noch nicht stattgefunden hat, stirbt der berühmte französische Bankier Marcel Péricourt und hinterlässt fast sein gesamtes Vermögen seiner einzigen Tochter Madeleine. Die alleinerziehende Mutter wird sofort von den Herren in ihrem Umfeld - Gustave Joubert, der Prokurist der Bank, Charles Péricourt, Madeleines verschwenderischer Onkel, und ihrem Liebhaber André Delcourt – umgarnt. Alle wollen letztlich nur eins, ein möglichst großes Stück vom Kuchen. Zu allem Übel kommt es während der Beerdigung ihres Vaters zu einem weiteren Schicksalsschlag. Ihr siebenjähriger Sohn Paul springt aus dem Fenster eines angrenzenden Gebäudes, just in dem Moment, in dem der Trauerzug starten soll.

Pierre Lemaitre schenkt uns mit „Die Farben des Feuers“ einen Roman , der die Abgründe des Menschseins, nicht im Sinne von Mord und Totschlag, sondern vielmehr in Richtung von Gemeinheit, Intriganz und Rücksichtslosigkeit, offenlegt. In einer von Spitzen durchtriebenen, humorvollen Sprache berichtet Lemaitre von schlimmen Gewalttaten, von eiskalten Berechnungsstrategien zur Maximierung des eigenen Vorteils, auch auf Kosten anderer, vom Ausleben extremer Rachegelüste sowie von Zügellosigkeit und Ehebruch. Seine Geschichte ist eingebettet in das Paris der 1930er und 1940er Jahre, könnte aber in ähnlicher Form auch heute so geschehen. Lemaitres Charaktere sind recht individualistisch angelegt, die vorhandenen Beziehungen wirken eher locker. In meiner Wahrnehmung richten alle im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihr ganzes Handeln am eigenen Nutzen aus. Von einem darüber hinausgehenden Interesse am Gemeinwohl oder am Wohl des Umfeldes ist kaum etwas zu spüren.

Lemaitres Schreibstil entwickelt sich von einer detaillierten Vorstellung der handelnden Personen, hin zu einer lückenhaften Erzählweise, die dem Leser Interpretationsspielräume lässt. Während Pierre Lemaitre zu Beginn den Leser an den Gedanken der Charaktere teilhaben lässt, was dem Leser das Gefühl vermittelt, in die Köpfe der Figuren schauen zu können, lässt er im Verlauf seine Figuren nur noch durch ihr Handeln sprechen. Normalerweise finde ich es gut, wenn der Leser nicht ganz genau erfährt, warum und wieso die Protagonisten auf eine bestimmte Art und Weise handeln. Für die Glaubwürdigkeit der Entwicklung von Madeleine Péricourt hätte ich mir gewünscht, sie in ihrer Gedankenwelt weiter begleiten zu dürfen. So erscheint ihre Metamorphose vom unwissend gehaltenen Hausmütterchen zum Engel der ausgeklügelten Rache doch recht überzeichnet. Ähnlich habe ich auch die Entwicklung des durch den Fenstersturz querschnittsgelähmten Paul empfunden, der zunächst lethargisch vor sich hin vegetiert und später als er beginnt, sich mit Musik und wissenschaftlicher Literatur zu beschäftigen, schon fast zum Manager mutiert. Diese starke Überzeichnung der Figuren wirkte für mich übertrieben, fast wie ein Theaterstück, wo in begrenzter Bühnenzeit möglichst viel Handlung gezeigt werden soll. Insgesamt waren es mir zu viele Charaktere. Ich hätte beispielsweise auf die ausgiebigen optischen Beschreibungen der Töchter von Charles Péricourt, sogar auf die Diva Solange mit ihrer Rechtschreibschwäche verzichten können. Wen ich nicht missen möchte in diesem Roman ist Vladi, die polnische Assistentin (würde man heute sagen) von Paul. Mit ihrer Herzlichkeit und ihrer konsequenten Verweigerung der französischen Sprache hat sie mir sehr gut gefallen. Der geschichtliche Hintergrund plätschert die meiste Zeit im Hintergrund der Geschichte, tritt nur wenige Male deutlich in den Vordergrund.

Fazit: „Die Farben des Feuers“ ist aus meiner Sicht ein Roman, den man ganz gut lesen kann, aber nicht gelesen haben muss. Es war zeitweise amüsant, die eher lästernde Sprache zu lesen, aber für einen vollendeten Lesegenuss hat mir das gewisse Etwas, insbesondere Nachvollziehbarkeit, gefehlt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.03.2019
Bella Ciao
Romagnolo, Raffaella

Bella Ciao


ausgezeichnet

Wellen zweier Leben
Raffaella Romagnolo erzählt mit „Bella Ciao“ nicht nur eine Familiengeschichte während der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts, ihr Roman ist zudem eine Auseinandersetzung mit Lebensentscheidungen und ihren Folgen, mit genutzten und entgangenen Chancen. Sie rückt starke, tapfere Frauen in den Vordergrund, die trotz aller geschichtlichen Ereignisse das Zepter der Familie weiterhin hoch halten, gewährt einen Einblick in deren Nöte, die aus dem Konflikt mit ihren Vätern oder Ehemännern, auch mit der Obrigkeit, sowie aus der Angst um ihre Söhne geboren werden.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Amerikanerin Giulia Masca, die fast ihr ganzes Leben in New York mit Ehemann und Sohn verbracht hatte. Erst im Alter kehrt sie auf Drängen des Sohnes in ihre eigentliche Heimat, Piemont (Italien), zurück. Ihrer Heimat hatte Giulia in ihrer Jugend den Rücken gekehrt, nachdem sie von ihrem damaligen Verlobten Pietro und ihrer besten Freundin Anita hintergangen worden war. Auch ihre Mutter hatte Giulia zurückgelassen. So verging fast das ganze Leben ohne einen einzigen Kontakt. Erst durch die späte Reise nach Italien erlebt Giulia gemeinsam mit dem Leser in rückblickenden Erinnerungen ihr „verpasstes Leben“, das nun Anita geführt hat.

Raffaella Romagnolo‘s Erzählweise erinnert mich an Wellen im Meer. Über weite Strecken sind die Wogen angenehm sanft, beispielsweise als der New Yorker Lebensalltag beschrieben wird. Auch die ersten Jahre von Anita und Pietro wirkten auf mich so. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und während der Revolution kommen plötzliche Böen auf, die die Wellen des Meeres hochpeitschen. Die Ereignisse, die der Roman beschreibt sind schockierend, weil sehr real und glaubwürdig beschrieben, nichts für schwache Nerven. Als Leser habe ich eine Beschleunigung im Lesefluss erfahren, die unglaublich gut zum jeweiligen Ereignis passte. In der zweiten Hälfte des Romans hat mich dann die ein oder andere emotionale Welle überrollt. Giulia‘s Gedanken haben mich tief berührt.

Neben dem grandiosen Schreibstil haben mir die drei Protagonistinnen Giulia, Anita und Adelaide am besten gefallen. Alle drei mussten sich durch ihr Leben, teilweise um ihr Überleben kämpfen. Mit Mut und Einfallsreichtum, sowie einem Aufopferungswillen, der heutzutage unmöglich erscheint, hielten sie auch schlimmsten Widrigkeiten stand. Sie dachten gar nicht ans Aufgeben, für ihre Familien blickten sie immer nach vorn.

Mich konnte „Bella Ciao“ begeistern. Gern empfehle ich diesen wunderbaren Roman uneingeschränkt weiter.

Bewertung vom 18.03.2019
Die Reinsten
Hansen, Thore D.

Die Reinsten


ausgezeichnet

Meine beste literarische Auseinandersetzung mit KI

Wir begleiten Eve Legrand im September/Oktober 2191 in einer Phase der Neuausrichtung der Weltgesellschaftsform ausgehend von einer durch Künstliche Intelligenz gelenkten Gesellschaft. Die für mich faszinierende KI Askit optimiert den Fortschritt der Renaturierung des in Verwüstung befindlichen Planeten, indem sie die Menschen zusammen bringt, deren Talente in Kombination die anstehenden Aufgaben am besten lösen können. Eve ist eine der sogenannte Reinsten, die anders als die übrigen Bewohner der Erde mit Askit in Verbindung treten dürfen. Sie ist begeistert von der Unterstützung Askit‘s bei ihrer mentalen und wissenschaftlichen Ausbildung bis die KI merkwürdige Verhaltensweisen aufzeigt. Askit’s Verhalten bringt eine rasante Geschichte ins Rollen bei der es um nichts weniger als die Aufrechterhaltung der Chance, die Erde als Lebensraum retten zu können, geht.

Ich bin begeistert von der Glaubwürdigkeit, die mir die geschaffene Welt in 2191 vermittelt. Die Metropolen, in denen die Menschen geschützt vor den gefährlichen Umwelteinflüssen leben können, erscheinen mir genauso möglich, wie die vielen technischen Details, begonnen bei den Körperschutz-Anzügen, über die Krankheiten erkennenden und heilenden Nanobots bis hin zu den CO2-Konvertern, den Solarjets und dem Hyperloop. Ich kann gar nicht entscheiden, was ich davon am besten finde.

Eve Legrand mochte ich sehr gern, vielleicht weil ich mich gut mit ihr identifizieren konnte. Sie liebt es, ihr Wissen zu erweitern, möchte etwas Positives bewirken, ist diszipliniert und konzentriert. Als ihr Weltbild zusammenbricht, reagiert sie zunächst unbeholfen und trotzig. Auch wenn ihre Reaktion irgendwie nachvollziehbar war, haderte ich kurz mit ihr. Nachdem Eve dieses Tief überwunden hatte, nahm ihre persönliche Entwicklung riesige Schritte. Letztlich wuchs Eve über sich hinaus.

Von den recht zahlreichen weiteren Charakteren mochte ich Tessa, Eves Mutter, am meisten, weil sie Eve immer wieder mit ihren mütterlichen Rat beiseite steht und somit Eve‘s Blickwinkel erweitert. Ebenfalls gern hätte ich Levar und Ronan.

„Die Reinsten“ liest sich so wie die Story ist, rasant. Man muss sich zwingen eine Lesepause einzulegen, um das Gelesene verarbeiten zu können. In kurzen Kapiteln, die immer wieder mit einem Cliffhanger enden, konstituiert Thore D. Hansen eine faszinierende Zukunftsvision, deren Probleme als Fortschreibung unseres heutigen Handeln und damit sehr real erscheinen.

Mein Leseerlebnis war fesselnd, desillusionierend und schockierend zugleich. Ich bin total geflashed. Ganz klare und uneingeschränkte Leseempfehlung.

Bewertung vom 18.03.2019
Wir, die wir jung sind
Taneja, Preti

Wir, die wir jung sind


weniger gut

Zu viel der Worte

Devraj Bapuji ist ein ehemaliger Maharadscha, der in seiner Wahrnehmung quasi aus dem Nichts - in meinen Augen durch kluge Heirat zu Beginn seiner Karriere - einen allumfassenden Mischkonzern aufgebaut hat. Um den Erfolg seiner Projekte zu gewährleisten, ist Devraj jedes Mittel recht. Korruption und Abzweigung von staatlichen Investitionsmitteln sind noch die bescheideneren Beispiele. Im hohen Alter angekommen, möchte er nun seinen Konzern „The Company“ an seine drei Töchter übergeben. Gargi, Radha und Sita sollen den Konzern in seinem Sinne weiterführen, hat Devraj sie doch streng und vorbereitend darauf erzogen. Regelmäßig mussten die Mädchen beim Vater Rapport halten. Dennoch entwickelt jede Tochter eigene Ziele, ein schmutziger Machtkampf ist die Folge.

Im Rahmen der König Lear ähnlichen Geschichte erfährt der Leser eine Menge über Indien und seine Kultur. Für mich war es ein regelrechter Kulturschock. Dass in Indien die Schere zwischen arm und reich im Sinne von bettelarm und unverschämt reich noch weiter auseinander geht als wir es aus Europa kennen, konnte ich mir auch vor der Lektüre so ungefähr vorstellen. Erschreckt hat mich die Heiratspolitik von Devraj. Liebe ist dafür nicht erforderlich. Entscheidender sind Beziehungsgeflechte in Richtung Politik, die dadurch generiert werden. Angewidert bin ich von den Machtdemonstrationen der Familie, insbesondere der männlichen Charaktere, als würden sämtliche Regeln und Gesetze für alle, nur für sie nicht gelten. Beispielsweise schlägt Devraj einen Diener fast tot einfach aus einem wütenden Zustand heraus. Damit dies sich nicht negativ in der Presse niederschlägt, zahlt Gargi für ihn ein Schweigegeld. Widerlich ebenso der sexuelle Missbrauch, dem Radha ausgesetzt ist. Der engste Berater und Freund von Devraj darf sie ungestraft nehmen. Perfide dabei ist, dass er ihr gegenüber beteuert, sie sei ihm die Liebste von Devrajs Töchtern. Auch die Ehemänner scheinen ihre Frauen mehr zu vergewaltigen als liebevollen Sex mit ihnen zu haben. Ein Unrechtsempfinden besitzt niemand von ihnen. Dazu muss ich unbedingt noch anmerken, dass wir hier nicht von irgendwelchen „menschlichen Abschaum“ lesen, sondern von hoch angesehenen indischen Persönlichkeiten. So verwundert es auch nicht, das in diesen Kreisen Alkoholsucht und Drogenmissbrauch an der Tagesordnung sind. Irritiert von all den Machenschaften, hatte ich keinen Bedarf, irgendeinem Charakter nahe zu kommen.

Der Schreibstil von Preti Taneja war mir persönlich zu aufwendig und umfangreich. Wenn man bedenkt, wie viel Geschichte wirklich erzählt wird, hätten dem Roman 150 bis 200 Seiten weniger gut getan. Die Bilder, die sie mit Worten zeichnet, waren zwar teilweise schön, z. B. als Jeet als Rudra unter dem Neembaum sitzt, aber aus meiner Sicht zu sehr in die Länge gezogen. So erhält er Roman eine Langatmigkeit, die für mich ermüdend war.

Eine Empfehlung kann ich leider nicht aussprechen.

Bewertung vom 27.02.2019
Die Liebe im Ernstfall
Krien, Daniela

Die Liebe im Ernstfall


ausgezeichnet

Fünf ganz normale Frauen, Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde, wollen in unserer liberalen, emanzipierten Welt, die Informationen über Alles und Jeden bereithält, ihr persönliches Glück finden. „Die Liebe im Ernstfall“ begleitet ihren recht holprigen Weg dorthin.

Von den Vorstellungen zu Selbstbild, Partnerschaft und Familie, die die jungen Frauen beim Eintritt ins Erwachsenenleben hatten, ist im Laufe der Jahre nicht mehr viel übrig geblieben. Jede, ja wirklich jede von ihnen, hat herbe Enttäuschungen in ihrem Leben erlitten. Lebensentwürfe mussten aufgegeben, ganz neu entworfen werden. Herausgekommen sind teilweise an Kreativität kaum zu übertreffende Muster, von denen mir mindestens eines als Nicht-Betroffene untragbar erscheint, die aber für die Protagonistinnen im Roman den einen gangbaren Weg aus der Krise markieren. Die Geschichten von Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde zeigen allerdings eine Vielzahl von Ansätzen auf, die allgemein übertragbar sind, die Hoffnung geben. Beim Lesen hat mich intensiv beschäftigt, wie es zu diesen zerstörerischen Entwicklungen in den Beziehungen kommen konnte. Wurden zu hohe Erwartungen an den Partner gestellt? Gab es ein Ungleichgewischt in der gegenseitigen Liebe? Wurde das Thema Kinder völlig unterschätzt? Hat man zu viel Fehlentwicklung immer wieder einfach heruntergeschluckt und zu wenig miteinander gesprochen? Ich finde, „Die Liebe im Ernstfall“ ist ein ganz wunderbarer Roman, auch zur Selbstreflektion. Vermutlich wird sich jede(r) in der ein oder anderen Situation wiedererkennen. Die Reaktionen im Buch sind mit den eigenen vergleichbar.

Unsere fünf Protagonistinnen sind ein bunter Blumenstrauß an weiblichen Charakteren, die mit ihren Eigenschaften von unterwürfig bis durchsetzungsstark, von zuvorkommend bis rücksichtslos, von schüchtern und zurückhaltend bis zur „Rampensau“ ein breites Spektrum der gesamten aktuellen weiblichen Generation abdecken dürften. Allen gemein – und das finde ich sehr bemerkenswert, weil aus meiner Sicht außergewöhnlich - ist allerdings eine im Verhältnis zu den Wellen, die ihr Leben schlägt, ihnen innewohnende Ruhe und Gelassenheit oder vielleicht sogar stoische Grundhaltung. Wie groß auch immer die Enttäuschung in ihren Leben sein mag, ignorante Partner, fremdgehende Partner, ausgediente Ehen oder verstorbene Kinder, so richtig ausrasten tut keine von ihnen. Selbstverständlich gibt es Streit und Kontroversen, aber keine schlägt, herausgefordert von der hässlichen Seite des Schicksals, um sich oder gibt sich hemmungslos schreiend ihrem Gefühlschaos hin. Diese analytische Nüchternheit und zielorientierte Lösungsfindung der Damen hat mich schon massiv beeindruckt.

„Die Liebe im Ernstfall“ ist das erste Buch, das mehrere Einzelgeschichten zu einem Roman vereint, das ich gelesen habe. Diese Art des Aufbaus hat mir sehr gut gefallen, auch wenn ich mir ursprünglich die Verknüpfung zwischen den Geschichten intensiver vorgestellt hatte. Die Auswahl und Ausgestaltung der Protagonistinnen und ihrer Lebensentwürfe ist in meinen Augen sensationell stimmig. Das beginnt schon bei den fünf Namen, die in dieser Konstellation nur im Zeitalter der späten DDR so auftreten konnten. Daniela Krien schreibt angenehm lesbare Textpassagen, springt allerdings scheinbar zufällig, zwischen verschiedenen Vergangenheiten und der Gegenwart hin und her, so dass sich der Roman zwar zügig lesen lässt, aber gleichzeitig einen wachen und wachsamen Leser fordert, damit entscheidende Details nicht verloren gehen. Obwohl es thematisch in ihrem Roman um Liebe geht, stellt er längst keine Trivialliteratur dar.

Sehr gern empfehle ich „Die Liebe im Ernstfall“ allen, die einen Blick in die normalen Abgründe des Familien- und Liebeslebens, die jeden von uns treffen können, aber nicht müssen, werfen wollen. Da die Mehrheit der Männer in diesem Roman eine nicht ganz so gute Figur machen, würde ich meine Empfehlung auf die weibliche Leserschaft beschränken.