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Juti
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Insgesamt 631 Bewertungen
Bewertung vom 20.03.2023
Fabelhafte Rebellen
Wulf, Andrea

Fabelhafte Rebellen


ausgezeichnet

Romantisches Jena

Hohe Qualtität lieferte Wulf schon bei ihrem Humboldt-Buch. Und so verwundert es auch nicht, dass selbst der große Alexander, der nur wenige Monate bei seinem Bruder in Jena verweilte und Goethe traf auch thematisiert wird. Ja, ich habe vom alten Dichter gelernt, dass er sich zwar schon immer für die Naturwissenschaft begeisterte, mit Alexander aber erstmals einen ädequaten Gesprächspartner hatte.

Wer Goethe sagt, muss auch Schiller sagen, der im Gegensatz zum alten Meister, lange Jahre seinen Hauptwohnsitz in Jena hatte, bevor ans Theater nach Weimar zog. Schiller war immer krank, jedoch wie dieses kluge Buch lehrt, kein Hypochonder, sondern ein Überlebenskünstler. Die Autopsie nach seinem Tod zeigte nämlich, dass sein Leben einem Wunder gleich kam.

Überhaupt unterscheidet das 18. Jahrhundert sich von heute am meisten dadurch, dass viel mehr Kinder starben. Dennoch fielen die Eltern immer in Trauer. Am meisten litt die Jenaer Romantik unter dem Tod der junge Auguste, die nicht an der Ruhr sondern an der falschen Behandlung ihres Arztes in Bad Bocklet gestorben ist.

Auguste war das älteste Kind von Caroline geb. Michaelis, einem Philologen aus Göttingen, verwitwete Böhmert (Vater von Auguste), geschiedene Schlegel, also bei ihrem Tod mit Schelling verheiratet. In ihren Haushalt, die als einzige der Romantiker die Mainzer Republik live miterlebt hatte, und dank ihres Mannes August Wilhelm Schlegel wieder in die Gesellschaft integriert wurde, kehren die anderen Personen zum Gespräch ein. Und der große Goethe, der ja selbst bis zu den napoleonschen Kriege keine Ehe geführt hatte, muss helfen, als sie sich von Schlegel trennt, um mit Schelling zusammenzuleben. Schiller gehörte nicht zu den Romantikern, weil Friedrich Schlegel seine „Horen“ abschlägig rezensiert hatte und Bruder August Wilhelm zu ihm hielt.

Entgegen meiner Rezension geht die Autorin chronologisch vor. Eine gute Wahl. Zuerst kam Fichte nach Jena und, als dieser längst von der Uni geflogen war, und sogar schon Schelling und Schlegel die Stadt verlassen hatten, kam Hegel.
Doch die Philosophie ist nur ein Thema von vielen. Viel wichtiger ist Wulf das Klima in der Kleinstadt der Gelehrten und der Tratsch und Eifersucht unter ihnen. Novalis hat es gut getroffen. Er ist früh gestorben und bleibt als Romantiker in Erinnerung. Und hätte es den Winter 1799, der so eisig kalt war und die Handelnden krank machte, nicht gegeben, dann wäre die Geschichtsschreibung heute wohl eine andere.

Ich will nicht ausschließen, die ein oder anderen ausgelassen zu haben, wie Dorothea Veil, die Frau Friedrichs, aber auch so entsteht der Eindruck eines überzeugenden Buches, aus dem ich viel gelernt habe. 5 Sterne und Bestes Sachbuch des bisherigen Jahres 2023.


Zitate:
Friedrich Schlegels einziges Ziel war es, zu lesen, zu denken und zu schreiben. Die besten Köpfe […] würden durch eine konventionelle Berufswahl verkümmern. (136f)

Meine einzig Religion ist die,
Daß ich liebe schöne Knie,
Volle Brust und schlanke Hüften,
Dazu Blumen mit süßen Düften,
Aller Lust voll Nahrung,
Aller Liebe süße Gewahrung.
(Gedicht von Schelling, 292)

Bewertung vom 17.03.2023
Breitengrad
Crane, Nicholas

Breitengrad


sehr gut

ein wahres Forschungsabenteuer

Das 18. Jahrhundert ist bekannt für seine vielen Entdeckungsreisen. Und so auch diese von französischen Forschern, die nach Südamerika aufbrachen, um zu messen, ob die Erdkugel an den Polen oder am Äquator abgeflacht ist. Doch viele Köche verderben den Brei.

Viel zu groß mit viel zu viel Material unterwegs teilt sich die Gruppe schon vor Panama, weil jeder der Chef der Expedition sein will. Pleiten, Pech und Pannen kommen hinzu, etwa dass man durch eine Mondfinsternis den Längengrad bestimmen wollte, aber leider ist es zu dunstig.


Abgesehen von den vielen Namen, die ich erst durchsteigen musste, eine spannende Geschichte. 4 Sterne.

Bewertung vom 12.03.2023
Das andere Mädchen
Ernaux, Annie

Das andere Mädchen


ausgezeichnet

Das Leid der Eltern

Für Eltern gibt es wohl nichts schlimmeres, als wenn ein Kind stirbt.
Und so beschreibt die Autorin treffend die Leerstelle, die nach dem Tod ihrer Schwester entstand. Sie selbst hat sie nie kennengelernt, weil sie erst nach ihrem Tod geboren wurde. Kurz vor Schluss erfahren wir, dass ihre Eltern glaubten, sich nur ein Kind leisten zu können.

Ihre Eltern redeten nicht von ihr, die Erzählerin fragte auch nicht. Auch die Gelegenheit zur Aufklä­rung, als über den Tod anderer Kinder gesprochen wurde, lassen die Eltern verstreichen. Selbst der Friedhofsbesuch geschieht nicht mit der jüngeren Tochter. Einzig von ihren Cousinen hat sie Fotos mit ihr bekommen, die mit 6 Jahren 1938 während einer Diphterie-Epidemie starb. Nur später während der Demenzkrankheit der Mutter fällt ihr ein, dass sie zwei Kinder geboren hat.
Und natürlich muss die Erzählerin auch damit leben, dass sie mit der Toten verglichen wird, die viel lieber war als sie, weil sie zur Heiligen wurde.


Dieses kleine Büchlein, dass höchstens 60 Textseiten hat, und von der Nobelpreisträgerin Brief genannt wird, lässt sich an einem Nachmittag gut lesen. Ich hoffe, dass heute nicht mehr alles totgeschwiegen würde. Für die Nachkriegszeit kann ich es mir aber vorstellen, weil die Vorstellung, das erwachsene Menschen plötzlich weinen könnten, so schlimm war, dass sie lieber schwiegen. Die anfängliche Frage, ob Ernaux in ihrem Leben wirklich das alles selbst erlebt hat, trat während des Lesens in den Hintergrund. Sie ist auch unwichtig. Also 5 Sterne.

Bewertung vom 09.03.2023
Das Zeitalter der Resilienz
Rifkin, Jeremy

Das Zeitalter der Resilienz


gut

Wirtschaft, Umwelt und Demokratie

Die Hauptthese dieses Buches lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen:
Bisher spielte die Effizienz und damit die Gewinnmaximierung in der Wirtschaft die Hauptrolle. Die Krisen der letzten Jahre (Corona, Krieg, Klima) zeigen aber, dass Resilienz, also die Fähigkeit sich auf neue Ereignisse einstellen zu können, immer wichtiger wird.

Interessant ist, dass der Autor sich auf die Thermodynamik bezieht, die besagt, dass nichts so wird, wie es früher einmal war. Materie kann zum Beispiel nur in Energie umgewandelt werden, aber nicht umgekehrt. Klassische Wirtschaftswissenschaftler hielten dagegen den Zeitaspekt für irrelevant.

Die Hauptgeschichte ist nicht neu und sind es die kleinen Aspekte, wie die Wirkung elektromagnetischer Felder in der Medizin, die mein Hauptinteresse weckten. Seine politische Forderungen sind sehr amerikazentriert und ob geloste Bürgerräte ein neuer Schritt zu mehr Demokratie sind, wird die Zukunft zeigen.


Mir fehlte oft die Lust am Weiterlesen, weil vieles, zu vieles schon bekannt ist. 3 Sterne.

Bewertung vom 20.02.2023
Es ist immer so schön mit dir
Strunk, Heinz

Es ist immer so schön mit dir


gut

Neues aus dem Unterschichtenmilieu

Es ist immer so eine Krux mit Strunk. Einerseits liest er sich schnell und gut, andererseits spielt er immer mit abgewrackten Figuren. Warum die SZ Mittelschicht da rausliest ist mir ein Rätsel.
Es kommt auch nicht auf Geld an, ständig wird geraucht, gesoffen und gegen Ende des Romans auch geschlafen (das passende Wort würde wohl an der Autokorrektur scheitern).

Vielleicht zieht mich Strunk an, weil er zeigt, dass es immer noch schlechter. Aber wie schon beim „Sommer in Niendorf“ läuft es ja gar nicht so schlecht. Unser Ich-Erzähler verlässt die liebe Julia für Vanessa und – wie die Kommentare andeuteten – sollte es drunter und drüber gehen. Aber Pustekuchen. Vanessa verzeiht dem Erzähler sogar ein Rückfall mit Julia.


Wo Strunk drauf steht, ist auch Strunk drin. Aber mehr als 3 Sterne möchte ich nicht geben. Für dieses Jahr reicht, selbst wenn Vielschreiber Strunk was Neues herausbringt.

Bewertung vom 08.02.2023
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


sehr gut

interessante Migrantenfamilie

Während uns Dörte Hansen von dem Leben auf einer Nordseeinsel erzählt, erfahren wir in diesem Buch die Geschichte einer Migrantenfamilie in dem fiktiven Ort Rheinstadt (schöner wäre ein Name, der tatsächlich zu googeln wäre). Ich hätte türkische Familie geschrieben, wenn nicht ein Erzählfaden immer von der kurdischen Abstammung handeln würde.

Im Unterschied zur Nordsee habe ich bei Migranten so gewisse Vorurteile, die alle auch bedient werden. Der Vater, der in der Fabrik hart arbeitet. Wenn er nach Hause kommt, lässt er sich von seiner Frau wie ein Pascha bedienen. Der Sohn, der die Arbeit wegen Autoritätsproblemen hinschmeißt und tatsächlich im Gebrauchtwagenhandel tätig wird. Zur Beerdigung seines Vaters wird ein Fahrstil beschrieben, den wir alle vor Augen haben. Der andere Sohn bleibt blasser.

Wie die Profirezensenten auch geschrieben haben, sind die Frauen stärker. Sevda, die Älteste, durfte die Schule nicht besuchen und schafft es doch im norddeutschen Salzhagen (bessere Name, wenn ich nicht immer an Stadthagen denken müsste) ein Restaurant von einer Italienerin zu übernehmen. Natürlich hat sie ihrem Ehemann, der die Arbeit der Ehefrau nicht duldet und als Säufer und Obdachloser endet, den Laufpass gegeben. Dass ihre Wohnung in Salzhagen noch wegen eines Anschlages brennt und sie zwischenzeitlich zu den Eltern zurückziehen muss, darf natürlich nicht fehlen.

Da ist die zweite Tochter Peri konsequenter. Als begabte Schülerin schafft sie locker das Abitur und sammelt im Studium die Männer wie Briefmarken. An eine Hochzeit ist bei ihr nicht zu denken.
Im letzten Abschnitt wird die Mutter in der „du-Form“ beschrieben. Die „ich-Form“ würde auch nicht passen, weil Sevda ihr berechtigte Vorwürfe macht, die nur so der Leserin nahe gebracht werden.


Auch wenn ich jetzt vom fünften Kind der Familie nicht spoilern will, so hat mir die Erzähltechnik der Autorin sehr gefallen. Wie sie häufiger bei der einen Figur etwas andeutet, das erst später auserzählt wird. Die vielen Vorurteile zwingen mich aber dazu, einen Stern abzuziehen. Ich halte dieses Buch dennoch für das Beste, was ich bisher von der Shortlist des Deutschen Buchpreises gelesen habe und werde weitere Romane der Autorin lesen. 4 Sterne

Bewertung vom 07.02.2023
Pornographie
Gombrowicz, Witold

Pornographie


weniger gut

Aus der Zeit gefallen

Selten habe ich ein Buch gelesen, dessen Titel so wenig passte wie bei diesem. Es handelt von vielen jungen Menschen, genauer gesagt drei Pärchen, die im katholischen Nachkriegspolen nur wenig von dem dürfen, was sie wollen. Sie diskutieren über Religion und als man denkt, es könne so nicht weitergehen, liegt auf einmal ein Toter auf dem Boden.
So wird aus der Geschichte im zweiten Teil ein zugegeben nur mäßiger Krimi.


Ich verstehe nicht, warum Pornographie dem deutschen Leser wieder vor Augen geführt wird. Es hat keinen neuen Mehrwert. Ich verstehe auch den Titel nicht und wenn ich nicht im Urlaub gewesen wäre, hätte ich dieses Werk beiseite gelegt, so gibt es für mein tapferes Durchhalten bis zum Ende 2 Sterne.

Bewertung vom 06.02.2023
Zur See
Hansen, Dörte

Zur See


ausgezeichnet

Nordseebuch

Wir lesen die Geschichte einer Seemannsfamilie über ein Jahr auf einer Nordseefamilie. Es fängt an mit einem Sohn der Familie, der alkoholabhängig auf der Fähre das Halteseil im Hafen auswirft. Die Mutter, die früher auf den zur See fahrenden Mann hätte warten müssen, unterhält unterdessen die Gäste. Mehr als ein Jahr wird beschrieben durch Rückblenden, denn wir erfahren, dass die Frau keine Gäste mehr im Haus aufnimmt, weil die Ansprüche der Touristen wuchs und sie nicht mehr mit dem einen selbstgekochten Gericht zufrieden waren.

Wir hören vom zweiten Sohn, einem Vogelfreund, der die Fremden verjagen muss und deswegen kein Menschenfreund sein kann und von der Tochter, die auf dem Festland eine Ausbildung in der Pflege gemacht und nun auf die Insel zurückgekehrt ist.

Auch den Inselpfarrer lernen wir kennen, der den Sommer nur dank eines festen Tagesrhythmus überlebt und erst im Winter zur Ruhe kommt, wenn die Gäste die Insel verlassen haben. Wir erfahren aber auch, dass es um seine Ehe nicht gut steht. Seine Frau geht in der Woche aufs Festland und kehrt nur am Wochenende zum Pfarrer zurück.


Mir gefällt an diesem Buch, dass ich mir alle Personen wirklich vorstellen kann und ja, so ist das Leben auf einer Nordseeinsel. 5 Sterne

Bewertung vom 17.01.2023
Leeres Spanien
Del Molino, Sergio

Leeres Spanien


sehr gut

Landflucht literarisch behandelt

Zunächst einmal war mir nicht bekannt, dass das Landesinnere der Iberischen Halbinsel so dünn besiedelt ist. Dass auch noch Diktator Franco daran mitgewirkt hat, obwohl er selbst von seiner ländlichen Herkunft sprach, passt ins Bild.

Zwischen 1950 und 1970 zogen großen Teile der Landbevölkerung nach Madrid, Barcelona und in die Provinzhauptstädte. Die Küstenorte waren von dieser Entwicklung nicht betroffen.
Doch was wie geografisches Buch anmutet, wird mit Texten aus dem leeren Spanien beschrieben, eine Definition folgt erst auf Seite 41.

So ist der Autor in Almazan geboren, beschreibt den Monte Universalis, der an der Grenze dreier Regionen befindet, empfiehlt den Roman „Der gelbe Regen“ von Julio Llamazares, gedenkt der Morde im Pyrinäenort Fargo bei Anso, die aus Langeweile geschahen, erwähnt, dass in der Las Hurdes in den Orten Caminorisco, Martalandran, Aceitunilla, La Fragosa und Azengur die Bewohner lange als Wilde galten. Dann empfiehlt er den 2.134 m hohen Berg Monyaco als Beispiel des leeren Spaniens für romantische Wanderungen, den Ort Puebla de Sanabria mit Blick über die Meseta, und das Dorf Pomer.
Abschließen möchte ich mit dem Zitat von 280, dass „das Letzte, was ein spanischer Schriftsteller sein möchte, ist ein spanischer Schriftsteller.“


Auch wenn mir Don Quichote immer wieder gefällt, so hätte ich mir thematisch ein eher geografischeres Buch gewünscht. Daher 4 Sterne.

Bewertung vom 16.01.2023
Nachmittage
Schirach, Ferdinand von

Nachmittage


ausgezeichnet

überraschende Wendungen

26 Kurzgeschichten, ja mitunter nur kleine Anekdoten, die bei mir für gute Stimmung gesorgt haben. Eigentlich wäre dies inhaltlich nicht gerechtfertigt. Denn kurz vor Ende der längeren Geschichten kommt immer noch eine Wendung, die die Leserin nicht erwartet hätte.

So will ich von Geschichte fünf erzählen, wo der Ich-Erzähler den Uhrenfabrikant Peter Traub aus dem schwäbischen Tautzingen (wenn es diesen Ort nicht gäbe, so könnte ich mir doch gut vorstellen, wie er am Albtrauf liegt und man weit in die Ferne schauen kann) zufällig in Marrakesch trifft. Nach Jahren der Krise blühte sein geerbtes Familienunternehmen wieder richtig auf. Traub selbst vergnügte sich aber lieber in der Berliner Schwulenszene, bis ihn der Inhaber seiner Lieblingsdiskothek daheim besuchte, um ihn zu erpressen. Und das überraschende Ende verrate ich natürlich nicht.

Andere Geschichten sind deutlich kürzer, etwa wird auf S.88 nur kurz behandelt, wie Thomas Mann mit Kritik umging.


Nicht alle dieser Anekdoten bleiben in Erinnerung. Dies ist aber nicht schlimm, weil kaum Lesezeit verbraten wurde. Deswegen gibt es für mich für die eindrucksvollen Teile volle 5 Sterne. Das daraus nichts folgt, ist für mich belanglos, der Autor will uns unterhalten und das ist gelungen.