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Benutzername: 
Xirxe
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Hannover
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 869 Bewertungen
Bewertung vom 03.02.2020
Als ich in meinem Alter war
Sträter, Torsten

Als ich in meinem Alter war


sehr gut

Über 50 Texte sind in diesem 224 Seiten starken Taschenbuch versammelt, jeweils zwei bis zwölf Seiten lang. Manches mag einem bekannt vorkommen, denn einige Beiträge waren auch bereits im Fernsehen zu hören bzw. zu sehen. Die Mischung ist kunterbunt und reicht vom Ruhrgebiet und Fussball (auch ausserhalb ;-)) über Politik bis hin zu gesellschaftlich wichtigen Themen wie Darmspiegelung und Fleischwurst.
So unterschiedlich die Themen, so verschieden auch die Qualität der Texte (zumindest nach meinem Geschmack). Manches ist der reine Nonsense (Zombies ergreifen die Macht oder Sträters Auftritt mit Senf im Gesicht), Anderes hat oder hatte durchaus Bezug zu bestimmten gesellschaftlichen Geschehnissen oder Verhältnissen. Wer was gut findet, ist natürlich Geschmackssache. Ich mag Sträters Humor sehr und so gefielen mir ca. zwei Drittel der Texte richtig gut, auch wenn es sich teilweise um völlig sinnfreies Geschreibsel handelt ;-) Der Rest war so naja, aber auch 'Ne, dass musste jetzt nicht sein' war dabei.
Alles in Allem ein schönes Potpourri für Menschen, die auch über völligen Blödsinn lachen können ;-)

Bewertung vom 21.12.2019
Wintervanille / Kalifornische Träume Bd.1
Inusa, Manuela

Wintervanille / Kalifornische Träume Bd.1


weniger gut

Die junge und hübsche Cecilia führt im kalifornischen Napa Valley voller Hingabe eine Vanillefarm. Reich wird sie damit zwar nicht, doch sie kann davon leben und das tun, was sie liebt. Als eines Tages ein Film über sie und ihre Farm gedreht und im Fernsehen gezeigt wird, weckt dies das Interesse von Richard, einem reichen Hotelier. Kurzerhand lädt er sie unter dem Vorwand ein, an einem Gewürzseminar teilzunehmen ...
Als Jugendliche habe ich die Romanheftreihen Baccara, Bianca, Julia und wie sie alle heißen mögen, regelrecht verschlungen. Der Aufbau war immer der gleiche: Eine hübsche, junge, eher arme Frau trifft einen reichen, jungen, gut aussehenden Mann, sie verlieben sich, dann gibt es ein Missverständnis, das jedoch bald geklärt wird und sie sind glücklich bis an ihr Lebensende. Exakt nach diesem Schema verläuft auch "Wintervanille". Nun bin ich ein bisschen über das Jugendalter hinaus und kann mich durchaus an einer etwas komplexeren Handlung und vielschichtigeren Personendarstellung erfreuen, womit ich bei diesem Buch allerdings an der falschen Adresse bin. Alles hier ist Klischee pur und das einzig Überraschende mag der Umstand sein, dass die Vanille jetzt sogar in Kalifornien angebaut werden kann. Vermutlich ist es dem Klimawandel zu danken - wenigstens etwas Positives ;-)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.11.2019
Nicht wie ihr
Schachinger, Tonio

Nicht wie ihr


ausgezeichnet

Und meiner Meinung nach gehört diese dazu. Ein Jahr den (fiktiven) erfolgreichen und berühmten Fussballer Ivo zu begleiten und seine Gedanken zu teilen - dass hätte ich mir deutlich interessanter vorgestellt. Doch was hier über rund 300 Seiten ausgebreitet wird, hat einen Informations- und Unterhaltungswert, für den auch 100 Seiten ausgereicht hätten.
Ivo ist ein Egomane in Reinform und dazu von schlichtem Gemüt. Worte sind nicht so seins und am liebsten würde er allen aufs Maul oder sonstwohin schlagen, denn verdient hätten sie es allemal. Er ist ein richtiger Proll, der jedoch glaubt, der Einzige mit Ahnung zu sein von was auch immer und betrachtet praktisch alle als ihm völlig unterlegen. Doch wehe, man erkennt dies nicht an, dann ist Ivo kurz vorm Ausrasten und mit seiner mühsam antrainierten Gelassenheit ist es schnell vorbei. Denn tief in seinem Innern steckt er noch immer voller Minderwertigkeitskomplexe, die auf keinen Fall ans Tageslicht kommen dürfen.
Es ist wirklich grandios, wie überzeugend der Autor Tonio Schachinger diesen Tonfall darstellt und die kompletten 300 Seiten durchhält. Für mich wurde Ivo immer mehr zu einer realen, wenn auch unsympathischen Person. Doch es hat mir trotzdem nicht geholfen, denn auch der beste Stil macht eine lahme Geschichte nicht zu einer fesselnden Lektüre. Und lahm ist diese Geschichte. Es passiert nahezu nichts, ausser dass Ivo Fussball spielt, mit seiner Frau schläft und sie betrügt und mit ihr bei Familienfesten und Sponsorenveranstaltungen erscheint. Seine Gedanken kreisen überwiegend um sich selbst und seine Großartigkeit und die Unzulänglichkeiten der Anderen - womit praktisch der Rest der Welt gemeint ist. Ab und zu geraten ihm gerade durch die Schlichtheit seines Wesens witzige Gedanken: "Also liest Ivo seiner Tochter die Geschichte von Narziss vor, einem schwulen Typen, der auf sich selber steht und eigentlich niemandem etwas Böses tut, außer irgendeine Frau nicht zu erhören, die auf ihn steht. Und weil die nicht mit der Ablehnung klarkommt, verflucht sie ihn. Was soll DAS seiner Tochter sagen? Dass man sich nicht zu oft in den Spiegel schauen soll, OK, aber das war ja nicht der Fehler. Der Fehler von Narziss war einfach, Pech zu haben und an eine böse Frau zu geraten, die, wenn man ehrlich ist, ihn sowieso verflucht hätte, wenn nicht deswegen, weil er sie nicht angeschaut hat, dann später, wenn sie draufgekommen wäre, dass er schwul ist, oder sie sich nach ein paar Jahren Ehe langweilt. Also, was hätte er machen sollen?" Aber für die fast 300 Seiten sind es einfach zu wenige solcher Lichtblicke.
Nach ca. 150 Seiten habe ich mich dabei erwischt, dass ich immer oberflächlicher gelesen habe, weil ich nur noch fertig werden wollte. Schade drum, denn der Tonfall ist ausserordentlich gut getroffen.

Bewertung vom 10.11.2019
Der wilde Detektiv
Lethem, Jonathan

Der wilde Detektiv


sehr gut

Was für eine kuriose Geschichte, in der so ziemlich alle gängigen Genres durcheinander gewürfelt sind: Krimi, Dystopie, Liebesgeschichte, Abenteuerroman - für alle ist etwas dabei ;-)
Nach Trumps Wahlsieg kündigt Phoebe Siegler voller Entsetzen ihren gut bezahlten Medienjob in New York und macht sich für ihre Freundin auf die Suche nach deren verschwundener Teenagertochter. Am Rand der kalifornischen Wüste trifft sie den 'wilden' Detektiv, der sie unterstützt und in den sich Phoebe verliebt. Ihre Nachforschungen führen die Beiden auf einen geheimnisvollen Berg, auf dem mysteriöse Dinge geschehen; in einen Schwemmkessel, wo die Ärmsten der Armen hausen; in die Wüste, wo der Stamm der Kaninchen in Einklang mit der Natur lebt und die Bären sich in anarcho-machohafter Weise düsteren Dystopiephantasien hingeben.
Das klingt chaotisch und etwas wirr? Das ist es auch, wozu der Erzählstil der leicht neurotischen New Yorkerin Phoebe das Seine dazu beiträgt. Sie springt nicht nur zwischen den Zeiten (wobei sich das in Maßen hält), sondern entwickelt auch gelegentlich Gedankengänge, die nicht immer leicht nachzuvollziehen sind. Ihren Zorn über die Wahl Trumps lässt sie immer wieder freien Lauf, während ihr Umfeld häufig keine Ahnung hat, wovon sie redet (und ich manchmal auch nicht ;-)). Zudem gibt es vergleichsweise viele Verweise auf zumeist US-Amerikanische ZeitgenossInnen, die unsereins (ok, mir) nicht immer geläufig waren. Vermutlich verliert das Buch so an manchem Witz, aber ich habe mich trotzdem hin und wieder gut amüsiert: "'Was ist ein Downer?' - 'Ein kranker Bär.' - 'Und was macht ihr mit dem?' - 'Wir pflegen ihn natürlich gesund. Wenns ihm dann besser geht, können wir ihn umbringen.'"
Es passiert eine Menge in dieser Geschichte; es gibt Tote, geheimnisvolle Asiaten, ein König soll gekrönt werden - aber nichts wird wirklich aufgeklärt. Ob es da einen Teil 2 geben wird? Oder entspricht es einfach dem Durcheinander, das in diesem Buch Programm ist?
Erwähnenswert ist in jedem Fall die außergewöhnliche Sprache des Autors, die für den Übersetzer vermutlich Schwerstarbeit bedeutete (meine Hochachtung!): "... die Bäume wurden seltener, das Wüstengestrüpp tüpfelte den staubigen, geschundenen Boden mit der Kraftlosigkeit von Achselhöhlengrün oder Teenagerschamhaaren."
Fünfzig Seiten hat es ca. gebraucht und dann hatte mich das Buch in seinem Bann ;-) Etwas weniger Chaos wäre vielleicht nicht schlecht gewesen, aber nichtsdestotrotz hat es mich gut unterhalten.

Bewertung vom 10.11.2019
Die Glocke im See / Schwesterglocken Bd.1 (2 MP3-CDs)
Mytting, Lars

Die Glocke im See / Schwesterglocken Bd.1 (2 MP3-CDs)


ausgezeichnet

Norwegen 1880: Die junge Agnes Hekne lebt in einem abgeschiedenen Tal, wo sich der Fortschritt der Welt nur sehr langsam und zögerlich zeigt. Wie seit Jahrhunderten kämpft die dortige Bevölkerung damit, im viel zu kurzen Sommer das Überleben für die lange Winterzeit zu sichern - nicht immer mit Erfolg. Das Leben ist hart und karg, mühsam muss dem Boden das Lebensnotwendige abgerungen werden. Doch Agnes will mehr als solch ein Leben wie ihre Vorfahren. Der neue Pastor Schweigaard ist für sie ein Symbol der modernen Zeit: er kennt die Welt, liest Zeitungen aus der Stadt und hat neue Ideen und die Energie, diese zu verwirklichen. Da die alte Kirche zu klein und sehr renovierungsbedürftig ist, plant er den Bau einer neuen und verkauft die alte nach Deutschland. Um den Abbau zu begleiten und zu protokollieren, kommt der junge Architekturstudent Schönauer aus Dresden in das ferne Tal. Wie der Pastor verliebt auch er sich in Agnes und sie fühlt sich ebenfalls zu ihm hingezogen.
Nein, das ist keine billige HerzSchmerzliebesgeschichte, sondern ein wundervoller Roman über eine Zeit, in der die Menschen gezwungenermaßen in Einklang mit der Natur leben mussten. Dies zeigt auch der Glaube an mystische Wesen, der weit verbreitet war, wie dieses Buch an vielen Stellen beschreibt: "... die den Kindern von klein auf eingeredet wurden. Die Arbeit erlaubt es den Erwachsenen nicht, die spielenden Kinder zu beaufsichtigen, und da war es besser, solche Geschöpfe auf Jauchegruben, Dachböden und Brunnen aufpassen zu lassen, denn selbst wenn die Kleinen sich dorthin wagen und vorsichtig über den Rand blicken sollten, so hielten sie sich dann wenigstens zurück."
Der Autor beschreibt sehr ausdrucksvoll und anschaulich nicht nur die Schönheiten dieser Gegend, sondern auch die teils elenden Verhältnisse, unter denen die Menschen zu leiden hatten. Schlechtes Wetter und Krankheiten konnten jederzeit den Tod bedeuten; ein zu langer, kalter Winter stürzte die Menschen in eine Hungersnot oder ließ sie erfrieren.
Es ist eine schöne, etwas altertümlich klingende Sprache, die offenbar herausragend ins Deutsche übersetzt wurde. Beate Rysopp als Vorleserin macht ihre Sache wundervoll und versteht es, mit wenigen Nuancen jeder Person ihren eigenen charakteristischen Klang zu geben. Ruhig, häufig etwas melancholisch, aber auch voller Freude gibt sie sehr überzeugend die jeweiligen Stimmungen wider. Eine tolle Wahl!
Trotz der eher düsteren Grundstimmung und einem höchstens Viertel-Happyend ist es eine wundervolle Lektüre, die auch (etwas) Hoffnung verleiht. Es werden bessere Zeiten kommen!

Bewertung vom 10.11.2019
Der Fluss
Heller, Peter;Strobel, Matthias

Der Fluss


sehr gut

Die beiden Freunde Wynn und Jack sind mehrere Wochen unterwegs auf einem Fluss in der kanadischen Wildnis, als sie eine schwer verletzte Frau finden. Doch damit nicht genug der Überraschungen: ein verheerender Waldbrand rückt immer näher und zudem ist es unklar, ob der geflohene Ehemann ihnen auflauern wird. Nicht gerade die günstigsten Bedingungen für einen idyllischen Kanuurlaub.
Die Geschichte hat deutlich mehr Abenteuer- als Thrilleranteile aufzuweisen, dennoch ist es bis zum Ende spannend. Dass der Autor vom Fach ist was das 'Paddeln', Angeln und sonstige Outdoordinge angeht, ist deutlich zu merken. Die Mühen und Anstrengungen die diese Kanufahrt kostet, sind bildhaft und fast schon fühlbar dargestellt, ebenso wie die Schönheiten und der Genuss, die die Strapazen wieder wett machen. Nur manchmal war es (zumindest für mich) fast ein bisschen zuviel der Fachsprache, die hier genutzt wurde - ein Glossar wäre hilfreich gewesen bei Sätzen wie "..., stoppte den Rückwurf bei ein Uhr auf dem Ziffernblatt und den Vorwurf zwischen zehn und zwei, der klassische Cast. Sein Rollwurf war wie aus dem Lehrbuch, und der Doppelzug gelang ihm auch bei stärkstem Wind ...". Immerhin habe ich in der Zwischenzeit zumindest verstanden, was eine Portage ist ;-)
Neben den beeindruckenden Naturschilderungen gelingen dem Autor auch ausdrucksvolle Personendarstellungen. Obwohl sich die Freunde in Vielem sehr ähnlich sind (ihre Liebe zur Natur und Literatur), sind ihre Charaktere sehr unterschiedlich, was durch Hellers Beschreibungen der Beiden überdeutlich wird. Sie stellen den Gegensatz dar vom Glauben an das Gute bzw. das Böse im Menschen; von Angriff und Rückzug; von Geist und Materie. Toll gemacht und toll beschrieben; diese Beiden wirkten so sympathisch, dass ich sie gerne kennengelernt hätte.
Das Einzige, was mich etwas störte war angesichts dieses Themas, dass es mir stellenweise auf etwas zu poetische Abwege geriet. Doch alles in allem habe ich mich gut unterhalten.

Bewertung vom 10.11.2019
Die einzige Geschichte
Barnes, Julian

Die einzige Geschichte


sehr gut

Die Liebesgeschichte des 19jährigen Paul mit der knapp 30 Jahre älteren verheirateten Susan - man glaubt zu wissen, was da kommt. Doch diese Geschichte entwickelt sich völlig anders als es die Meisten sich vielleicht zu Beginn vorstellten.
Paul erzählt im Rückblick von dieser unkonventionelle Beziehung, die ihr eher verklemmtes Umfeld in einem bürgerlichen Vorort Londons vor ca. 50 Jahren natürlich schockierte, obwohl sich beide vergleichsweise diskret verhielten. Nach zwei, drei Jahren ergreifen die Beiden die Konsequenzen und ziehen weg und zusammen - ein Happy End könnte man meinen.
Doch was im zweiten Teil folgt, ist ein Liebesdrama, für das Beide nicht wirklich verantwortlich zu machen sind. Susan ist gezeichnet von der Vergangenheit ihrer Ehe und Paul ist mit seinen etwas mehr als 20 Jahren schlicht nicht in der Lage, ihr aus ihrer Not herauszuhelfen. Ihre Liebe füreinander ist aufrichtig, doch für Beide sehr schmerzhaft. Paul lässt das Vergangene Revue passieren ohne zu beschönigen und fragt sich gleichzeitig, was falsch gelaufen ist; weshalb die Liebe nicht stark genug war, mit allem fertig zu werden.
Die letzten 70 Seiten erzählen von seinem Leben nach Susan und insbesondere, wie er nun mit der Liebe umging. Ein melancholischer Abschluss, denn die Erfahrungen seiner ersten Liebe haben ihn fürs Leben geprägt und ihn seine Unbeschwertheit verlieren lassen.
Auch wenn die Lektüre einen eher traurig gestimmt zurücklässt, lohnt sich das Lesen. Denn es ist kein Buch gegen die Liebe, sondern zeigt lediglich auf, welche Facetten diese auch haben kann, wenn das Leben einem nicht so wohlgesinnt ist. Das Ganze natürlich in der wunderbaren Sprache Julian Barnes, die so leicht daherkommt, als wäre diese Geschichte an einem schönen Sommernachmittag einfach so nebenbei niedergeschrieben worden. Schön und traurig zugleich - das muss man erst mal hinbekommen.

Bewertung vom 23.10.2019
Wisting und der Tag der Vermissten / William Wisting - Cold Cases Bd.1
Horst, Jørn Lier

Wisting und der Tag der Vermissten / William Wisting - Cold Cases Bd.1


sehr gut

William Wisting ist seit vielen Jahren ein erfolgreicher Kommissar. Und so ist es kein Wunder, dass ihn das nicht geklärte Verschwinden von Katharina Haugen vor 24 Jahren noch immer keine Ruhe lässt. Jedes Jahr trifft er sich an dem Tag, an dem sie verschwand, mit ihrem Ehemann Martin Haugen, den er damals verdächtigte, aber dem nie etwas nachgewiesen werden konnte. Doch in diesem Jahr erfährt Wisting, dass Haugens Fingerabdrücke in einem anderen Fall aufgetaucht sind. Und am Tag ihres jährlichen Treffens ist er nicht aufzufinden.
Ob William Wisting tatsächlich der beste Kommissar Norwegens ist, wie das Cover behauptet, sei dahingestellt - immerhin gibt es da beispielsweise Harry Hole (und vermutlich noch andere ;-)). Und in puncto Überraschungen, Action und Gewalt kann Wisting mit Harry Hole definitiv nicht mithalten. Dies hier ist ein sich fast schon gemächlich entwickelnder Krimi, bei dem man gefühlt beinahe in Echtzeit die Ermittlungen und Gedankengänge der jeweiligen ProtagonistInnen nachvollziehen kann. In erster Linie ist es natürlich Wisting, der diesen Vermisstenfall mittlerweile seit Jahrzehnten verfolgt. Dazu kommen noch seine Tochter Line, die als Journalistin an einer Reportage über eine unaufgeklärte Entführung schreibt. Und Adrian Stiller, ein Ermittler aus Oslo, der sich um alte ungelöste Fälle kümmert.
Durch dieses sich langsame Annähern war ich als Lesende in der Lage, praktisch zeitgleich mit den handelnden Personen zu ähnlichen Folgerungen zu kommen wie diese. Das führt dazu, dass es zwar keine allzu grossen Enthüllungen und Aha-Effekte gibt, aber das starke Gefühl entsteht, hier einer echten Geschichte zu folgen. Vermutlich ist dies der Grund, weshalb trotz vergleichsweise wenig Action und Überraschungen dieser Krimi bis zum Ende packend und spannend blieb. Ich schätze, ich werde mir die anderen Krimis mit Herrn Wisting auch mal anschauen :-)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.10.2019
Die Ewigkeit in einem Glas
Kidd, Jess

Die Ewigkeit in einem Glas


sehr gut

Im Jahre 1863 verschwindet die Tochter eines Adligen. Bridie Devine soll sich um das Wiederauffinden der Kleinen kümmern, doch bald stellt sie fest, dass deren Vater viel verschweigt. Auch in seinem Haus erhält sie nur wenig Unterstützung und so ist sie froh über Ruby, der ihr zur Seite steht - auch wenn er tot ist.
Seltsame Figuren gibt es zuhauf in diesem neuen Buch von Jess Kidd. Die zwei Meter grosse Cora mit Backenbart; den toten Boxer Ruby, der in seinen langen Unterhosen Birdie überallhin begleitet; ein Chemiker, der unter anderem geniale Pfeifentabaksmischungen entwirft; ein Zirkusdirektor, der am liebsten Heinrich der VIII. wäre und viele andere skurrile Lebewesen. Dieses London jener Zeit wirkt wie eine Szenerie voll wunderlicher, erstaunlicher Besonderheiten, bei denen man als Lesende nicht ganz sicher ist, ob es Realität oder nur ein Produkt einer lebhaften Phantasie ist.
Dazu trägt nicht nur das bunt gemischte Personal bei, sondern sicherlich auch der besondere Schreibstil der Autorin. Scheinbar unbelebten Dingen werden annähernd menschliche Eigenschaften zugeschrieben: die Themse, 'die sauberer, lieblicher und ruhiger wird. Verschwunden sind ... die engen Windungen eines Flusses, der zu Bosheiten neigt.' Oder 'Der Mond weiss das; er sieht alles. Heute Nacht weist er uns den Weg ...'.
Auch die Hauptfigur Birdie steckt mitten in dieser scheinbaren Widersprüchlichkeit von Realität und Phantasie. Als logisch denkender Mensch ist ihr völlig klar, dass es keine Geister gibt - und dennoch wird sie Tag für Tag von einem Toten begleitet, der ihr zudem sehr sympathisch ist. Sie sucht ein Kind und findet immer mehr Hinweise darauf, dass es sich hierbei um ein ausgesprochen seltsames und merkwürdiges Geschöpf handeln muss. Mir als Leserin erging es ein bisschen wie Birdie, die sich mehrfach selbst frägt: Ist es tatsächlich 'nur' ein normales Kind, was verschwunden ist? Oder ist doch was dran an den Mythen?
Das Ende ist gut gelungen: Denn während sich ihr aktueller Fall kaum auf logische Weise erklären lässt, entpuppt sich ein scheinbar logisch gelöster Fall aus ihrer Vergangenheit als reine Fiktion. Besser lässt sich kaum darstellen, wie nah Realität und Phantasie miteinander verbunden sind.
'Nur' vier Sterne gibt es, weil es mir ein bisschen zu viel des Guten von Allem war. Zu viele skurrile Menschen, zu viele Eindrücke von London, zu viel alles mit allem verbunden. Die Auflösung klappte zwar gut, aber zuviel war es mir dennoch ;-)