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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 820 Bewertungen
Bewertung vom 09.06.2021
Die Sonne der Scorta
Gaudé, Laurent

Die Sonne der Scorta


ausgezeichnet

High Noon

Für seinen dritten Roman «Die Sonne der Scorta» erhielt Laurent Gaudé 2004 den Prix Goncour. In dem wie ein Prolog vorangestellten Gedicht von Cesare Pavese klingen bereits die Themen Schweigen, Einsamkeit, Wahnsinn und Sonne an, die diesen fünf Generationen umfassenden Roman über eine italienische Familie ebenfalls prägen. Und auch hier steht das Motiv der Heimat als ‹angeborene› Identität des Menschen im Zentrum eines Geschehens, das insbesondere durch die archaische Lebensweise seiner Figuren bestimmt wird.

Es beginnt mit einem Paukenschlag. Im Jahre 1875 kehrt der nach 15 Jahren aus dem Gefängnis entlassene Verbrecher Luciano in sein Heimatdorf auf dem Gargano in Apulien zurück. In einer an den Western «High Noon» erinnernden, vor Spannung knisternden Szene reitet er in glühender Mittagssonne durch das während der Siesta menschenleere Dorf, um das zu tun, wovon der Halunke sein Leben lang geträumt hat: Er will unbedingt einmal Sex mit Filomena haben, der Frau seiner Träume. Danach werden ihn die Leute töten, das weiß er, aber es ist ihm völlig egal, er hat mit dem Leben abgeschlossen. Sie öffnet ihm die Tür und gibt sich ihm widerstandslos hin. Demonstrativ knöpft er seine Hose erst zu, als er nach der Siesta aus ihrem Haus tritt, so dass alle es sehen können. Er wird von den erbosten Männern gesteinigt, aber bevor er das Bewusstsein verliert, hört er eine Frau schreien: «Immacolata ist die letzte Frau, der du Gewalt angetan hast». Es war die Schwester, mit der er geschlafen hat, Filomena ist schon lange tot!

Immacolata wird schwanger, bringt Rocco zu Welt und stirbt im Kindbett. Der Pfarrer rettet das Neugeborene vor den erzürnten Dorfbewohnern, die es als Frucht des Bösen gleich der Mutter mit in den Sarg legen wollen. Rocco wird in einem Nachbardorf aufgezogen und entwickelt sich zu einem Schwerverbrecher, der aber, anders als sein Vater, zu großem Wohlstand kommt und, deshalb allseits geachtet, eine Familie gründet. Als er stirbt, hinterlässt er sein gesamtes Vermögen der Kirche und stürzt Frau und Kinder damit in bitterste Armut. Über fünf Generationen hinweg erlebt dieser Familienclan einen Rückschlag nach dem anderen. Sei es die erst auf Ellis Island scheiternde Auswanderung der Kinder oder der in einem irren Akt der Verzweifelung eigenhändig niedergebrannte Zigarettenladen, das Schicksal meint es nicht gut mit ihnen, sie scheinen mit einem Fluch beladen zu sein. Aber ihr Lebenswille lässt sie unbeirrt voranschreiten, allen Widrigkeiten zum Trotz. Der Autor entwickelt in den zehn Kapiteln seiner wechselvollen Geschichte ein archaisches Bild vom armseligen Leben auf dem Lande, das einen harten Menschenschlag hervorbringt. Seine lebensprallen Figuren sind anschaulich beschrieben und wirken selbst als Ganoven sympathisch. Und dies vor allem in den Dialogen, die in ihrer Gedankenfülle und Lebensweisheit einen deutlichen Kontrast bilden zu den Brutalitäten des entbehrungsreichen Daseins.

Als zweite Erzählebene bindet der Autor immer wieder Gespräche mit dem Dorfpfarrer in seine Geschichte ein, die das Geschehen aus einer persönlichen Perspektive kurzgefasst wiederholen und in unterschiedlichen Aspekten tiefer gehend deuten. Die Sinnfrage steht im Zentrum aller Gespräche, in dieser Familie ist eine latente Todes-Sehnsucht spürbar. Der Urahn lässt sich widerstandslos steinigen, einer seiner Enkel lässt sich als Schmuggler aufs Meer hinaus treiben und wird nie wieder gesehen. In der bitteren Armut scheint Geld der Heilsbringer zu sein, aber es erweist sich als ebenso trügerisch wie das Schicksal selbst. In diesem Roman fungiert eine ganze Familie als Protagonist, ihr Weiterleben von Generation zu Generation folgt dem Lauf der Natur, was der Pfarrer am Beispiel der Oliven verdeutlich, von denen das Dorf lebt und die, alljährlich wiederkehrend, ewig existieren. Dieser neorealistisch erzählte Roman stellt mit seiner gedanklichen Tiefe eine gleichermaßen bereichernde wie unterhaltende Lektüre dar.

Bewertung vom 02.06.2021
Der Mann im roten Rock
Barnes, Julian

Der Mann im roten Rock


weniger gut

Literarischer Bastard

Das neueste Werk des englischen Schriftstellers Julian Barnes mit dem Titel «Der Mann im roten Rock» gehört zu den essayistischen seines umfangreichen Œuvres. Der Titel bezieht sich auf den französischen Arzt Samuel Pozzi, den er in einer Londoner Galerie auf einem Gemälde entdeckt hatte, das nun das Titelbild ziert. Das Leben dieses Mode-Arztes und Salonlöwen dient ihm allerdings nur lose als roter Faden durch die Belle Époche in Paris, zu deren gesellschaftlicher Elite der begnadete Frauenarzt gehörte. Seine Biografie bietet Barnes Anlass zu allerlei Betrachtungen vor allem gesellschaftlicher Themen, die der bekanntermaßen frankophile Schriftsteller immer wieder zu neuen Vergleichen der beiden so unterschiedlichen Nationen nutzt.

Es beginnt mit der Reise dreier Franzosen nach London, zu der Pozzi 1885 mit dem Schriftsteller Robert de Montesquiou und dem Komponisten Edmond de Polignac aufbrach. Seine Begleiter waren beide homosexuell, während der blendend aussehende und charmante Pozzi, unglücklich verheiratet, als ausgesprochener Womanizer galt. Womit einer der thematischen Schwerpunkte dieses Essays schon genannt ist, es gibt reichlich schwule Männer in diesem Buch, Oscar Wilde dürfte deren bekanntester Vertreter sein. Immer wieder kommt Barnes auf dessen berühmten Roman «Das Bildnis des Dorian Gray» zurück, zitiert daraus und setzt sich in verschiedenen Aspekten damit auseinander. Ein weiterer thematischer Schwerpunkt in diesem Werk über eine wichtige historische Epoche ist die Beschäftigung mit der zeitgenössischen Kunst, vor allem der Malerei. Gleich zu Beginn geht Barnes darauf ein, beschreibt präzise analysierend das lebensgroße Ölgemälde des Arztes. Inhaltlicher Schwerpunkt ist jedoch das dekadente Gesellschafts-Leben jener Zeit mit all dem Klatsch und Tratsch, den amourösen Skandalen, dem in Frankreich noch lange praktizieren Duell-Unwesen, aber auch mit den politischen Ereignissen. Die Dreyfus-Affäre ist das populärste Beispiel dafür, er kritisiert aber ebenso heftig den Kolonialismus. Wie er sich übrigens im Nachwort auch als ein vehementer Gegner des Brexit outet, den er als ebenso verblendet brandmarkt, für ihn eine englische, nicht britische Fehlentscheidung, wie er ausdrücklich betont!

Man ist an ein Who’s Who erinnert angesichts der Figurenfülle dieses Buches, zu der nicht wenige Dandys gehören wie die drei Reisenden zu Beginn. Eine für Frankreich spezifische Gattung von Männern übrigens, der sich Julian Barnes sehr ausführlich widmet. Er wird nicht müde, all die Größen des Fin de Siecle aufmarschieren zu lassen mit seinem pompösen Figuren-Ensemble, ihre Beziehungen untereinander zu beschreiben und zu deuten. Gleich zu Beginn taucht da Henry James auf, der amerikanisch-englische Schriftsteller, von Flaubert bis Proust fehlt kaum einer der berühmten französischen, wobei Joris-Karl Huysmans mit seinem Roman «Gegen den Strich» deutlich häufiger herangezogen und zitiert wird als Oscar Wilde. Prominenteste Frau ist Sarah Bernardt, als Schauspielerin der erste Weltstar überhaupt, Patientin von Pozzi, die ihn nur Doctor Dieu nannte und wohl auch seine Geliebte war, - nichts Genaues weiß man nicht!

Was Julian Barnes hier nach umfangreichen Recherchen in lockerem Stil, angereichert mit fast 100 Abbildungen, pointenreich berichtet, ist natürlich auch mit englischem Humor durchmischt. Das macht die Lektüre der vielen Krisen und Skandale zwar unterhaltsam, seine häufigen Abschweifungen allerdings führen mit unzähligen Anekdoten und auf kontemplativen Nebenwegen oft ins Leere. Bei seiner episodenhaften Erzählweise geht dann der innere Zusammenhang zuweilen verloren und es wird langweilig. Im Verbund mit der Überfülle an Figuren, von denen viele allenfalls Insidern bekannt sein dürften, wird das Lesen recht beschwerlich. Der überraschend romanhafte, allerdings ja authentische Schluss rettet diesen weder als Essay noch als Biografie überzeugenden literarischen Bastard dann auch nicht mehr.

Bewertung vom 29.05.2021
Ingrid Caven, Erfolgsausgabe
Schuhl, Jean-Jacques

Ingrid Caven, Erfolgsausgabe


sehr gut

Ein Lächeln

Als ‹Callas des europäischen Kabaretts› wurde Ingrid Fassbinder bezeichnet, die unter dem Künstlernamen «Ingrid Caven» als Schauspielerin und Sängerin in dem Roman gleichen Namens von Jean-Jacques Schuhl im Mittelpunkt steht. Der bis dato kaum bekannte, französische Schriftsteller, der vierundzwanzig Jahre lang kein Buch mehr veröffentlicht hatte, landete mit dem Roman über die Frau, mit der er seit Jahrzehnten zusammenlebt, einen Riesenerfolg, das Buch bekam den Prix Goncourt 2000. Es sind viele Geschichten, die in diesem Roman erzählt werden, nicht nur die einer in Frankreich überaus erfolgreichen, an Marlene Dietrich erinnernden Diseuse, sondern auch die von Fassbinder, Yves Saint Laurent und unzähligen anderen Prominenten aus Kunst und Kultur.

Ingrid hat am Heiligabend 1943 schon als Vierjährige ihren ersten Bühnen-Auftritt, als Sängerin von Weihnachts-Liedern vor Soldaten der Wehrmacht. Im Hause ihres Großvaters gab es, wie sie sich erinnert, «Musik in allen Stockwerken», die Familie war musikalisch geprägt. Als sie an die Musik-Hochschule nach München geht, wird sie von Rainer Werner Fassbinder entdeckt, macht mehrere Filme mit ihm und heiratet ihn 1970. Die Ehe mit dem homosexuellen Filmemacher wurde nach zwei Jahren wieder geschieden, 1978 ging sie dann nach Paris und begann dort eine zweite, sehr erfolgreiche Karriere als Chanson-Sängerin. Ihr Lebenspartner dort ist der Autor selbst, der in seinem Roman in der dritten Person als Charles auftritt und abwechselnd mit seiner als Ich-Erzählerin fungierenden Protagonistin deren Leben schildert. Das geschieht weder in chronologischer Folge noch einigermaßen vollständig, sondern bruchstückhaft, ganze Lebensbereiche werden ausgeblendet. Dafür ist das Erzählte reichlich mit peripheren politischen Ereignissen, dem Kunstgeschehen in aller Welt, mit Klatsch und Tratsch über Prominente aus der internationalen Presse angereichert.

Jean-Jacques Schuhl beschäftigt sich intensiv mit der Bühnenwirkung dieser Künstlerin. Deren Präsenz im Rampenlicht, deren ebenso subtile wie zwingende Bühnensprache ist durch eine nur ihr eigene, für sie typische Gestik geprägt. Gleiches gilt für ihre vielseitige Gesangskunst, die vom trivialen Schlager bis zur avantgardistischen Musik eines Arnold Schönberg einen weiten Bogen umfasst. Seine literarisch als Collage angelegte Huldigung gibt dem Autor jedoch immer wieder Rätsel auf. Ingrid Caven wird in Frankreich als würdige Nachfolgerin von Marlene Dietrich angesehen, obwohl ihr nicht die großen Posen der Diva zu eigen sind. Sie erscheint im Gegenteil völlig unprätentiös und ist eher für ihre strenge Disziplin als Künstlerin bekannt. Bei der Ausschmückung dieser Lebensgeschichte kommt der Autor oft gehörig vom Wege ab und verliert sich im Anekdotischen. Er bereichert damit allerdings seine Geschichte auch mit viel Zeitkolorit und gestaltet sie fast schon wie eine künstlerische und gesellschaftliche Odyssee. Neben München und Paris ist es vor allem New York, wo sich das Paar häufig aufhält, Ingrid ihre Auftritte hat und sie beide auf großem Fuß leben.

Neben vielen kontemplativen Einschüben erfreut der Roman durch eine reichhaltige Intertextualität, da kommt dem Leser plötzlich schon mal Leopold Bloom entgegen. Es gibt aber auch viele Alltagssprüche, Redensarten, Kinderlieder und Songtexte in Englisch und Französisch, die dieser unaufgeregt und diskret erzählten Geschichte Authentizität verleihen. Er habe sich für unfähig gehalten, «die Magie dieses Musik gewordenen Körpers» in Worte zu fassen, hat der Autor bescheiden angemerkt. Besonders berührend ist gegen Ende ein rätselhaftes Blatt Papier, das neben Fassbinders Leiche gefunden wurde. Auf dem hatte er handschriftlich das Leben von Ingrid Caven, über den Tag hinaus bis zu ihrem Tod, stichwortartig aufgeschrieben. Der letzte Punkt lautet: «Streit Schlägerei Liebe Hass Glück Tränen Tabletten Tod + ein Lächeln». Es kam anders, sie tritt bis in jüngste Zeit immer noch auf!

Bewertung vom 27.05.2021
Vom Aufstehen
Schubert, Helga

Vom Aufstehen


weniger gut

Im Osten nichts Neues

Mit ihrem Buch «Vom Aufstehen» blättert Helga Schubert in 29 Erzählungen ihre ereignisreiche Lebensgeschichte auf. Mit der titelgebenden, hier als letzte abgedruckten Geschichte gewann sie 2020 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Das war für die ziemlich in Vergessenheit geratene Schriftstellerin eine späte Wiederentdeckung. Dieser Band sei eine Hommage an ihre berühmte Kollegin, deren Erzählung «Das dreißigste Jahr» das ‹Aufstehen› thematisiert, erklärte sie in ihrer Klagenfurt-Dankesrede. Morgen werden in Leipzig die diesjährigen Buchpreise verliehen, der vorliegende Erzählband ist unter den nominierten Büchern, - winkt da womöglich eine weitere Auszeichnung?

Die achtzigjährige Autorin hat vieles miterlebt, als Kind die abenteuerliche Flucht vor der anrückenden Roten Armee aus Groß Tychow in Hinterpommern bis nach Greifswald, dann in der DDR das erste Arbeiter- und Bauernparadies auf deutschem Boden, schließlich die Wiedervereinigung und die Jahre danach bis heute. Die Autorin erzählt in einem Mix aus Realem und Fiktivem aus ihrem Leben, wobei sie angemerkt hat, dass sie diesen über viele Jahre hinweg entstandenen Erzählungen wenig Wert beigemessen habe. Nun aber seien sie doch erfolgreich veröffentlicht worden. «Mir ist das unheimlich, und das hängt auch mit meinem Glauben zusammen, dass ich mir sage: Bäume dürfen nicht in den Himmel wachsen. Ich denke dann, wann kommt mein Absturz, also dass die Leute sagen, nun ist es aber mal gut mit der Vergangenheit». Nach dem Mauerfall war es sehr ruhig geworden um die in ihrem Brotberuf als Psychotherapeutin tätige DDR-Schriftstellerin, die sich innerlich mit dem Unrechts-Regime arrangiert hatte. «Ich habe die Regeln des Ostens begriffen und sie beachtet» hat sie dazu angemerkt und ist nicht in den Westen gegangen wie manche ihrer schreibenden Kollegen.

Ihre im Umfang sehr unterschiedlichen Texte sind teils Momentaufnahmen, teils auch längere Rückbesinnungen auf das Erlebte. Gleich die erste Erzählung «Mein idealer Ort» ist ein Beispiel dafür. Sie erinnert sich an das Aufwachen in der Hängematte nach dem Mittagsschlaf bei der Großmutter im Obstgarten, wo sie viele Jahre lang die Sommerferien verbracht hat. Und dann gab es dort immer «Kuchen und Muckefuck», man denkt unwillkürlich an die Madeleines von Marcel Proust. «So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute». Ähnlich funktioniert auch die titelgebende, letzte Geschichte in diesem Band, als die Erzählerin morgens wach liegt und sich innerlich auf die Erfordernisse des kommenden Tages vorbereitet, aber auch in kurzen Erinnerungs-Splittern an ihre nicht immer einfache Vita zurückdenkt. Eine dominierende Rolle spielt dabei das problematische Verhältnis zu ihrer Mutter, deren Herzenskälte sie unverkennbar psychisch sehr belastet hat. Die hatte sie jahrelang mit Vorhaltungen gequält und ihr erklärt, es wäre besser gewesen, sie hätte abgetrieben, oder sie auf der Flucht irgendwo allein ausgesetzt, um sie los zu werden, oder sie ganz einfach vergiftet. Dass sie einer solch grausamen Mutter trotzdem vergeben könne, dürfte an ihren religiösen Wurzeln liegen, schließlich habe die Mutter ja ihrem Kind auch vorgesungen.

Neben distanziert beschriebenen Episoden dieser Lebensbilanz finden sich auch emotional berührende. Aber leider auch thematisch unergiebige wie «Eine Wahlverwandtschaft», wo endlos erscheinende Aufzählungen, den Stammbaum hoch und runter, ermüdend wirken mit Sätzen wie: «Und die Tochter meiner Mutter konnte darum auch den Vormittag bei meiner sterbenden Großmutter sein». Der Verwandtschaftsgrad muss reichen, Namen sind Mangelware. Meistens in kurzen Sätzen schon fast lakonisch knapp erzählt, erscheint diese Melange von zu ganz unterschiedlichen Zeiten entstandenen Erzählungen stilistisch äußerst ambivalent. Die inhomogene Zusammenstellung erschwert das Lesen, es fehlt ein innerer Zusammenhang des Erzählten, ein roter Faden, und wirklich Neues wird hier leider auch nicht geboten!

1 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.05.2021
Kollateralschaden
Flor, Olga

Kollateralschaden


weniger gut

Am Puls der Zeit

Die österreichische Schriftstellerin Olga Flor hat in ihrem dritten Roman mit dem deskriptiven Titel «Kollateralschaden», dem Unwort des Jahres 1999, eine sozialkritische Abrechnung mit den Wirkungen und Nebenwirkungen der urbanen Konsum-Gesellschaft vorgenommen. Ort des Geschehens ist ein Supermarkt, der hier als Allegorie auf das heutige Leben dient. Das Cover des Buches deutet auf die Vereinzelung der vom Konsumterror manipulierten Menschen hin. Die Erzählzeit beträgt exakt eine Stunde, von 16:30 bis 17:29 Uhr, der Roman ist dementsprechend in Minuten getaktet, die den 60 Kapiteln ihre Überschrift geben. Man kann all das, was in dieser Dämmerstunde geschieht, schon fast in Echtzeit mitverfolgen.

Ein nacherzählbarer Plot ist nicht vorhanden, es passiert hier praktisch nichts, sieht man von einem die normale Geschäftigkeit erheblich störenden Zwischenfall ganz am Ende ab. Dieser Roman lebt von einem Dutzend bunt zusammen gewürfelter, alltäglicher Figuren, er bildet quasi einen soziologischen Querschnitt ab. Angefangen bei der als Zigeunerin erkennbaren Bettlerin am Eingang des Konsumtempels und dem Obdachlosen, der dort als Flaschensammler sein Glück sucht, bis hin zur toughen PR-Beraterin und zu einer ehrgeizigen Politikerin der Rechtspartei. Da ist ferner die kalorienbewusste 29Jährige, eine Stammkundin, die hier sehr gezielt einkauft, oder der früher beim Stadtbauamt tätige Pensionär, der zuhause eine krebskranke Frau hat, die in Kürze operiert wird, ferner der erfolglose Lokalreporter, der wohl keine Karriere machen wird, aber auch die Frau, die froh ist, ihrem Ekel von Ehemann beim Einkaufen wenigstens für eine Weile entkommen zu sein. Enfant terrible dieses bunt zusammen gewürfelten Roman-Personals ist Mo, ein orientierungsloser Jugendlicher, der einen von seinem Freund aufgezeichneten, als Mutprobe geltenden und eine Spur der Verwüstung hinterlassenden Sturmlauf durch den Supermarkt absolviert, als praktizierter Frust-Abbau quasi. Bei alldem mischt natürlich auch die Belegschaft des Supermarktes als begleitende Akteure kräftig mit.

Die sozusagen im Minutentakt wechselnde Perspektive verbindet das durch kaum mehr als den Konsum miteinander verbundene Figuren-Ensemble jeweils nur für einen kurzen Moment, den flüchtigen Augenkontakt, eine knappe Frage, eine kleine Bitte, eine mehr oder weniger unwirsch vorgebrachte Aufforderung. Die Interaktionen der Figuren sind zufällig, ungewollt, was in geradezu groteske, teilweise irreale Situationen und Momente mündet. Es scheint sich allesamt um Zu-kurz-Gekommene zu handeln, deren Ängste sich in der hektischen Atmosphäre mit all den überquellenden Warenregalen im grellen Neonlicht manifestieren. Der Ort wird neben seiner Funktion zur Befriedigung menschlicher Grund-Bedürfnisse auch als Schauplatz einer unterschwellig vorhandenen Konkurrenz untereinander wahrgenommen. Jeder will schneller, cleverer sein als der andere! Schnäppchenjagd heißt der gemeinsam praktizierte Volkssport in diesem Milieu, gesteuert von einer skrupellosen, schon längst den Alltag beherrschenden Werbung.

Als scharfe Beobachterin einer durch und durch ökonomisch orientierten Gesellschaft seziert Olga Flor die psychischen Befindlichkeiten ihres lose verbundenen Figuren-Ensembles. Sie legt dabei ohne Häme tief verborgene Ängste und hartnäckige Traumata frei. Ihre beißende Kritik richtet sich an die einfallslose Politik und die sensationsgeilen Medien gleichermaßen. Sie selbst hat angemerkt, ihrem Roman liege eine «unterschwellig gegenwärtige Terrorangst zugrunde. Der Supermarkt drängt sich mit der Zeit als Bild auf». Hektisch wie unser Leben ist auch ihr fast durchgängig in Form des Bewusstseinsstroms der Figuren geschriebener Roman. Dass hier reichlich Klischees bemüht werden, stört allerdings ebenso wie die Langeweile, die sich beim Lesen schon bald einstellt angesichts all der Banalitäten, die da frohgemut ausgebreitet werden. Immerhin aber liegt dieser Roman am Puls der Zeit.

Bewertung vom 24.05.2021
Drei Tage bei meiner Mutter
Weyergans, Francois

Drei Tage bei meiner Mutter


gut

Intelligente Unterhaltung

Der in französischer Sprache schreibende belgische Schriftsteller François Weyergans hat für seinen letzten Roman «Drei Tage bei meiner Mutter» 2005 den Prix Goncourt erhalten. Er hat sich selbst mal als Cineasten bezeichnet, der keine Filme dreht. «Ich ziehe den Roman als Ausdrucksmittel vor. Er ist genauer, subtiler und reichhaltiger als ein Film». Kennzeichnend für seinen Stil ist die Selbstironie, mit der er sich virtuos als Alter Ego seiner Protagonisten in den Mittelpunkt stellt.

Als Ich-Erzähler leidet der Schriftsteller François Weyergraf an einer totalen Schreib-Blockade, für die er immer wieder neue Ausreden findet. Zu vieles lenkt ihn ständig ab, er kann seinen Roman, dessen Titel «Drei Tage bei meiner Mutter» von Anfang an feststand, einfach nicht fertig schreiben. Der Verleger sitzt ihm im Nacken, das Buch ist schon lange angekündigt, seine Stammleser warten ungeduldig darauf. Außerdem wird er wegen seiner aufgelaufenen Steuerschulden auch noch vom Finanzamt bedrängt, eine Zwangsvollstreckung droht. Er ist in einer misslichen Lage, weil er sich nicht mehr aufs Schreiben konzentrieren kann. Der Sechzigjährige flüchtet sich regelrecht in Erinnerungen, seine Gedanken drehen sich ständig um sein ereignisreiches Leben. «Du machst aller Welt angst» wirft ihm Delphine vor, die Frau, mit der er seit dreißig Jahren zusammen ist, sie haben zwei erwachsene Töchter. Er hat immerhin fünf Filme gedreht und zehn Romane veröffentlicht, ist hoch angesehen und mit vielen Größen aus Literatur und Kunst befreundet. «Du solltest veröffentlichen. Die Leute werden glauben, du bist tot» mahnt ihn auch seine hochbetagte Mutter, die er viel zu selten besucht. Sie erscheint als die eigentliche Heldin des Romans, eine selbstbewusste Frau bis in hohe Alter hinein, die außer François noch sechs Töchter geboren hat. Auch seine Schwestern aber trifft er eher selten.

Die Selbstreflexionen des an seiner Schreibhemmung leidenden Protagonisten beschäftigen sich intensiv mit seiner literarischen Tätigkeit, er hat sich neben seinen epischen Werken auch mit Biografien und Essays über Literatur einen Namen gemacht. Auch mit Musikern, Malern und anderen Künstler tauscht er sich gedanklich aus, er ist gut vernetzt und als intellektueller Kopf weithin bekannt. Das prägende Thema seiner permanenten Rückbesinnung aber sind in Wirklichkeit die Frauen, er ist ein Womanizer durch und durch. Glaubt man seinem machohaften Geprahle, fallen ihm die Frauen zu wie die reifen Äpfel vom Baume. Sex also spielt die entscheidende Rolle in seinem Leben. Er legt die Frauen meist schon beim ersten Treffen flach, es gibt dementsprechend so manche deftige Szene in diesem Roman. Eine seiner spontanen Gespielinnen fasst ihr Verhältnis sehr treffend in die Worte: «Was wir miteinander haben, ist keine Liebesgeschichte, es ist eine Fickgeschichte». Das im Buchtitel suggerierte Thema ‹Mutter› ist in der Tat eher nebensächlich dagegen. Als typischer Neurotiker erinnert François stark an Woody Allen, er hat seine diversen Spleens, die er regelrecht zu kultivieren scheint.

Das Vexierspiel dieses zweifach verschachtelten Romans, in dem ein gewisser François Weyergraf über die Entstehung seines Romans berichtet, der von einem an Schreibhemmung leidenden Schriftsteller namens Francois Weyerstein handelt, ist weder neu noch originell. Die ständigen Rücksprünge und das thematische Mäandern des Erzählstoffs gemahnen an Konfuzius. «Der Weg ist das Ziel» lautet also die Devise, und tatsächlich sind die Tage bei der Mutter ganz am Schluss dann schon beinahe nebensächlich. Man kann dieses Resümee eines Lebens als Sinnfrage eines in der Midlife-Crisis steckenden Schriftstellers interpretieren. Er drückt hier sein lähmendes Entsetzen aus über das Vergehen der Zeit, ähnlich wie Marcel Proust es so grandios zu seinem Thema gemacht hat. Mit seiner üppigen Intertextualität bietet dieser amüsante Roman intelligente Unterhaltung, - nicht mehr, aber auch nicht wenige

Bewertung vom 19.05.2021
Daheim
Hermann, Judith

Daheim


schlecht

Artifizielle Unbehaustheit

Sieben Jahre nach dem Erstling ist kürzlich unter dem Titel «Daheim» der zweite Roman von Judith Hermann erschienen. Die für ihre Kurzgeschichten hoch gelobte Schriftstellerin erzählt hier von einer Frau, die alles hinter sich lassend von der Stadt in die Einsamkeit Nordfrieslands zieht. Auf die Interview-Frage, was ‹Daheim› denn eigentlich sei, hat die Autorin geantwortet: «Ein utopistischer, märchenhafter Ort», das Wort tauche übrigens im Text nur ein einziges Mal auf, fügte sie noch hinzu.

Die namenlose, 47jährige Ich-Erzählerin erinnert sich im Rückblick an ihre dreißig Jahre zurückliegende Begegnung mit einem Zauberer. An der Tankstelle wurde sie von einem älteren Herrn angesprochen, der sie als Assistentin für seine Show mit der zersägten Jungfrau auf einem Kreuzfahrtschiff nach Singapur engagieren wollte. Aber sie hatte sich damals anders entschieden, hat Otis geheiratet, eine Tochter bekommen und sich, nachdem Ann das Elternhaus verlassen hat, von ihrem Mann getrennt. Nun lebt sie einsam in einem kleinen Haus an der Küste gleich hinterm Deich, kellnert bei ihrem Bruder in einer schäbigen Touristen-Kaschemme und versucht, in der Fremde heimisch zu werden. Ihre Tochter, die mit ihrem Freund irgendwohin unterwegs ist, meldet sich nur ganz selten mal per Skype und sagt nicht von wo. Mit ihrem Ex-Mann tauscht sie sich ab und zu brieflich aus. Allmählich freundet sie sich mit ihrer burschikosen Nachbarin Mimi an, der ehemaligen Freundin ihres Bruders. Der lebt jetzt mit der vierzig Jahre jüngeren, chaotischen Nike zusammen. Auf dem benachbarten Bauernhof betreibt Mimis wortkarger, eigenbrötlerischer Bruder Arild eine Schweinezucht, die Beiden haben schon bald ‹unverbindlich› Sex miteinander.

Von einer Handlung kann man eigentlich kaum sprechen in diesem Roman, der von psychotischen Sonderlingen bevölkert ist, die als typische Einzelgänger kontaktarm und emotional verkümmert neben einander her leben. Der lebensuntüchtige, aber angeberische Bruder der Erzählerin ist Kneipier geworden, seine Mesalliance mit Nike endet tragisch. Der Ex-Mann ist ein Musterexemplar von einem Messi, der in seinem angesammelten Müll zu ersticken droht. Arild lebt geradezu asketisch allein auf dem von seinen Eltern übernommen Bauernhof, in einer schon fast pathologisch peniblen Ordnung und Sauberkeit. Gemeinsam sind dem ambivalenten Figuren-Ensemble die Versagensängste und ihre verschiedenartig ausgeprägte Unbehaustheit. Die verhaltensgestörte Nike wurde von der Mutter oft tagelang in eine Kiste eingesperrt, ein Leitmotiv dieses Romans. Es findet sich in der Kiste des Zauberers, aber auch in einer Marderfalle wieder, die Arild aufstellt, als es nachts im Dachgestühl der Erzählerin andauernd rumort. Sie und ihr Bruder hatten als Kinder keinen Wohnungs-Schlüssel und mussten im Treppenhaus warten, bis die alleinerziehende Mutter nach Hause kam, manchmal bis zum frühen Morgen.

Leere und Fülle, Nähe und Distanz sind die bestimmenden Pole dieses erzählerischen Kosmos. Sprachlich suggeriert die für Judith Hermann symptomatische Parataxe zusammen mit den spröden Dialogen ein Bild unbedingter Realität, Seelisches wie Emotionen, Träume, Leidenschaften und Lebensfreude haben da partout keinen Platz. Die als Handlungsort gewählte, karge Landschaft ‹hinterm Deich› betont diese Intention wirkungsvoll. Auch Klimawandel und Massentierhaltung werden am Rande thematisiert in diesem Roman. Vieles aber bleibt offen, wird nur angedeutet und der Fantasie des Lesers überlassen, so auch der kryptische Schluss. Ein Effekt dieses artifiziellen Stils ist zudem, dass man schon wenige Tage später kaum noch weiß, worum es denn überhaupt ging in diesem Buch, es hinterlässt keine Bilder, die sich eingeprägt hätten, und keine Figuren, die einem als Herz gewachsen wären. Dieser Roman dürfte für viele Leser eine herbe Enttäuschung sein, sie werden das Buch am Ende erleichtert zur Seite legen, wenn sie denn überhaupt so lange durchgehalten haben!

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.05.2021
Am Götterbaum
Pleschinski, Hans

Am Götterbaum


weniger gut

Blitzlicht auf einen vergessenen Poeten

In seinem neuesten Roman «Am Götterbaum» widmet sich Hans Pleschinski zum dritten Mal einem deutschen Nobelpreisträger für Literatur. Nach Thomas Mann in «Königsallee» und Gerhart Hauptmann in «Wiesenstein» wird hier Paul Heyse in den Blick genommen. Der literarisch der Postmoderne zugerechnete Autor erzählt mit Lust am Fabulieren von der Initiative dreier engagierter Damen, die verwahrloste Villa des heute völlig vergessenen, einstigen ‹Großschriftstellers› aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken und in ein modernes Literatur-Zentrum umzuwandeln.

München brauche so etwas, um kulturell zu Berlin aufschließen zu können, da ist sich die toughe Stadtbaurätin völlig sicher. Auch den Kämmerer hat sie von ihrer Idee überzeugen können. Als sachkundige Mitstreiterinnen hat sie eine Schriftstellerin und eine Bibliothekarin gewonnen, mit denen sie sich 2019 an einem Frühlingsabend vor dem Rathaus trifft, um von dort aus zu einer ersten Ortsbegehung aufzubrechen. Da sie früh dran sind, beschließen die Damen, gemütlich zu Fuß zur Luisenstraße 22 im Kunstareal Münchens zu laufen. Auf dem Weg dorthin unterhalten sie sich sehr angeregt über Paul Heyse und das geplante Kulturprojekt, debattieren kontrovers über dessen Sinn und Machbarkeit. Pleschinski nutzt die Szenerie am Rande auch zu allerlei kritischen Betrachtungen des täglichen Wahnsinns. So wenn beispielsweise zwei smartphone-süchtige junge Männer mit ihrer Daddel vor der Nase auf dem Bürgersteig kollidieren und eines dieser elektronischen Kulturtöter auf Nimmerwiedersehen in den Gully gleitet. Oder die Damen erleben den Streit einer Tauben fütternden Alten mit einem erbosten Herrn, der von Flugratten spricht und die Polizei herbeirufen will, weil das Füttern aus guten Gründen ja verboten sei.

Die sich an einem einzigen Abend abspielende Geschichte dieses literarischen Spaziergangs durch München wird nur einmal kurz durch einen Rückblick auf einen Besuch von Adolf von Kröner am Gardasee unterbrochen. Der Besucher des Ehepaars Heyse zählte damals zu den führenden Verlegern in Deutschland, ihm verdankt der Buchhandel die seit 1888 geltende, kulturell begründete Preisbindung für Bücher. Ansonsten ist dieser Roman, neben seinen beiläufigen Alltags-Beobachtungen, überreich gespickt mit Zitaten von Heyse. Gedichte zumeist, die erkennen lassen, warum dieser Literat heute zu Recht vergessen ist. Ihm fehlt, was Pleschinski im Roman als Ingenium bezeichnet, seine literarischen Hervorbringungen sind allenfalls mittelmäßig, was auch für seine 180 Novellen, 68 Dramen und acht Romane gilt, soweit man das durch die eingefügten Zitate beurteilen kann.

Oft am Rande der Kolportage entlang schliddernd mit seinem banalen Münchner Alltags-Kolorit, enttäuscht dieser Roman durch das kulturbeflissene Dauer-Geschwafel des Damentrios, von dem man als Leser oft nicht weiß, wer denn da überhaupt spricht. Ihnen gesellt sich zu allem Überfluss auch noch ein als Heyse-Spezialist ausgewiesener Professor aus Erlangen hinzu, samt jungem, chinesischem Ehemann (sic!). Sehr zum Verdruss des geplagten Lesers trägt nun dieser Heyse-Experte immer weitere Zitate vor. Völlig absurd aber wird das Ganze, wenn zuletzt nach mehreren Pannen überraschend doch noch eine Begehung der vermieteten Villa möglich wird. Die zunächst abweisenden Mieter outen sich plötzlich als Heyse-Fans und tragen spontan im Treppenhaus der Villa ein Stück des verehrten Meisters vor. Spätestens an diesem Punkt stellt sich dann die Frage, ob diese Hommage womöglich als Satire gedacht ist. Es gibt allerdings keine Hinweise, die solche Deutung untermauern könnten, es fehlt jedwede Komik. Im Interview hat der Autor erklärt, er hoffe, «dass der Roman für Leser in diesen Zeiten eine Art Antidepressivum sein kann». Das mag für einige zutreffen, und außerdem hat er einen vergessenen Poeten blitzlichtartig ins Leser-Bewusstsein zurückgerufen, auch darin liegt ein gewisser Verdienst, aber das ist dann auch schon alle

Bewertung vom 17.05.2021
Der Prozess
Kafka, Franz

Der Prozess


ausgezeichnet

Jahrhundertwerk

Aus dem «nächtlichen Gekritzel» von Franz Kafka sind drei unvollendete Romane hervorgegangen, einer davon ist «Der Prozess». Anfang 1915 hatte er notiert «Ich kann nicht mehr weiter schreiben» und die Arbeit resigniert abgebrochen. Nach dem frühen Tod des Autors hat der von ihm eingesetzte Nachlaßverwalter, sein Freund Max Brod, 1925 das unvollendete Manuskript posthum veröffentlicht, gegen Kafkas ausdrücklichen Willen. Mit diesem Vertrauensbruch hat er der Literatur jedoch einen nicht hoch genug einzuschätzenden Dienst erwiesen. Im Nachwort zur Erstausgabe hatte Brod angemerkt, dem publizierten Roman fehle nichts Wesentliches. Das inzwischen längst kanonische Werk erlangte im deutschen Sprachraum aber erst in den fünfziger Jahren seine bis heute andauernde Bedeutung, sein Autor gehört zu den weltweit meistgelesenen Schriftstellern in deutscher Sprache.

«Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet». Bereits im ersten Satz dieses Romans ist vieles von dem enthalten, was seine bedrückende Thematik ausmacht. Der Prokurist einer Bank erhält am Morgen seines dreißigsten Geburtstags Besuch zweiter Männer, die ihm erklären, dass er verhaftet sei. Er sieht sich plötzlich in den Fängen einer ominösen Gerichtsbarkeit, die nur in einer Schattenwelt zu existieren scheint, kann aber weiter seiner Arbeit nachgehen. Während der gesamten Prozessdauer, und damit während des gesamten Romans, erfährt Josef K. nicht, wessen er beschuldigt wird. In einem surrealen Szenarium wird er dann sonntags ohne Zeitangabe telefonisch zu einer ersten Untersuchung geladen, die im Dachboden einer schäbigen Mietskaserne stattfindet. Nach einem unergiebigen Palaver verlässt er mit der unbestimmten Ladung zu einer weiteren Untersuchung diese skurrile Sitzung. Mit allen Mitteln versucht er nun, mehr über das rätselhafte Gericht zu erfahren. Als sein Onkel von dem Verfahren erfährt, bringt er ihn zu einem Advokaten, der in seiner Angelegenheit tätig werden soll. Dessen Hausmädchen macht ihm eindeutige Avancen und bietet sich ihm zudem als Informantin an. Von einem anderen Klienten mit langjähriger Erfahrung bekommt er wichtige Hinweise, ein «Gerichtsmaler» will ihm ebenfalls zur Seite stehen mit seinen Kenntnissen der Gerichts-Interna, und die Frau eines Gerichtsdieners schließlich ist ihm ebenfalls gewogen und will helfen. Trotz aller Bemühungen aber gelingt es ihm nicht, irgendeinen Zugang zu diesem äußerst merkwürdigen Gericht zu finden oder auch nur einen Hinweis über den Stand seines Verfahrens zu erhalten. Zuletzt stellt sich ihm ein Geistlicher im Dom als Gefängniskaplan vor, der von seinem Prozess weiß und ihn über seine hoffnungslose Situation mit Hilfe einer Parabel aufzuklären versucht. In der kann Josef K. allerdings keine Parallelen zu seinem Fall erkennen.

Die verstörende Problematik des Romans lässt vielerlei Deutungen zu, Kafkas absurde Geschichte beschäftigte diverse Interpreten, die sich intensiv damit auseinandersetzten und verschiedenste Erklärungsmuster zu erkennen glaubten. Besonders einleuchtend als Intention ist die harsche Kritik an einer unmenschlichen, die Freiheitsrechte missachtenden Bürokratie. Leitmotivisch wird dementsprechend in diesem Roman das Bett verwendet als Rückzugsort vieler der Figuren, aber auch Türen spielen als behütende Barriere häufig eine wichtige Rolle.

Kafkas absurde Geschichte wird in nüchterner Sprache aus der Perspektive des Protagonisten in der dritten Person erzählt. Diese durchgängige Sachlichkeit gibt dem absurden Geschehen einen täuschend realen Anstrich, dem Leser wird somit das Mysteriöse, Unerklärliche als Tatsache suggeriert. Eine derart rätselhaft bedrohliche Thematik wird heute allgemein als kafkaesk bezeichnet, ihr Schöpfer hat somit literarisch eine nach ihm benannte, eigene Form geschaffen. Für Fachleute zählt er unangefochten zu den Jahrhundert-Schriftstellern, sein Werk dürfte die Zeiten überdauern

Bewertung vom 13.05.2021
Die Wohlgesinnten
Littell, Jonathan

Die Wohlgesinnten


gut

Hochkomplexer Holocaust-Roman

Was der amerikanischen Schriftsteller Jonathan Littell mit seinem auf französisch geschriebenen Roman «Die Wohlgesinnten» geschaffen hat, das ist eine literarische Provokation. Über den Holocaust aus Täterperspektive zu schreiben wurde als unverzeihlicher Tabubruch gescholten, den sich wohl auch nur ein nicht-deutscher Autor leisten könne. So einmalig ist dieser Tabubruch allerdings nicht, in «Der Nazi und der Friseur» hat Edgar Hilsenrath 1977 schon aus der Täterperspektive erzählt, und das auch noch in Form eines Schelmenromans. Littells nicht zuletzt auf Betreiben von Jorge Semprún mit dem Prix Goncourt 2006 prämierter und weitgehend als Tatsachenroman verfasstes Buch wurde jedenfalls ein Riesenerfolg und landete selbst in Israel auf der Bestsellerliste. Der Autor bekam daraufhin sogar seinen französischen Pass, so beeindruckt waren selbst die Behörden.

Dr. jur. Maximilian Aue hasst seine Mutter und seinen französischen Stiefvater. Sein leiblicher Vater war in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg im Baltikum verschollen, und um wieder heiraten zu können hat seine Mutter ihn für tot erklären lassen. Noch schlimmer aber war für ihn, dass sie ihn brutal von seiner Zwillings-Schwester getrennt hat, weil er eine inzestuöse Beziehung zu ihr unterhalten hat. Seither ist er homosexuell orientiert, was er auf den Verlust seiner großen und einzigen Liebe zurückführt. Nur durch Eintritt in die SS entgeht er knapp einer Verhaftung wegen seiner damals ja noch strafbaren homosexuellen Abenteuer. Im Krieg folgt er mit seiner SD-Einheit der vorrückenden Wehrmacht, um in den eroberten Gebieten die jüdische Bevölkerung zu vernichten. Einer seiner ersten Einsätze führt ihn nach Kiew, wo er an der Schlucht von Babyn Jar die Massenerschießung von 33.000 Juden durch das deutsche Heer miterlebt. Tod und Verderben hinterlassend gelangt er mit den mörderischen SD-Einsatzgruppen bis nach Stalingrad, erlebt auf abenteuerlichen Wegen den verlustreichen Rückzug mit und rettet sich über Auschwitz in das von der Roten Armee eroberte Berlin. Bis dorthin folgen ihm auch, wie die Eumeniden in der Orestie von Aischylos, von denen sich der Romantitel herleitet, unerbittlich zwei Kriminalbeamte. Sie wollen ihn unbedingt des ungeklärten Mordes an Mutter und Stiefvater überführen, obwohl doch Himmler höchstpersönlich schützend seine Hand über ihn hält. Für Max Aue verkörpern die Kriminaler die Gewissensbisse, die ihn unerbittlich ein Leben lang verfolgen.

Mit einem umfangreichen Figuren-Ensemble aus fiktiven und historischen Personen beschreibt Littell das fürchterliche Geschehen äußerst realistisch, strikt den historischen Fakten folgend. Nach jahrelanger, akribisch genauer Recherchearbeit, die auch von Wissenschaftlern anerkannt wird, hat er den Roman dann in kurzer Zeit niedergeschrieben. Er liest sich trotz der ausufernd vielen Details und trotz der komplizierten politischen und militärischen Vorgänge streckenweise wie ein Krimi, jedenfalls versteht es der Autor, bis zuletzt die Spannung aufrecht zu erhalten. Die fiktiven Figuren und die persönlichen Erlebnisse des Protagonisten sind stimmig in das reale Geschehen eingefügt und enthalten auch so manche Komik, so wenn Aue im Traum zum Beispiel dem Führer heftig in die Nase beißt.

Der Plot beschäftigt sich auch mit den vielen abstrusen politischen Erklärungs-Mustern, die das Morden moralisch zu rechtfertigen suchen. Die persönliche Schuld des Protagonisten wird oft in Passagen des Deliriums thematisiert, womit Littell die Klippen des Unsagbaren geschickt umschifft. Immer wieder werden auch die psychischen Verheerungen angesprochen, die das Unfassbare sogar bei den SS-Leuten verursacht. Gegen Ende hin gerät die Geschichte zunehmend ins Surreale; auch das eine Methode, den Schrecken ertragbar zu machen! Man durchschaut diesen hochkomplexen Holocaust-Roman, so meine Erfahrung, auch beim zweiten Lesen nur unzureichend, ein Grund also, sich wiederholt damit zu beschäftigen.

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