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Benutzername: 
Ingrid von buchsichten.de
Wohnort: 
Erkelenz

Bewertungen

Insgesamt 317 Bewertungen
Bewertung vom 06.05.2022
Gran Paradiso
Landau, Grit

Gran Paradiso


ausgezeichnet

Der Roman „Gran Paradiso“ von Grit Landau erzählt eine von einem Geheimnis umhüllte Geschichte, die auf zwei Zeitebenen spielt. Im Jahr 1982 wird die in Turin lebende Journalistin Gianna Perrin von der im kleinen Ort Sant’Amato an der Riviera lebenden Mafalda Amoretti angerufen. Mafalda ist die inzwischen 82-jährige Cousine ihrer vor zwei Jahren verstorbenen Mutter Maria, die die erste Bürgermeisterin von Turin war. Im zweiten Weltkrieg hat Maria sich aktiv als Partisanin betätigt. Über diese Zeit hat sie ein Tagebuch geschrieben und veröffentlicht. Mafalda hat Gianna angerufen, damit sie baldmöglichst kommt um den Inhalt eines Koffers durchzuschauen, den Maria nach dem Krieg bei ihr abgestellt hat.
Gianna, Mitte 30, hat sich von ihrem Mann getrennt. Im Beruf benötigt sie eine Auszeit, darum folgt sie dem Anruf von Mafalda. Im Koffer findet sie Kleidung, ein paar Postkarten, eine Kette mit Anhänger sowie eine Kladde und zwei Notizbücher. Schnell erkennt Gianna, dass es sich dabei um das Tagebuch ihrer Mutter handelt. Doch nachdem sie mit dem Lesen begonnen hat, fallen ihr einige Abweichungen auf und sie findet eine Zeichnung, die einem ihr bekannten Bild ähnlichsieht. Giannas Interesse ist geweckt und auch ich wurde neugierig und begleitete die Protagonistin auf die zweite Handlungsebene, die im Jahr 1944 im Aostatal spielt.
Das Buch ist betitelt nach einem über 4000 m hohen Berg in den Grajischen Alpen, an denen die Regionen Aostatal und Piemont Anteil haben. An seinem westlichen Fuss liegt das Dorf Cogne in einem Hochtal in dem die Handlung des Jahrs 1944 spielt. Der Roman basiert auf der Geschichte des Orts. Dank der sehr guten Recherche der Autorin, auch vor Ort, erweckte sie die Bergwelt in Gedanken vor meinen Augen beim Lesen.
Das Erzbergwerk und seine Materialeisenbahnlinie spielen eine große Rolle im Kampf der Partisanen. Auch der Leiter des Werks und seine Familie sind mit dem Widerstand im Aostatal verbunden. Grit Landau bringt ihre Begeisterung für Geschichte hier ein, drängt diese aber nicht in den Vordergrund, sondern fügt sie erklärend und beschreibend in den Gesamtkontext.
Wie bei ihren ersten beiden Romanen besteht auch in „Gran Paradiso“ wieder eine Verbindung zur fiktiven Familie Lanteri. Jeder Band ist problemlos unabhängig von den anderen lesbar. Maria ist die Tochter des aus Sant’Amato stammenden Wildhüters Enrico Lanteri, einem Bruder von Leo, der in den 1920er Jahren für den Widerstand kämpfte. Gianna kämpfte als Jugendliche und junge Frau mit dem in öffentlichen Bild ihrer Mutter, die als "Maria Mortale" bezeichnet wurde. Das Verhalten zu ihr stellt sie dem ihrer jüngeren Brüder gegenüber und fühlt sich weniger geliebt. Erst mit dem Lesen der Aufzeichnungen von Maria findet sie eine Erklärung für den Unterschied und den Beinamen. Sie befindet sich in einer Phase, in der sie ihr Leben hinterfragt und neu ausrichtet.
Ihrem bisherigen eigenen Schreibstil treu bleibend lässt Grit Landau italienische Wörter und Sätze einfließen, deren Bedeutung sich im Zusammenhang erschließt, die aber auch in einem Glossar am Ende des Buchs nachgeschlagen werden können. Dort findet sich auch ein Nachwort zur Realität und Fiktion im Roman, Kurzbiografien über vier Partisanninen des Aortatals, die die Autorin zur Figur der Maria inspiriert haben, sowie eine Literaturliste für diejenigen, die tiefer in die geschichtlichen Hintergründe eintauchen möchten. Um beim Lesen den Überblick über die handelnden Personen zu behalten, sind die wichtigsten am Anfang des Romans mit einer Kurzbeschreibung aufgelistet.
Mit ihrem Roman „Gran Paradiso“ lässt Grit Landau den Kampf um die Freiheit im Herbst 1944 im italienischen Aostatal wieder aufleben. Dabei steht die selbstbewusste Partisanin Maria im Mittelpunkt. Ihre Tochter Gianna deckt viele Jahre später ein Familiengeheimnis auf, das ihr Verhältnis zur inzwischen verstorbenen Mutter und ihr ganzes Leben verändert. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Bewertung vom 01.05.2022
Das Leben, ein wilder Tanz / Die Polizeiärztin Bd.3
Sommerfeld, Helene

Das Leben, ein wilder Tanz / Die Polizeiärztin Bd.3


ausgezeichnet

er dritte Band der Trilogie rund um die „Polizeiärztin Magda Fuchs“ des unter dem Pseudonym Helene Sommerfeld schreibenden Autorenduos trägt den Untertitel „Das Leben, ein wilder Tanz“ und spielt in den Jahren 1924 bis 1926. Der Haupthandlungsort ist das quirlige Berlin. Nach der Währungsreform 1923 sind Güter des täglichen Bedarfs wieder bezahlbar. Darüber hinaus reicht das Einkommen besser gestellter Berlinern auch dazu, sich Vergnügungen zu leisten.

Die 33-jährige Magda ist mit Kuno Mehring glücklich verheiratet. Neben ihrer Arbeit als Polizeiärztin führt sie ihre eigene gynäkologische Praxis. Bei ihr wächst der Wunsch nach einem eigenen Kind. Gemeinsam mit ihrem Mann gibt sie aber ebenfalls die Suche nach dem verschwundenen Bruder des Adoptivkinds ihrer Schwester nicht auf. Das Leben von Celia Fahrland-Hinnes nimmt im Roman einen breiteren Raum ein. Sie ist schwanger. Ihr Schwiegervater, der als der reichste Mann Deutschland gilt, ist schwerkrank. Celias Ehemann Edgar wird bei seinem Tod das Unternehmen der Familie weiterführen. Für sie steht plötzlich in Frage, ob sie ihre Zukunft an der Seite von Edgar wie geplant gestalten kann.

Auch den aus den ersten beiden Teilen bekannten Figuren Doris und Erika begegnete ich im vorliegenden Band. Beide leben immer noch in der von Celia geführten Pension. Doris ist inzwischen eine erfolgreiche Schauspielerin. Ebenso konnte ich den weiteren Weg der mit Magda zusammenarbeitenden Fürsorgerin Ina verfolgen und den der für Celia tätigen Anwältin Ruth.

Das Berliner Autorenehepaar baut rund um seine Figuren ein brodelndes Berlin auf mit Musik, Theater und Film. Es scheut sich aber auch nicht, die Schattenseiten der Stadt zu zeigen. Einerseits las ich vom Leben der fiktiven Familie Hinnes mit Dienstpersonal, das angelehnt ist an die reale Geschichte von Hugo Stinnes. Auf der anderen Seite folgte ich Ina bei ihrer Fürsorge um Kinder, die auf der Straße leben.

Eine Gleichberechtigung der Frauen ist noch in weiter Ferne und die Schritte dahin sind klein. Celia erfährt geringe Wertschätzung in ihrer Schwiegerfamilie, wodurch ihr Selbstbewusstsein leidet und sie sich immer wieder selbst in Frage stellt. Unterstützung findet sie bei ihrer Schwägerin, die ihr das Autofahren beibringt.

Martha wird zur Untersuchung eines verletzten weiblichen Opfers gerufen, die bald darauf verstirbt. Der Fall zieht immer größere Kreise und führt sie zu einem Gruppe von ganz speziellen Liebesuchenden. Mit Kuno ergänzt sie sich nicht nur privat sondern auch beruflich. Es ist schön, die beiden im Einvernehmen zu erleben.

Dank der sehr guten Recherche und des mitreißenden Schreibstils schafft Helene Sommerfeld im dritten und abschließenden Band der Polizeiärztin Magda Fuchs-Reihe „Das Leben, ein wilder Tanz“ ein authentisches Bild der Berliner Gesellschaft Mitte der 1920er Jahre. Die Figuren haben ihre je eigenen Probleme, die meisten sind nicht absehbar, und ich konnte mitverfolgen, welche Gedanken sie bewegen und wie sie zu einer für sich passenden Lösung gelangen. Am Ende der Geschichte gelingt den beiden Autoren eine Verbindung zu ihrer ersten Serie rund um die Ärztin Ricarda Thomasius. Das Buch hat mich gut unterhalten und gerne empfehle ich es weiter. Für Helene Sommerfeld-Leser ist es ein Muss.

Bewertung vom 01.05.2022
Waldinneres
Subietas, Mónica

Waldinneres


ausgezeichnet

Das Buch „Waldinneres“ ist der erste Roman von Mónica Subietas, einer in Spanien geborenen und heute in Zürich lebenden Schriftstellerin. Das schön gestaltete Cover zeigt einen Ausschnitt aus dem titelgebenden Gemälde von Gustav Klimt. Auf den Innenseiten der Klappen ist das Bild vergrößert wiedergegeben. Als Leserin begleitete ich dessen Weg von 1943 bis ins Jahr 2010.

Die Geschichte beginnt mit einem „Vorfall“. Der 56-jährige Gottfried Messmer ist Inhaber einer Szenekneipe in Zürich. Tony, der Koch des Lokals, hat den mit seinem Chef befreundeten Maler Max Müller in dessen Atelier leblos aufgefunden. Vorher hatte er Streit mit dem Künstler, weswegen er in Verdacht gerät, ihn lebensgefährlich verletzt zu haben. Aber die Erzählung fokussiert nicht auf dem Kriminalfall, allerdings wird das Verbrechen aufgeklärt. Weswegen es zu der Tat gekommen ist, reicht weit in die Vergangenheit zurück, bis in das Jahr 1942. Damals half der Vater von Gottfried, ein Forstaufseher, einem jüdischen Immigranten dabei, in die Schweiz einzuwandern.

Der Roman spielt auf mehreren Handlungsebenen. Neben der Fluchthilfe von Gottfrieds Vater und dessen Vermächtnis sind ein amerikanischer Kunsthändler, der jetzt in der Schweiz lebt und eine flüchtige Beziehung von Max zu einer Kellnerin für den Hergang ebenso wichtig. Die Autorin beschreibt ebenfalls das fiktive Schicksal eines jüdischen Kunstsammlers, der aufgrund eines Beschlusses des Schweizer Bundesrats in eine Klemme gerät. Der Erlass schloss die Grenze für Flüchtlinge, die allein aus Rassegründen um Aufnahme baten. Außerdem fasst sie das Thema Kunstraub im Nationalsozialismus auf. Bis heute ist der Umgang aufgrund der beinhalteten Wertigkeit der Werke umstritten. Damit schlägt Mónica Subiertas eine Brücke zwischen der Vergangenheit und dem Heute.

Die Figuren des Romans erleben Höhen und Tiefen. Von Beginn an fühlte ich mich als Leserin mitgerissen von der Frage, von wem Max überfallen wurde und aus welchem Grund. Im anschließenden Kapitel verschwindet dann noch ein Mensch. Was mit ihm geschah, bleibt lange ungeklärt. Über die gesamte Geschichte hinweg bringt Mónica Subietas immer wieder die Valenzen zweier Menschn ins Spiel. Die Charaktere der Geschichte haben Lebenserfahrung in unterschiedlichen Bereichen. Daher ist ihre Gewichtung von dem, was sie besonders wertschätzen verschieden. Manchmal habe ich mir gewünscht, mehr über eine Person zu erfahren, um noch stärker ihrer Gedankenwelt und der Hintergründe für ihre Handlungen folgen zu können.

Im Roman „Waldinneres“ bildet Mónica Subietas das Thema Kunstraub mehrschichtig ab und nutzt es für den Hintergrund krimineller Aktivitäten, die mehrere Personen in Bedrängnis bringen. Die Geschichte baut Spannung auf und stimmt bei der Aufdeckung eines wohlgehüteten Familiengeheimnissen nachdenklich über die Werte in unserer Gesellschaft. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Bewertung vom 25.04.2022
A Song of Wraiths and Ruin. Die Spiele von Solstasia / Das Reich von Sonande Bd.1
Brown, Roseanne A.

A Song of Wraiths and Ruin. Die Spiele von Solstasia / Das Reich von Sonande Bd.1


ausgezeichnet

Das Buch „A Song of Wraiths and Ruin“ der in den USA lebenden, in Ghana geborenen Autorin Roseanne A. Brown ist eine High Fantasy-Dilogie. Die Geschichte spielt in der zentral gelegenen Wüstenstadt Ziran im fiktiven Reich von Sonande. Jedes 50. Jahr finden dort die Spiele von Solstasia statt, weswegen der erste Band entsprechend einen Untertitel trägt, der auf das Turnier hinweist. Eine Woche dauern die Feiern zu Ehren der Gottheiten, die jeweils einem Wochentag zugeordnet werden. Entsprechend der sieben Schutzgötter kämpfen sieben Auserwählte darum, welche Gottheit das neue Zeitalter nach Abschluss der Spiele regieren wird.

Bei den Spielen lernen sich der siebzehnjährige Malik und die gleichaltrige Karina kennen. Malik ist einer der Champions. Er ist mit seinen Schwestern nach Ziran gereist. Seine jüngere Schwester wird von einem Geist gefangen genommen, der sie nur dann wieder frei lässt, wenn Malik Karina tötet. Noch bevor das Turnier beginnt, stirbt Karinas Mutter, die Königin von Ziran, daher soll Karina als einziges, noch lebendes Familienmitglied ihrer Mutter nachfolgen. Viel lieber wäre es ihr aber, ihre Mutter wiederzubeleben, doch dazu benötigt sie für ein magisches Ritual das Herz eines Königs. Malik hat beste Voraussetzung, den Platz an ihrer Seite einzunehmen.

Die von Roseanne A. Brown kreierte Fantasywelt ist facettenreich. Basierend auf einer mittelalterlich anmutenden Umgebung beschreibt sie ein quirliges, trubeliges Leben in Ziran, in das sich Karina gerne hineinstürzt. Ihr Verhalten wird am Königshof nicht besonders geschätzt. Sie hat als Kind ihre ältere Schwester verloren. Immer wieder vergleicht sie sich mit ihr und kann doch die Lücke, die diese hinterlassen hat, nicht ausfüllen. Auch Malik wertschätzt seine Familie, die für ihn an erster Stelle steht. Beide sind ihrer Herkunft verpflichtet, die sehr verschieden ist. Von Beginn an hoffte ich darauf, dass Karina und Malik sich näherkommen. Die Autorin beginnt ein Katz- und Maus-Spiel mit den beiden, das für hohe Spannung beim Lesen sorgt.

Karina und Malik empfand ich nicht als reine Sympathieträger, denn sie haben Ecken und Kanten, durch besonders interessant sind. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Ungerechtigkeiten deutlich wahrnehmen, sich aber auch ihres Mangels an Aktionsmöglichkeiten bewusst sind, die abhängen von ihren eigenen magischen Fähigkeiten und der von anderen. In der Welt, in der sie leben, sind viele auf ihren eigenen Vorteil bedacht, wodurch es zu Hinterhältigkeit und arglistigen Fallen kommt. Mächte bekämpfen sich gegenseitig, was zum immer größeren Zerfall des Reiches führt und der Frage, ob Karina und Malik den Untergang aufhalten können. Aufgrund ihres Alters sind die beiden Protagonisten noch unerfahren, lernen aber hinzu.

Gekonnt flechtet Roseanne A. Brown aktuelle Themen wie beispielsweise Geschlechterverständnis und Antirassismus in die Fantasy ein. Die Autorin ist eine gute Geschichtenerzählerin wovon vor allem der Charakter des Malik profitiert. Immer wieder geschehen unerwartete Wendungen. Im Buch wird auf die Anwendung von Gewalt hingewiesen, weswegen die Erzählung eher nicht von Feinsinnigen gelesen werden sollte. Durch den farbigen Buchschnitt ist es eine Freude, das Buch in der Hand zu haben.

Das Buch „A Song of Wraiths and Ruin – Die Spiele von Solstasie“ von Roseanne A. Brown ist eine durchgehend spannende Fantasy voller frischer Erzählideen, mysteriös und geheimnisvoll. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung an Lesende des Genres ab etwa 14 Jahren.

Bewertung vom 13.04.2022
Die Zeit der Jäger / Karl Wiener Bd.3
Götz, Andreas

Die Zeit der Jäger / Karl Wiener Bd.3


sehr gut

Der Kriminalroman „Die Zeit der Jäger“ von Andreas Götz ist der abschließende Teil einer Trilogie bei der der Journalist Karl Wieners und sein Jugendfreund, Oberkommissar Ludwig Gruber, im Mittelpunkt stehen. Die Handlung spielt 1958, vorwiegend in München. Die Trümmer des Zweiten Weltkriegs sind zwar noch nicht vollständig beseitigt, aber die wirtschaftliche Lage ist gut, die politische allerdings angespannt.

Der inzwischen 47-jährige Karl Wieners hat einen Herzinfarkt erlitten, ist auf Schonkurs und gibt das Rauchen auf. Von Magda Blohm, seiner angeblichen Nichte, kann er nicht ablassen. Obwohl ihr schwerreicher Ehemann sie vor drei Jahren unter Androhung, das Leben ihrer Liebsten zu zerstören, nach New York City geschickt hat, gibt er die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft nicht auf. Sowohl Magda als auch Karl beschäftigt der Gedanke, Walter Blohm aus dem Weg zu räumen.

Am Fronleichnamstag wird der Leibwächter von Blohm in dessen Haus ermordet aufgefunden. Der Tresor im Büro ist geöffnet und eine große Blutlache befindet sich am Boden, aber von Blohm fehlt jede Spur. Ludwig Gruber hat seine Selbständigkeit aufgegeben und arbeitet wieder bei der Kriminalpolizei. Er ist sich bewusst, dass Blohm mehrere Feinde hatte. Sowohl Magda wie auch Karl geraten in das Feld seiner Ermittlungen, aber auch eine Organisation mit Namen Nakam, die Rache für den Holocaust leistet und die es wirklich gegeben hat.

Die Stärke des Autors ist es, dass er eine verflochtene Story in einer interessanten Zeit ansiedelt. Das Leben nach dem Zweiten Weltkrieg bietet wieder Abwechslung und mit Lohn oder Gehalt lässt sich auch mal was Schönes kaufen. Die Meisten sind mit ihrem Alltag beschäftigt und nicht mit der großen Politik. Aber bei der Münchener Kriminalpolizei unterlaufen Mitarbeitern, die noch nach altem Muster einer rechtsextremistischen Denkweise anhängen, bestimmte Ermittlungen. Die Freundschaft von Ludwig und Karl hat durch gegenseitiges Misstrauen Risse bekommen. An der Seite von Karl blickte ich als Leserin zurück auf Kriegstage, die Ludwig lange verdrängt hat. Das Gefühlsleben der Figuren wird auch im dritten Band ausgiebig von Andreas Götz beleuchtet. Er wirft immer wieder die Frage auf, ob es Grenzen gibt, die einen Mitläufer zum Opfer machen. Schuld oder Nichtschuld beschäftigt die Betroffenen sehr, denen die Konsequenzen ihres Handelns vor Augen geführt werden.

Der Autor bindet den Kalten Krieg in seiner Erzählung anhand zweier junger Frauen im Umfeld von Magda und Karl ein. Ihre Rolle öffnet er dem Lesenden, der dadurch einen Vorteil gegenüber den Protagonisten hat, was aber der Spannung zuwiderläuft. Die Suche nach dem verschwundenen Blohm hält einige Überraschungen bereit, so dass es bis zum Ende hin interessant bleibt, wenn auch mit gelegentlichen Längen aufgrund des gemächlichen Erzählstils.

Der Kriminalroman „Die Zeit der Jäger“ von Andreas Götz strahlt mit der Darstellung einer komplexen Handlung mit Verbrechen in einer politisch angespannten Lage. Die Trilogie findet einen würdigen Abschluss mit diesem Band, der Lesende von Kriminalromane mit Sinn für historischen Hintergrund sehr anspricht.

Bewertung vom 12.04.2022
Der Papierpalast
Heller, Miranda Cowley

Der Papierpalast


sehr gut

Der Roman „Der Papierpalast“ von Miranda Cowley Heller nimmt den Lesenden mit zu einem heißen Tag in den Back Woods auf Cape Code in Massachuttes. Hier besitzt die Familie der Protagonistin und Ich-Erzählerin Eleanor Biishop, kurz Elle genannt, eine Sommerunterkunft. Liebevoll wie auch sarkastisch bezeichnen sie diese als Papierpalast, weil Elles Großvater die Innenräume aufgrund seiner finanziellen Lage mit Platten aus Presspappe ausgekleidet hat.

Die Geschichte verwebt zwei Handlungsebenen miteinander. Einerseits erzählt Elle in der Gegenwart von einem ersten Augusttag, der sie zu einer wichtigen Entscheidung in ihrem Leben treibt, denn am Vorabend ist etwas Bedeutsames für sie geschehen. Andererseits schaut sie zurück in die Vergangenheit. Seit ihrer Jugend trägt sie ein Geheimnis mit sich, dass sie bis heute nur mit ihrem besten Freund Jonas teilt. Die Frage, ob sie ihr Leben so weiterleben soll wie bisher oder mutig genug für einen Neuanfang ist, umspannt den ganzen Roman. Sowohl das, was sich früher ereignet hat wie auch die aktuellen Geschehnisse tragen zu ihrem letztendlichen Entschluss bei.

Elle ist Anfang 50, verheiratet und Mutter von drei Kindern. An diesem besonderen Tag in Back Woods ist nicht nur ihr Mann Peter anwesend, sondern auch Jonas, dessen Mutter ein Haus in der Nachbarschaft besitzt. Elle ist älter als der Freund ihrer Kindheitstag und damals waren sie ein ungleiches Gespann. Ihre Eltern sind geschieden und sowohl Mutter wie auch Vater hatten später neue Partner mit denen Elle und ihre drei Jahre ältere Schwester sich arrangieren mussten. Die neuen Beziehungspersonen hatten manchmal selbst Kinder. Argwöhnisch betrachteten die Geschwister die neuen Familienkonstellationen, immer mit der Befürchtung in Sachen Liebe und Zuneigung ihrer Eltern selbst zu kurz zu kommen.

Peter steht für Elle für Beständigkeit. Er hat für seine Familie ein Heim geschaffen. Mit ihm teilt sie eine Liebe, die ihr über manche Trauer hinweggeholfen hat. In unangenehmen Situationen gibt er ihr Rat und Hilfe. Über die Jahre hinweg hat er aber nie ihr uneingeschränktes Vertrauen erhalten, denn Elle hat ihm nicht von ihrem Geheimnis erzählt. An diesem ersten Tag im August fühlt die Protagonistin sich zerrissen von der anstehenden Entscheidung, denn ihr sind die Konsequenzen ihres Tuns bewusst.

Miranda Cowley Heller betet ihre Geschichte in eine landschaftlich bemerkenswerte Gegend ein. Durch die wechselnden Beziehungen der Eltern kommt es zu einer steigenden Anzahl handelnder Personen. Es erforderte meine Aufmerksamkeit als Leserin, ihren einzelnen Background über die wechselnden Rückblicke hinweg zu verfolgen, denn nicht immer verläuft die Zeitachse in der Vergangenheit chronologisch. Die Autorin beschreibt das Empfinden von Elle empathisch und berührend. Der Lesende sollte sich auf offene Beschreibungen mancher Szenen mit Gewaltanwendung einstellen.

Der Roman „Der Papierpalast“ von Miranda Cowley Heller nimmt einen heißen Sommertag, der zu einer wichtigen Entscheidung im Leben der Hauptfigur Eleanor Bishop führen wird, in den Fokus. Hinter der Fassade einer intakten Ehe steht ein großes Geheimnis, das die Protagonistin nur mit ihrem Jugendfreund teilt mit dem sie immer noch in Kontakt steht. Die Geschichte ist dramatisch, freimütig und berührend. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 10.04.2022
Man vergisst nicht, wie man schwimmt
Huber, Christian

Man vergisst nicht, wie man schwimmt


ausgezeichnet

Pascal ist 15 Jahre alt und der Protagonist sowie Ich-Erzähler im Roman „Man vergisst nicht, wie man schwimmt“ von Christian Huber. Er lebt im beschaulichen Bodenstein im Osten Bayerns. Ein einziger Tag Ende August im Jahr 1999 hat sein Leben verändert. In der Retrospektive erinnert er sich an die Einzelheiten und machte mich als Leserin neugierig darauf, wie es dazu kam, dass sich an diesem Tag eine Liebe entwickelt, eine Freundschaft in Frage stand und es zu einem menschlichen Ende kam. Doch die Geschichte birgt noch mehr Geheimnisse und erst zum Ende hin erklärt Pascal, warum er Krüger genannt wird, obwohl das nicht sein Nachname ist und wie es dazu kam, dass er nicht mehr schwimmt und sich nicht verlieben darf.

Es ist ein heißer Tag in den Sommerferien an dem Pascal von seinem Freund Viktor geweckt wird, sonst wäre er weiter einer seiner Lieblingsbeschäftigungen, dem Schlafen nachgegangen. Außerdem träumt er gerne und schreibt Geschichten, oft mit realem Bezug, in ein Notizbuch. Als ihm sein Rucksack, in dem er die Kladde aufbewahrt, im Laufe des Vormittags abhandenkommt, versucht er diesen zurück zu erhalten und macht dabei Bekanntschaft der etwa gleichaltrigen hübschen und mysteriösen Jacky. Die beiden und Viktor verleben einen unvergesslichen Tag, der das Leben von Pascal umkrempelt.

Christian Huber beschreibt zunächst den Beginn eines normalen Alltags in den Ferien der zwei Freunde. Dabei baut er ein typisches Feeling für einen Tag am Ende des vorigen Jahrtausends auf in Bezug auf Kleidung, Ernährung und Freizeitgestaltung von Jugendlichen sowie der von ihnen gehörten Musik. Am Ende des Buchs findet sich eine Trackliste und ein Barcode zu den Songs, die in der Erzählung Eingang finden.

Mit dem Kennenlernen von Jacky muss Pascal sich mit bisher unbekannten Gefühlen auseinandersetzen. Jacky ist Artistin und ihre Geschicklichkeit fasziniert Pascal. Durch sie lernt er eine geschlossene Gruppe kennen, die nach eigenen Regeln lebt, in der Vertrauen alles ist. Er fühlt sich von ihr angezogen, aber aufgrund seiner Prinzipien hält er sie auf Abstand. Man kann nur ahnen, wie viel Kraft ihn das kostet.

Die Figuren sind abwechslungsreich gestaltet. Der Autor zeigt anhand von Viktor und Pascal wovon eine Freundschaft getragen wird. Die beiden Jugendlichen sind auf dem Weg, sich selbst zu finden und danach, welche Werte wirklich wichtig und richtig sind.

Der Roman „Man vergisst nicht, wie man schwimmt“ von Christian Huber ist ein Buch über das Erwachsenwerden. Es nahm mich mit zu einem heißen Sommertag Ende der 1990er, der gefüllt ist mit Freundschaft, Liebe, Hass, Eifersucht und Selbstbehauptung. Der Schluss der Geschichte hat mir zugesagt. Das Buch passt prima zum Sommer, lässt sich aber auch zu jeder anderen Zeit lesen. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 07.04.2022
Für diesen Sommer
Klönne, Gisa

Für diesen Sommer


sehr gut

Der Roman „Für diesen Sommer“ von Gisa Klönne ist eine Geschichte über die Beziehung einer Tochter, die inzwischen über 50 Jahre alt ist, zu ihrem immer gebrechlicher werdenden Vater. Als allwissende Erzählerin schildert die Autorin nicht nur Begebenheiten im Verhältnis der beiden aus der Gegenwart, sondern schaut auch in deren Vergangenheit.

Die Protagonistin Franziska Roth hat sich in ihrer Jugend häufig gegen die Ansichten der Eltern, vor allem gegen die ihres Vaters Heinrich, aufgelehnt. Heinrich war als Vermessungsingenieur am Bau wichtiger Straßen beteiligt, seine Tochter hat sich dagegen den Natur- und Klimaschützern angeschlossen und gegen den Bau demonstriert. Sie fühlte sich unverstanden, hielt aber an ihren Meinungen fest und hat ihr Glück über Jahre hinweg in der Ferne gesucht. Zuletzt war sie gemeinsam mit ihrem Lebenspartner an einem Hofprojekt beteiligt, aber die Liebe ging in die Brüche. Ihre ältere Schwester Monika ist im Vollzeitjob und hat Ehemann und zwei Kinder. Nach dem Tod der Mutter hat sie sich zusätzlich noch um den Vater gekümmert. Als Monika dringend eine Auszeit benötigt, bittet sie kehrt Franziska darum, sich um Heinrich zu kümmern.

Gisa Klönne schaut weit in die Vergangenheit ihrer beiden Protagonisten, um deren Handlungsweisen zu erklären. Heinrich, geboren 1933, ist von seiner Mutter allein erzogen worden. Er denkt, dass er eine Belastung für sie war. Im Zweiten Weltkrieg kam er mit der Kinderlandverschickung nach Polen und erinnert sich mit Schrecken daran. Franziskas Mutter war gebürtig aus Ostpreußen und lebenslang begleitete sie eine gewisse Schwermut über den Verlust der Eltern. Franziska spürt, dass es da immer noch etwas anderes gegeben haben muss, dass sich nicht benennen lässt.

Tatsächlich gibt es ein gut verborgenes Geheimnis, das einen beständigen Schatten über die Familie geworfen hat. Im Rückblick erkennt Franziska, dass sie schon als Kind den Trübsinn gespürt und er sie fürs Leben geprägt hat. Ihr kam es nicht darauf an, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen und durch beste Leistungen zu glänzen. Stattdessen wollte sie das Gute auf der Welt suchen und durch ihre Mittätigkeit die Welt lebenswert erhalten.

Heinrich ist stolz darauf, dass er aus kleinen Verhältnissen heraus eine Familie gründen und durch seine Berufswahl ein angenehmes Leben führen konnte. Die zunehmenden Einschränkungen des Alters ärgern ihn. Er war immer korrekt und strebte danach, Regeln einzuhalten. Sich von seiner älteren Tochter bevormunden zu lassen, gefällt ihm gar nicht.

Für Franziska und Heinrich ist es nicht einfach, den Alltag gemeinsam zu bestreiten. Viele Auseinandersetzungen und Unverständnis füreinander gehörten bisher zu ihrem Beisammensein dazu. Auch die Rolle von Monika als Tochter und Schwester wird mehrschichtig von der Autorin betrachtet. Durch den Erzählstil mit zahlreichen Rückblenden kommt es zu gewissen Längen. Obwohl ihre Geschichte fiktiv ist, baut sie auf den eigenen Erfahrungen von Gisa Klönne auf und wirkt dadurch authentisch.

Der Roman Für diesen Sommer“ von Gisa Klönne ist eine feinsinnige und berührende Erzählung einer Vater-Tochter-Beziehung. Beide konnten nicht alle ihre Lebensträume verwirklichen. Durch die Erinnerungen der beiden werden dem Lesenden die unterschiedlichen Ansichten verständlich. Gleichzeitig bietet die Geschichte einige realistische Vorschläge, wie man sich einander annähern kann. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Bewertung vom 03.04.2022
Wo die Wölfe sind
McConaghy, Charlotte

Wo die Wölfe sind


sehr gut

Inti Flynn ist Biologin und Protagonistin sowie Ich-Erzählerin im Roman „Wo die Wölfe sind“, geschrieben von der Australierin Charlotte McConaghy. Sie leitet ein Projekt zur Wiederansiedlung von Wölfen in Schottland, welches Teil einer Renaturierungsmaßnahme ist mit dem Ziel, den Klimawandel zu verlangsamen. Zu Beginn der Geschichte erzählt Inti beispielhaft eine Erinnerung, um den Lesenden zu verdeutlichen, dass sie unter Mirror-Touch-Synästesie leidet, einer neurologischen Störung bei der der eigene Körper das nachempfindet, was man bei anderen Lebewesen an Sinneswahrnehmung sieht.
Gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Aggie ist Inti auf zwei Kontinenten aufgewachsen, denn ihre Eltern leben seit langem getrennt. Der Vater ist Naturforscher und hat ihnen im kanadischen Vancouver die Liebe zur Natur nahegebracht. In Syndney in Australien arbeitet ihre Mutter als Ermittlerin bei der Polizei und beschäftigt sich in ihrem Kommissariat mit Missbrauchsfällen.
Nach einem furchterregenden Erlebnis an ihrer letzten Wirkungsstätte in Alaska freut Inti sich gemeinsam mit ihrer Schwester auf einen Neuanfang in Schottland. Während Aggie aufgrund der vergangenen Ereignisse zurückgezogen lebt, widmet sich Inti dem Wolfsprojekt. Dabei ist ihr klar, dass die wilden Tiere von den Anwohnern gefürchtet sind, die sich im Fall der Gefahr selbst verteidigen werden. Ein Zwischenfall gibt ihr Recht. Ihre eigene Liebe zu den Tieren treibt ungeahnte Auswüchse im Kampf um deren Leben, wobei sie von ihren eigenen Ängsten eingeholt wird.
Die Darstellung der Aussiedlung der Wölfe empfand ich als realistisch. Man spürt aus Intis Handlungen ihre Zuneigung zu den anpassungsfähigen Tieren. Gleichzeitig ist da aber auch ihr anhaltender Schmerz über das dramatische Geschehen in der Vergangenheit zu spüren, an dem sie sich eine Mitschuld gibt. Dabei geht es um den Missbrauch und Gewalt gegen Frauen. Durch die Tätigkeit ihrer Mutter hätte ich die beiden Schwestern sensibler für dieses Thema eingestellt gehalten, doch Inti wird sich über der Tragweite der physischen und psychischen Verletzungen erst bewusst als sie es über ihre Synästesie am eigenen Körper nachempfindet. In der kleinen Gemeinde in der Nähe des Wolfsreservats erspürt sie wieder einen Übergriff, der sie wütend, aber auch hilflos macht.
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen menschliche Gefühle. Inti hat zu ihrer Schwester immer schon eine ganz besonders intensive Verbundenheit. Nicht immer war mir ihr Verhalten im Umgang mit Aggie verständlich. Beide leiden psychisch unter den vergangenen Geschehnissen. Zwar spricht die Autorin kurz an, dass professionelle Unterstützung hilfreich sein könnte, aber sie wird von den beiden nicht in Anspruch genommen.
Bei mir als Leserin warf die Erzählung die unterschiedlichsten Fragen auf, beispielsweise inwieweit wir als Menschen in die Natur eingreifen sollen. Welche Kriterien sollen wir dabei zugrunde legen? Sind es immer die „Richtigen“? Charlotte McConaghy betrachtet auch die Ansicht der ansässigen Landwirte, die ihre Schafe und Kühe frei weiden lassen.
Durch die Konstruktion der aktuellen Begebenheiten baut Charlotte McConaghy zunehmend Spannung auf, die sich zu einem furiosen Finale zuspitzt. Dabei halte ich den in der Fiktion geschilderten Umgang Intis mit ihrer eigenen Gesundheit und den Entschluss ihrer eigenen Schwester über ihr weiteres Leben für möglich, aber nicht wünschenswert.
Empathisch beschreibt Charlotte McConaghy in ihrem Roman „Wo die Wölfe sind“ die innere Zerrissenheit der Protagonistin Inti, die ein Projekt zur Auswilderung von Wölfen in Schottland leitet. Die dramatischen Erlebnisse in deren Vergangenheit werden immer mehr aufgedeckt und zeigen Inti als einen verstörten Charakter. Der Roman ist für feinfühlige Personen aufgrund bestimmter Darstellungen eher nicht geeignet und grundsätzlich ein emotionales bewegendes Leseerleben, das mich nachdenklich stimmte.

Bewertung vom 29.03.2022
Luyánta
Selge, Albrecht

Luyánta


sehr gut

Die zwölfjährige Jolantha Seyfried ist die Protagonistin und Titelgeberin im Buch „Luyánta“ von Albrecht Selge. Am Beginn der Geschichte ist sie in unserer Welt, also der Erde, in den Sommerferien mit ihren Eltern und ihren beiden Brüdern auf einer Hüttenwanderung in Südtirol unterwegs. Jolantha hasst die Anstrengung, sie hasst die Unterbringung. Irgendwann nimmt sie ein Pfeifen wahr. Als Leserin erfuhr ich schon nach kaum mehr als zwanzig Seiten, dass man mit den Geräuschen tatsächlich Jolanta auf sich aufmerksam machen möchte.
Das Mädchen packt etwas zum Essen und eine Stirnlampe in ihren Beutel und macht sich auf die Suche nach denen, die da gepfiffen haben. Dabei gelangt sie immer höher ins Gebirge und tiefer in waldreiche Gegenden oder baumlose Ebenen, bis sie auf Murmeltiere trifft. Es erstaunt sie kaum, dass sie sich mit ihnen unterhalten kann. Unbemerkt ist sie in die unselbe Welt gelangt und wird hier schon dringend erwartet. Luyánta nennt man sie, denn so hat sie seit ihrer Geburt dort in der anderen Welt immer schon geheißen, Das Cover lässt im Ansatz erahnen, welche Flora- und Faunavielfalt in der unselben Welt zu finden ist, die unserer bekannten Erde ähnelt und doch ihren eigenen Charme entwickelt. Andreas Selge beschreibt sie detailverliebt, was zu einer gewissen Länge, vor allem im Mittelteil führt.
Die Geschichte basiert auf der Sage vom Reich der Fanes, die in Norditalien bekannt ist. In der Überlieferung wie auch im Fantasyroman Luyánta finden sich das Maultiergerippe und die Königstochter Dolasilla, die Adler, die Murmeltiere und natürlich die Fanesleute wieder. Der Autor stellt seine Erzählung vor einen modernen Hintergrund.
Luyánta ist eine Heranwachsende, die auf der Suche nach ihrer eigenen Identität ist. Die beiden Murmeltiere, von denen sie in die unselbe Welt gerufen wird, reden in einer lässigen Sprache miteinander. Sie verdeutlichen Luyánta, dass sie etwas besonderes ist und ihr eine bedeutende Aufgabe zukommt. Das Vertrauen in sie, treibt die Protagonistin an, dem Hilferuf zu folgen. Doch immer wieder hat sie Krisen, in denen sie an ihren Fähigkeiten zweifelt. Sie muss sich immer wieder Behaupten, Niederlagen verarbeiten und reift an dem Gelingen der an sie gestellten Aufgaben und Erwartungen.
Die Kapitel, in denen Luyánta im Mittelpunkt steht, werden immer mal wieder durch solche unterbrochen, in denen anderen Personen oder Tiere ihre Ansichten und Meinungen kundtun. Vor allem nutzt der Autor dabei die Möglichkeit, die nach Macht strebende Seite der unselben Welt darzustellen, während Luyánta auf ihrer Seite Diversität erfährt.
Den Übergang zwischen den beiden Welten zu Beginn des Buchs ist gelungen, aber die Auflösung der Herkunft von Luyánta fand ich wenig ausgeführt, vermutlich weil hier Platz für die eigene Fantasie gelassen werden sollte. Die Beschreibung der Wiederbegegnung mit den Familienangehörigen am Ende des bereits mit dem Titel angekündigten Jahrs in der unselben Welt hätte ich mir ausführlicher gewünscht.
Luyánta“ von Albrecht Selge ist eine Fantasy für Jugendliche ab etwa zwölf Jahren, die aber auch Erwachsene anspricht. In einer teils poetisch anmutenden Sprache schafft der Autor basierend auf einer alten Sage eine moderne neue Welt. Die Lesenden begleiten die titelgebende Jugendliche auf ihrem Weg zur Selbstverwirklichung, der für einige unvorhergesehene Überraschungen und Wendungen bereithält. Die Fantasy ist für anspruchsvolle Lesende geeignet.