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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 188 Bewertungen
Bewertung vom 17.04.2023
Wir hätten uns alles gesagt
Hermann, Judith

Wir hätten uns alles gesagt


ausgezeichnet

Der Klappentext lässt vermuten, dass Judith Hermann in diese Frankfurter Vorlesungen Privates einfließen lässt. Und so liest man dann von einer traumatisierenden Kindheit in Berlin, vom Alkoholismus des Großvaters, von der überlasteten Mutter, die der Ernährer der Familie war, vom depressiven Vater, der zugemüllten Wohnung der Eltern und anderen unerfreulichen Dingen. Judith Hermann sagt gleich zu Beginn dieser Vorlesungsreihe: „Ich schreibe über mich. ... Ein anderes Schreiben kenne ich nicht.“

Kein Wunder, denkt sich der Leser, wenn sie ihrer Freundin Ada so bereitwillig folgt, die das Prinzip einer Wahlfamilie vertritt und sie nun ihre Herkunftsfamilie ersetzt durch eine Wohngemeinschaft, mit der sie viele Sommer im geerbten Haus an der Nordsee verlebt. Sehr schnell aber merkt der Leser, wie die Autorin diese Autofiktionalität in Frage stellt und ihren Leser in der Schwebe hält. „Und selbstverständlich ist diese Ich-Erzählerin eben genau nicht ich. ... Schreiben heißt auslöschen.“

Die Autorin spielt ein Versteckspiel mit ihrem Leser, und dieses Spiel erinnert an ihr Puppenhaus der Kindertage, das sie ausführlich beschreibt: ein Haus mit fensterlosen Räumen und mit geheimen Kammern zum Verstecken. In diesem Puppenhaus konnte sie ihre Puppen verstecken, so wie sie sich in diesem Text versteckt, und nicht umsonst sitzt eine der Puppen dieser Puppenhaus-Tage auf ihrem Schreibtisch und begleitet sie.

Allerdings gibt sie zu, dass ihr Schreiben ihr Leben imitiere, aber eben nur als Inspiration, nicht als Dokumentation: „Ich schreibe am eigenen Leben entlang.“

„Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben" lautet der Untertitel der Vorlesungsreihe, und damit weist sie auf ein Strukturprinzip ihres Schreibens und auch dieses Buches hin. Sie verschweigt ihren Zuhörern ihre tatsächliche Biografie und versteckt sich hinter einem Erzähler-Ich, aber „Diese Erzählerin ist Ich. Und sie ist ein Traumbild. Ich träume sie, und sie träumt mich.“ Damit versperrt sie ihren Zuhörern bzw. Lesern den Einblick in ihr Privates, obwohl sie genau das vorgibt zu tun.

Dieses Prinzip des Verschweigens lässt sich in ihren Romanen beobachten. Immer schafft sie Leerstellen, die der Geschichte ihre Eindeutigkeit nehmen, sie in der Schwebe halten und den Leser in die Pflicht nehmen. Oder um das Bild des Puppenhauses wieder aufzugreifen: ihre Geschichten haben Verstecke und dunkle Kammern, in denen sich ein Geheimnis verbirgt, eine Leerstelle, die der Leser füllen kann.

Fazit: Ein intelligentes Spiel mit Fiktionalität und Realität, ein Spiel mit der eigenen Biografie und mit den Erwartungen des Lesers.

Bewertung vom 04.04.2023
Der perfekte Schuss
Enard, Mathias

Der perfekte Schuss


ausgezeichnet

Gleich vorneweg: das ist kein Buch für ein zartes Gemüt, und wer damit geschlagen ist, kann dieses Buch nur in kleinen Dosen lesen. Ein provozierendes Buch, und ein lesenswertes Buch.

Der Ich-Erzähler ist ein junger Mensch, der gerade dem Gymnasium entwachsen ist. Er wird Soldat und lernt hier seine Begabung für das Schießen kennen, sodass er überwiegend als Scharfschütze eingesetzt wird. Er liegt auf einem Dach, späht die feindlichen Wohnungen aus und wartet geduldig auf den Moment, in dem er den perfekten Schuss abgeben kann.

Ort und Zeit dieses Krieges, offenbar eines Bürgerkrieges, bleiben offen. Wir lesen zwar vom Blick aufs Meer und von Düften nach Thymian, Salbei und anderen mediterranen Kräutern, es ist am Nachmittag unerträglich heiß, das Gestein ist weiß und blendet in der Sonne – wir sind also in Südeuropa, aber der Autor lässt sich nicht genauer festlegen und erreicht damit eine beklemmende Präsenz der Ereignisse. Der Krieg selber wird wie ein Automatismus geschildert oder wie ein Naturereignis, das sich wie ein Unwetter über den Menschen entlädt; manche Stellen lassen einen daher an Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ denken.

Der Ich-Erzähler ist kein Sympathieträger, ganz im Gegenteil: er ist monströs. Er hat den Ehrgeiz, nur perfekte Schüsse abzugeben und räsoniert darüber, dass das blendungsfreie Licht des Morgens dafür am besten geeignet sei. Zu dieser Tageszeit gelingen ihm die besten Abschüsse, und ein perfekter Schuss ist ein Kopfschuss. Das Töten ist für ihn ein sportlich-ästhetisches Ereignis, auf das er stolz ist, und er verschwendet keinen einzigen Gedanken daran, dass er eine junge Frau getötet hat oder ein Schulmädchen. Einige der erzählten Szenen sind schwer auszuhalten; wir nehmen durch die Augen des Ich-Erzählers teil an Massakern an der Zivilbevölkerung, an Übergriffen auf Flüchtlinge, an Folterungen und anderen Gräueltaten, bei denen der Ich-Erzähler einmal auch mäßigend einschreitet.

Der Ich-Erzähler ist aber nicht nur ein Monstrum, sondern zeigt sich zugleich als ein reflektierender und zutiefst unglücklicher Mensch, der den Krieg als Schicksal sieht, als „Göttin mit Schlangenhaar“, die Gewalt über ihn bekommen hat und ihn und alle anderen verändert. Durch den Krieg wird Gewalt der bestimmende Faktor in seinem Leben.
Wie sehr Gewalt sein Leben auch im Privaten bestimmt, wird besonders deutlich an seinem Verhältnis zu Myrna, einer jungen Waise, die sich um seine demente Mutter kümmern soll. Er begehrt sie, beobachtet sie heimlich, sorgt für sie, versucht sich ihr zu nähern – und hier zeigt sich die subtile Sprachgewalt des Autors: auch in der Ich-Perspektive erlebt man als Leser die wachsende Angst des jungen Mädchens und ihr Gefühl der Bedrohung mit. Die Zurückweisung durch Myrna lässt ihn jedoch leiden – und dieses Leiden entlädt sich wiederum in neuen soldatischen „Heldentaten“.

Es geht in dem Buch nicht eigentlich um den Krieg, sondern es geht darum, was der Krieg in der Seele eines Menschen anrichtet: wie er die Seele verroht.

Ein beklemmendes und aufwühlendes Buch.

Bewertung vom 30.03.2023
Gentleman über Bord
Lewis, Herbert Clyde

Gentleman über Bord


ausgezeichnet

Der kleine Roman beginnt mit einem Paukenschlag: Henry Preston Standish stürzt kopfüber in den Pazifik. Als Leser erwartet man nun Näheres: wer ist das, wieso stürzt er ins Meer, was geschieht jetzt zu seiner Rettung? Der Erzähler lässt den Leser mit diesen Fragen alleine und wendet sich der Schönheit des Sonnenaufgangs zu. Mit dieser speziellen Form von Humor wird der Leser im Roman immer wieder konfrontiert.

Standish ist ein New Yorker Börsenmakler und stammt als Nachfahre einer der Pilgrim Fathers aus bester Familie. Er ist verheiratet, wohnt mit Frau und zwei Kindern in bester New Yorker Lage am Central Park. Der Erzähler bezeichnet ihn als „öde“: er erledigt alles, was zu erledigen ist, immer ordentlich, aber ohne jede Emphase. Weil umgekehrt auch ihn alles anödet, unternimmt er eine längere Reise und so landet er auf dem Frachter Arabella und fährt nach Panama. Wo er auf einem Ölfleck ausrutscht und ins Meer stürzt.

Standish hat zunächst keine Angst, sondern er schämt sich. Ein Mann seiner Erziehung und seiner Gesellschaftsklasse stürzt eben nicht ins Meer, zudem mache das der Schiffsbesatzung Ärger, und auch das gehört sich nicht. Nun plagen ihn die Überlegungen, wie er sich angemessen zu verhalten habe. Er ist sich sicher, dass sein Verschwinden auf dem Schiff bemerkt wird und seine Rettung naht. Er hält bereits Reden an die Reporter, an Freunde und seine Familie, wenn er seine dramatische Rettung und sein Überleben in diesen unendlichen Weiten erzählen wird. Dazu wird es nicht kommen; verschiedene Zufälligkeiten führen dazu, dass sein Verschwinden erst am Abend bemerkt wird.

Standishs Gefühle schwanken zwischen freudiger Zuversicht, Panik, Empörung und Hoffnungslosigkeit. Er tröstet sich zwar und meint, dass das Ertrinken eine vornehme Art des Sterbens sei. Aber er sieht auch, dass die Dinge, die ihn bisher definiert hatten – seine vornehme Herkunft, seine verfeinerten Manieren, seine Lebensart etc. - ihn jetzt im Stich lassen. Zum ersten Mal empfindet er die Kostbarkeit des Lebens und stellt fest, dass alle Wünsche ihm bisher erfüllt worden waren, aber der eine Wunsch nach Überleben ihm versagt werden wird.

Schon im ersten Satz zeigt sich der ironische Grundton des Textes, mit dem der Erzähler nicht nur den Protagonisten, sondern auch die anderen Figuren betrachtet. Damit erspart der Autor dem Leser die zwangsläufig emotionsbesetzte Identifikation mit dem Protagonisten und erlaubt ihm, dem Schicksal Standishs aus der Distanz zuzuschauen.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.03.2023
Der Boulevard
Jansson, Tove

Der Boulevard


ausgezeichnet

Der kleine Band enthält 17 Geschichten bzw. Texte, die an unterschiedlichen Orten spielen, realen und fiktiven. Auch die handelnden Personen sind unterschiedlich. Wir begegnen dem älteren Herrn Völpel in seiner traurigen Alltäglichkeit, zwei jungen Frauen in Aufbruchsstimmung, einem Paar auf Hochzeitsreise auf Capri, Sommerfrischlern auf einer Schäreninsel, Künstler im Pariser Karneval und natürlich auch einigen Mumins. Viele ihrer Personen sind einsam, auch wenn sie zu zweit sind, einige sind Exzentriker, einige sind Künstler, einige leben am Rande der Gesellschaft, einige sind in finanzieller Bedrängnis.

Nicht alle Texte erzählen ausschließlich eine Geschichte. Einige Texte wie z. B. das titelgebende „Der Boulevard“ enthalten auch Stimmungsskizzen, in der die Autorin die Besonderheiten der Pariser Boulevards beschreibt. Ein anderer Text befasst sich mit Tove Janssons ureigenem Problem: dem Schreiben von Kinderbüchern. Welche Motivation liegt dem Schreiben von Kinderbüchern zugrunde, fragt sie sich, und kommt zum Ergebnis: letztlich schreibt der Autor für seine eigene Kindlichkeit, was sie als eskapistische Möglichkeit sieht, der Gesellschaft der Erwachsenen zu entfliehen.

Die Geschichten stammen aus den Jahren 1934 – 1940. In diesen Jahren lebte Tove Jansson für eine Zeit in Paris und unternahm Reisen durch Europa, bevor sie wieder zum Kunststudium nach Helsinki zurückkehrte. Während der Kriegsjahre veröffentlichte sie in verschiedenen Zeitschriften einige Erzählungen, die in diesem Sammelband erstmals zusammen getragen wurden, in chronologischer Ordnung.

Was allen Texten gemeinsam ist: Tove Jansson hat einen bestechend klaren und ebenso bestechend freundlichen Blick auf ihre Mitmenschen. Sie beobachtet sehr genau, aber sie verurteilt nicht. Stattdessen spiegelt sie ihr Verhalten mit subtiler Ironie und wohlwollendem Humor.

Und das alles in einer einfach nur wunderbaren poetischen Sprache! Ein Lese-Genuss.

Bewertung vom 27.03.2023
Das Summen. Die Ereignisse Am Sequoia Crescent

Das Summen. Die Ereignisse Am Sequoia Crescent


gut

Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag, der das Ende der Geschichte vorwegnimmt. Die Spannung des Lesers bezieht sich daher auf den Weg dorthin: wie kommt es, dass Claire, die Ich-Erzählerin, nachts vor vielen Leuten im Rausch auf der Straße tanzt? Und noch dazu nackt?

Claire hat sich in ihrem Leben gut eingerichtet. Sie liebt ihren Mann und ihre pubertierende Tochter, sie liebt ihren Beruf als Englischlehrerin, sie ist im Kollegium gut integriert, ihre Familie wohnt in einem eigenen Haus, alle sind gesund, sie haben keine finanziellen Sorgen. Bis sie eines Tages ein tiefes Summen hört, dessen Herkunft sie sich nicht erklären kann. Und dieses Summen ist es, dass ihre Lebensidylle zum Einsturz bringt.

Zusammen mit einem ebenfalls betroffenen Schüler recherchiert sie, indem sie Frequenzen misst, und beide stellen fest, dass sie keine konkrete Geräuschquelle ausmachen können. Im Lauf der Zeit finden sich einige Leute zusammen, die ebenfalls das Summen hören und wie sie unter Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen leiden, und so entwickelt sich ein Kreis, der sich zunächst wöchentlich, schließlich täglich trifft. Es bleibt offen, wie die Mitglieder das mit ihren Berufen verbinden können. Die Gruppe beschließt, das Summen nicht mehr als Störung, sondern als Bereicherung zu betrachten. Mit Hilfe von Meditation wollen sie sich dem „großen Mysterium“ nähern, sich gemeinsam in das Summen einschwingen, sich eins fühlen mit dem Universum und in einen Energieaustausch mit der Erde treten. Die Belohnung für das Einschwingen sei, so die Leiterin, ein zehnminütiger Orgasmus. Offenbar hat sie ihn gestoppt 😊??

Claires Zugehörigkeit zu diesem sektiererischen Zirkel artet in eine Obsession aus und führt schließlich zum Verlust ihrer Arbeitsstelle, ihres Freundeskreises und ihrer Familie. All das ersetzt nun der Zirkel. Damit wird ein interessantes Thema angeschlagen: es geht um das Anders-Sein, um gesellschaftliche Isolation und Zugehörigkeit.

Schade, dass es an zu vielen Stellen in diesem Roman ziemlich knirscht. So droht die Tochter z. B. schon sehr früh mit Auszug und Trennung, weil die Mutter in der Schule unkonzentriert sei. Das allmähliche Auseinanderbrechen der Familie hätte diffiziler erzählt werden können. Recht ermüdend waren für mich die langen Gespräche im Zirkel, die thematisch mäandern und in Zeitdeckung wiedergegeben werden, ebenso die genauen Beschreibungen des Interieurs (Tisch aus Mangoholz, Bildbände etc.) ohne jeden Handlungsbezug, und auch das Gespräch über Claires Sex-Träume und ihre ausführliche Beschreibung ihrer mehr oder weniger geglückten sexuellen Freuden mit ihrem Mann bringen die Handlung nicht voran.

Der Roman wird aus der Ich-Perspektive erzählt, die auch meistens konsequent durchgehalten wird. Umso störender sind die Passagen, in denen die Ich-Erzählerin Dinge erzählt, die sie gar nicht wissen kann, z. B. beim ersten Treffen Charaktereigenschaften der anderen Mitglieder oder Ereignisse während ihrer psychotischen Phase.
Der Roman spricht sicher Leser an, die offen sind für esoterische Betrachtungsweisen.

Trotzdem: mir hat das Thema des Romans gefallen. Er zeigt, wie sich jemand mit kleinen Schritten aus dem gesellschaftlichen Konsens löst und ins Abseits gerät.

Die Sprecherin Marion Elskis spricht sehr deutlich, sehr pointiert und sehr langsam. Auch hier wäre, wie beim Roman selbst, eine Beschleunigung gut gewesen.

Bewertung vom 20.03.2023
Die Legende von König Arthur und den Rittern der Tafelrunde
Matthews, John

Die Legende von König Arthur und den Rittern der Tafelrunde


ausgezeichnet

Dieses Buch hat mich an die Bücher meiner Kindheit erinnert, in denen man so versinken konnte, dass rund um einen herum die Welt nicht mehr existierte: die Sagen bzw. Mythen des „deutschen“ Mittelalters. Ob das das Nibelungen-Epos war, das Rolandslied, das Kudrun-Epos, die Sagen um Dietrich von Bern, um Beowulf etc.: alle entführten in eine andere Welt, in der es mächtige Helden und Zauberwesen einer anderen Welt gab wie Feen, Trolle, Drachen und andere magische Wesen. Und in diesem Buch wird der Leser entführt in die Welt des sagenhaften König Artus.

John Matthews ist ein überaus belesener Artus-Kenner, das ist unbestritten. Er nutzt als Quelle "Le Morte d’Arthur" von Thomas Malory, eine Sammlung aus dem 15. Jahrhundert, und diese Sammlung wiederum stützt sich auf eine Zusammenstellung altfranzösischer Texte aus dem 13. Jahrhundert. Hier bedient sich Matthews und ergänzt die Sammlungen noch mit Texten aus anderen Sprachen, die Malory nicht zur Verfügung standen – und so entstand die Idee, in der Nachfolge Malorys "Le Morte d’Arthur" neu zu schreiben.

Damit steht Matthews vor einer gewaltigen Aufgabe. Es gilt, viele Fundstücke zusammenzusetzen, zu ergänzen und miteinander in Bezug zu setzen. Matthews findet erzählerische Parallelen und Abweichungen, d. h. er muss die Geschichten vereinfachen, er muss einzelnen Episoden wie wiederholte Kampfhandlungen weglassen und auf eine gewisse Stringenz der Geschichten achten.

Matthews lässt sich noch einen erzählerischen Trick einfallen: er erfindet einen Erzähler, der seinem Leser die Sagen erzählt und sie auch kommentiert Damit imitiert er die Erzählsituation am Hof, wo der Sänger die höfische Gesellschaft mit den Heldenepen unterhielt. Matthews trifft den altmodischen, aber niemals antiquierten Sagenton recht sicher, von wenigen Ausnahmen abgesehen. So hat es mich z. B. zusammenzucken lassen, wenn Lancelot sagt: „Aber versucht nicht mich auszutricksen!“

Und so tritt hier ein großer Reigen an Rittern und ihrer aventiure auf, von Merlins Geburt angefangen bis hin zum Tod des Königs und der Reise nach Avalon.

Mir hat die Sage um den Sarazenen Palomides besonders gut gefallen. Nicht nur, weil sie mir neu war, sondern weil er und seine Brüder diskussionslos in die christliche Tafelrunde aufgenommen werden, obwohl sie Muslime sind.

Fazit: Ein kurzweiliges Buch für Liebhaber mittelalterlicher Epen!

Bewertung vom 15.03.2023
Ein ehrenhafter Abgang
Vuillard, Éric

Ein ehrenhafter Abgang


sehr gut

Das Buch beginnt mit einem Paukenschlag: eine Delegation der französischen Gewerbeaufsicht bereist im Jahre 1928 die Kautschuk-Plantagen der Firma Michelin. Es hatte einen Arbeiteraufstand gegeben, es gab gehäufte Selbstmorde und Fluchtversuche der „befreiten“ Vietnamesen, und die Gewerbeaufsicht will sich ein Bild verschaffen.

Das Bild, das sich ihnen bietet, ist an Menschenverachtung kaum zu überbieten: trostlose monotone Arbeitsbedingungen, drakonische Strafmaßnahmen und Folter, halbverhungerte Elendsgestalten. Die Delegation ist entsetzt und verfasst einen entsprechenden Bericht, „die Behörden sprechen ein paar Empfehlungen aus. Ihnen folgt weder Reform noch Verurteilung. In jenem Jahr erzielte die Firma Michelin einen Rekordgewinn von dreiundneunzig Millionen Francs“. Damit benennt Vuillard gleich zu Beginn die Nutznießer der französischen Kolonialherrschaft in Indochina: die Industrie und auch die Banken.

Es geht in dem Buch um das Ende der französischen Kolonialherrschaft in Indochina, den heutigen Ländern Vietnam, Kambodscha und Laos. Vuillard zeigt auf, wie das Ende begann und wie die Tragödie von Dien Bien Phu das Ende besiegelte. Im Mittelpunkt stehen aber weniger die konkreten militärischen Ereignisse, sondern eher die Hintergründe, und die sind mehr als anrüchig. Der Autor hat genau recherchiert und führt die Schuldigen am Desaster vor: die Industrie und die Banken, die das Land ausbeuteten. Während in Frankreich noch das nationale Pathos hochkochte, war ihnen schon früh die Hoffnungslosigkeit der Lage klar. Sie räumten der französischen Armee – die zum überwiegenden Teil aus Vietnamesen und Kolonialsoldaten bestand – keine Chance gegenüber den Vietminh ein, trotz ihrer strategischen Überlegenheit, die die Vietminh durch hohen Personeneinsatz und hohe Motivation kompensierten. Daher brachten Wirtschaft und Banken ihre Investitionen frühzeitig in Sicherheit und fuhren zugleich hohe Gewinne ein, indem sie die Truppen weiterhin belieferten.

Vuillard beschreibt sehr launig eine Parlamentsdebatte, in der die Möglichkeit eines Verhandlungsfriedens voller Pathos und Empörung zurückgewiesen wird, um dann schließlich doch zur Erkenntnis zu kommen, dass man einen „ehrenhaften Abgang“ aus dem Indochina-Krieg versuchen müsse. Ein „ehrenhafter Abgang“, der mit -zigtausenden von Toten, Gefangenen und Verwundeten einherging.

Frankreich wurde unterstützt von den USA (Hintergrund: Koreakrieg, Blockbildung, Antikommunismus), und so schließt das Buch mit dem „ehrenhaften Abgang“ der Amerikaner aus Saigon: ein Desaster ohnegleichen.

Das Buch stellt uns also ein dunkles Kapitel der französischen Geschichte vor.

Vuillard schafft lebhafte Situationen, wenn er den Personen ihre Gedanken und Äußerungen zuschreibt, die sie so vermutlich nicht gemacht haben, aber gemacht haben könnten. Insofern ist sein Buch keine Dokumentation, sondern Belletristik.

Aber mir hat nicht alles gefallen. Trotz des packenden Themas und der spannenden Darbietung: muss das sein, dass der Autor mit blumigen Metaphern seinem Leser das Verständnis erschwert? Da regnet es Blütenblätter vom Himmel – wieso sagt er nicht, dass hier über 2000 französische Fallschirmjäger in Dien Bien Phu landen?

Dann wieder sind seine Ausdrücke alles andere als blumig, sondern einfach nur unangebracht und ordinär: „heiratete und machte ihr drei Bälger“. Ähnliche Textstellen finden sich immer wieder.

Vielleicht sollte man nicht zu streng sein. In Vuillards Sprache zeigt sich sein großes Engagement, seine Verachtung und seine große Wut auf die Machenschaften von Industrie und Banken bzw. auf den heutigen Kapitalismus.


Fazit: ein düsteres Kapitel der französischen Kolonialgeschichte. Informativ, aufrüttelnd und lesenswert!

Bewertung vom 14.03.2023
Marsch auf Rom und Umgebung
Lussu, Emilio

Marsch auf Rom und Umgebung


ausgezeichnet

Faschismus ist wieder in, wenn man sich die neue Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihre postfaschistische Partei Fratelli d’Italia anschaut, zuverlässig flankiert von den rechten Parteien Lega Nord und Forza Italia. Zwar bekennt sich Meloni nicht mehr öffentlich zu Mussolini, aber ihre Anhänger treten in schwarzen Hemden auf wie die berüchtigten paramilitärischen squadristi.
2022 jährte sich der sog. Marsch auf Rom, die große inszenierte Drohgebärde Mussolinis, die letztlich auch Erfolg hat – und Emilio Lussus Bericht über die Anfänge des Faschismus wurde neu herausgegeben.

Lussu ist nicht nur Politiker, sondern ebenfalls ein Literat, der seine Sätze zu setzen weiß. Und so erwartet den Leser ein ausgesprochen unterhaltsames und spannendes Buch, in dem Lussu die Anfänge des Faschismus aus seiner persönlichen Perspektive heraus beschreibt.

Er erkennt sehr präzise die Quellen, aus denen sich der Faschismus speist. Da sind seiner Darstellung nach vor allem die arditi, die Kämpfer des I. Weltkrieges, die im zivilen Leben keinen Fuß mehr fassen können und eine Revolution wollen – und von Gewalt verstehen sie etwas, das war ihr Beruf. Gewalt wird daher auch das bevorzugte Mittel der Faschisten, ihre Ziele bzw. ihre Herrschaft durchzusetzen. Lussu beleuchtet auch erstaunlich klarsichtig den Einfluss, den das Futuristische Manifest von Marinetti hat, und vor allem sieht er den Einfluss des Dichter Gabriele d’Annunzio auf die jungen Hitzköpfe der Zeit und vor allem auf Mussolini. D’Annunzio konstruierte nämlich eine Art italienische Dolchstoßlegende um die Gebietszuweisungen nach dem I. Weltkrieg (konkret: es geht um die Stadt Fiume) und prägt hier den Begriff „Marsch auf Rom“ als Drohgebärde gegenüber dem Staat.

Lussu bricht seine Erklärungen aber immer wieder herunter auf seine persönlichen Erlebnisse. Er erlebt die Verschleppung und grausame Ermordung des Abgeordneten Matteotti als Wendepunkt. Hatte sich bisher Mussolini als gesetzes- und verfassungstreuer Ministerpräsident gegeben, wendet sich nun das Blatt: er entscheidet sich für die Diktatur und die unverhohlene Gewalt, um den politischen Gegner einzuschüchtern.
Und so erzählt Lussu von den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Cagliari, wenn die Faschisten Jagd auf Antifaschisten machen, er erzählt von Plünderungen und Gewaltexzessen, denen die Bürger eingeschüchtert zusehen müssen. Lussu muss erleben, wie Menschen dem Druck nicht standhalten können und ihre Gesinnung wechseln, wie aus erklärten Anti-Faschisten nun karrierebewusste Faschisten werden. Er wird Zuschauer bei sog. Faschistentaufen, einer Strafmaßnahme, bei denen „renitenten“ Antifaschisten literweise Rizinusöl eingetrichtert wird. Er ist Augenzeuge, wie ein 16jähriger Arbeiter, als Kommunist bekannt, von 60 squadristi in Sekundenschnelle halbtot geknüppelt wird, wie ein junger Vater mit seinem Kind auf dem Arm kurzerhand erstochen wird, weil er die Mütze nicht schnell genug abnimmt und so fort. Und immer wieder berichtet er, wie die Polizei auf Weisung von oben nichts unternimmt, sondern ganz im Gegenteil die Schlägertrupps schützt und die Antifaschisten ins Gefängnis setzt.

Lussu selber wird wiederholt in seinem Haus belagert, sieht sich Morddrohungen ausgesetzt, muss in sein Bergdorf fliehen, muss sich verstecken, wird immer wieder angegriffen und einmal so übel zusammengeschlagen, dass er wochenlang im Krankenhaus liegt.

Zustände, denen der König tatenlos zusieht, während Papst Pius XI. zufrieden ist: „Die Vorsehung hat ihn (Mussolini) uns geschickt, um das Volk von der Irrlehre des Liberalismus zu befreien.“

Lussus Bericht ist nicht frei von Humor, das zeigt schon der Titel des Buches. Sein Humor ist aber ein bitterer und sarkastischer Humor. So macht er sich z. B. darüber lustig, dass Mussolini von Mailand aus agiert. Wieso nicht von Rom aus, der Hauptstadt? Für Lussu ist klar: Mailand liegt eben näher an der Schweizer Grenze!

Mir hat Lussus Klarsichtigkeit imponiert. Er vertritt die Meinung, dass der Staatsstreich Mussolinis durch das überlegene Militär hätte verhindert werden können. Obwohl er Zeitgenosse ist und man bekanntlich hinterher immer alles besser weiß, halten seine Einschätzungen und Beobachtungen der aktuellen wissenschaftlichen Literatur stand.

Bewertung vom 09.03.2023
Mameleben
Bergmann, Michel

Mameleben


ausgezeichnet

„Mameleben“ ist ein Buch, das mich immer wieder sprachlos machte. Schon im 1. Kapitel setzt sich Bergmann mit Aussagen seiner Mutter auseinander, mit denen er von Kindheit an konfrontiert wurde: „Da überlebt man, und das ist der Dank!“
So etwas sagt eine Mutter zu ihrem Kind? Ja, so etwas sagte Charlotte Bergmann, und der Autor beginnt sein Buch verständlicherweise mit den religiösen Geboten zur Elternliebe, mit denen er sich zeit seines Lebens auseinandersetzen musste.

Michel Bergmann schreibt keine Biografie im üblichen Sinn, sondern im Zentrum steht seine sehr persönliche Reflexion über das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter. Charlotte Bergmann hat Schlimmes durchstehen müssen. Sie wuchs in einem großbürgerlichen jüdischen Haus bei Nürnberg aus und floh kurz vor dem Abitur nach Paris. Ihre Mutter und ihr Vater, Träger des Eisernen Kreuzes, wurden in Auschwitz ermordet. Sie selber wurde durch die Vichy-Regierung in Gurs interniert und sie entkam der drohenden Deportation durch die Flucht in die Schweiz, wo sie wiederum als illegal eingereiste Ausländerin interniert wurde. An dieser Stelle spart Bergmann nicht mit deutlichen Hinweisen auf die empörende und menschenverachtende Rolle, die die Schweiz gegenüber den Flüchtlingen aus Hitler-Deutschland einnahm. In der Schweiz trifft sie auf einen Bekannten aus Paris, der ihr Ehemann und Vater des Autors werden wird. Bei Kriegsende reist das Ehepaar zurück nach Deutschland, um das Textilgeschäft der Familie aufzubauen, während das neugeborene Kind über ein Jahr in einem Kinderheim zurückgelassen wird.
Ist das Mutterliebe? fragt sich der Autor.

Er zeichnet seine Mutter als erfolgreiche Geschäftsfrau, begehrte Gesellschafterin, umschwärmt, verehrt, eine schöne und extravagante Frau – und auf der anderen Seite eine übergriffige Mutter, die ihr einziges Kind nicht schonte und die ihren Sohn nicht so nehmen konnte, wie er war. Statt dessen hatte sie große Erwartungen an ihn, was seinen Beruf und seinen sozialen Stand anging, wohingegen sein Gemütsleben ihr völlig gleichgültig war. Sie straft ihn lebenslang dafür ab, dass er einen anderen Weg ging als den, den er ihrer Meinung nach zu gehen hatte: sie kritisiert, sie mäkelt, nichts kann er ihr recht machen, sie überschüttet ihn mit Vorwürfen, macht ihn für ihre eigenen Kümmernisse verantwortlich, mindert seine Leistung, er erfährt keinerlei Wertschätzung – und hinter all dem steht für den Autor immer die Frage: Ist das Mutterliebe?

Am Ende des Buches kann er diese Frage für sich beantworten. Da wird nämlich deutlich, wieso der Autor, viele Jahre nach dem Tod seiner Mutter, dieses Buch schreibt. Er vermeidet den Begriff der transgenerationalen Traumatisierung, aber er erkennt die bewusstseinsverändernden Auswirkungen der Shoa, die auch ihn betreffen.
So sieht er, dass er wie seine Mutter jede Selbstreflexion vermeidet. Inzwischen hat er es gelernt – und so kann er seine Mutter von einem anderen Standpunkt aus ansehen. Und jetzt kann er sich auch die Frage beantworten, ob seine Mutter ihn geliebt habe: ja, aber eben auf ihre recht reduzierte und egozentrierte Weise.

An diesem Punkt erhellt sich die Bedeutung des Untertitels: „Das gestohlene Glück“. Es ist das Glück seiner Mutter, dass ihr durch die Zeitläufte gestohlen wurde, und es ist das Glück des Sohnes, das ihm durch die empfundene Lieblosigkeit seiner Mutter gestohlen wurde.

Ein sehr bitteres Buch – und zugleich durch das hohe Maß an Reflexion ein sehr versöhnliches Buch: der Autor kann sich seiner Mutter in Liebe erinnern.

Sehr lesenswert!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.03.2023
Herr Aurich
Maron, Monika

Herr Aurich


ausgezeichnet

Soll man bei dieser Erzählung lachen oder weinen? Ist das jetzt eine Komödie oder eine Tragikomödie?

Im ganzen Text fällt kein einziges Mal die Bezeichnung „DDR“, aber trotzdem ist es klar, dass sich die Handlung dort abspielt. Herr Aurich, die Titelfigur, ist ein Parteifunktionär, der sich offenbar im Lauf der Jahre hochgedient hat und immer nur eines wollte: „ganz oben“ sein. Aber nun spielt sein Körper nicht mehr mit, er erleidet einen Schlaganfall und wird in das „Krankenhaus für verdiente Personen“ eingeliefert. Er erholt sich, und er ist sich ganz sicher, dass er nun wie die Funktionäre noch weiter über ihm einer speziellen, elitären Behandlung unterzogen wird, da er doch für noch Höheres bestimmt ist.

Bitterböse sind die Stellen, wenn Maron erzählt, wie Herr Aurich sich die Dinge zurechtlegt, wie er die Wirklichkeit verkennt, ja sogar schönredet und nicht von seiner Überzeugung ablassen kann, für eine ganz besondere Rolle in diesem Staat ausersehen zu sein. Der Rat seines Arztes, beruflich kürzerzutreten, stürzt ihn in eine tiefe gesundheitliche und mentale Krise: er ist nun „ganz unten“. Jetzt muss er seine Position neu definieren und eine neue Ordnung schaffen, denn „ganz unten“ kann er nicht sein, das lässt sein Selbstwertgefühl nicht zu – aber was ist dann unter ihm?

An diesem Punkt gelingen Monika Maron sehr eindringliche und sprachlich verdichtete Bilder. Herr Aurich findet nämlich einen Weberknecht, schleicht sich an ihn heran, hebt seinen Fuß – „Das Wort Guillotine fiel ihm ein“ (S. 13) und zertritt das Tier, aber so, dass er „dieses leise Knacken, wenn der Spinnenkörper unter dem Druck seines Fußes auseinanderbarst“ (S. 14) hören konnte.
Und noch jemand ist unter ihm: seine Frau, mit der er sich über Banalitäten streitet und die den toten Weberknecht auch hinausschafft. Seinen plötzlichen Machtverlust kann er zusätzlich kompensieren, wenn er die lebenslustige verwitwete Nachbarin mit dem Fernglas bespitzelt.

Deutlicher und spitzzüngiger kann das Machtgefüge der DDR kaum gezeichnet werden. Die Ausübung von Macht über andere, die strenge Hierarchie, die Selbst-Privilegierung der oberen Riege, das ständige Streben nach eigener Bedeutung kennzeichnen diesen Staat.
Aber dieses Gefüge kann nur funktionieren, so Monika Maron, wenn Spießer wie Herr Aurich mit ihrem Aufstiegswillen, ihrer Rücksichtslosigkeit und ihrer Kaltschnäuzigkeit das System stabilisieren.

Sehr lesenswert!