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Benutzername: 
cosmea
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Witten
Über mich: 
Ich lese seit vielen Jahren sehr viel, vor allem Gegenwartsliteratur, aber auch Krimis und Thriller. Als Hobbyrezensentin äußere ich mich gern zu den gelesenen Büchern und gebe meine Tipps an Freunde und Bekannte weiter.

Bewertungen

Insgesamt 307 Bewertungen
Bewertung vom 13.06.2021
Letzte Ehre
Ani, Friedrich

Letzte Ehre


sehr gut

Verhämmerung und andere Scheußlichkeiten
Ein siebzehnjähriges Mädchen verschwindet spurlos nach einer Party im Haus des Partners der Mutter, der zu der Zeit abwesend war. Oberkommissarin Fariza Nasri ermittelt und führt Gespräche mit Zeugen. Stephan Barig, der Freund der Mutter, beantwortet ihre Fragen scheinbar ehrlich, aber die Polizistin glaubt ihm nicht. Sie hat ein Gespür für Wahrheit und Lüge und merkt, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Dann wird eine ältere Frau namens Ines Kaltwasser vernommen, die in Stephan Barig den Sohn von Curt Barig erkennt, der ihr Leben ruiniert hat. Sie öffnet sich der für einfühlsame Vernehmungen bekannten Polizistin zum ersten Mal in ihrem Leben und enthüllt eine furchtbare Geschichte von sadistischem, überaus grausamem Missbrauch in ihrer Kindheit. Fast zeitgleich wird Catrin Hagen, die beste Freundin von Fariza und Ehefrau eines Kollegen in ihrer Wohnung überfallen und so schwer verletzt, dass sie keine Überlebenschancen hat. Weil Fariza als befangen gilt, darf sie in diesem Fall eigentlich nicht ermitteln, tut es aber dennoch, weil sie glaubt, es ihrer Freundin schuldig zu sein. Was sie bei all diesen Ermittlungen erfährt, ist so furchtbar, dass die Polizistin, die mit ihren eigenen Dämonen aus vergangenen Erlebnissen kämpft, an ihre Grenzen gerät und einem Zusammenbruch nahe ist.
Anis Buch ist ein komplexer literarischer Krimi, sprachlich so, wie man es von ihm kennt mit den für ihn typischen Dialektausdrücken, untypisch im Aufbau und vor allem in der unerwarteten Auflösung, bei der die Logik der Erzählstruktur etwas auf der Strecke bleibt. Den Leser lassen die geschilderten Gewalterfahrungen nicht unberührt. Es ist ein lesenswertes Buch, allerdings nicht durchweg spannend, dabei unendlich düster.

Bewertung vom 30.05.2021
Viktor
Fanto, Judith

Viktor


ausgezeichnet

Die Geschichte der Familie Rosenbaum
Der Roman „Viktor“ von Judith Fanto erzählt eine Familiengeschichte über sechs Generationen im steten Wechsel auf zwei Zeitebenen. Die junge Holländerin Geertje, die Ich-Erzählerin in diesem Roman, bereitet sich in den 90er Jahren auf Schulabschluss und Jurastudium vor und will endlich mehr über ihre jüdische Familie wissen. Da gibt es eine Menge Geheimnisse und viele Tabuwörter wie Transport, Lager, Gas usw. Sie beginnt ihre Revolte mit einer Namensänderung und wird zu Judith. Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf ein Archiv auf dem Dachboden der Großeltern und findet wichtige Dokumente. Die zweite Zeitebene beginnt mit dem 1. Weltkrieg und reicht bis 1939. Es ist im Wesentlichen die Generation der Großeltern Felix und Trude, ihrer Geschwister, aber es geht auch um ihre Eltern und Großeltern. Im Mittelpunkt steht die Person von Geertjes Großonkel, dem Bruder von Felix. Viktor war eine schillernde Persönlichkeit, ein Frauenheld, der häufig dubiosen Geschäften nachging und sich öfter in Schwierigkeiten brachte. Er war aber auch ein guter Mensch, der alles opferte und zumindest einige seiner Angehörigen rettete. Ihnen gelang die Flucht nach Holland. Die junge Judith wird mit der Scham und den Schuldgefühlen der Überlebenden konfrontiert, mit der Frage, wem die Schoah gehört und vor allem, wie man generell mit der jüdischen Vergangenheit umgehen kann und sollte. Judiths Großeltern sind vor der Flucht zum Katholizismus konvertiert und es steht in dieser Familie nie zur Debatte, jüdische Traditionen offen zu leben.
Ich habe diesen Roman mit großem Interesse gelesen und noch viel Neues dabei gelernt, vor allem über die Geschichte Österreichs vor dem Anschluss an das Reich und den vorher schon allgegenwärtigen Antisemitismus. Das Ende ist sehr traurig, und die von der Biografie der Autorin inspirierte Geschichte hat lange nachgewirkt. Sehr empfehlenswert.

Bewertung vom 30.05.2021
Eine perfekte Ehe
McCreight, Kimberly

Eine perfekte Ehe


sehr gut

Perfekte Ehen gibt es nicht
In Kimberly McCreights Roman “Eine perfekte Ehe“ hat die Anwältin Lizzie Katsakis wenige Monate zuvor ihren Job bei der Staatsanwaltschaft aufgegeben und eine besser bezahlte Stelle in einer renommierten Anwaltskanzlei angenommen, um die von ihrem Mann Sam verursachten gewaltigen Schulden zu begleichen, als sie einen Anruf von ihrem Studienkollegen Zach Grayson bekommt, den sie seit vielen Jahren nicht gesehen hat. Er sitzt unter Mordverdacht im berüchtigten New Yorker Gefängnis Rikers Island ein und bittet Lizzie, ihn zu vertreten. Widerstrebend übernimmt die Anwältin seinen Fall und ermittelt schon bald selbst, weil die Polizei Zach für den Schuldigen am Mord seiner Frau Amanda hält und keine Anstrengungen unternimmt, anderen Spuren zu folgen. Amanda starb nach einer Party mit Ehepaaren, die alle im vornehmen Viertel Park Slope in Brooklyn leben und ihre Kinder zu derselben exklusiven Schule schicken. Diese Tatsache spielt eine Rolle in einer Nebenhandlung. Der Computer der Schule wurde gehackt, und die Eltern bekommen Drohbriefe und werden erpresst.
Im Laufe ihrer Ermittlungen findet Lizzie heraus, dass hier jeder Geheimnisse hat und der äußere Schein trügt: in allen Ehen gibt es Probleme, nicht zuletzt auch bei Lizzie mit ihrem alkoholabhängigen Ehemann, den sie zeitweise verdächtigt, etwas mit Amandas Tod zu tun zu haben. Es gibt etliche falsche Fährten und immer neue Details, auch durch die eingefügten Vernehmungsprotokolle. Für den Leser ist das spannend und zugleich verwirrend, denn die Auflösung kann man nicht erraten. Gut hat mir auch der Kontrast von zwei Zeitebenen gefallen: das Auf und Ab der Ermittlungen nach dem Verbrechen und die letzten Tage in Amandas Leben vor der Party bis zu ihrem Tod in derselben Nacht.
Der Roman ist zwar nicht frei von Längen, hat mir aber insgesamt gut gefallen.

Bewertung vom 02.05.2021
Kim Jiyoung, geboren 1982
Cho, Nam-joo

Kim Jiyoung, geboren 1982


sehr gut

Alltagssexismus in Korea
Im Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“ von Cho Nam-Joo wird die Protagonistin zum Prototyp koreanischer Frauen. Wir verfolgen ihr Leben von der Geburt bis zum Jahr 2016, als sie erhebliche psychische Probleme hat. Sie spricht mit der Stimme von Frauen aus ihrem Umfeld und aus deren Perspektive. Wie kam es dazu?
Das Mädchen hat eine ältere Schwester. Bei der nächsten Schwangerschaft treibt die Mutter ab, weil es wieder ein Mädchen wird. Danach wird ein Bruder geboren. Bei der Geburt eines Mädchens schämt sich eine koreanische Frau und entschuldigt sich bei ihrem Mann und ihren Schwiegereltern. Genauso wie z.B. in Indien oder China hat auch in Korea die gezielte Abtreibung von weiblichen Föten zu einem Ungleichgewicht zwischen Jungen und Mädchen geführt. Das ist aber erst der Anfang der Ungleichbehandlung. Jungen bekommen in der Familie die besten Teile einer Mahlzeit, während die Schwestern essen, was übrigbleibt, ggf. die Krümel. In der Schulkantine werden Mädchen als letzte versorgt, ihre Schuluniform ist strenger geregelt und unbequem. Auch mit guten Noten und Universitätsabschlüssen sind die Aussichten, eine Stelle zu finden, schlechter. Frauen verdienen deutlich weniger als Männer, werden oft lange nicht befördert und haben äußerst selten leitende Positionen. Ganz kritisch wird es, wenn eine berufstätige Frau ein Kind bekommt. Die koreanischen Arbeitszeiten machen eine Ganztagsbetreuung für ein Kind fast unbezahlbar. Den meisten Frauen bleibt nichts Anderes übrig, als Beruf und Karriereplanung aufzugeben, wenn Eltern und Schwiegereltern nicht einspringen können. Eine Frau, die sich nur noch um Haushalt und Kind kümmert, wird dann allerdings als Schmarotzerin beschimpft, weil sie sich auf Kosten ihres Mannes ein schönes Leben macht. Hinzukommt, dass sie sich auf der Straße und am Arbeitsplatz immer wieder gegen sexuelle Belästigung wehren muss, für die man ihr zu allem Überfluss auch noch die Schuld gibt. Kein Wunde, dass die Protagonistin mit 34 Jahren psychisch krank ist, hat sie doch von Anfang an gesehen, dass eine Frau in der koreanischen Gesellschaft weniger wert ist als ein Mann.
In ihrem sachlichen Bericht mit statistischen Daten und Fakten lässt die Autorin einen Psychiater zum Erzähler von Kim Jiyoungs Geschichte werden. Das Buch hat eine ungeheure Wirkung auf den Leser. Geringere Aufstiegschancen und ungerechte Bezahlung von Frauen gibt es überall, auch bei uns, aber so krass wie die hier dargestellten Verhältnisse ist es dann doch nicht. Mit am schockierendsten finde ich die Ungleichbehandlung von Geschwistern in den Familien.
Ich habe den Roman mit großem Interesse gelesen und empfehle ihn gern weiter.

Bewertung vom 02.05.2021
Der Junge, der das Universum verschlang
Dalton, Trent

Der Junge, der das Universum verschlang


sehr gut

Ein Junge kämpft für seine Ziele
Die Brüder Eli, 12 und August Bell, 13 leben in Darra, einem Vorort von Brisbane, Australien. Die Handlung setzt Mitte der 80er Jahre ein. Zu diesem Zeitpunkt weiß Eli noch nicht, dass dies die letzten glücklichen Augenblicke seiner Kindheit sind. Die Lebensumstände der Familie sind schwierig. Die Mutter hat den Vater, einen Alkoholiker, Jahre zuvor verlassen. Lyle Orlik, der neue Partner der Mutter, ist Heroindealer, und die Mutter ist drogenabhängig. Die Brüder stehen einander sehr nahe und verstehen einander ohne Worte. Das ist auch nötig, weil sich August weigert zu sprechen. Stattdessen malt er rätselhafte Botschaften in die Luft. Elis bester Freund ist der verurteilte Mörder Arthur “Slim“ Holliday, der für seine Ausbrüche aus dem berüchtigten Boggo Road-Gefängnis berühmt wurde. Die Lage spitzt sich für die Jungen dramatisch zu, als Lyle zwischen die Fronten von rivalisierenden Drogenbanden mit asiatischen Wurzeln gerät und spurlos verschwindet und die Mutter zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird. Sechs Jahre später kämpft Eli noch immer für sein Ziel, Journalist zu werden. Er verliebt sich in eine ältere Journalistin und geht unbeirrt seinen Weg.
Daltons Roman ist eine etwas andere Coming-of-Age Geschichte, die zum Teil autobiografisch ist. So ist das geheime Zimmer mit dem roten Telefon im Elternhaus der Jungen keine Erfindung des Autors. Ungewöhnlich sind auch die mystischen Elemente wie die selbstgewählte Sprachlosigkeit des älteren Bruders, der Eli immer beschützt. Mir hat der umfangreiche Roman gut gefallen, auch und wegen seiner poetischen Sprache und einiger skurriler Begebenheiten. Eine empfehlenswerte Lektüre.

Bewertung vom 29.04.2021
Der Morgen davor und das Leben danach
Napolitano, Ann

Der Morgen davor und das Leben danach


sehr gut

Flug 2977 und seine Folgen
In Ann Napolitanos neuem Roman „Der Morgen davor und das Leben danach“ überlebt der 12jährige Edward als einziger eine Flugzeugkatastrophe, bei der 191 Menschen sterben, darunter auch seine Eltern und sein geliebter Bruder Jordan. Als seine Verletzungen geheilt sind, wird Edward von seinem Onkel John und seiner Tante Lacey aufgenommen. Von Anfang an steht ihm seine ebenfalls 12jährige Nachbarin Shay bei. Lange Zeit verdrängt er Erinnerungen und Gefühle und weigert sich, sich mit der Katastrophe auseinanderzusetzen. Allmählich begreift er, dass er Verlust und Trauer nur überwinden und ein normales Leben führen kann, wenn er sich dem Erlebten stellt. Einige Zeit später finden Edward und Shay in einer nicht genutzten Garage zwei Säcke mit Briefen von Hinterbliebenen an Edward, in denen Bitten geäußert und Anweisungen für sein späteres Leben erteilt werden. Nach dem ersten Schock erweisen sich die Briefe als große Hilfe. Edward wird Mittel aus einer riesigen Geldspende dazu verwenden, anderen anonym zu helfen oder ihnen einen Lebenswunsch zu erfüllen.
Die Autorin wählt eine raffinierte Zeitstruktur, indem sie die Stunden vor dem Unglück und die Zeit danach erzählt. So kommen die Geschichten und Lebensentwürfe von einer Handvoll Passagieren und der Flugbegleiterin Veronica zur Sprache, wobei dem Leser in jedem Augenblick klar ist, dass alle Planungen nichtig sind, dass die Katastrophe unaufhaltsam ist. Der Roman gewinnt durch den Kontrast des Davor und Danach Spannung. Ann Napolitano gelingt es, sechs Jahre in Edwards Leben ohne Larmoyanz nachvollziehbar zu machen und zu zeigen, dass das Unglück ihrer aller Leben für immer verändert hat: Edwards, das von Onkel und Tante ebenso wie das der Nachbarin Besa und ihrer einfühlsamen Tochter Shay. Positiv anzumerken ist, dass ist die Geschichte zu keiner Zeit kitschig oder unerträglich traurig ist. Ein empfehlenswerter Roman.

Bewertung vom 25.04.2021
Drei Kameradinnen
Bazyar, Shida

Drei Kameradinnen


gut

Wider den Rassismus
Shida Bazyars Roman „Drei Kameradinnen“ erzählt die Geschichte von drei Freundinnen - Hani, Kasih und Saya -, die in einer Siedlung zusammen aufwuchsen und sich nun anlässlich einer Hochzeit in Berlin für einige Tage wieder treffen. Sie sind einander eng verbunden und verstehen sich ohne Worte. Kasih ist die zunächst namenlose Ich-Erzählerin, die Ereignisse aus der Vergangenheit und Gegenwart erzählt, aber nichts Genaues über den Hintergrund ihrer Familien und die Umstände ihrer Flucht. Die Erzählung ist nicht chronologisch, und die Erzählerin holt oft sehr weit aus. Hauptthema sind der alltägliche Rassismus und die wachsende Bedrohung durch Neonazis und Rechtspopulismus. Die Erfahrung von Ausgrenzung und Benachteiligung ist für sie Normalität, denn trotz guter Schulabschlüsse, bei denen ihnen die Bestnoten verweigert werden, finden sie keinen Job, der ihrer Qualifikation entspricht. Zur Sprache kommt auch der NSU-Prozess ohne ausdrückliche Nennung, der auf jahrelange Morde an Muslimen folgt, obwohl die Gruppe durch einen Informanten des Verfassungsschutzes infiltriert war und die Behörden eigentlich frühzeitig Bescheid wissen mussten. Bei Brandanschlägen und Terrorakten aller Art gibt es schnelle Schuldzuweisungen. Die mutige Saya, die ihre Wut oft nicht unter Kontrolle hat, soll einen Brand gelegt haben und wird verhaftet.
Bazyars Roman ist in mancher Hinsicht ungewöhnlich. Immer wieder wendet sich die Autorin direkt an die Leser, spekuliert über ihre Reaktion und fragt nach ihrer Meinung. Das Thema ist wichtig und bedenkenswert, aber es gibt zu viel Wiederholung, zu viel Gleichartiges. Jeder weiß, dass eine in einem Roman erzählte Geschichte Fiktion ist, aber dass eine Autorin durch ihre Erzählerin die Romanillusion am Ende zerstört, nachdem sie zuvor schon mehrfach zugegeben hat, dass sie gelogen hat, dass alles in Wirklichkeit ganz anders war, ist schon ungewöhnlich. Mir gefällt auch die Sprache nicht. Sie ist sehr direkt, zum Teil derb, umgangssprachlich und sehr speziell. Was genau muss man sich unter einer Arschfuhr vorstellen?
Insgesamt bin ich etwas enttäuscht von dem Buch.

Bewertung vom 09.04.2021
Jaffa Road
Speck, Daniel

Jaffa Road


sehr gut

Der Mann mit dem geheimen Leben
In einer Villa in Palermo treffen nach dem Tod des Fotografen Moritz Reincke drei Personen zusammen, um mit dem Notar zusammen die Erbangelegenheiten zu regeln: die Enkelin Nina aus Berlin, deren Mutter von Moritz schwanger wurde, kurz bevor dieser als Wehrmachtsfotograf in Tunis zum Einsatz kam, Joelle, eine jüdische Sängerin aus Paris, Tochter seiner Ehefrau Yasmina, und der Palästinenser Elias, von dessen Existenz die beiden Frauen nichts wussten. Der Roman erzählt eine Familiengeschichte über drei Generationen mit Zeitsprüngen und vielen Schauplätzen - Berlin, Tunis, Haifa, Jaffa, Palermo, München, Frankfurt - vor dem Hintergrund des Nahost-Konflikts. Bei der Darstellung der Ursachen des Konflikts zeigt sich, dass der Autor gründlich recherchiert hat. Dem Leser wird sehr deutlich. was die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 nach der Teilung Palästinas, der Vertreibung und Enteignung der Palästinenser durch einen juristischen Trick für die Betroffenen bedeutete. Die sogenannten Abwesenden, die natürlich nicht zurückkehren durften, wurden problemlos enteignet und ihr Besitz den Juden zugesprochen. Flucht und Vertreibung, ein Leben in Armut und unter ständiger Bedrohung werden sehr anschaulich geschildert. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die Aktivitäten der Geheimdienste und der verschiedenen Terrororganisationen. Es gab Flugzeugentführungen mit zahlreichen Toten, durch die Gefangene freigepresst wurden.
In diesen gefährlichen Zeiten wird Moritz Reincke zum italienischen Juden Maurice Sarfati. Seine deutschen Wurzeln muss er lange Zeit verbergen. Auch sonst ist sein Leben ein einziges Geheimnis. Seine Erben erzählen sich ihre Geschichte, vor allem die Geschichte ihrer Mütter, und dadurch kommt die Wahrheit allmählich ans Licht.
Der sehr umfangreiche Roman ist nicht frei von Längen, aber hochinteressant und über weite Strecken spannend und berührend. Mir hat dieser Roman gut gefallen, weil der Autor gekonnt Familien- mit Zeitgeschichte verbindet.

Bewertung vom 05.04.2021
Der Abstinent
McGuire, Ian

Der Abstinent


sehr gut

Ein nicht enden wollender Konflikt
Ian McGuires Roman „Der Abstinent“ spielt in England im Jahr 1867. Der irische Polizist James O´Connor wurde auf Grund seines für seine Dienststelle in Dublin untragbaren Fehlverhaltens nach Manchester versetzt. Er hatte zuerst seinen kleinen Sohn, dann seine Frau Catherine verloren und war zum Alkoholiker geworden. In Manchester soll er Kontakt zu Spitzeln halten, die die Fenians, die Kämpfer für die irische Unabhängigkeit ausspionieren, um so möglichst blutige Attentate zu verhindern. Als Auftakt wird dem Leser die grausame Hinrichtung von drei Freiheitskämpfern geboten, die den Tod eines Polizisten verschuldet hatten. Wie O´Connor zu Recht vermutet, werden die Hingerichteten als Märtyrer verehrt und ihr Tod kann nur weitere Gräueltaten nach sich ziehen. Die englische Polizei erwartet einen amerikanischen Bürgerkriegsveteran mit irischen Wurzeln, der die Fenians vor Ort unterstützen soll. Stephen Doyle, ein grausamer Killer, wird zu O´Connors gefährlichem Gegenspieler.
Die Romanhandlung zeigt die stetige Eskalation dieses anscheinend unlösbaren Konflikts, der noch ein Jahrhundert später während der Troubles genannten bürgerkriegsähnlichen Unruhen blutig fortgeführt wird. O´Connor wird zunehmend zur Zielscheibe. Als Ire war er nie wirklich in die Truppe integriert. Man begegnet ihm mit Ablehnung und Misstrauen und beschimpft ihn bei Fehlschlägen gern als Verräter, denn als Ire muss er ja wohl mit den Fenians sympathisieren. Am Ende macht er sich auf eigene Faust auf die Suche nach Doyle und gerät in große Gefahr. Das Ende kam für mich überraschend, und ich empfand es nicht als befriedigend. Dennoch ist dieser Rachethriller eine spannende Lektüre, die ich empfehlen kann. Der Roman ist so aufgebaut, dass eine Hollywood--Verfilmung nicht lange auf sich warten lassen wird.

Bewertung vom 27.03.2021
Die Lustlosen Touristen
Agirre, Katixa

Die Lustlosen Touristen


ausgezeichnet

Lügen und Geheimnisse
In Katixa Agirres Roman „Die lustlosen Touristen" macht ein Paar eine Reise durch das Baskenland. Die Baskin Ulia will ihrem Mann Gustavo ihre Heimat zeigen. Diese Reise entwickelt sich zu einem Roadtrip der besonderen Art.
Ulia musste ihren Traum von einer Karriere als Sängerin nach einer Stimmbanderkrankung aufgeben und studiert zur Zeit Musikwissenschaft. Sie bereitet eine Doktorarbeit über den englischen Komponisten Benjamin Britten vor, eventuell stattdessen eine Erzählung über Phasen seines Lebens, weil sie mit der Arbeit nicht weiterkommt.
Die Reise führt das Paar durch viele Städte und traumhaft schöne Landschaften. Die kulinarischen Freuden kommen dabei auch nicht zu kurz.
Dennoch ist die Reise kein entspanntes Vergnügen. Ulia hat erst kürzlich als erwachsene Frau das Geheimnis ihrer Herkunft erfahren, nachdem sie ihr Leben lang mit einer Lüge abgespeist worden war. Sie hat nie den richtigen Moment gefunden, ihren Mann einzuweihen. Hinzukommt, dass die englische Journalistin Sarah immer wieder wie zufällig ihren Weg kreuzt und Gustavo gut zu kennen scheint. Alles entwickelt sich buchstäblich auf einen großen Knall zu, bei dem die Wahrheit ans Licht kommt und das Paar eine Beziehungskrise zu bewältigen hat.
In dieser lesenswerten Geschichte wechseln Ulias tagebuchartige Aufzeichnungen über die Etappen der Reise ab mit essayähnlichen Ausführungen über den berühmten Pazifisten Britten. Pazifismus ist ein Thema, das Ulia als Baskin besonders beschäftigt. Es ist hilfreich, wenn man als Leser Kenntnisse über die jüngste Vergangenheit des Baskenlandes und die Gründe für das Entstehen der Terrororganisation ETA hat.
Vor diesem Hintergrund kommt eine Vielzahl von Themen zur Sprache: Identität, Vatersuche und Heimat, Lügen und Geheimnisse in Beziehungen, die Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart. Ich empfehle diesen Roman ohne Einschränkung.