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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 152 Bewertungen
Bewertung vom 26.09.2022
Das Leuchten der Rentiere
Laestadius, Ann-Helén

Das Leuchten der Rentiere


ausgezeichnet

“Samisch zu sein bedeutete, seine Geschichte in sich zu tragen, als Kind vor dem schweren Rucksack zu stehen und sich zu entscheiden, ihn zu schultern oder nicht“ (S. 190).
Die Autorin versetzt ihre Leser in die Welt der Samen, dem einzigen indigenen Volk Europas. Im Zentrum steht Elsa, die als Kind die Tötung ihres Renkalbs und ihre eigene Bedrohung erleben muss. Die Wehrlosigkeit ihrer Familie verbittert sie zunächst, aber im Lauf der Jahre verdichten sich ihre Erlebnisse und sie begreift die Ursachen dieser Wehrlosigkeit als strukturelles rassistisches Problem. Elsa entschließt sich, den „schweren Rucksack“ zu tragen. Sie wird mutig und setzt sich zur Wehr, auch wenn sie erkennt, dass sie dafür einen hohen Preis zahlen muss.

Die Ablehnung der samischen Kultur und Lebensweise zeigt sich in vielen Bereichen: wir lesen von grausamen Jagden auf die Rentierherden der Samen, von Mobbing und gewalttätigen Übergriffen in den Schulen auf samische Kinder, von alltäglichen rassistischen Beleidigungen, von Telefonterror, von massiven psychischen Erkrankungen und vom Desinteresse der Polizei, bei Übergriffen zu ermitteln. Zugleich wird der Lebensraum der Samen immer weiter eingeengt, nicht nur durch die klimatischen Veränderungen, sondern auch durch die staatliche Forcierung des Bergbaus, der die Weidegründe der Rentierherden schmälert. Gleichzeitig vermittelt uns die Autorin die tiefe Liebe der Samen zur Natur und die Art und Weise, wie sie mit und in der Natur leben, ohne in idyllisierende Schwärmerei zu verfallen.

Wie die Autorin das alles in ihre Geschichte einwebt, hat mir hervorragend gefallen. Sie belehrt nicht, sie informiert nicht, sie jammert nicht und klagt nicht an, sondern sie erzählt einfach die Geschichte Elsas. Und damit gelingen ihr auch sehr anrührende und tief beeindruckende Episoden, wenn sie z. B. die tiefe Trauer der Schwester um ihren geliebten kleinen Bruder in wenigen Strichen so erzählt, dass die Bilder in Erinnerung bleiben. Ihr Erzählen wirkt gleichmütig und durch die durchwegs einheitliche Syntax eher statisch, fast hölzern. Gelegentliche dramatische Ausrutscher wie “eine diabolische Energie, die sie einen Schritt zurücktreten ließ... und ihr Gesicht zog sich in kleinen schnellen Zuckungen um die Augen und den Mund zusammen“ (S. 331) verzeiht man gerne.

Bewertung vom 25.09.2022
Mord vor der Premiere (MP3-Download)
Crispin, Edmund

Mord vor der Premiere (MP3-Download)


ausgezeichnet

Wer einen eher altmodischen Krimi mag, wer auf Leichenberge verzichten kann und Spaß an witzigen Dialogen und skurrilen Figuren hat, der ist hier bestens bedient!
Oxford in den 40er Jahren, eine bunt zusammengewürfelte Schauspieltruppe, Liebe und Intrigen, ein schrulliger Professor, der Kriminalromane liebt und als Hobbydetektiv arbeitet, und natürlich ein rätselhafter Mord – das sind die Zutaten zu diesem schon älteren Kriminalroman, der nichts von seinem Witz verloren hat. Der Roman beginnt mit der Beschreibung der Zugfahrt von London nach Oxford, und schon zu Beginn zeigt der Autor seinen Sprachwitz und seine Freude an Ironie und leicht bösem Humor. Der Leser weiß also, was ihn erwartet, und tatsächlich zieht sich dieser Unterton durch den ganzen Roman hindurch. Das ist auch das Verdienst des Sprechers, der hörbar seine Freude an bissigen Seitenhieben und Anspielungen hat.

Das Personal wirkt aufgrund der Menge zunächst verwirrend, aber hier schafft der Autor schnell Ordnung, indem er die einzelnen Figuren durch Dialoge nahe an den Leser heranrückt und ihnen Unverwechselbarkeit verleiht.
Die beiden Ermittlerfiguren haben mir in ihrer Ambivalenz sehr gut gefallen. Da ist Fen, Professor für englische Literatur und begeisterter Leser von Detektivromanen – und da ist sein Freund Sir Richard, Chef der Oxforder Polizei, dessen Hobby die englische Literatur ist. Jeder mischt sich mit höchst kritischen und spitzen Bemerkungen in das Metier des anderen ein, und ihre Dialoge sind entsprechend gewürzt, sehr zum Vergnügen des Lesers. Um diese beiden Zentralfiguren herum schart sich das restliche Personal, und jeder wird auf seine Weise konturiert und leicht überzeichnet dargestellt.
Fen weiß recht schnell, wer der Täter ist – und da hätte ich mir gewünscht, dass er den Leser gelegentlich an seinen Überlegungen teilhaben lässt. Das macht er nicht, und so gerät das finale Tableau mit der Aufklärung etwas umfangreich, aber nicht weniger spannend.

Am Schluss steht wieder eine Zugfahrt, dieses Mal von Oxford nach London zurück, und damit rahmt der Autor seinen Roman ein und beschließt einen wunderbar nostalgischen Detektivroman.

Bewertung vom 17.09.2022
Mädchen auf den Felsen
Gardam, Jane

Mädchen auf den Felsen


sehr gut

Ein Sommer in England in den 30er Jahren. Im Mittelpunkt der Handlung steht Margaret, die dem Hörer/Leser zunächst als 8jähriges Kind, im 2. Teil dann als junge Frau begegnet, die für den Tod zweier Menschen ursächlich verantwortlich und entsprechend belastet ist. Von dieser zentralen Figur aus entfaltet die Autorin die Handlung. Das Kind Margaret ist eine scharfe Beobachterin und erkennt die Unstimmigkeiten in ihrer Familie, aber erst der Leser ist es, der sich aus ihren Beobachtungen die Verlogenheit und die Bigotterie unter der bürgerlich-frommen Fassade zusammenreimt. Auf diese subtile und indirekte Weise, immer unterfüttert von einem unterschwelligen Humor, breitet die Autorin vor dem Leser ein Gesellschaftsbild der Zeit aus, das durch soziale Ungleichheiten, Klassenschranken und lebensfeindliche religiöse Bestimmungen geprägt ist.
Der Zentralfigur Margaret stellt die Autorin einen zentralen Ort zur Seite: das Herrenhaus mit dem dazugehörigen Park in der Nähe, in dem sich Margaret wohlfühlt und in dem alle Handlungsstränge zusammenlaufen. Gardam verwebt die verschiedenen Erzählstränge wie auch die Zeitebenen mit einer beeindruckenden Leichtigkeit und zugleich großen Souveränität. Sie fordert damit aber ihre Leser heraus, die sich aus den verschiedenen Episoden die Geschichte zusammensetzen müssen. Alle Figuren sind klar konturiert, und die Balance zwischen der Komik und der Schicksalhaftigkeit ihrer Figuren gelingt der Autorin so gut, dass der Leser die seelischen Abgründe und zugleich die Verletzungen sieht und ihm das Lachen gefriert.
Die Sprecherin Leslie Malton hat eine angenehme und geschulte Stimme, der man gerne zuhört – solange keine Dialoge zu lesen sind. Hier versucht die Sprecherin ein Kammerspiel zu inszenieren und jeder Person ihre eigene Stimmlage etc. zu geben; das misslingt, die „Stimmen“ werden unnatürlich und sind oft kaum zu unterscheiden.

Bewertung vom 16.09.2022
Der Gehängte von Conakry
Rufin, Jean-Christophe

Der Gehängte von Conakry


ausgezeichnet

Der Autor führt seinen Leser in eine andere Welt: nach Conakry, der Hauptstadt Guineas, und zwar in die Botschaft Frankreichs, der ehemaligen Kolonialmacht. Hier arbeitet der Vizekonsul Aurel Timescu: ein Jude aus Rumänien, dessen Familie ihm die teure Ausreise aus der Ceausescu-Diktatur nach Frankreich ermöglicht hatte. Aurel liebt sein Klavier fast so sehr wie den Weißwein, er lässt sich wegen seiner unangepassten Kleidung belächeln und erträgt mit Gleichmut die Demütigungen seines Vorgesetzten. Er liebt Kriminalromane und wäre lieber Polizist geworden. Und so ergreift er mit ungewohnter Zielstrebigkeit die Initiative, als sein Chef verreist ist und ein französischer Staatsbürger ermordet wird. Die Auflösung des Falles kommt für den Leser allerdings unvermittelt; hier hätte es mir besser gefallen, am Gedankengang Aurels teilnehmen zu können. Auch die Art der Auflösung passt nicht ganz zum feinfühligen und schüchternen Aurel.

Mit der Ermittlerfigur Aurel schafft Rufin einen eigenen und ungewöhnlichen Ermittlertypus, der den Leser zum Lächeln bringt, auch wenn Rufin ihn gelegentlich überzeichnet und das Klischee des „Ritter von der traurigen Gestalt“ zu kräftig bedient. Nebenbei erfährt der Leser allerhand über die Kolonialgeschichte Guineas und vor allem deren aktuelle Nachwirkungen.

Insgesamt ein spannender Krimi, kurzweilig und vielseitig!

Bewertung vom 16.09.2022
Ein junger Herr aus Neapel / Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero Bd.1
Giovene, Andrea

Ein junger Herr aus Neapel / Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero Bd.1


gut

Ein toller Plot: der Niedergang einer süditalienischen Adelsfamilie und der Untergang einer Welt im Umkreis des I. Weltkrieges! Der Roman war ein großer Erfolg, mehrfach übersetzt, preisgekrönt und sogar für den Nobelpreis vorgeschlagen. Liest man einen solchen Roman, nimmt man innerlich den Hut ab und legt die Hände an die Hosennaht!
Dort bleiben sie allerdings nicht lange; ich habe meine Hände gebraucht, um die vielen unverbundenen Erzählfäden festzuhalten...
Das Werk umfasst insgesamt fünf Bände, deren Handlung vom Jahrhundertbeginn bis Ende der 50er Jahre reicht. Der vorliegende 1. Band stellt uns 5 Lebensphasen des Protagonisten in 5 Kapiteln vor. Ist der Roman tatsächlich eine fiktive Autobiografie? Das mögen andere entscheiden. Tatsache ist, dass sich das Leben des Autors und seines Protagonisten verblüffend ähneln.

Gleich zu Beginn wird der Leser in die hocharistokratische Familie eingeführt, wenn der junge Held, der zweitgeborene Sohn, zusammen mit seiner kleinen Schwester den Stammbaum der Herzöge von Sansevero spielerisch erkundet und dort seinen Platz in der Ordnung einer jahrhundertelangen Ahnenreihe findet. Im letzten Kapitel verlässt er schließlich seine Familie, und so schließt sich hier ein Kreis.
Dazwischen liegen episodenhafte Erzählungen z. B. über den Schulbesuch in einem Benediktiner-Kloster, sein Einzelgängertum in der Familie, seine Hinwendung zur Literatur und Philosophie, seine ersten amourösen Erfahrungen, Kontakt zu recht zwielichtigen Onkeln in noch zwielichtigeren Kreisen und vor allem über seine Erkenntnis, dass das jahrhundertealt, gewaltige Vermögen der Familie schwindet und keinerlei Anstrengungen seitens seiner Eltern erfolgt, den drohenden Ruin aufzuhalten. Stattdessen liest man von einer märchenhaften Prachtentfaltung bei opulenten Festen, von Müßiggang und Familiendramen, von Mäzenatentum und gewaltigen Kunstsammlungen.
Aber alle diese Episoden bleiben merkwürdig flach. Sie werden additiv aneinandergereiht, und ihre Bedeutung für die Entwicklung des Helden lässt sich nicht immer erschließen. Dazu kommt, dass auch die Zeitgeschichte – immerhin der I. Weltkrieg und das Aufkommen der Faschisten unter Mussolini – nur als periphere Hintergrundfolie dient. Der ältere Bruder, Stammhalter, verliert zwar ein Vermögen durch betrügerische Verwicklungen mit den Faschisten, aber was brachte den Bruder in die Nähe der Braunhemden? Wie sah der innere Zusammenhang zwischen Faschismus und Bankrott aus? Und was machte das mit dem Protagonisten?
Der Vergleich mit Tommaso di Lampedusas „Il Gattopardo“ drängt sich natürlich auf, weil beide Werke den Niedergang einer alten Familie und den Zusammenbruch ihrer feudalen Weltordnung erzählen, aber im Unterschied zu Giovenes Werk weist „Il Gattopardo“ durchgehend die innere Stringenz der Handlung auf, die ich bei Giovenes „Roman“ vermisse.

Fazit: ein Roman (?), der eine untergegangene Welt nochmals aufleben lässt, geschrieben in der Sprache des Bürgerlichen Realismus des 19. Jhdts, aber ohne innere Zielorientierung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.09.2022
Serge
Reza, Yasmina

Serge


sehr gut

Ein leichtes Stück über Auschwitz? Und dann noch Imre Kertesz gewidmet, dem einsamen Unbehausten, der sein Leben lang unter dem Trauma seines KZ-Aufenthalts litt?
Das hat mich irritiert, aber weil das Buch nun einmal da war, habe ich es auch gelesen.
Und siehe da: Yasmina Reza gelingt wirklich ein unglaublicher Spagat.

Im Mittelpunkt steht eine jüdische Familie in Paris: drei Geschwister, und der mittlere Bruder Jean ist der Ich-Erzähler. In treffsicheren Dialogen nimmt der Leser teil an ihren Kabbeleien, an ihren Streitereien, aber auch an ihren beruflichen Problemen und ihrem wirklich komplizierten Beziehungsalltag. Die Elterngeneration, die die Geschwister früher als kraftvolle Vorbilder erlebt hat, siecht dahin, wird zunehmend unselbständiger, die Alten müssen betreut und betüttelt werden – kein Gedanke mehr an frühere Pläne, kraftvoll und selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden! Noch hält die Mutter mit ihren sonntäglichen Mittagessen die Familie zusammen. Aber mit ihrem Tod verlieren die Geschwister nicht nur ihren Bezugspunkt, sondern auch die letzte Zeitzeugin ihrer Familiengeschichte der Shoa. Und so müssen sie sich neu formieren. Dazu beschließen sie, eine Reise nach Auschwitz zu machen, dem Ort, an dem die Familie ihrer Mutter ermordet worden war.

Auschwitz präsentiert sich als touristisch perfekt durchorganisiert. Die Massen pilgern von einem grausigen Anziehungspunkt zum nächsten, angetan mit Sonnenbrille und geblümten Shorts, und eigentlich fehlt – dachte ich – nur noch der Würschtlstand an einer versteckten Ecke. Die bizarre Situation wird gesteigert durch die Erinnerung an eine Klassenreise, bei der die Lehrerin angesichts dieses Massentourismus loslachen musste und nicht mehr aufhören konnte. Auch die Familie wuselt durch die „Sehenswürdigkeiten“, die einen sind interessiert, den anderen ist es zu warm, sie schwitzen, lassen ihrer schlechten Laune freien Lauf und entziehen sich der Betrachtung des Grauens. Dieser Gegensatz zwischen dem großen Vorhaben, der Familiengeschichte auf die Spur zu kommen, und der Verwirklichung bzw. dem Scheitern dieses Vorhabens hat etwas Groteskes, aber auch etwas Tragisches. Und auch die kommenden Versuche, die Familie zusammenzuhalten, haben etwas Morbides und sind von diesem Gegensatz geprägt.

Wie die Autorin den Bogen spannt zwischen dem Ernst, der diesem Ort (und auch folgenden Ereignissen) zukommen muss, und der Komik, die sich am Miteinander der Familie zeigt – das ist gekonnt. Souverän hält sie die Balance, wenn wir ihre unbeholfene, desorientierte, aber dennoch sympathische Familie auf ihrer Identitätssuche begleiten.

Einer Identitätssuche, die nicht gelingt.

Fazit: Ein kunstvolles, aber sehr unterhaltsames Buch über Identität und ein besonderer Beitrag zur Erinnerungskultur.

Bewertung vom 04.09.2022
Die Hohenzollern und die Nazis
Malinowski , Stephan

Die Hohenzollern und die Nazis


ausgezeichnet

Zum Hintergrund: Seit 2014 laufen Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der Familie Hohenzollern, die sich auf das sog. Ausgleichsleistungsgesetz beruft und Ansprüche auf Schlösser, Liegenschaften, Tausende von Kunstschätzen und andere Vermögenswerte erhebt, die nach dem II. Weltkrieg von der Sowjetischen Militäradministration enteignet wurden. Malinowski wurde mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt zur Frage, ob der Ex-Kronprinz Wilhelm dem Nationalsozialismus „erheblichen Vorschub“ geleistet habe. Wenn ja, wären Leistungen nach diesem Gesetz ausgeschlossen. Diese sog. Hohenzollerndebatte entwickelte sich in den Folgejahren zum „bedeutendsten geschichtspolitischen Konflikt des Landes“ (SPIEGEL). Malinowski und Journalisten wurden von den Hohenzollern mehrfach verklagt.
Das vorliegende Buch basiert auf den Ergebnissen des Gutachtens.

Gleich zu Beginn stellt der Autor klar, dass er sein Buch nicht auf die Frage der Vorschubleistung reduziert sehen will. Er betrachtet sein Buch eher als Fallstudie, in der er die Handlungen einer hochadligen Familie mit der historischen Methode untersucht. Der Autor legt seine Darstellung daher breit an und beginnt mit dem Exil des Kaisers Wilhelm II. und des Kronprinzen Wilhelm in den Niederlanden und beobachtet ebenfalls das Agieren der Familie und der Vertrauten. Ein wesentlicher Untersuchungsgegenstand ist dabei die Kommunikation zwischen den Hohenzollern und der Öffentlichkeit. Der Autor betont die Bedeutung der Selbstdarstellung bzw. Performance für das Bild, das die Hohenzollern der Öffentlichkeit bieten wollten. Die war nicht immer leicht zu meistern; so ließ sich z. B. die Fahnenflucht des Kaisers und des Thronfolgers in den folgenden Jahren nur schwer vermitteln. Ein breit aufgestellter Stab an PR-Beratern, Ghostwritern, Journalisten, Juristen etc. sorgte für das gewünschte Außenbild der Figur.

Malinowski legt akribisch dar, wie die Hohenzollern die Hoffnung auf eine Restitution der Monarchie nicht aufgaben und wie sie sich zum Steigbügelhalter der Nationalsozialisten machten. Dazu nutzen sie ihren charismatischen Namen, der Sehnsüchte und Volk hervorruft, die den Kyffhäuser-Mythos assoziieren lassen, wobei die Namensträger allerdings von Charakter und Leistung her diesen Erwartungen nicht gerecht werden. Zusätzlich nutzen sie die informellen Kommunikationsmöglichkeiten des Adels bzw. Hochadels, wie sich bei Jagdgesellschaften, Bällen, in den Clubs, den Offizierkasinos etc. ergaben. Die Verbindung des nationalen mit dem konservativen Lager glückt, und der Tag von Potsdam, an dessen Inszenierung auch die Hohenzollern beteiligt sind, zeigt eindrucksvoll den Schulterschluss von Alt und Neu. Die nächsten Jahre sind gekennzeichnet von Anbiederungsversuchen, Anpassungen und Arrangements. Nach wie vor stellen die Hohenzollern dem Regime ihre jahrhundertealte Geschichte, ihr Charisma und den Glanz ihres Namens zur Verfügung. Trotzdem reicht der Einfluss nicht so weit, um im arrivierten NS-System eine bedeutende Rolle zu spielen.

Liest man die Quellen, die Malinowski anführt, fällt es schwer, an die imaginierte Opferrolle der Hohenzollern zu glauben. Da werden die Verhaftungen von Kommunisten, Sozialisten, Juden und anderen „Volksfeinden“ als „Aufräumarbeiten“ abgetan, Mussolini wird wegen seiner „genialen Brutalität“ bewundert, schon in den 20er Jahren sind Hitler, Röhm und Göring Gast im Cecilienhof, Wahlaufrufe für Hitler, Sätze wie „Jetzt heißt es, jedem in die Fresse zu hauen“, der die Regierung Hitler angreife, Geldzuwendungen, Assistenz im SA-Folterkeller, eine Fülle an Bildmaterial etc. – Malinowski stützt seine Darlegungen auf eine breite Quellenlage, die er genau auswertet und zugleich die apologetischen Ausführungen anderer Historiker widerlegt. Sein Urteil: Es dürfte "auch im Adel aller Sparten nur wenige Familien gegeben haben, die so geschlossen, so stetig, so radikal und so wirkungsvoll gegen die Republik und ihre Prinzipien aufgetreten sind wie die polit

Bewertung vom 02.09.2022
Intimitäten
Kitamura, Katie

Intimitäten


sehr gut

Die äußeren Gegebenheiten dieses Romans sind schnell erzählt: Eine junge Frau, Dolmetscherin von Beruf, verlässt nach dem Tod ihres Vaters und dem Wegzug der Mutter ihre Heimatstadt New York. Sie zieht nach Den Haag und arbeitet dort am Internationalen Gerichtshof.
Thema des Romans sind weniger diese äußeren Dinge, sondern die innere Entwicklung, die die Erzählerin durchläuft. Sie hat die Sicherheit ihrer Familie und ihrer Heimat verloren und muss sich nun neu orientieren: beruflich und auch privat. Ihre Welt bekommt Risse. Fast unmerklich, dann immer deutlicher dringt Gewalt in ihr Leben ein. Zunächst hört sie nur von einem Überfall in ihrer Nähe, dann trifft sie schließlich selber das Opfer. In gigantischem Ausmaß wird sie jedoch beruflich mit Gewalt konfrontiert, als sie die Verhandlungen und Beratungen mit einem afrikanischen Ex-Präsidenten dolmetschen muss, der wegen Kriegsverbrechen angeklagt ist. Ihr Beruf verlangt eine sachliche Wiedergabe des Gehörten, und sie erkennt, dass jede Übersetzung zugleich eine Interpretation des Gehörten ist, und zwar nicht nur verbal, sondern auch Stimmführung, Stimmfärbung etc. verleihen dem Gesagten Sinn. Diese Problematik bringt Risse in ihr Berufsbild. Dazu kommt, dass sie mit grausamen Tatsachen konfrontiert wird, die es ihr schwer machen, unparteiisch zu dolmetschen. Zudem sieht sie sich nonverbalen Einschüchterungsversuchen des Angeklagten ausgesetzt, einer charismatischen Führernatur. Sie erkennt die Theatralik der Verhandlungen und schließlich auch die begrenzte Kompetenz des Gerichts: auch ihr Vertrauen in Gerechtigkeit bekommt Risse. Und ihr Privatleben auch...
Der Titel „Intimitäten“, der mich zunächst gestört hat, erweist sich als sehr stimmig. Die Ich-Erzählerin rückt aufgrund ihrer scharfen Beobachtungsgabe und ihrer hohen Reflektionsfähigkeit sehr nahe an die Menschen heran und erkennt Verborgenes - auch beruflich, wenn sie direkt in das Ohr des Angeklagten spricht, s. Cover. Die Intimität dieser Begegnung lässt sie den Verbrecher als Menschen erkennen und sie erkennt die Gefahr, die Perspektive des Angeklagten einzunehmen.
Die Autorin nimmt den Leser/Hörer mit in die Dolmetscher-Situationen am Gerichtshof, über die sie sich offensichtlich umfassend und gründlich informiert hat. Sie nimmt den Leser/Hörer auch mit in das Alltagsleben der namenlosen Ich-Erzählerin, die ihr Zuhause sucht: ihre Einsamkeit, ihre Enttäuschungen, ihre Gedanken und Gefühle. Die sprachliche Präzision der Autorin passt zu der präzisen und empathischen Beobachtungsgabe der Protagonistin. Die Handlung fließt ruhig dahin, es sind nur schwache Spannungsbögen zu erkennen, dennoch war mir das Buch keine Sekunde langweilig. So wie die Ich-Erzählerin nahe an die Menschen heranrückt, so rückt die Autorin ihre Protagonistin nahe an den Leser/Hörer heran.

Bewertung vom 31.08.2022
Doppelleben
Sulzer, Alain Claude

Doppelleben


ausgezeichnet

Historischer Hintergrund:
Die beiden Brüder Edmond und Jules de Goncourt stammten aus einer vermögenden Familie und lebten ihr Leben lang ausschließlich für ihre Interessen, hauptsächlich die Literatur. Sie lebten und arbeiteten fast symbiotisch zusammen, teilten sich sogar ihre Geliebte. Mit ihrem literarischen Interesse für die niederen Stände gelten sie als die Begründer des Naturalismus.
Ein besonderes Zeitdokument ist das Tagebuch (ab 1851), das beide Brüder verfassten und das Edmond, der ältere Bruder, nach Jules‘ Tod noch 25 Jahre alleine fortführte. In diesem Tagebuch nehmen die Beiden kein Blatt vor den Mund. Sie beobachten scharf und mitleidlos, notieren unbestechlich genauestens Intimitäten ihres Freundeskreises, zu dem die wichtigsten Literaten ihrer Zeit und auch die Prinzessin Mathilde, Nichte Napoleons und Kusine des Kaisers Napoleon III., gehörten. Das vollständige Tagebuch erschien 2013 erstmals auf Deutsch und ist die Quelle für Sulzers Roman.
Der Prix Goncourt ging aus einer Stiftung Edmonds Goncourts hervor und gilt inzwischen als der begehrteste Literaturpreis Frankreichs.

Mein Lese-Eindruck:
Selten hat mir ein Romantitel so gut gefallen wie „Doppelleben“. Dieser Titel trifft in mehrfacher Weise zu, und zwar auf jeden der verschiedenen Handlungsstränge. Die kapitelweise miteinander verschränkt werden.
Zunächst betrifft „Doppelleben“ das symbiotische Zusammenleben und -arbeiten der beiden Brüder Goncourt. Jules‘ Syphilis-Erkrankung wird von seinem älteren Bruder beharrlich geleugnet, und hier gelingen Sulzer sehr empathische und berührende Szenen, wenn er die Sorge und auch die Verzweiflung Edmonds erzählt, der sich mit dem geistigen Verfall seines Bruders nicht abfinden kann.
„Doppelleben“ betrifft aber auch die Magd Rose, die seit den Kindheitstagen der Brüder im Haus lebte und sie wie eine Mutter aufopferungsvoll versorgte. Erst nach ihrem Tod erfahren die Brüder von ihrem Doppelleben: sie hatte sich verschuldet, gestohlen und betrogen, um ihren jungen Geliebten zu finanzieren, dem sie hörig war. Beide Brüder mussten erkennen, dass sie, die so stolz auf ihre scharfe Beobachtungsgabe waren, bei den Tragödien in ihrer direkten Umgebung blind waren. Sie beschließen einen professionellen, d. h. ästhetischen Umgang mit dem Erlebten und schreiben den Roman Germinie Lacerteux, in dem sie das Leben einer Frau der niederen Stände mit allen abstoßenden Facetten thematisieren.
„Doppelleben“ betrifft aber auch die Zeit, in die der Autor seinen Leser mitnimmt. Es ist die Zeit Napoleons III., wir erleben den Glanz der Salons, üppige Festmähler und opulente Vergnügungen – und auf der anderen Seite das Elende der Unterschicht: gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen, Alkoholismus, Kriminalität, Prostitution. Sulzer verschränkt beide Seiten der Gesellschaft. In Erinnerung bleibt eine pointierte Szene, als im Salon der Prinzessin ein Arzt dieses Elend ins Gespräch bringt, was von der champagnertrinkenden Gesellschaft jedoch als „degoutantes Hirngespinst abgetan wird.
Sulzers Buch besticht nicht nur durch die genaue historische Recherche, sondern auch durch die immer ruhige, fast behäbig-altmodische Sprache, in der er erzählt. Dramatisches wechselt mit Lyrischem, Anekdoten aus den Tagebüchern sorgen für Kurzweil. Sulzer erzählt seine Geschichte mit Empathie, ohne larmoyant zu werden, und so gelingt ihm ein spannender Roman, der eine starke Sogwirkung entfaltet.

Bewertung vom 28.08.2022
Metropolis
Woolf, Greg

Metropolis


ausgezeichnet

Schade, dass der englische Untertitel bei der deutschen Ausgabe weggelassen wurde: "A Natural History". In diesem Untertitel wird die Zielsetzung nämlich sofort klar: es geht nicht um eine Aneinanderreihung von einzelnen Stadtgeschichten, sondern der Autor begreift Stadtgründungen als Teil der menschlichen Evolution in dem Sinn, dass das Leben in einer Stadt den Eigenschaften der Spezies Mensch entspricht und dass es Vorteile für ihn haben muss. Dazu verwebt der Autor die Humanwissenschaften mit Biologie, Ökologie, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, aber auch mit Archäologie und Literaturgeschichte – ein ausgesprochen origineller Ansatz, der sich zudem als zielführend und sehr umfassend erweist.

Der Autor nimmt seinen Leser mit auf einen Parforceritt durch die antike Geschichte, der keine Sekunde langweilig ist und immer wieder den Bogen zur Gegenwart schlägt.
Er beginnt naturgemäß aufgrund der Quellenlage bei Uruk, wo der Übergang vom Dorfleben zum Urbanismus erstmals belegt werden kann; er verweist aber sachgerecht auf die jüngeren Ausgrabungen bei Tell Brak in Syrien, einer vermutlich noch älteren städtischen Siedlung, deren Ergebnisse abzuwarten sind. Der Autor macht dem Leser sofort klar, dass die Gründung Uruks und auch der anderen antiken Städte nicht das Ergebnis eines planvollen Handelns war, sondern eher das zufällige Ergebnis vieler Versuche, weil der Mensch offenbar ein urbanes Potential hat. Nur die geglückten Versuche können erforscht werden, während die missglückten ins Dunkel der Geschichte zurückfallen. Diese Versuche der bäuerlichen Dorfgemeinschaften, ihr Zusammenleben mit größerer Komplexität zu gestalten, fanden in langen Zeiträumen statt.

Und vom Fruchtbaren Halbmond aus reist der Leser nun weiter durch die Geschichte. Nach einem kurzen Blick auf den Urbanismus ca. 3000 v. Chr. im Niltal, im Industal und in Nordchina und auf die jüngeren Städte im heutigen Mexiko und Peru konzentriert sich der Autor auf den mittelmeerischen Raum. Mancher wird sich wundern, wie klein die griechischen poleis waren. Faszinierend ist die Bedeutung der Erfindung des Segels, die für schnellere Transportwege und einen größeren Austausch sorgte und damit die Vernetzung der Städte vorantrieb und festigte. Die Reise endet bei den Megalopoleis, allen voran Rom.

In jedem der vielen Kapitel bietet Woolf spannende und informative Unterhaltung. Ob das die Zusammenbrüche einiger Städte waren, die Bedeutung der Monumentalbauweise, die vielen Migrationsbewegungen aufgrund unterschiedlicher Ursachen, die beeindruckenden Urbanismen der Bronzezeit, die Bedeutung der Schrift, die Bedeutung des Eisens und anderer Metalle, die Gefahren des urbanen Lebens, die Bedeutung der Nekropolen, Bauweisen, Baumaterialien, die Organisation in Stadtstaaten und Imperien, Gründungsmythen, Kolonisierungen etc. - jedes Kapitel ist ein spannender Blick in eine vergangene Zeit.

Immer aber hat der Autor den Menschen im Blick. Es ist die Neigung des Menschen zum Zusammenleben und zum problemlösenden Denken, aber auch die Tatsache, dass er ein „Allesfresser“ ist, die ihn in den Urbanismus führten.

Ein umfassend durchdachtes Buch, lesbar für Fachleute (vgl. 47 Seiten Literaturhinweise) und für Laien, immer verständlich, ungemein kenntnisreich und spannend zu lesen.