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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

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Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 09.08.2017
AchtNacht
Fitzek, Sebastian

AchtNacht


weniger gut

Ich muss gestehen, ich fühle mich vom Klappentext leicht in die Irre geführt: für mich klang das Buch nach einer Art Thriller-Dystopie – einer alternativen Version unserer Gegenwart, in der diese Todeslotterie tatsächlich schon seit mehreren Jahre stattfindet, gesellschaftlich allgemein akzeptiert wird und aus unbekannten Gründen irgendwann in der Vergangenheit legalisiert wurde. Das entspricht allerdings nicht vollkommen der im Buch beschriebenen Realität, und von 80 Millionen Feinden kann ebenfalls nicht wirklich die Rede sein.

Ich habe im Grunde eine Mischung aus Richard Bachmans "Menschenjagd" und "Todesmarsch" erwartet. Oder so etwas wie die dystopischen Horrorfilme der Reihe "The Purge" – wobei ich dank Nachwort inzwischen weiß, dass genau diese Sebastian Fitzek wohl zu "Achtnacht" inspiriert haben.

Der Schlüsselsatz in der Beschreibung, dem ich nicht genug Bedeutung beigemessen habe, ist: "Es ist ein massenpsychologisches Experiment, das aus dem Ruder lief."

Aber ja, es gibt eine Todeslotterie, auch wenn die Umstände nicht hundertprozentig so sind, wie es der Klappentext suggeriert. Und obwohl es keine 80 Millionen Feinde gibt, gibt es immer noch mehr als genug. Ungeachtet dessen, dass es sich hier nicht um eine Dystopie handelt, sondern "nur" um einen gesellschaftskritischen Thriller, der voll und ganz in unserer Wirklichkeit verankert ist, bleibt die Grundidee bestechend.

Eigentlich finde ich sogar gut, dass der Autor nicht einfach seine eigene Version von "The Purge" geschrieben hat, sondern etwas, das jederzeit in unserer realen Welt passieren könnte – seine ganz eigene Interpretation der Grundidee, Fitzek-typisch mit einer guten Dosis Gesellschaftskritik, besonders an unserer Bereitschaft, uns von den sozialen Medien einer Gehirnwäsche unterziehen zu lassen.

Ich schwanke wegen der deutlichen Parallelen zu "The Purge" noch, ob ich das Buch jetzt originell finde oder nicht, aber es weicht doch stark genug von seiner Inspiration ab, um keine bloße Kopie zu sein. Also: ja und nein, aber es sollte in meinen Augen kein Grund sein, das Buch nicht zu lesen.

Damit kommen wir jetzt leider zu den Gründen, genau das nicht zu tun:

Bei diesem Thema sollte man meinen, die Geschehnisse überschlügen sich nur so und die Protagonisten hetzten von einer lebensgefährlichen Situation in die nächste. Tatsächlich zog sich die Geschichte für mich über lange Passagen hinweg sehr in die Länge, zähflüssig und träge – und leider auch ziemlich konstruiert. Manches erschien mir einfach nicht mehr logisch und glaubhaft.

Es gibt eine (halbwegs) unerwartete Wendung gegen Ende, die mir gut gefallen hat, weil sie im Rückblick einiges in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt, und eine andere, die ich nicht so recht glaubhaft fand. Die Auflösung hat mich deswegen mit gemischten Gefühlen zurückgelassen. Das Buch hatte eine Unmenge an Potential, das meines Erachtens einfach nicht ausgeschöpft wurde.

Der Protagonist heißt Ben, hat eine Tochter, die im Rollstuhl sitzt und zur Zeit der Handlung im Koma liest, und das ist auch schon so ziemlich alles, an was ich mich erinnere. Nein, das ist kein Witz, er ist mir wirklich kaum im Gedächtnis geblieben. Oh, doch – in einer Szene bringt er sich selber in Todesgefahr, um einen anderen Menschen zu retten, und das fand ich doch ziemlich anständig von ihm, aber ansonsten wirkte er auf mich eher blass, was leider auch für die anderen Charaktere gilt.

Fitzek erspart dem Leser hier erfreulicherweise die erzwungenen Cliffhanger, die mir z.B. in "Das Joshua-Profil" so sauer aufgestoßen sind, aber der Schreibstil wirkte auf mich oft fast schon reißerisch, dabei aber gleichzeitig lustlos... Kopfkino? Leider Fehlanzeige.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.08.2017
Als die Träume in den Himmel stiegen
McVeigh, Laura

Als die Träume in den Himmel stiegen


ausgezeichnet

Es gibt Bücher, die tun manchmal unglaublich weh – sie zerreißen das Leserherz gnadenlos in winzig kleine Stücke. immer wieder, und man ertrinkt fast im Leid der Protagonisten. Und trotzdem klappt man das Buch nicht zu, schmeißt es nicht weg, weil man zum einen das letzte bisschen Hoffnung nicht verliert, und die Geschichte zum anderen einen Klang der Wahrheit hat, dem man sich einfach nicht entziehen kann. Es gibt Bücher, die erzählen Geschichten, die gehört werden müssen, weil sie (so oder so ähnlich) Tag für Tag von Menschen in der Realität gelebt werden. Auch wenn es Samar nicht gibt – irgendwo lebt ein kleines Mädchen, dessen Familie auch aus Kabul flüchten musste, die das Schreckensregime der Taliban am eigenen Leib erlebt hat.

Wenn das jetzt klingt, als würde ich das Buch nicht empfehlen, dann täuscht das, denn ich bereue kein bisschen, beim Lesen auch mal bittere Tränen vergossen zu haben. Ich konnte mich der Geschichte dieser Familie auf der Flucht von der ersten Seite an nicht entziehen und empfinde es als Bereicherung, sie gelesen zu haben. "Als die Träume in den Himmel stiegen" wird oft mit "Drachenläufer" von Khaled Hosseini verglichen, und tatsächlich war es für mich ein sehr ähnliches Leseerlebnis: eine emotionale Herausforderung, die sich in meinen Augen jedoch lohnt.

Man liest so viel über die Taliban in den Nachrichten. Auch über Flüchtlinge wird viel gesprochen, aber wie ihre alltägliche Lebensrealität sich anfühlt, dass kann man höchstens erahnen. Laura McVeigh öffnet dem Leser ein Fenster in diese Realität, die vieles vereint: fesselnd, aber verstörend, unterhaltsam und bewegend.

Wie sie die Geschichte dieser Familie erzählt, das ist brilliant. Ich kann hier leider noch nicht viel verraten, denn man muss sich von manchen Dingen überraschen lassen, damit sie die volle Wirkung entfalten können! Die ein oder andere unerwartete Wendung kommt einem vor, als wäre die Realität gerade aus den Gleisen gesprungen... Aber alles macht Sinn, im Rückblick begreift man erst, wie alles zusammenpasst. Ich habe das Buch im Rahmen einer Leserunde gelesen, und meine Mitleser waren ehrlich gesagt geteilter Meinung darüber, ob sie diese Wendungen als das große Highlight des Buches empfanden oder eher als etwas, das die Wirkung des Buches schmälert.

Aber meiner Meinung nach lohnt sich das Risiko, es selber auszuprobieren. Wenn man auch sonst nichts mitnimmt: man lernt viel und bekommt einen sehr authentischen Einblick in Dinge, die man sonst nur von außen und von ferne sieht.

Die Charaktere werden sehr lebensecht und glaubhaft geschildert. Trotz der ungewohnten Namen konnte ich sie schnell auseinander halten und mit ihnen mitfühlen! Besonders Samar, die uns diese Geschichte erzählt, habe ich sehr ins Herz geschlossen. Die Autorin zeigt am Beispiel ihrer Familie und der Menschen, denen sie auf ihrer Flucht begegnen, sehr gut, wie unterschiedlich verschiedene Menschen mit so einer beängstigenden Situation umgehen – sie zeigt Hass und Gewalt, aber auch Liebe und selbstlose Hilfsbereitschaft. Samar selber ist eine beeindruckend starke Persönlichkeit; sie erlebt schreckliche Dinge, aber sie steht immer wieder auf und macht weiter, gibt die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht auf, so unwahrscheinlich es auch sein mag.

Der Schreibstil hat mich voll und ganz überzeugt. Samar hat eine unvergleichliche Art, sich auszudrücken, und ihre Geschichte klingt wirklich so, als habe sie ein junges Mädchen mit einer blühenden Fantasie und einem Gespür für die Macht der Worte geschrieben.

Würde ich noch einmal ein Buch der Autorin lesen? Unbedingt, aber jetzt brauche ich erstmal eine Pause, um "Als die Träume in den Himmel stiegen" sacken zu lassen und noch eine Weile darüber nachzudenken.

Bewertung vom 02.08.2017
Das Mädchen aus Brooklyn
Musso, Guillaume

Das Mädchen aus Brooklyn


sehr gut

Angepriesen wird das Buch als Mischung aus Thriller und Liebesgeschichte. Da hatte ich ehrlich gesagt mehr Kitsch befürchtet, aber tatsächlich ist die Liebe zwar die grundlegende Motivation für Raphaël, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen, die Thrillerhandlung muss dahinter jedoch nicht zurückstehen. Meines Erachtens eine gelungene Kombination!

Die Geschichte wartet auf mit raschen Perspektivenwechseln, geschickten Cliffhangern und unerwarteten Wendungen. Sie führt die Charaktere von Frankreich nach Amerika und zurück und entpuppt sich dabei als erstaunlich vielschichtig: es geht nicht nur um Annas Verschwinden – ja, es geht nicht einmal nur um den Fall der drei Leichen, deren Foto sie ihrem Verlobten mit den Worten »Das habe ich getan« präsentiert. Hier kommt alles zusammen, von persönlichem Trauma über die Frage nach Verantwortlichkeit und Schuld bis hin zu politischen Verstrickungen im großen Stil.

Der Autor erzeugt Spannung ohne Klischees, ich empfand die Handlung als originell und unverbraucht. Es gibt allerdings die ein oder andere Szene, in der ich das Verhalten der Charaktere nicht hundertprozentig glaubhaft oder stimmig fand, und gelegentlich war mir etwas auch des Zufalls zuviel – aber das hielt sich in Grenzen, so dass ich es noch verschmerzen konnte. Nur eine Sache lag mir schwer im Magen: da wird fast schon gleichgültig abgehakt, dass einer der Charaktere ein Leben auslöschen muss, um selber zu überleben. Sollte das nicht eine größere emotionale Reaktion hervorrufen?

Die Auflösung ist in meinen Augen schlüssig und gut konstruiert, und am Schluss tischt Musso dann die ganz große Überraschung auf, sozusagen als Tüpfelchen auf dem i. Am Ende verirrt sich das Buch kurz über die Grenze zum Kitsch – aber da es die Gratwanderung bis dahin gut gemeistert hatte, war das für mich verzeihlich.

Das Buch konzentriert sich vor allem auf Raphaël, Anna und Marc.

Raphaël Barthélémy ist alleinerziehender Vater, und da er mit der Mutter seines Sohnes eine enorme Enttäuschung erlebt hat, drängt er seine Verlobte Anna darauf, keine Geheimnisse vor ihm zu haben. Als sie dann endlich nachgibt, ist er sich indes nicht mehr sicher, ob er mit ihren Geheimnissen leben kann... Mir war Raphaël sehr sympathisch, weswegen ich ihm auch die ein oder andere merkwürdige Entscheidung oder Reaktion nicht angekreidet habe. Ihn lernt man von den Protagonisten wohl am besten kennen.

Sein kleiner Sohn Theo ist scheinbar das pflegeleichteste Kind aller Zeiten, immer gut gelaunt und ständig am Futtern. So ganz realistisch fand ich das nicht, aber Theo spielt nur nebenher eine Rolle.

Über Anna – ihr bisheriges Leben, ihre Emotionen – hätte ich gerne noch deutlich mehr erfahren, denn ihre persönliche Geschichte hat es in sich und man bekommt sie über lange Strecken des Buches nicht richtig zu fassen. Das ist jedoch kein Versagen des Autors: Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist, dass Anna nicht die ist, die sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Raphael, durch dessen Augen man sie hauptsächlich sieht, ist sich selber nicht mehr sicher, ob er sie wirklich kennt. "Wer wirst du sein, wenn wir uns wiederfinden?", fragt er sich in einer Szene.

Marc Caradec ist ein enger Freund von Raphaël. Als ehemaliger Polizist mit den entsprechenden Connections steht er Raphaël bei seinen Ermittlungen hilfreich zur Seite. Auch er war für mich zunächst schwer zu fassen, zeigt im Laufe des Buches dann aber doch noch, dass er ein komplexer, gut geschriebener Charakter ist.

Der Autor erzählt seine Geschichte locker und unterhaltsam, mit stimmungsvollen Details, ohne dabei ausufernd zu wirken, und lebendigen Beschreibungen von Charakteren und Orten. Mich hat der Schreibstil sehr angesprochen!

Normalerweise gehe ich in meinen Rezensionen nicht näher auf das Cover ein, daher nur soviel: ich war sehr enttäuscht davon, dass der Verlag auf dem Cover eine weiße Frau abbildet, obwohl Anna im Buch als dunkelhäutig beschrieben wird!

Bewertung vom 25.07.2017
Mein geheimnisvoller Dschungel
Basford, Johanna

Mein geheimnisvoller Dschungel


ausgezeichnet

Das Buch enthält 20 Postkarten aus wunderbar schwerem, glattem Papier, das sich großartig zum Ausmalen eignet. Ich habe Buntstifte verschiedener Marken ausprobiert, und mit allen ließen sich die Bilder sehr gut kolorieren. Auch Filzstifte drücken bei diesem dicken Papier nicht auf die andere Seite durch, sogar bei sehr kräftigen Farben.

Die Bilder zeigen verschiedene Dschungeltiere, -pflanzen und -bäume (am Besten legt man schon mal Stifte in allen Schattierungen von Grün bereit!), zum Teil als Mandala oder die Postkarte komplett ausfüllendes Muster, zum Teil als freistehendes Motiv. Die Details sind dabei meist sehr fein, manchmal aber auch etwas weniger fein gezeichnet, so dass das Buch verschiedene Schwierigkeitsgrade bietet. Im Vergleich mit anderen ihrer Bücher sind die Motive im Durchschnitt einfacher und "anfängerfreundlicher", würde ich sagen! Alle Motive lassen sich durch die Postkartengröße relativ schnell ausmalen.

Der Zeichenstil von Johanna Basford gefällt mir sehr gut, er hat in meinen Augen etwas sehr Charmantes, hält genau die richtige Balance zwischen realistisch und stilisiert und die Details sind sehr liebevoll herausgearbeitet.

Die Rückseite der Postkarten ist mit einem Adressfeld, verziert mit zwei kleinen Schmetterlingen, und einem Feld für die Briefmarke, dekoriert mit einer Ranke, bedruckt.

Bewertung vom 20.07.2017
Crossroads (eBook, ePUB)
Albers, Jürgen

Crossroads (eBook, ePUB)


sehr gut

Jürgen Albers legt mit "Crossroads" einen beachtlichen Debütroman vor und zeigt damit, ganz nebenher, dass ein in Eigenregie veröffentlichtes Buch sich qualitativ nicht unbedingt hinter seinen in großen Publikumsverlagen erschienenen Brüdern verstecken muss. Das fängt schon beim Cover an, das sehr professionell und ansprechend gestaltet ist, kann aber auch inhaltlich mit diesem guten ersten Eindruck mithalten – obwohl sich der Autor mit einem historischen Kriminalroman ein anspruchsvolles Genre für seinen Erstling ausgesucht hat!

Die Handlung beginnt im Juni 1940, Schauplatz sind die britischen Inseln im Ärmelkanal. Die politische Lage ist hochbrisant: die Deutschen stehen quasi schon vor der Tür, die Inseln sollen jedoch aus taktischen Erwägungen nicht militärisch verteidigt werden. Ein großer Teil der Einwohner wurde bereits evakuiert, der Rest wartet (mehr oder weniger ergeben) auf das Unvermeidliche.

Vor diesem Hintergrund ermittelt Chief Inspector Norcott, erst kürzlich auf die Kanalinseln versetzt, im Mord an einer jungen Frau auf der Insel Guernsey, wobei er mit außergewöhnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, die der außergewöhnlichen historischen Situation zu schulden sind.

Und diese Situation ist großartig recherchiert! Die dichte Atmosphäre lässt den Leser mühelos eintauchen in Ort und Zeit, ohne ihn mit trockenen historischen Fakten zu erschlagen – denn diese Fakten werden unterhaltsam und lebendig in die Geschichte eingebaut. Da passt jedes Detail, alles ist in sich stimmig und atmet Authentizität. Das Glossar am Ende des Buches ist ein zusätzlicher Bonus für den Interessierten.

Natürlich kann der Kriminalfall unter den Umständen nicht so einfach aufgeklärt werden, denn zum einen wird die Kommunikation mit dem Festland immer schwieriger und viele Ressourcen stehen schlicht nicht zur Verfügung, und zum anderen ist Chief Inspector Norcott verantwortlich dafür, dass im Ernstfall die Übergabe der Insel an die Deutschen friedlich und geordnet vonstatten geht, und daher zeitlich und nervlich extrem ausgelastet. Trotzdem ist er entschlossen, den Mörder zu finden.

Im Krieg, wenn Todesfälle zur traurigen Normalität werden, könnte man meinen, dass der Mord an einer einzelnen Frau (beziehungsweise später an zwei Frauen) gar nicht mehr ins Gewicht fällt, aber Norcott verliert den Wert jeden Lebens niemals aus den Augen, was ihn mir direkt sehr sympathisch machte.

Obwohl die Aufklärung notgedrungen relativ langsam vorangeht, wurde mir das Buch dennoch nie langweilig; ganz abgesehen von den Morden mangelt es diesem kleinen Einblick in die Geschichte definitiv nicht an Spannungspotential – vor allem, da man als Leser schnell realisiert, was sich da alles hinter den Kulissen abspielt! Interessant fand ich besonders, dass sich hier letztlich Ermittler aus verfeindeten Ländern zusammentun müssen, und erfreulich, dass der Autor bei deren Charakterisierung auf Klischees verzichtet. Überhaupt werden alle Figuren sehr gut und glaubhaft beschrieben, mit wunderbarer Komplexität und Lebendigkeit.

Schade fand ich, dass Norcott sich zunächst sehr auf einen Verdächtigen versteift und sogar dann nicht davon ablässt, als ein Beweismittel auf die Täterschaft oder zumindest Beteiligung einer anderen Person hindeutet. Später gerät dann überraschend eine dritte Person jäh ins unerbittliche Fadenkreuz seiner Ermittlung, was ich ebenfalls nicht so recht nachvollziehen konnte. Davon abgesehen ist Norcott aber ein fähiger Ermittler, der auch in schwierigen Zeiten Mittel und Wege findet, die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Dem Schreibstil gelingt der Spagat, einerseits den modernen Leser anzusprechen und abzuholen, sich aber andererseits nicht wie ein Fremdkörper von der beschriebenen historischen Epoche abzuheben.

Bewertung vom 16.07.2017
Marsupilami: TWO-IN-ONE
Franquin, André;Greg

Marsupilami: TWO-IN-ONE


ausgezeichnet

Das Marsupilami ist ein sehr kurioses Tierchen aus dem Dschungel Palumbiens: quietschgelbes Fell mit schicken schwarzen Punkten, etwa einen Meter groß, aber mit einem Schwanz, der bis zu acht Meter (!!) lang werden kann. Mit dem kann es nicht nur greifen, sondern ihn auch als Sprungfeder benutzen oder zur Faust ballen und sich damit sehr effektiv verteidigen! Es hat eine eigene Sprache, in der es sich mit Artgenossen unterhält ("Huba! Bi Bi Bi?") , und fällt nicht nur durch seine enorme Stärke auf, sondern auch durch seine enorme Verfressenheit, wobei es nicht davor zurückschreckt, Piranhas und Killerameisen zu verspachteln.

Eigentlich ist es schon recht betagt: seinen ersten Auftritt hatte es 1952 im Magazin "Spirou" und ist (mit Unterbrechungen) seitdem Teil der Welt von "Spirou und Fantasio".

In den 60ern und 70ern hatte es Gastauftritte in Comics des Kauka-Verlags, zum Teil unter dem Namen "Kokomiko" – sozusagen inkognito! Aber umtriebig und selbstbewusst, wie das Marsupilami nun mal ist, konnte es natürlich nicht auf Dauer immer nur Nebencharakter sein.

1987 bekam es seine eigene Comic-Serie, die im Deutschen zunächst unter dem Titel "Die Abenteuer des Marsupilamis" veröffentlicht wurde, später einfach unter "Marsupilami". Es folgten Zeichentrickserien und sogar eine Realverfilmung. Die Beliebtheit des gepunkteten Dschungeltiers blieb ungebrochen, und seit 2015 erscheinen im Carlsen-Verlag Neuauflagen seiner Abenteuer – merkwürdigerweise in veränderter, anscheinend willkürlicher Reihenfolge! Wer also noch alte Hefte in seiner Sammlung hat, wird vielleicht feststellen, dass der selbe Titel in der Neuauflage eine ganz andere Nummer hat.

Ich war 11 Jahre alt, als das erste Abenteuer des Marsipulami auf deutsch erschien, und direkt sehr angetan von diesem witzigen Kerlchen. Auch mein sechs Jahre älterer Bruder konnte sich für dessen Abenteuer begeistern (obwohl wir uns sonst nie auf etwas einigen konnten!), und so zog der ein oder andere Band als Geburtstagsgeschenk oder Belohnung für gute Noten ein. Deswegen musste ich natürlich einfach zugreifen, als dieser Jubiläumsband erschien, um zu sehen, wie sich das Marsupilami durch erwachsene Augen gesehen ausnimmt.

Hier also meine Eindrücke:

Obwohl man als Leser die Sprache des Marsupilami nicht verstehen kann (und es nur selten 'Untertitel' gibt), kommen sein frecher Charme und seine clevere Art wunderbar rüber. Es ist einfach sehr liebenswert, und besonders putzig fand ich seine Interaktionen mit seiner Frau und seinen drei Kindern.

Natürlich hat es auch Gegner, in der ersten Geschichte in der Form des Großwildjägers Bring M. Backalive (ein Wortspiel, denn "bring'm back alive" heißt sowas wie "Bring sie lebend zurück"!) und der Indianer, mit deren Hilfe er das Marsupilami fangen will. Nicht nur Kinder finden sicher sehr spannend und witzig, wie das Marsupilami den Jäger nach allen Regeln der Kunst austrickst! Apropos Kinder: obwohl es durchaus Kämpfe und Action gibt, steht doch jeder lebendig wieder auf, es gibt weder Blut noch Tod.

In der zweiten Geschichte findet die Marsupilami-Familie ein Panda-Baby, das einen Flugzeugabsturz überlebt hat und im Dschungel Palumbiens gelandet ist. Nach anfänglichem Misstrauen seitens des Marsipulami-Männchens wird der kleine Panda kurzerhand adoptiert, aber schnell müssen sie feststellen, dass er ausschließlich Bambus frisst – und die einzigen Bambusstauden stehen im Lager der Indianer, wo inzwischen auch der Bruchpilot Unterschlupf gefunden hat.

Beide Geschichten sind recht einfach aufgebaut und damit auch gut für Kinder geeignet. Der Humor wird groß geschrieben, aber auch die (harmlose) Spannung kommt nicht zu kurz. Der Zeichenstil ist sehr ausdrucksstark und kann auch mit wenigen Linien viel an Emotion und Bewegung rüberbringen.

Bewertung vom 13.07.2017
Stell dir vor, dass ich dich liebe
Niven, Jennifer

Stell dir vor, dass ich dich liebe


ausgezeichnet

Diversität ist ein Konzept der Soziologie, bei dem es um die Unterscheidung und Anerkennung der Merkmale einer Gruppe im Allgemeinen und der Merkmale eines Individuums im Besonderen geht.

In diesem im positivsten Sinne zum Nachdenken anregenden Buch wird Diversität wirklich groß geschrieben – und aus vollem Herzen gefeiert. Klar, natürlich werden die Schwierigkeiten angesprochen, mit denen Menschen zu tun haben, wenn sie in irgendeiner Form nicht der Norm entsprechen. Ja, es geht auch um Mobbing und unüberlegt ignorante Kommentare und die Angst davor, nicht dazuzugehören. Es gibt Szenen, da könnte man vor Wut ins Buch springen! Und logischerweise ist es für Jack ein Problem, dass er gesichtsblind ist.

Aber die Autorin zeigt, wie absurd und verkehrt es ist, Menschen zum Problem zu machen, nur weil sie anders sind. "DU bist das Problem, denn du bist fett!" oder "DU bist das Problem, weil du als Junge gerne eine Handtasche trägst!" oder "DU bist das Problem, denn du hast eine neurologische Erkrankung!"

Alles Quatsch. Gemeiner, schädlicher, verletzender Quatsch.

Die Message, die Jennifer Niven dem entgegensetzt, ist: "DU bist gut so, wie du bist! DU bist erwünscht! Und wenn du Hilfe brauchst, verdienst du es, sie zu bekommen!"

Das Buch konzentriert sich mehr auf die Charaktere und ihre Gefühlswelt als auf eine komplexe Handlung. Von außen betrachtet passiert gar nicht so viel, aber in den Köpfen und Herzen der Charaktere ist unheimlich viel los. Und das fand ich gut, denn die Charaktere sind in meinen Augen phänomenal!

Libby ist eine der sympathischsten jugendlichen Protagonistinnen, die ich je gelesen habe, ungelogen, und sie ist eine unglaublich starke Persönlichkeit. Klar, sie hat auch ihre Unsicherheiten und Ängste, aber wenn man bedenkt, was sie alles schon erlebt hat und mit wie viel Mobbing und Hass sie sich rumschlagen musste, hat sie ein erstaunlich positives Selbstbild. Sie ist stark übergewichtig, aber sie kann tanzen wie der Wind, sie kann springen, sie kann rennen, und sie traut sich, zu zeigen, dass sie ihren Körper so liebt, wie er ist.

Jack wirkt neben ihr manchmal fast ein wenig blass, aber ich mochte ihn ebenfalls. Er trägt dieses enorme Geheimnis schon seit vielen Jahren mit sich rum: dass er keine Gesichter erkennen kann. Nicht mal seine Mutter. Nicht mal seine Freundin. Und um das zu verstecken, tut er viele Dinge, bei denen man nur noch die Hände überm Kopf zusammenschlagen kann.
Libby und Jack haben nicht gerade den besten Start, stellen aber schnell fest, dass sie sich irgendwie ergänzen. Sie tun sich gut, fordern sich aber auch gegenseitig heraus, sich ihren Ängsten zu stellen. Das ist gar nicht so kitschig, wie man erwarten würde, sondern einfach schön! Und es ist erfrischend, mal eine Liebesgeschichte zu lesen, wo das Mädchen eher den Jungen rettet als umgekehrt.

Jennifer Niven hat wirklich ein Gespür für wunderbare, glaubhafte Charaktere, die direkt aus dem Leben gegriffen scheinen, auch wenn ihr eigenes Leben alles andere als 'normal' verläuft. Besonders gut gelungen ist meines Empfindens, mit welcher Sensibilität sie über Jacks Krankheit schreibt und seine Schwierigkeiten dabei weder überdramatisiert noch herunterspielt.

Auch der Schreibstil hat mich beeindruckt. Wie die Szenen aus Jacks Sicht geschrieben sind, das ist unheimlich gut gelöst. Da er Gesichter nicht erkennen kann, sind die Menschen in seinen Gedanken seltsam anonym, und man spürt richtig, wie haltlos und verloren er sich fühlt, wie schwer er es im täglichen Leben hat und unter wie viel Stress er eigentlich jede Minute steht.

Gegen Ende bekam meine Begeisterung einen kleinen Dämpfer, denn eine Entwicklung fand ich nicht nur wenig realistisch, sondern sie schmälerte in meinen Augen sowohl die Liebesgeschichte als auch die Glaubhaftigkeit der restlichen Geschichte. Dennoch habe ich das Buch geliebt und ich würde es auf jeden Fall weiter empfehlen.

Bewertung vom 12.07.2017
Der Schatz der Oger / Welt der 1000 Abenteuer Bd.3
Schumacher, Jens

Der Schatz der Oger / Welt der 1000 Abenteuer Bd.3


sehr gut

Dieses Buch ist ein sogenanntes Abenteuer-Spielbuch. Was das bedeutet, ist schnell erklärt: der Leser folgt nicht einfach einer vorgegebenen Geschichte von der ersten bis zur letzten Seite, sondern trifft am Ende jeder Szene eine Entscheidung, wie es weitergehen soll. Willst du das Gebüsch durchsuchen oder dir lieber das Lagerfeuer näher anschauen? Willst du einem fremden Lebewesen in Not helfen, oder dich lieber raushalten? Je nachdem, für was man sich entscheidet, blättert man zu einem anderen der durchnummerierten Abschnitte und liest dort weiter.

Aber Achtung: manche (oder besser gesagt viele!) Entscheidungen bedeuten das vorzeitige Ende deines Abenteuers. Zum Beispiel kann dich eine Schlange zerquetschen, oder du wirst von einem Riesenfaultier erschlagen oder von Ogern gefressen. Außerdem musst du bestimmte Dinge erfüllen, um das gewünschten Ende zu erreichen – es reicht nicht, am richtigen Ort anzukommen, man sollte auch die richtigen Gegenstände im Gepäck haben. Dazu braucht es eventuell mehrere Versuche!

Mir machen Abenteuer-Spielbücher einfach eine Menge Spaß. Zugegeben, ich hatte vor "Schatz der Oger" seit bestimmt mehr als 15 Jahren keines mehr gespielt, aber als Kind und Jugendliche habe ich die Klassiker des Genres verschlungen und sie sind mir gut im Gedächtnis geblieben. Deswegen kann ich jetzt ein wenig vergleichen:

Im Vergleich zu anderen Spielbüchern ist "Schatz der Oger" sehr gut geeignet für Einsteiger. Es gibt nicht viel beachten: am Anfang entscheidest du dich für eines von fünf Talenten und los geht's! Es steht keine Auswahl an Waffen oder Rüstungen zur Verfügung, und überhaupt gibt es kein richtiges Kampfsystem, denn es gilt, sich eher um Konfrontationen herummogeln.

Andere Spielbücher, wie zum Beispiel die bekannte "Einsamer Wolf"-Reihe, sind da deutlich näher dran am klassischen Rollenspiel, da muss man seinen Charakter erstmal detailliert mit bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten ausstatten, indem man Punkte auf zum Beispiel Intelligenz, Kraft oder Ausdauer verteilt.

Dass das System hier wesentlich einfacher gestaltet ist, hat Vor- und Nachteile. Vorteile: der Leser kann direkt loslegen, und wenn er scheitert und von vorne anfangen muss, kann er das ganz problemlos tun. Außerdem ist das Buch dadurch auch geeignet für jüngere Kinder! Für Leser, die keinerlei Erfahrungen mit Spielbüchern oder Rollenspiel haben, ist die Hemmschwelle sicher ebenfalls deutlich geringer.

Nachteile: man hat nur begrenzt Einfluss auf den Verlauf der Geschichte, das beschränkt sich eben hauptsächlich auf das Auswählen zwischen zwei oder drei Optionen am Ende jeder Szene. Leider spielt dabei nur eine sehr kleine Rolle, welches Talent man am Anfang ausgewählt hat! Ich habe mein gewähltes Talent "Klettern" bei dreimaligen Durchspielen nicht ein einziges Mal benutzen können, meist scheint das Talent "Vorahnung" gefragt zu sein. Da hätte ich mir gewünscht, dass einem die verschiedenen Talente auch mehr verschiedene Handlungsabläufe ermöglichen würden. Schade fand ich auch, dass es wirklich nur einen korrekten Weg durch das Abenteuer gibt, ich kenne es aus anderen Büchern, dass es mehrere erfolgreiche Wege geben kann.

Als langjährige Rollenspielerin (D&D, Das Schwarze Auge, Cthulhu und einiges mehr) fehlte es mir ein wenig, mir einen Charakter nach meinen Vorstellungen zusammenbasteln zu können. Dafür hat das Buch aber eine nette Geschichte mit schönen, atmosphärischen Beschreibungen der Geschehnisse und Szenarien zu bieten, die sich unterhaltsam liest und die man auch mehrmals durchspielen kann, ohne dass es langweilig wird. Der Schreibstil ist weniger düster als in vielen der alten Spielbücher, mit einer Prise Humor. Wie schon erwähnt, gibt es weniger Gewalt und Kampf.

Die Charaktere sind lebendig beschrieben, besonders derjenige, dessen Rolle man übernimmt, und sein fauler, selbstherrlicher Vetter Balko. Schön sind auch die stimmigen Illustrationen!