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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 743 Bewertungen
Bewertung vom 24.04.2021
Gefangen und frei
Sheff, David

Gefangen und frei


sehr gut

Eine bewegende Lebensgeschichte

Jarvis Jay Masters befindet sich seit mehr als dreißig Jahren im Todestrakt von San Quentin. Er ist verantwortlich für viele Straftaten, die er in seiner Jugend begangen hat. Dagegen gibt es erhebliche Zweifel an seiner Täterschaft an dem Mord eines Gefängniswärters, für die er zum Tode verurteilt wurde.

Der US-amerikanische Schriftsteller David Sheff beschreibt in seinem Buch die bewegende Lebensgeschichte von Jarvis Jay Masters, der im Laufe seines Lebens zum Buddhismus konvertiert ist. Es ist die wahre Geschichte eines verzweifelten desillusionierten Menschen, der einen radikalen Wandel vollzogen hat.

Es ist ein Buch voller Höhen und Tiefen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Da Masters selbst schon Bücher geschrieben hat, fragt man sich, warum er keine Autobiographie geschrieben hat, in der er seine Emotionen aus erster Hand hätte beschreiben können, sondern seine Biographie einem Dritten überlassen hat.

Ohne, dass es primär Thema ist, enthält das Buch eine deutliche Kritik am amerikanischen Justizsystem. Republikanische Politik, so der Eindruck, beeinflusst das Strafsystem. Es wird politischer Wille umgesetzt, der Einzelne geht in diesem System unter. Umso erstaunlicher, dass Masters im Laufe der Jahre seinen inneren Frieden gefunden hat.

Bewertung vom 15.04.2021
Wie wir die Welt verändern
Klein, Stefan

Wie wir die Welt verändern


ausgezeichnet

"Keiner denkt für sich allein" (37)

Wissenschaftsautor Stefan Klein nimmt die Leser mit auf eine Zeitreise durch die menschliche Kulturgeschichte. Der Mensch verändert zunehmend die Welt. In Ostafrika am Turkana-See sind erste Spuren schöpferischen Denkens in Form von Steinwerkzeugen zu finden. Sie wurden vor 3,3 Millionen Jahren angefertigt. Es ist die Zeit, in der das Bewusstsein erwacht ist.

Die Zahl unterschiedlicher Werkzeuge stieg seitdem exponentiell an. Die Kultur entwickelte sich. Um zu Überleben ist jeder Einzelne auf die Ideen und das Wissen anderer Menschen angewiesen. Neue Ideen entstehen durch Kombination bisherigen Wissens und auf Basis von Erfahrungen, die andere gemacht haben. Keiner denkt für sich allein. Geniale Köpfe sind abhängig vom kollektiven Wissen.

Es wurden Wandmalereien gefunden, die älter als 64000 Jahre sind. Klein zeichnet die Entwicklung der Kreativität nach, er erläutert die Bedeutung von Symbolen und den Einfluss der Kunst auf die Kulturgeschichte. Die naiven Realisten haben unrecht. Der Mensch konstruiert Wirklichkeit. Er entwickelt Prognosen aufgrund von Vorurteilen, die sich in der Realität bewähren oder widerrufen werden müssen.

Der Einfluss der Druckerpresse auf die Entwicklung der Menschheit kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wissen ging in die Breite und die Kreativität wuchs. Sie erreichte mit der "Transformativen Kreativität", die das vertraute Weltbild überschreitet, einen höheren Level. Der Grad der Abstraktion in Mathematik und Naturwissenschaften und parallel dazu in der Kunst wuchs an.

In den letzten Kapiteln erläutert Klein Möglichkeiten und Grenzen künstlicher Intelligenz. Auch wenn Computer den Menschen im Schach schlagen, gibt es systemimmanente Unterschiede. Der Mensch ist ein emotionales Wesen. Gefühle steuern unser Verhalten. Sie sind für Entscheidungen lebensnotwendig. Das sind Prinzipien, die auch für künftige Computer nicht gelten.

In "Alles Zufall" macht Stefan Klein deutlich, dass Zufall eine Folge von Unwissenheit ist, in "Die Glücksformel" erläutert er, dass der Mensch auf Glück programmiert ist und Glück nur in der Gegenwart existiert. Vertieft wird der Gedanke in "Der Sinn des Gebens", denn Glück entsteht, wenn wir anderen Menschen helfen. Mit seinem aktuellen Buch unterstreicht Stefan Klein, dass er interdisziplinäre Themen verständlich darstellen kann.

Bewertung vom 07.04.2021
Madame Bovary
Flaubert, Gustave

Madame Bovary


sehr gut

Das Scheitern der Romantik

Der französische Autor Gustave Flaubert schuf Mitte des 19. Jahrhunderts mit „Madame Bovary“ einen originellen Roman, der nach Ansicht mancher Zeitgenossen gegen die guten Sitten verstieß. Damit setzte er gegenüber den bekannten Romanciers Balzac und Stendhal einen eigenen Akzent, der ihm Ruhm einbrachte.

Protagonistin Emma Bovary ist keine heroische Gestalt einer romantischen Geschichte. Sie ist eine attraktive Frau, die auf dem Land aufgewachsen ist und in einer Traumwelt lebt. Ihr zwar treuer, aber einfach strukturierter Ehemann Charles, langweilt sie. Er passt nicht in ihr Weltbild. Sie vermisst ein gesellschaftliches Leben.

„Und doch war sie [Madame Bovary] nicht glücklich, war es nie gewesen. Weshalb war das Leben so unzulänglich, weshalb fiel alles, worauf sie sich stürzte, gleich verfaulend in sich zusammen?„ (329) Die Realität zeigt ihr Grenzen auf. Sie stürzt sich in außereheliche Abenteuer, die ihr keine echte Befriedigung bringen.

Sie unterschreibt Wechsel, häuft Schulden an, findet keine Unterstützung durch ihre Liebhaber und auch nicht durch den Kaufmann Lheureux, der ihr, ganz im Gegenteil, nutzlose Dinge verkauft. Die Realität holt sie ein und so endet die Geschichte dramatisch. Aber Autor Flaubert urteilt nicht. Markant ist seine Liebe zum Detail.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.03.2021
Mitternachtsfalken
Follett, Ken

Mitternachtsfalken


sehr gut

Ein spannender Spionagethriller

Im Kriegsjahr 1941 machen die englischen Kampfflugzeuge vor der dänischen Küste unliebsame Bekanntschaft mit der effektiven deutschen Flugabwehr. Die Verluste sind hoch. Die gebürtige Dänin und nunmehr englische Agentin Hermia Mount eruiert, woher die hohen Verluste kommen. Sind in Dänemark Radarsysteme installiert, die den englischen Systemen weit überlegen sind? Sie hat in Dänemark einen Agentenring, die Mitternachtsfalken, aufgebaut, der ihr bei der Beantwortung dieser Frage helfen soll.

Hermias Verlobter Arne Olufsen lebt in Dänemark und ist dort Pilot. Sein jüngerer Bruder Harald ist ein Technikfreak. Die beiden Pastorensöhne werden – ohne es zunächst voneinander zu wissen - in die folgenden Ereignisse hineingesogen. Mit den benachbarten Flemmings, reiche Hotelbesitzer, haben sich die Olufsens überworfen. Deren kaltherziger Sohn Peter Flemming ist bei der dänischen Polizei beschäftigt. Aus Karrieregründen arbeitet er den deutschen Besatzern zu. Im Fokus steht der Agentenring.

Die Geschichte ist extrem spannend, aber teilweise auch unrealistisch. Dennoch wird deutlich, in welche Gefahr sich Menschen begeben haben, die dem aktiven Widerstand angehörten. So sind auch in dieser Geschichte einige Opfer zu beklagen. Auf der anderen Seite gibt es Opportunisten, die mit den Besatzern zusammenarbeiten, um für sich Vorteile herauszuschlagen. Ken Follett lässt in seinen Geschichten, so auch in dieser, keinen Zweifel daran bestehen, wer zu den Guten und wer zu den Bösen zählt.

Bewertung vom 15.03.2021
Erste Person Singular
Murakami, Haruki

Erste Person Singular


weniger gut

Beziehungen, Erinnerungen, Träume

In diesen Kurzgeschichten, erzählt in der Ich-Perspektive, gibt Haruki Murakami Einblick in seine eigene Vergangenheit. Seine Erinnerungen sind eingebettet in kleine Geschichten über Baseball, klassische und populäre Musik und Beziehungen zu Frauen. Er gibt Einblick in seine literarische Vergangenheit. Die Übergänge zwischen Realität und Fiktion sind fließend und nicht immer so offensichtlich, wie in der Geschichte mit dem gebildeten Affen.

Murakami glänzt mit Kenntnissen und Einsichten über die westliche Kulturgeschichte, insbesondere über Musik und Literatur. Dennoch fühle ich mich von seiner Poesie, seiner Mystik, seiner Leidenschaft für Baseball nicht angesprochen. Seine Beziehungen zu Frauen wirken befremdlich. Die einzelnen Facetten, getragen von einer melancholischen Grundstimmung, fügen sich nicht zu einem plausiblen Gesamtbild zusammen. Vielleicht sind die Kulturunterschiede zu groß.

Bewertung vom 10.03.2021
Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit
Nguyen-Kim, Mai Thi

Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit


ausgezeichnet

Populäre Streitfragen aus dem Blickwinkel der Wissenschaft

Unter Wissenschaft verstehen wir die systematische Untersuchung von allem, was Menschen geistig zugänglich ist, auf Basis von Fakten und anerkannten Methoden. Das Ziel besteht darin, Erscheinungen im materiell-natürlichen, geistigen und kulturellen Bereich zu beschreiben und Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge aufzudecken. Wissenschaft ist auf Wissen aus und nicht auf Meinungen.

Meinungen bilden das Spielfeld von Internet und sozialen Medien. Das gehört zur menschlichen Streitkultur dazu, wird aber zum Problem, wenn selbst ernannte (oder auch echte) Experten Meinungen als Wissen verkaufen und damit Grenzen überschreiten. In der Presse wird jede exotische Botschaft begierig aufgenommen und vermarktet, denn Mainstream ist ein langweiliger Ladenhüter.

Mai Thi Nguyen-Kim, Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin, greift die oben beschriebenen Probleme auf und will sich nach eigenem Verständnis auf die Suche begeben, „auf die Suche nach der kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit“. (13) „Nur wenn man bei einem Streit auf dem Fundament einer gemeinsamen Wirklichkeit steht, funktioniert Streit, funktioniert Debatte ...“. (13)

Die Autorin lotet anhand einiger in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierter Themen die Grenzen zwischen Wissen und Meinungen aus. Zu den Themen gehören u.a. die Legalisierung von Drogen, der Einfluss von Videospielen, die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die Sicherheit von Impfungen, alternative Medizin und Tierversuche. Nguyen-Kim erläutert anhand dieser Beispiele Methoden der Wissenschaft.

Die Ausführungen sind verständlich und aus psychologischer Sicht clever strukturiert. Die Kapitel beginnen mit populistischen Fangfragen, die im Text analysiert werden. Diese Verfahrensweise führt zu Selbsterkenntnis. Der Fließtext enthält gekennzeichnete Einschübe, in denen tiefergehende Erläuterungen, z.B. über statistische Methoden, erfolgen. „Wissenschaftlichkeit heißt nicht, weniger zu streiten, sondern besser“. (342)

6 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.03.2021
Der Inselvogt von Memmert
Janßen, Enno

Der Inselvogt von Memmert


ausgezeichnet

Leben und Arbeiten in einem Vogelparadies

Wie gestaltet sich das Leben als einziger Mensch auf einer drei mal vier Kilometer großen Insel im Wattenmeer, zusammen mit rund 11000 Brutvogelpaaren und bis zu 150000 Rastvögeln? Der gebürtige Ostfriese Enno Janßen, seit 2003 Inselvogt auf der Insel Memmert, einem Eiland zwischen Borkum und Juist, hat sich die Arbeit und das Leben auf der Vogelinsel ausgesucht und sieht darin die Erfüllung seines Lebens. In seinem Buch beschreibt der handwerklich begabte Bauzeichner, wie er den Weg auf die Vogelinsel gefunden hat, was ihn an seiner Arbeit fasziniert und wie ihn das Inselleben beeinflusst und insbesondere seine Intuition geschärft hat.

Janßen beschreibt die Vogelwelt und glänzt mit faszinierenden Vergleichen, hier mit den Bewohnern eines Mietshauses: „Da gibt es die Masse der Unauffälligen und Verträglichen, über die nie Klagen laut werden, da gibt es es aber auch die notorischen Schelme, Rüpel und Radaubrüder, die immer wieder zu Beschwerden Anlass geben. Es gibt Leute, denen man gern auf der Treppe begegnet, und solche, die man schon lange nicht mehr grüßt. Und es gibt welche, von denen man sich schlimme Geschichten erzählt und denen man besser ganz aus dem Weg geht. Wie überall, wo viele auf relativ engem Raum zusammenhocken, ist man einander auch auf Memmert nur bedingt grün ….“ (191)

Die Naturbeschreibungen begeistern, so Janßens Begegnung mit einem Seeadler (56), die Täuschungsmanöver der männlichen Gänse, wenn Gefahr droht (156) oder das Verhalten der Eiderenten, die es wagen, neben dem Nest eines Wanderfalken ihr eigenes Nest zu bauen (159). Zu seinen Lieblingsvögeln zählt der Löffler. Er greift nicht an, macht keinen Lärm und verliert niemals die Beherrschung. (87) Dagegen zeigen die Krähen und Möwen wenig Respekt, egal wer da ankommt. Nicht jedermann ist für das Inselleben geeignet oder macht vergleichbare Naturerfahrungen. Umso mehr muss man sich bei dem Autor bedanken, dass er die Leser an dieser faszinierenden Welt teilhaben lässt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.02.2021
Der Hund / Der Tunnel (1 Audio-CD)
Dürrenmatt, Friedrich

Der Hund / Der Tunnel (1 Audio-CD)


gut

Groteske Erzählungen

Bei diesem Buch handelt es sich um Band 21 einer 1998 erschienenen Werkausgabe in siebenunddreißig Bänden mit Erzählungen von Friedrich Dürrenmatt aus den 1950er Jahren. Dem Titel entsprechend sind die Erzählungen „Der Hund“, „Der Tunnel“ und „Die Panne“ enthalten. Am bekanntesten davon dürfte die als Theaterstück aufgeführte und verfilmte Parodie „Die Panne“ sein.

Die seltsame Geschichte „Der Hund“ handelt von einem Prediger, seiner Tochter, einem gefährlichen Hund und dem Ich-Erzähler. Letzterer, aufgrund der Predigten neugierig geworden, sucht dessen Haus auf und fängt eine Beziehung mit seiner Tochter an. Der Hund sei ihnen zugelaufen. Diese Geschichte voller Symbolik, in der der Hund offensichtlich das Böse darstellt, muss wohl psychologisch gedeutet werden.

Wenn ein Zug in einen Tunnel einfährt, es endlos lange dunkel bleibt und der Tunnel einfach nicht enden will, fängt es an, surreal zu werden. Die Erfahrung des Ausgeliefertseins, macht der vierundzwanzigjährige Protagonist auf dieser seltsamen Zugfahrt. Es ist eine Reise, beginnend im wohl behüteten Elternhaus, hinaus ins reale Leben, ohne Wissen, wohin die Reise führt.

Aufgrund einer Autopanne übernachtet der fünfundvierzigjährige Vertreter Alfredo Traps im Haus eines pensionierten Richters. Dieser inszeniert mit befreundeten Juristen aus seiner aktiven Zeit jeden Abend gespielte Gerichtsverhandlungen. Und so übernimmt Traps die Rolle des Angeklagten. Der Staatsanwalt beginnt mit dem Verhör und wühlt in Traps Vergangenheit. Aus einem heiteren Spiel entwickelt sich eine groteske Situation.

Bewertung vom 08.02.2021
Der Richter und sein Henker von Friedrich Dürrenmatt: Lektüreschlüssel mit Inhaltsangabe, Interpretation, Prüfungsaufgaben mit Lösungen, Lernglossar. (Reclam Lektüreschlüssel XL)
Dürrenmatt, Friedrich;Pelster, Theodor

Der Richter und sein Henker von Friedrich Dürrenmatt: Lektüreschlüssel mit Inhaltsangabe, Interpretation, Prüfungsaufgaben mit Lösungen, Lernglossar. (Reclam Lektüreschlüssel XL)


sehr gut

Hilfreiche Interpretationsansätze

„Der Richter und sein Henker“ zählt zu Friedrich Dürrenmatts Frühwerken. Es handelt sich um einen Kriminalroman, in dem es nicht nur um die Aufklärung eines Mordfalles geht, sondern um Grenzen des Rechtsweges und insbesondere um Grenzüberschreitungen bei der Anwendung von Methoden, mit denen Gerechtigkeit eingefordert werden kann, wenn der Rechtsweg ausgeschöpft ist oder versagt.

Der Lektüreschlüssel enthält eine übersichtliche Inhaltsangabe, Beschreibungen der Protagonisten Bärlach, Gastmann, Dr. Lutz, Tschanz und des namenlosen Schriftstellers, einschließlich der Darstellung des Beziehungsgeflechts und auf 24 Seiten Interpretationsansätze zum Roman. Bei den Beschreibungen der Figuren habe ich Nationalrat von Schwendi, den dominanten Anwalt von Gastmann, vermisst.

Eine Biographie Friedrich Dürrenmatts einschließlich einer Übersicht mit kurzen Beschreibungen seiner Werke schließen sich an. Für Schüler und Studenten dürften die Prüfungsaufgaben mit Lösungshinweisen hilfreich sein. Fremdwörter im Text werden ebenso erklärt wie wichtige Begriffe zur Interpretation. Der Lektüreschlüssel ist ein geeignetes Hilfsmittel zum Verständnis und zur literarischen Einordnung des Romans.

Bewertung vom 06.02.2021
Der Richter und sein Henker
Dürrenmatt, Friedrich

Der Richter und sein Henker


ausgezeichnet

Recht und Gerechtigkeit

Der Schweizer Dorfpolizist Alphons Clenin kontrolliert bei einer Routinefahrt in der Nähe von Lamboing, Kanton Bern, einen am Straßenrand abgestellten blauen Mercedes. Zu seiner Überraschung stellt er fest, dass der Fahrer erschossen wurde. Bei dem Toten handelt es sich um Polizeileutnant Ulrich Schmied. Schmieds Vorgesetzter Kommissär Bärlach leitet eine Untersuchung ein. Warum sein junger Mitarbeiter Tschanz den Mord aufklären soll, erweist sich als weitsichtiger Winkelzug Bärlachs.

Die Protagonisten sind der unterschätzte Stratege Bärlach, sein von Neid geplagter Mitarbeiter Tschanz, der einflussreiche Kriminelle Gastmann, sein zwielichtiger Anwalt und Nationalrat von Schwendi und der mit Blindheit geschlagene Chef der Berner Kriminalpolizei Dr. Lutz. Eine besondere Nebenrolle kommt dem namenlosen Schriftsteller zu, der sich in der intellektuellen Beobachterrolle verortet, Gastmanns dunkle Seite kennt und mit seinen Anspielungen die Romanebene überschreitet.

Im Zuge der Aufklärung kristallisieren sich die unterschiedlichen Motive der Personen im Umfeld des ermordeten Polizisten heraus. Nach und nach wird ein Spannungsfeld sichtbar, dessen Wurzeln weit in die Vergangenheit zurückreichen. Es wird deutlich, wer wen hinters Licht führt. Menschen werden wissentlich und unwissentlich instrumentalisiert, um persönliche Ziele zu erreichen. Es geht in diesem Roman nicht nur um die Aufklärung des Mordfalles, sondern um Grenzüberschreitungen.

Friedrich Dürrenmatt zeichnet kein schwarz-weiß Bild der Welt, hier die Guten und dort die Bösen. Die Wirklichkeit ist viel komplexer, als menschliche Ordnungsstrukturen uns weismachen wollen. Persönliche Motive überlagern diese Strukturen, höhlen diese aus. Sie haben ein hohes Gewicht, sie bestimmen die Handlungen der Protagonisten. Der Einzelne gerät in Konflikt mit der Gesellschaftsordnung, legt diese zur Befriedigung eigener Bedürfnisse subjektiv aus.

Im Fokus stehen Recht, Gerechtigkeit, Schuld und Verantwortung. Mit welchen Mitteln darf Gerechtigkeit eingefordert werden, wenn rechtliche Wege ausgeschöpft sind? Mit welchen Mitteln darf das Böse bekämpft werden? Wo liegen die Grenzen persönlicher Motive? Der Roman besitzt Tiefe, die über den reinen Kriminalfall hinausgehen. Er wirft Fragen auf und hinterlässt Spuren. Damit bietet er eine Diskussionsgrundlage für die Auslotung der Grenzen von Recht und Gerechtigkeit.