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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Haus ohne Halt
Robinson, Marilynne

Haus ohne Halt


ausgezeichnet

Der Großvater der Icherzählerin Ruth stammte aus dem Mittleren Westen der USA und baute aus Liebe zu den Bergen in traumhafter Lage für seine Familie ein Haus. Nach dem spektakulären Tod des Erbauers leben im Haus am See mehrere Generationen von Frauen. Helen, die Mutter der Erzählerin, wächst als mittlere von drei Töchtern in einem Haushalt auf, in dem die Hausfrau emsig bäckt, einen riesigen Garten bewirtschaftet, Vorräte einkocht und die Wäsche stärkt. Aus der Nähe, zu der die vier Frauen nach dem Tod des Vaters zwangsläufig zusammenrückten, brechen zwei der Töchter so bald wie möglich aus. Molly wird unbemerkt von ihrer Familie religiös und geht als Missionarin nach China, Sylvie brennt mit einem Mann durch. Auch Helen verschwindet auf spektakuläre Weise aus der Gegenwart, nachdem sie ihre Töchter der Großmutter anvertraut hat. Zurück bleibt - noch wie ein Fels in der Brandung - ein Holzhaus, dessen Bausubstanz allmählich vor den Angriffen von Schnee und Hochwasser kapituliert. Darin eine alte Frau, mit der Sorge für zwei kleine Kinder überfordert, die dabei ähnlich wie die Äpfel im Obstgarten immer kleiner und schrumpeliger zu werden scheint. Die Ablösung der Großmutter als Betreuerin von Haus und Enkelinnen durch zwei unverheiratete Tanten setzt den Abstieg des Haushalts fort; die beiden Schwägerinnen sind zwar deutlich jünger, jedoch schrulliger und ängstlicher als man sich vorzustellen vermag. Kurz nach dem Auftauchen ihrer Tante Sylvie im Haushalt erkennen Ruth und Lucille, dass ihr sonderbares Elternhaus von den Nachbarn kritisch beobachtet wird und das Interesse von Behörden weckt, die das Wohlergehen von Kindern kontrollieren sollen. Auch wenn die Bewohner des Hauses am See über mehrere Generationen keinen Kontakt zu ihren Mitmenschen pflegten, gelten im Ort Vorstellungen von Normalität, mit der sich die eigenwillige Weiberwirtschaft nur schwer vereinbaren lässt. An der Schwelle zum Erwachsenwerden wiederholt sich die Familiengeschichte - Lucille braucht einfach Abstand vom Elternhaus.

Ruth und Lucille durchstreifen in ihrer Kindheit eine traumhafte Umgebung. Solange die Mädchen noch klein sind, bietet ihnen das Haus ihres Großvaters noch Halt. Doch selbst wenn Teile des ausgedehnten Grundbesitzes am See für den Lebensunterhalt verkauft würden, ließe sich davon keine den Kindern zugewandte Betreuerin "kaufen". Immer wieder mit dem Altern und Verschwinden ihrer Bezugsperson konfrontiert, experimentieren die Mädchen selbst mit dem Vagabundieren, das ihrer Tante wohl im Blut liegt. Marilynne Robinsons bereits 1980 als "Housekeeping" erschienener Roman hat beste Aussichten, ein Klassiker zu werden. Ausbrüche in die Wildnis, das Zusammentreffen von Außenseitern und rigiden Normen oder einfach die Familiengeschichte mehrerer Generationen von Frauen bieten den Leserinnen vielfältige Anknüpfungspunkte. Auf edles Papier gedruckt, mit Leseband und in knallrotes Leinen gebunden, gewinnt Robinsons Roman noch durch sorgfältige Anmerkungen zu Text, Autorin und Übersetzerin. Ein zeitlos schönes Buch.

Bewertung vom 04.01.2017
Tiere in der Stadt
Kegel, Bernhard

Tiere in der Stadt


ausgezeichnet

Als mir zum ersten Mal in einer deutschen Großstadt ein frei lebender Halsbandsittich entgegen flatterte, konnte ich mir noch nicht vorstellen, dass aus anderen Klimazonen eingewanderte Tiere in Deutschland überleben würden. Mit aus dem Ausland zugewanderten Pflanzen und Tieren, sowie Umsiedlern aus dem Umland der Städte befasst sich Bernhard Kegel in seiner Naturgeschichte der Stadt. Als gebürtigen Berliner, der als Kind auf Trümmergrundstücken und verwilderten Brachflächen spielte, hat die noch junge Wissenschaft der Stadtökologie den gelernten Biologen besonders interessiert. Kegel, der sich sehr belesen darin zeigt, wie die Belletristik Fuchs und Hase darstellt, referiert zum Thema Wildtiere in der Stadt Forschungsergebnisse aus diversen Ländern. Als Leser wird man zukünftig die Stadt Warschau mit anderen Augen betrachten, als außergewöhnlich umfassend erforschten Lebensraum für Tiere. Vom Kindchen-Schema (vierbeinig, Fell, runde Augen) muss sich der Leser bereits in Kegels ersten Kapiteln verabschieden. Zunächst geht es um wenig kuschelige Tiere mit sechs oder acht Beinen, Parasiten, die Mensch und Tier auf der Pelle hocken. Doch wer die wenig putzige Kegelsche Floh- und Milbeninvasion im Buch überstanden hat, kann anschließend in seine fesselnde Betrachtung der Stadt als urbane Wärmeinsel abtauchen. Man erfährt von den Wegen, die Pionierorganismen gern für die Zuwanderung nutzen, welche Lebewesen besonders vom menschlichen Wunsch nach langweiligen Zierrasenflächen profitieren und welche Flächen schnell von Neophyten besiedelt werden. Vögel haben eine Lobby unter Menschen und ihre Verbreitung ist darum sorgfältig kartiert und erforscht. Am Beispiel der Vögel unternimmt der Autor eine interessante Exkursion bis in die Zeit zurück als der Anblick von Greifvögeln Stadtbewohnern sehr viel vertrauter war als in der Gegenwart und als Menschen Schlangen in ihrer unmittelbaren Umgebung duldeten, da sie Haus und Garten mäusefrei hielten. Faszinierend fand ich Kegels Blick auf Kriege, Großfeuer und andere Katastrophen, die durch die Verwüstung Platz für eine Neubesiedlung durch Pflanzen und Tiere schaffen. Zur Belohnung für die, die bis hierhin durchgehalten haben, folgen nun Einblicke in das Leben des ordinären Großstadtfuchses. Von einigen liebgewonnen Schlüssen muss man sich als Kegel-Leser verabschieden. Ökosysteme funktionieren längst nicht so simpel wie die verbreitete Erklärung: Katzen jagen Singvögel, also sind Katzen die Ursache für den Rückgang städtischer Vogelpopulationen.

Bernhard Kegel hat mit seinen Krimis gezeigt, dass er ein breites Publikum unterhalten kann. Seine Naturgeschichte der Stadt ist mit Humor verfasst und geprägt vom Aufwachsen des Autors im Berlin der Nachkriegszeit. Kegel macht die eingeschränkte Sicht deutlich, mit der wir unsere tierischen Mitbewohner oft bewerten, und bietet seinen Lesern einen ungewohnt breiten Blickwinkel auf ökologische Zusammenhänge.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Bo
Merkel, Rainer

Bo


sehr gut

Wenn etwas schief geht, dann aber auch komplett. Der dreizehnjährige Benjamin sollte seine Ferien in Liberia verbringen, wo sein Vater für die GTZ arbeitet. Er würde in dieser Zeit nicht arbeiten und sich Zeit für seinen Sohn nehmen, hatte der Vater versprochen. Kurz vor der Ankunft verbaselt Benjamin seinen Pass und auch der Vater ist nicht wie verabredet am Flugplatz in Monrovia. Wie ein illegaler Einwanderer schlägt sich Benjamin nun durch ein Land im Bürgerkrieg, über das er nicht viel mehr weiß, als dass er sich als Weißer gegen die Sonne und gegen Moskitos schützen soll. Rothaarig und blass mag Ben auf die Einheimischen wie ein Außerirdischer wirken. Seine ungefähr gleichaltrigen Gefährten bei diesem Abenteuer sind der blinde Liberianer Bo und das Mädchen Brilliant, die aus Liberia stammt und inzwischen in den USA lebt. Ohne Bo und Brilliant wäre Benjamin aufgeschmissen in einem Land, in dem an jeder Ecke kleine Ganoven lauern und Dinge verschwinden, um an anderen Orten wieder aufzutauchen. Man kann sich leicht skurrile Situationen mit Bo vorstellen, wenn er unerwartet andere betastet, um mit seinen Händen zu sehen. - Einige Tage nach seiner Ankunft lernt Ben ein paar weiße Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen kennen. Wer in Liberia für ausländische Hilfsorganisationen arbeitet, kennt sich untereinander. So sollte es kein Problem sein, Kontakt zu Benjamins Vater herzustellen, nimmt der naive europäische Leser an. Benjamins Bekannte Emily aus dieser Mediziner-Clique sorgt sich um ihren verschwundenen Kollegen Barneby, der als Psychiater im einzigen psychiatrischen Krankenhaus des Landes gearbeitet hatte. Benjamin übernachtet im Zimmer des Mannes und liest dessen Tagebucheintragungen. Barnebys Gedanken geben Anlass zu großer Sorge um den Mann. Außer dem Psychiater wird auch die Patientin Flower aus dem psychiatrischen Krankenhaus vermisst, die die Jugendlichen nun gemeinsam suchen. Da Flowers Großvater ebenfalls Psychiater ist, weiß das Mädchen, dass Afrikaner psychische Erkrankungen immer noch gern von traditionellen Heilern behandeln lassen. Den Kindern ist zunächst unklar, ob Flower einfach in ihr Heimatdorf gereist ist oder ob sie sie aus den "Fängen düsterer Mächte" befreien müssen. - Reiner Merkel lässt drei Pubertierende unterschiedlicher Herkunft sich gemeinsam in Afrika durchschlagen. Die Jugendlichen bringen ihre persönlichen Sichtweisen auf Afrika in das Abenteuer ein: ein Einheimischer, der nicht sehen kann, ein Mädchen, das vielleicht nur noch äußerlich schwarz ist, weil es lange im Ausland gelebt hat, und ein junger Deutscher, der sein geringes Wissen über das Land noch nicht mit der Realität zur Deckung bringen kann. Tatsächlich besteht sein Aufenthalt zum großen Teil aus schnödem Überleben mit der Suche nach Pass, Trinkwasser oder einem Schlafplatz. Benjamin, zu dem innere Stimmen sprechen, dient Lesern des Buches als Vermittler für Europäer ungewohnter Vorstellungen aus dem Bereich des Aberglaubens. Hinter Bens unvoreingenommenem Blick auf die weißen Erwachsenen, die sich mit Wachleuten und hohen Mauern umgeben und glauben, nur sie allein könnten das Land retten, steht ein Autor mit genauer Kenntnis dieser Verhältnisse.

Den Abenteuern von Merkels jugendlichem Dreier-Team bin ich gern gefolgt. Der Autor räumt seinen jugendlichen Figuren Privatsphäre ein, indem er manches der Vorstellung des Lesers überlässt. Meine Vorstellung, ein Roman mit Schauplatz Afrika würde meine Linse schärfen, durch die ich auf ein Land sehe, hat sich in dieser umfangreichen Abenteuergeschichte nur teilweise und erst sehr spät erfüllt. Das kritisiere ich ausdrücklich nicht, jedoch die Länge des Romans.

Bewertung vom 04.01.2017
Das Lied der Stare nach dem Frost
Klönne, Gisa

Das Lied der Stare nach dem Frost


ausgezeichnet

Ricarda hat zwischen sich und ihre Familie die größtmögliche Strecke gelegt, sie tingelt als Barpianistin durch tropische Urlaubsparadiese. Als die Nachricht vom Tod ihrer Mutter sie erreicht, ist Rixa eher genervt als betroffen. Warum soll sie als Jüngste sich um die nötigen Behördengänge kümmern? Mutter Dorothea Retzlaff verunglückte mit dem Auto - am 12. Todestag ihres jüngsten Sohnes. Ivo starb ebenfalls unter ungeklärten Umständen, auch sein Tod könnte ein Selbstmord gewesen sein. Ricarda hat ihre Mutter offenbar kaum gekannt und fühlt sich schuldig dafür. Rixa, die Icherzählerin, hat sich im Vergleich zu ihren Brüdern stets zu wenig beachtet gefühlt und schreibt ihr Scheitern als Konzertpianistin u. a. dem ambivalenten Verhalten ihrer Mutter gegenüber der geplanten Karriere der Tochter zu. Mit Rückblenden bis zurück in die Generation von Rixas Großeltern entfaltet Gisa Klönne einen umfangreichen Familienroman, angesiedelt im ländlichen Mecklenburg. Rixa selbst hatte als kleines Mädchen den Eindruck, ihre Mutter würde ihr – und nur ihr – ständig von früher erzählen. Doch kein Familienmitglied ahnte, warum die vordergründig so gesprächige Mutter an ihrem Todestag mit dem Auto in der Gegend von Güstrow unterwegs war. Zwar erfuhr die Tochter als Kind die Erinnerungen, die ihre Mutter sich von der Seele reden wollte, doch nicht das, was zum Begreifen der Kriegsereignisse nötig gewesen wäre. Des Rätsels Lösung liegt in Geschehnissen der Jahre 1942 bis 1950, die selbst die 1945 als letztes von neun Kindern der Retzlaffs geboren Dorothea nur vom Hörensagen kennen kann. - Rückblenden wandern bis zu Rixas Großeltern Elise und Theodor, der noch Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg war und seine Alpträume aus den Schützengräben mit in die Ehe bringt. Elise, dem Mädchen aus der Stadt, traut zunächst niemand zu, unter (für die damalige Zeit nicht ungewöhnlichen) einfachen Lebensbedingen einen riesigen Pfarrhaushalt mit wachsender Kinderschar zu organisieren. Aus den wenigen hinterlassenen Familienfotos kann Rixa entnehmen, dass der von ihr geliebte und verehrte Großvater Partei- und SA-Mitglied war. Immer wenn der Name des (fiktiven) Ortes Sellin fällt, in dem die Retzlaffs zwischen 1942 und 1950 lebten, verstummen Rixas Verwandte. Niemand will sich an die dunklen Nachkriegsjahre erinnern. In dieser Familie hat nicht nur Dorothea zwei Gesichter. Das Familiengeheimnis wird zusätzlich kompliziert, weil Dorotheas älteste Schwester offenbar kurz nach dem Krieg umgekommen ist und auch darüber in der Familie eisern geschwiegen wird. Wie in einem Krimi bietet sich Rixa ein ganzes Bündel von Spuren zum Schicksal ihrer Familie an, die sie aufnimmt, indem sie in das Haus ihrer Mutter in Sellin zieht. - Gisa Klönne spricht ihre Leserinnen auf unterschiedlichen Ebenen an. Da sind zunächst Frauen aus drei Generationen, der Mutter-Tochter-Konflikt und Rixas schwieriges Verhältnis zu ihren Brüdern. Die Beschreibung eines großen, durch die deutsche Teilung getrennten, Familienclans kommt gerade zur richtigen Zeit, in der sich viele noch an die heikle deutsch-deutsche Situation erinnern. Mir haben es die Landschaftsbeschreibungen sehr angetan und auch wie Rixa ihre Kindheitserinnerungen in die Gegenwart integriert. Die interessanteste Figur war für mich Dorothea, stellvertretend für eine ganze Generation von Frauen, die ohne Ansprüche auf persönliches Glück vordergründig schnoddrig ihre Erlebnisse bei Kriegsende wegstecken. Hauptsache man hat überlebt. Über den Nationalsozialismus wird allenfalls indirekt gesprochen. Ein weiterer Zugang zu Klönnes Roman sind die von Dorothea so deutlich vertretene protestantische Arbeitsethik und das durch das Elternhaus der deutschen Bundeskanzlerin wieder in den Focus gelangte protestantische Pfarrhaus als Sozialisationsort. Ein beeindruckender Familienroman, den ich allen empfehle, die sich für den Handlungsort Mecklenburg und den zeitgeschichtlichen Rahmen interessieren.

Bewertung vom 04.01.2017
Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl's Diner
Moore, Edward Kelsey

Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl's Diner


sehr gut

In Earl's Diner, einem kleinen Restaurant, kreuzten sich schon vor über 30 Jahren die Wege dreier Paare aus Plainview im südlichen Indiana. Odette, deren Erinnerungen sich mit der Erzählerstimme des Romans abwechseln, verheiratet mit dem Polizisten James, Clarice, duldsame Ehefrau des chronisch untreuen Richmond, und Barbara Jean, deren trostlose Jugend sie dazu brachte, eine Versorgungsehe mit dem zwanzig Jahre älteren Lester einzugehen. Die drei Frauen, seit einem gemeinsamen Ballbesuch die „Supremes“ genannt, sind seit ihrer Kindheit dicke Freundinnen. Jede der sechs Figuren kennt die Schwächen der anderen, überflüssig, sich noch gegenseitig etwas vorzumachen. - Die Handlung spielt in der Gegenwart, als Odette schon schwer erkrankt ist, und entwirrt die Beziehungen der drei Frauen in Rückblicken. Edward K. Moores Figuren sind farbig, in allen Hauttönen von Zimt bis Ebenholz. Außer Earl's Diner sind drei unterschiedliche baptistische Kirchen-Gemeinden Fixpunkte in der kleinen Stadt. Neben der üblichen kleinstädtischen Bigotterie bietet die Konkurrenz der Kirchen zusätzliche Anlässe, sich untereinander genauestens zu beäugen und übereinander zu klatschen. In Plainview zeugen Männer wie Clarices Vater außereheliche Kinder; wie auf Barbara Jean sieht die Gemeinde allein auf diese Kinder alleinstehender Mütter herab. Heiraten zwischen Schwarz und Weiß sind ebenso undenkbar wie der schwarze Earl, der einen Weißen in seinem Restaurant einstellt. Selbst wenn Ehen zwischen den Rassen nicht mehr verboten sind, klafft zwischen dem Erlaubten und dem, was man in Plainview riskieren kann, ein tiefer Graben. Die drei Supremes haben ihre prägenden Jugendjahre vor Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung verbracht und können ihre Erziehung auch danach nicht so schnell ablegen. Als unerwartete Wendung hält die Geschichte Figuren bereit, die mit Verstorbenen kommunizieren können. Odette gehört schon der zweiten Generation an, in deren Haushalt spukende verstorbene Gattinnen amerikanischer Präsidenten kommende Schicksalsschläge verkünden. Odettes längst verstorbene herumspukende Mutter hat mich nachhaltig verwirrt; sie wird beschrieben, als sei sie noch am Leben. - Während eines beachtlichen Teils des Romans habe ich daran gezweifelt, ob er mehr als einen Einblick in kleinstädtische Verhältnisse zu bieten hat. Doch dann deckte Edward K. Moore Seite für Seite die erstaunliche Persönlichkeit Earls und seinen subtilen Einfluss auf die Beteiligten auf. Earl sorgte wie ein gütiger Vater mit großem Herzen nicht nur für Barbara Jean, auf die ein trostloses Leben allein mit einem wenig vertrauenswürdigen Stiefvater wartete. Auch für James und Chick, den Jungen, den sein gewalttätiger Bruder im Hühnerstall schlafen ließ, sorgte Earl unauffällig. Als Amerika nach dem Tod Martin Luther Kings landesweite Rassenkrawalle befürchtete, war Earl einer der wenigen, die ihr Geschäft geöffnet ließen. Welcher Einheimische würde einem Mann wie Earl etwas tun wollen? - Die unterschiedlichen Schicksale der drei Frauen und speziell das Leben von Chick, dem weißen Jungen aus üblen Verhältnissen, steuern zum Ende der Geschichte auf die Frage zu, was für Moores kleine Auswahlmannschaft aus Plainview Glück bedeutet – eine Familie, wirtschaftliche Sicherheit, Treue, die Anerkennung ihrer Mitbürger - oder ändert sich die persönliche Glücksvorstellung im Laufe des Lebens? - Ein anrührender Roman aus den die USA nachhaltig prägenden 60ern des vorigen Jahrhunderts, der in einigen Szenen für nichtamerikanische Leser haarscharf am Kitsch entlang laviert.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Sonne war der ganze Himmel
Powers, Kevin

Die Sonne war der ganze Himmel


ausgezeichnet

Bei ihrem ersten Zusammentreffen findet John Bartle seinen Kameraden Daniel Murphy reichlich jung. "Murph" war genau genommen kein Mann, sondern ein Junge. Dabei ist der andere Soldat, der wie Daniel aus Virginia stammt, nur drei Jahre jünger. Aus Gutmütigkeit und um Daniels Mutter über den Abschied zu trösten, verspricht Bartle, sich um den jüngeren Soldaten zu kümmern und ihn wieder nach Hause zurückzubringen. Beide Männer werden 2004 in den Irak geschickt, in einen Krieg, auf den sie niemand vorbereitet hat und in ein Land, über das die Befehlshaber gefährlich wenig wissen. Mit der Erfahrung des knapp Dreißigjährigen schreibt Bartle seine Geschichte auf und sieht sich selbst im Rückblick als sehr jungen Mann, der sich aus Abenteuerlust, zum Entsetzen seiner Eltern, zur Armee meldete. Bartle und Murphy geben sich äußerlich abgebrüht. Den Krieg personalisieren sie als jemanden, der sie töten will. Die Zahl der Gefallenen wird zur statistischen Spielerei, wenn die Männer abzählen, dass sie ungern exakt der 1000. tote US-Soldat in diesem Krieg sein möchten. Private Bartle kehrt ohne Murphy aus dem Irak zurück. Weil er sein Versprechen gegenüber 'Murphs' Mutter nicht halten konnte, fällte er eine ungewöhnliche Entscheidung, deren Folgen er auch jetzt noch nicht absehen kann. Murphys Mutter hat ein Recht darauf, von Bartle die Todesumstände ihres Sohnes zu erfahren. Je mehr der jedoch versucht, sich an 'Murph' zu erinnern, je stärker gleicht seine Erinnerung einem löcherigen Gewebe. Bartle, nur körperlich unversehrt, zieht sich völlig von anderen Menschen zurück. Der Veteran hat gerade erst seine persönliche Grenze zwischen Erinnerungen, Wahrheit und dem Erzählten neu justiert und fremdelt immer noch im Umgang mit Zivilisten. Für Angehörige und Freunde ist es nicht einfach, mit Männern umzugehen, die von der Nation öffentlich heroisiert und mit ihren Problemen allein gelassen werden. Der Protagonist in Powers' autobiografischem Debütroman dringt durch das Aufschreiben seiner Kriegserinnerungen schließlich zu den tatsächlichen Motiven vor, aus denen er sich damals naiv-forsch zu Armee meldete.

Powers lässt seinen Icherzähler schmerzlich-schön vom Krieg gegen einen oft unsichtbaren Gegner und der Rückkehr ins Zivilleben berichten. Ein großartiger Roman, der lange nachwirkt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Warum Nationen scheitern
Acemoglu, Daron;Robinson, James A.

Warum Nationen scheitern


sehr gut

Fünfzehn Jahre lang haben die beiden Wirtschaftswissenschaftler geforscht, welche Faktoren das wirtschaftliche Wachstum von Staaten vorantreiben und ob mit Kenntnis dieser Kriterien Wirtschaftswachstum gezielt unterstützt werden kann. Acemoglu und Robinson gehen dazu weit in die Geschichte zurück, um Umbruchphasen zu analysieren, in denen sich ähnliche Gesellschaften völlig unterschiedlich entwickelten. Als Beispiel dienen ihnen Aufstieg und Fall Roms und Venedigs, die Industrielle Revolution in England, der unterschiedliche Weg Nord- und Südkoreas, die Besiedlung von Nord- und Südamerika durch die jeweiligen Kolonialmächte aus völlig unterschiedlichen Motiven und schließlich die Frage, warum sich die wirtschaftliche und politische Entwicklung Botswanas von der anderer südafrikanischer Staaten unterscheidet. Drei Theorien warum Staaten verarmen werden überprüft und schließlich als alleinige Ursache ausgeschlossen ' geographische Lage und Bodenbeschaffenheit, kulturelle und religiöse Ursachen, sowie die Selbstbedienungsmentalität korrupter Eliten. Nach Ausschluss dieser Hypothesen analysieren die Autoren die Geschichte zahlreicher Beispielstaaten. - Wirtschaftlich erfolgreiche Staaten haben in Umbruchphasen wirkliche Reformen durchgeführt, anstatt nur einen herrschenden Clan durch einen anderen zu ersetzen. Gemeinsame Merkmale wirtschaftlicher Musterschüler sind nach Acemoglu/Robinson Reformen, pluralistische Staatsformen, die durch Gewaltenteilung und Rechtssicherheit für Ordnung und Sicherheit sorgen, sowie Leistungsanreize schaffen, indem sie für ihre Bürger Infrastruktur und wirtschaftliche Rahmenbedingungen bereitstellen. Wirtschaftlich erfolgreiche Staaten haben nicht die Bereicherung einzelner zum Ziel, sondern die Weiterentwicklung des gesamten Staates. Diese Merkmale werden am Beispiel diverser Länder aufgezeigt. Als Negativ-Beispiel eines Staates, der den Herrschenden Wohlstand und der arbeitenden Bevölkerung Armut bringt, werden die ehemaligen Zuckerrohr-Imperien genannt. Mit Sklavenarbeit auf Zuckerrohrplantagen wurde zwar Profit erzielt; Leistung und Innovationen lohnten sich jedoch nicht, wenn der Einzelne durch den Staat oder Grundbesitzer jederzeit ausgeplündert werden kann. - Mit großem Interesse habe ich über die Entwicklung Botswanas gelesen, dessen damaliger König bereits im 19. Jahrhundert einen eigenen Weg einschlug, weil ihm das Wohlergehen des Staates wichtig war und nicht die persönliche Bereicherung. Auf der Basis der Stammesrechte wurden schon damals moderate Reformen eingeleitet, von denen das Land noch heute profitiert, indem Gewinne aus dem Diamantenverkauf dem Staat zugute kommen. Weiterer Grund für Botswanas heutige Musterrolle in Afrika (das Land erzielt im subsaharischen Afrika das höchste Pro-Kopf-Einkommen) ist die frühzeitige Entscheidung für nur zwei offizielle Landesssprachen, die die Einigung diverser Volksstämme zu einer Nation bewirkte. - Warum Nationen in der Gegenwart scheitern belegen Acemoglu/Robinson u. a. am Extrembeispiel der heruntergewirtschafteten ehemaligen Kolonie Simbabwe. Eine koloniale Vergangenheit sehen die Autoren als Teufelskreis, aus dem speziell afrikanische Staaten sich nicht mehr lösen können. ... - Auch wenn die Autoren als Wirtschaftswissenschaftler eine teils trockene Sprache benutzen, habe ich das Buch wegen der vielen konkreten Beispiele mit Gewinn gelesen. Da ich stärker pädagogisch/sozial interessiert bin, fand ich die Konzentration auf die Historie etwas zu einseitig. Das Buch empfehle ich historisch und politisch interessierten Lesern, besonders denen, die dem 'Lernen aus der Geschichte' positiv gegenüber stehen.

Bewertung vom 04.01.2017
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Johnson, Adam

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do


sehr gut

Ein Staat zu dessen Wortschatz der Begriff Republikflucht gehört, ist uns Deutschen so vertraut wie die Propaganda von Diktaturen gegen einen vermeintlichen Agressor, mit der von diversen Defiziten in der Versorgung der Bürger abgelenkt werden soll. Pak Jun Do ist im nordkoreanischen Waisenhaus "Frohe Zukunft" aufgewachsen, weil sein Vater dort als Aufseher arbeitete. Der Staat Nord-Korea macht in diesem Roman seine Kinder zuerst zu Waisen, indem er ihre Eltern sich in Arbeitslagern zu Tode schuften läßt und "adoptiert" anschließend die elternlosen Kinder, um sie wiederum im Bergbau schuften zu lassen oder sie mit 14 Jahren in spezielle Waisen-Kompanien der Armee zu stecken. Jun Do, einziger Bewohner der "Frohen Zukunft" mit zumindest einem lebenden Elternteil, überlebt zu seinem Glück die Ausbildung in der Armee, kann einen Englischkurs belegen und wird schließlich als Funker auf einem Fischkutter zur Spionage im Gebiet zwischen Nordkorea und Japan eingesetzt. Durch einen sonderbaren Auftrag für den "geliebten Führer" an der japanischen Küste kann Jun Do zum ersten Mal Nordkorea verlassen. Eine Flucht nach Japan ist undenkbar; denn der Staat behält die Angehörigen der Besatzung als Pfand zurück. "Witwen" Geflüchteter werden zwangsweise neu verheiratet. Der Junge hat sein Leben bisher in einem Schlafsaal mit einhundert Kindern verbracht. Mangel an allem ist für Jun Do Normalität. Nach Einbruch der Dunkelheit herrschte in Nordkoreas Hauptstadt Ausgangssperre, zum Stromsparen wurden alle Lampen ausgeschaltet. Das verschwenderisch erleuchtete Japan wirkt auf Jun Do reichlich sonderbar, er beginnt zu ahnen, von wie vielen Dingen er bisher keine Ahnung hatte. Der Mensch ist im System des geschilderten Nordkorea unbedeutend, beliebig austauschbar, entscheidend ist die Geschichte, die das System ihm überstülpt oder die er für sich erfindet. Die Erzählungen seines Kapitäns, der vier Jahre als Gefangener auf einem Fabrikschiff verbrachte, warnen Jun Do davor, jederzeit für die Wahrheit ins Gefängnis kommen zu können. Mehrfach gelingt es Jun Do seinen Kopf durch seine blühende Phantasie zu retten, wie ein asiatischer Münchhausen, der sich selbst aus dem Sumpf zieht.

Der Staat schreibt seinen Bürgern vor, was sie zu denken und zu fühlen haben und verkündet diese Weisheiten regelmäßig per Lautsprecher. Jun Do ist es so gewohnt und würde sich ohne diesen Rahmen nicht wohlfühlen. Dennoch fühlt er sich von Menschen und Ereignissen außerhalb seines staatlich organisierten Gefängnisses angezogen. Adam Johnson beschreibt den Kulturschock des Jungen, der nie zuvor auch nur einen Film gesehen hat, in sehr liebenwerter Weise, ohne Jun Do und seine Kultur damit bloßzustellen.

Der zweite Teil des Buches, der mich weniger angesprochen hat als Jun Dos Jugend-Erlebnisse, befasst sich mit dem Lagerkommandanten Ga, dessen Identität mitsamt seiner realen Familie sich Jun Do vermutlich übergestreift hat.

Mit seinem ausgerechnet in Nordkorea angesiedelten abenteuerlichen Roman hat Adam Johnson das Setting kühn gewählt. Wie ähnlich Diktaturen nach außen und innen agieren wird bei manchem Leser für eine Gänsehaut sorgen. Johnson hat sich meinen Respekt mit seiner humorvollen wie phantasievollen Annäherung an ein Land verdient, das normalen Reisenden verschlossenen ist. Leser des umfangreichen Buches sollten mit heiteren Szenen, sowie unvorstellbarer Not und menschenverachtenden Handlungen rechnen.

Bewertung vom 04.01.2017
Der Himmel über Greene Harbor
Dybek, Nick

Der Himmel über Greene Harbor


ausgezeichnet

Der alte John Gaunt war zu früh gestorben, hieß es unter den Fischern auf Loyalty Island, einer fiktiven Landzunge der Olympic-Halbinsel. John gehörte alles im Ort, die Fischkutter, die Ausrüstung, das Kühlhaus und die Fanglizenzen für Riesenkrabben, die die Männer in den Wintermonaten vor Alaska fingen. Mit einem guten Fang an Riesenkrabben konnte ein Mann sehr viel Geld verdienen - und setzte dafür sein Leben ein. Der Winter stand vor der Tür und John hatte keinen Nachfolger. Sein Sohn Richard war zwar schon fast dreißig Jahre alt, hatte aber noch nie einen Fuß auf das Deck eines Kutters gesetzt. Falls John, selbst Sohn eines Selfmade-Mans, einen Plan für seine Nachfolge gehabt haben sollte, hat er mit seinen Männern jedenfalls nicht rechtzeitig darüber gesprochen. Wie viele erfolgreiche Unternehmer kann er sich vermutlich schwer vorstellen, dass ein erfahrener Mitarbeiter die Geschäfte erfolgreicher weiterführen wird als sein leiblicher Sohn. Cal, der Erzähler der Ereignisse, war im Winter von John Gaunts Tod 14 Jahre alt. Seit früher Kindheit erlebt er den Zyklus vom Auslaufens der Boote zu Winteranfang in die Beringsee, die Angst der Angehörigen um Leben und Gesundheit der Fischer und das wiederkehrende Fremdeln in den Familien, wenn die Männer nach ihrer Rückkehr an Land erst wieder Fuß fassen müssen. Die Krise der Ehe seiner Eltern spürt Cal deutlich. Cals Mutter will auf keinen Fall, dass ihr Sohn Fischer wird wie sein Vater - und der sieht sich, verständlich, davon abgewertet. In diesem Jahr beginnt die Fangsaison mit der ungelösten Frage, ob Richard womöglich alles an die Japaner verkaufen und der gesamte Ort ohne Einkommen bleiben wird. Cals Mutter verschwindet in ihre alte Heimat Florida; Cal soll nicht allein im Haus bleiben und wird den Winter in der Familie seines Freundes Jamie verbringen. Die Väter der Jungen hatten Erwachsensein in ihren Anekdoten stets mit harter körperlicher Arbeit verbunden. Wer kräftig genug war, mit dem Vater nach Alaska zu fahren, war ihrer Ansicht nach für das Leben gerüstet. Doch die Existenz bedrohende Nachfolgefrage um Richard Gaunt zeigt den Jungen, dass zum Erwachsenenleben offenbar mehr gehört als Erfahrung auf See. Mit dem Originaltitel "When Captain Flint Was Still a Good Man" begannen stets die Geschichten, die sich Cals Vater zusätzlich für die Helden der Schatzinsel ausdachte. Die Zeit, in der Vater und Sohn miteinander reden konnten, scheint vorbei zu sein. Dabei wäre es wichtig, dass Cal herausfindet, was er mit seinem Leben anfangen möchte. Cal und Jamie haben in diesem Winter ohne ihre abwesenden Väter kräftig zu kämpfen mit der Lösung bedeutender moralischer Fragen, während sie rauchend auf dem Dach vor Jamies Zimmerfenster hocken.

Nick Dybek legt einen beeindruckend erzählten Roman über Väter, Söhne, ihre Helden und das Geschichtenerzählen vor. Wer in der recht kurzen Geschichte vom Thema Fischerei und der idyllischen Lage des Ortes nicht zuviel erwartet, wird mit einer großartigen Coming-of-Age-Geschichte belohnt, die das Interesse an weiteren Büchern des Autors weckt.