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Havers
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Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 02.06.2022
Das versunkene Dorf
Norek, Olivier

Das versunkene Dorf


ausgezeichnet

Dreißig Sekunden, eine Kugel…und plötzlich ist alles anders. Diese leidvolle Erfahrung muss Noémie Chastain machen, als ein Einsatz des Pariser Drogeneinsatzkommandos aus dem Ruder läuft. Der Verdächtige schießt um sich, eine Kugel trifft die Kommissarin mitten ins Gesicht. Sie kann gerettet werden, doch trotz Operation bleibt die linke Seite entstellt. Zwar kämpft sie sich mit Hilfe eines Therapeuten ins Berufsleben zurück, muss aber nach ihrer Rückkehr feststellen, dass sie vorerst den Platz in ihrem Team verloren hat. Übergangshalber soll sie für einen befristeten Zeitraum im okzitanischen Département Aveyron eine Dienststelle überprüfen, die vor der Schließung steht. Die dortige Verbrechensrate tendiert gegen Null, die Personalkosten stehen in keinem Verhältnis dazu. So weit, so gut.

Doch kurz bevor ihre Zeit dort abgelaufen ist und die Rückkehr nach Paris ansteht, treibt in dem nahegelegenen Stausee von Avalone ein Plastikfass an die Oberfläche, in dem die verweste Leiche eines Kindes liegt. Und schon ist Noémie Chastain mitten in einem Fall, der nie aufgeklärt wurde. Als vor fünfundzwanzig Jahren das alte Dorf geflutet wurde, verschwanden drei Kinder spurlos, ob tot oder entführt, konnte nicht geklärt werden. Es gab zwar einen verdächtigen Wanderarbeiter, aber keine Beweise für seine Beteiligung, und das Schicksal der Kinder konnte nicht geklärt werden. Bis jetzt, auch wenn die Kommissarin gegen den Widerstand der Dörfler ermitteln muss, die eine Mauer des Schweigens um die Vergangenheit errichtet haben. Aber noch weiß sie nicht, dass sie sich damit in große Gefahr begibt.

Das titelgebende „versunkene Dorf“ als Schauplatz für diesen gleichnamigen Kriminalroman zu wählen, bringt eine ganz besondere Atmosphäre mit sich. Packende Spannung, mit jeder Menge falscher Fährten. Geheimnisvoll und etwas gruselig, wenn man darüber nachdenkt, welche Geschichten, welche Schicksale mit den Wasserfluten untergegangen sein könnten. Norek fängt dies mit stimmungsvollen, aber nie banalen Beschreibungen ein, macht oft nur Andeutungen und überlässt es der Fantasie des Lesers, die Leerstellen zu füllen. Bei der Beschreibung der Polizeiarbeit hingegen ist er sehr präzise und realitätsnah, was nicht weiter verwundert, da er ausgebildeter Polizist ist und auch achtzehn Jahre in diesem Beruf gearbeitet hat.

„Surface“, so der Originaltitel dieses Kriminalromans, wurde verdientermaßen mit dem Prix Maison de la Presse, dem Prix Relay, dem Prix Babelio-Polar und dem Prix de l'Embouchure ausgezeichnet. Nachdrückliche Leseempfehlung!

Bewertung vom 02.06.2022
Der Dachs
Buder, Christian

Der Dachs


ausgezeichnet

Seit einiger Zeit haben Urlaubskrimis Hochkonjunktur. Schaut man sich die beschriebenen Handlungsorte genauer an, wird man feststellen, dass die meisten davon in Frankreich und dort im Süden, oft in der Provence zu finden sind. Aber dann gibt es ja noch die Bretagne im Nordwesten, die seit der Kommissar-Dupin-Reihe von Jean-Luc Bannalec aka Jörg Bong kontinuierlich steigende Beachtung erfahren hat.

Die Zutaten dieser regionalen Krimis gleichen sich: Sympathische Ermittler*innen aus der Großstadt, die freiwillig oder gezwungenermaßen neu starten, pittoreske Dörfer, hilfsbereite Bewohner, landestypische Kulinarik und relativ simpel gestrickte Fälle. Allerdings haben letztere durch die Ortskenntnis Bannalecs fast schon Reiseführerqualitäten. Es gibt zwar Tote, aber auf explizite Gewaltdarstellungen und die Einbindung politischer Themen wird weitgehend verzichtet. Immer schön cosy ist die Parole.

Aber es geht glücklicherweise auch anders, wie ein Autor beweist, den ich bisher noch nicht auf dem Schirm hatte. Christian Buder zeigt in „Der Dachs“ die dunkle Seite der Bretagne, die wir so bisher noch nicht präsentiert bekommen haben, und das beschreibt er sprachgewandt und ziemlich noir, clever, komplex und sehr spannend.

Handlungsort ist ein bretonisches Fischerdorf, Hauptfigur Ronan Prad von der Gendarmerie Maritime. Ein Bürgermeister, dessen Security aus Fremdenlegionären besteht. Ein Fischer, der samt Boot spurlos verschwunden ist, ein Schicksal, das er mit Prads Frau teilt. Zwei Tote, die am Strand angespült werden, ein Schiffswrack voller Leichen. Alle Toten haben in „La Jungle“, dem berüchtigten Flüchtlingslager in Calais auf eine Passage nach London gewartet, das Prad daraufhin genauer unter die Lupe nimmt. Aber einigen Menschen mit Macht und Einfluss passt das so gar nicht in den Kram.

Ein Protagonist mit Ecken und Kanten, faszinierende und bildgewaltige Beschreibungen dieses rauen Landstrichs, die die Kraft des Meeres ahnen lassen, mehrere miteinander verwobene Fälle, in die politische Entscheidungsträger verwickelt sind, ein furioses Finale. Lesen!

Bewertung vom 31.05.2022
RCE
Berg, Sibylle

RCE


ausgezeichnet

Sibylle Berg ist wütend. Und sie macht ihrem Ärger Luft. Das wissen alle, die #GRM Brainfuck gelesen haben oder ihre Kolumnen im Spiegel kennen. Ich schätze ihre Kolummnen, ihren entlarvenden Blick auf unsere gesellschaftliche Realität und den Zustand der Welt. Manchen mögen sie übertrieben vorkommen, zu pessimistisch sein, aber wenn man genau hinschaut, kann man ihnen weder den Wahrheitsgehalt noch die Relevanz absprechen.

Und auch ihr neuer Roman „RCE #RemoteCodeExecution“ ist, wie bereits der Vorgänger „GRM. Brainfuck“ eine weitergedachte Gegenwartsanalyse, ein realistisches Szenario, das aufrütteln soll, denn mittlerweile sind einige Jahre vergangen, und der Zustand der Welt hat sich weiter verschlechtert. Der Neo-Kapitalismus trägt deutlich feudalistische Züge. Mittelschicht? Verarmt. Privater Grundbesitz? Nicht für „normale“ Menschen. Der Alltag? Deprimierend. Klimawandel, verödete Städte, Digitalisierung, umfassende Überwachung, die Politik hat ihren Einfluss verloren. Geld regiert die Welt und mit ihnen die Banken, Tech-Riesen, Großkonzerne und Oligarchen.

Kurzer Einschub mit Blick auf unsere reale Gegenwart: 2020 zeigt die Auswirkungen der Pandemie und die Richtung, in die die Entwicklung geht. Es gibt eine Schätzung der Weltbank, nach der dadurch mehr als 100 Millionen Menschen zusätzlich durch den Einbruch der Wirtschaft, Arbeitslosigkeit etc. absolut verarmt sind, während die ca. 2.700 Milliardäre weltweit ihr Vermögen um 60 Prozent gesteigert haben. Und durch den aktuellen Krieg wird es mit Sicherheit noch einmal einen größeren Zuwachs erfahren.

Ist eine Kehrtwende noch möglich? Zumindest versuchen wollen sie es, eine Gruppe von vernetzten IT-Nerds, die die Digitalisierung für ihre Zwecke nutzen wollen und vom Tessin aus weltweit Brigaden rekrutieren. Mit ferngesteuerten Zugriffen wollen sie in die Systeme der Herrschenden eindringen, den Stecker ziehen und einen Neustart erzwingen. Möge es gelingen.

Ist das fiktional? Eine Dystopie? Könnte man annehmen, aber das greift viel zu kurz. Es ist weit mehr als das. Frau Berg hat umfassend recherchiert, erschlägt den Leser fast schon mit den Fakten, die sie zutage gefördert hat und hier verarbeitet. Aber wenn man über den eigenen Tellerrand schaut, genauer hinsieht, weiterdenkt, scheint das Szenario, das sie hier kreiert, absolut realistisch und glaubwürdig. Eine Brandrede, die aufrütteln soll. Eine klug analysierende Bestandsaufnahme. Und gleichzeitig ein deprimierender Ausblick auf Veränderungen, die es zu verhindern gilt. Lesen!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.05.2022
Stürmisches Lavandou / Leon Ritter Bd.8
Eyssen, Remy

Stürmisches Lavandou / Leon Ritter Bd.8


weniger gut

Zum ersten Mal trifft sich die Surfergemeinde im provenzalischen Le Lavandou, um dort ihre Wettkämpfe auszutragen. Der gesamte Ort ist auf den Beinen, um den Großevent vorzubereiten. Aber dann wird ein junges Paar am Strand tot aufgefunden. Brutal ermordet, wie der Rechtsmediziner Leon Ritter bei der Obduktion feststellen muss. Surfer, Touristen und Einheimische sind gleichermaßen verunsichert, und das Team um Capitaine Isabelle Morell, Ritters Lebensgefährtin, arbeitet mit Hochdruck, um den Mörder so schnell als möglich zu schnappen, zumal es weitere Opfer gibt. Die Ermittlungen führen allerdings zu einem überraschenden Ergebnis, mit dem weder Leon noch Isabell gerechnet hätten…

Bisher habe ich sämtliche Bücher der Reihe gerne gelesen, aber dieser achte Band „Stürmisches Lavandou“ war eine einzige Enttäuschung. Nichts Neues unter der provenzalischen Sonne, ein Déjà-vu reiht sich an das nächste. Unzählige Elemente, die man bereits aus den früheren Krimis kennt, mittlerweile abgenutzt: der psychopathische Mörder, die Garrigue, der Thymianduft in der Luft, das unvermeidliche Boule-Spiel, die Beschreibung der forensischen Arbeitsräume, der obligate FAZ-Kauf, Isabelles Tochter und das geplante Wochenende, das einen tragischen Verlauf nimmt. Nicht zu vergessen der Radiosender mit den klassischen Chansons, in dem natürlich genau in dem Moment, in dem Ritter ihn einschaltet, immer Trenets „La Mer“ gespielt wird. Alles wie gehabt.

Die alles lässt vermuten, dass die dichterische Fantasie Eyssens offenbar erschöpft ist, denn es sind noch nicht einmal Variationen, sondern immer wieder die gleichen Motive, die er aus seinem Baukasten holt und hier zu einer langatmigen und langweiligen Geschichte zusammensetzt. Spätestens dann, wenn mich ein Autor nicht mehr überraschen kann, wird es Zeit für mich, eine Reihe zu beenden. Und dieser Zeitpunkt scheint jetzt gekommen zu sein. C’est assez. Adieu, Le Lavandou.

Bewertung vom 28.05.2022
City on Fire Bd.1
Winslow, Don

City on Fire Bd.1


ausgezeichnet

Am 23.04.23 hat Don Winslow bekannt gegeben, dass er seine schriftstellerische Tätigkeit an den Nagel hängen wird. Zukünftig möchte er seine Zeit darauf verwenden, eigenfinanziert mit digitalen Kampagnen demokratische Anliegen zu unterstützen und damit Donald Trump und den "Trumpismus" in den Vereinigten Staaten bekämpfen. Zum Abschluss gibt es aber noch, wie schon bei seiner herausragenden Kartell-Trilogie, ein Epos in drei Bänden, dessen erster Teil „City on Fire“ gerade erschienen ist. Band 2 und 3 sind seiner Aussage nach bereits geschrieben und werden 2023 und 2024 veröffentlicht.

Dogtown im Süden von Providence, Rhode Island, Mitte der achtziger Jahre. Ein Einwandererviertel. Zuerst kamen die Iren, danach die Italiener. Zwei Familienclans, die Murphys und die Morettis, leben dort in friedlicher Eintracht, haben ihre Geschäfte untereinander aufgeteilt. Gewerkschaften, Bestechung, Diebstahl, Kredite, Schutzgelderpressung und seit neuestem auch Drogenhandel werfen genug Profit für beide Seiten ab. Noch begegnet man sich mit Respekt, aber die Zeit der Familienoberhäupter neigt sich dem Ende zu, und der Generationenwechsel lässt nichts Gutes erahnen. Und schneller als man denkt, setzt ein nichtiger Anlass eine Gewaltspirale in Gang, einen blutigen Kampf bis aufs Messer, der sich zu einem Krieg entwickelt, in dem es schlußendlich um die Kontrolle des organisierten Verbrechens zwischen New York und Boston geht. Mittendrin Danny Ryan, derjenige mit dem moralischen Gewissen, dessen Vater früher einmal Oberhaupt der irischen Mobster war, mittlerweile mit Terri Murphy verheiratet. Ob er will oder nicht, die unzähligen Toten auf beiden Seiten drängen den bisherigen Befehlsempfänger in die Rolle des Strategen, des Anführers. Eine große Verantwortung, könnte doch eine einzige Fehlentscheidung die endgültige Auslöschung des irischen Clans zur Folge haben.

Und wieder einmal spielt Don Winslow sein ganzes Können aus. Ein extrem spannende Story, die einzelnen Szenen haben eine stark visuelle Kraft und können es durchaus gleichberechtigt mit den Klassikern des Genres aufnehmen. Für Sentimentalitäten bleibt kaum Platz, es geht sehr brutal und blutig zur Sache. Die Sprache ist der Handlung angepasst (wie immer in einer exzellenten Übersetzung von Conny Lösch). Hart, klar und präzise, reduziert auf das Wesentliche. Ohne Drumherumgerede.

Sämtliche Charaktere sind komplex, bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, auch eine Stärke des Autors, was auch eine Erklärung für den eher verhaltenen Einstieg in die Story sein könnte. Bei einem Dreiteiler müssen die Personen Fleisch auf den Knochen haben, brauchen einen Background, denn sonst können sie das Interesse des Lesers nicht bis zum Ende binden. Alles richtig gemacht, Mr Winslow.

Bewertung vom 26.05.2022
Einfach griechisch kochen
Dimitriadis, Katerina

Einfach griechisch kochen


sehr gut

Falls es mit der geplanten Auszeit einmal nicht klappen sollte, kann man sich auch in der heimischen Küche Urlaubsgefühle auf den Teller holen. Das neue Kochbuch von Katerina Dimitriadis „Einfach griechisch kochen“ eignet sich dafür bestens und versorgt uns mit authentischen, bodenständigen Rezepten aus der „Zu-Hause-Küche“ der Autorin, die zeigen, dass es neben den bei unseren griechischen Wirten üblichen Gyros, den Poseidon- und Dionysos-Platten noch viele Spezialitäten zu entdecken gibt.

Was macht nun aber die griechische Küche aus? Diese Fragen beantwortet die Autorin in den einleitenden Kapiteln. Zum einen wären da die zahlreichen Hauptmahlzeiten aus Gemüse und Hülsenfrüchten und die zahlreichen Backofen-Gerichte, zum anderen aber auch die Zutaten, die für den typischen Geschmack verantwortlich sind. Olivenöl, am besten von einem lokalen Erzeuger, Kräuter (z. B. Oregano, Thymian, Rosmarin, Minze), Gewürze wie Zimt, Piment und Nelken, und nicht zu vergessen Zitronen, die nicht nur gebratenen Kartoffeln den besonderen Twist verleihen.

Der Rezeptteil startet mit Salaten. Viele kennt man, aber auch Neues wie Koliva mit Granatapfel ist zu finden. Und natürlich darf auch der allgegenwärtige Bauernsalat nicht fehlen.

Mit Abstand das größte Kapitel ist den verschiedenen Mezedes plus Dips, den kleinen Leckereien vorweg, gewidmet, die man aber jederzeit auch als Hauptmahlzeit zu sich nehmen kann. Keftedakia (Fleischbällchen) mit Dill und Minze gewürzt, Zucchini in Variationen oder Gigantes mit Feta, da ist für alle Esser etwas dabei.

Die Fleischrezepte fand ich etwas enttäuschend, da sie sich ausnahmslos auf Rind und Hähnchen konzentrieren. Hier hätte ich mir gewünscht, dass auch Lamm berücksichtigt wird, denn das ist es, was ich aus den Tavernen der griechischen Dörfer kenne.

Leider orientiert sich auch der Abschnitt mit den Fischrezepten meiner Meinung nach etwas zu sehr am deutschen Geschmack. Kabeljau? Wäre mir jetzt nicht bekannt, dass dessen Fanggebiete im Ägäischen, Ionischen oder im Libyschen zu finden sind. Dennoch, lecker sind auch diese Gerichte allemal.

Das Kapitel mit Gemüserezepten wird dominiert von Eintopfzubereitungen mit Hülsenfrüchten und hätte durchaus auch etwas umfangreicher sein können.

Bei den abschließenden Desserts hingegen befinden wir uns wieder auf bekanntem Terrain: Loukoumades, Halva oder Portokalopita, genossen mit einem Frappé, runden ein leckeres Essen ab, bei dem man in Erinnerungen an vergangene Urlaube schwelgen kann.

Alle Rezepte sind präzise beschrieben und werden mit ansprechenden Fotos vorgestellt. Die Zutaten überall erhältlich, die Zubereitungszeit überschaubar. Alles in allem ein ansprechendes Kochbuch, dessen Gerichte Urlaubsflair auf den Teller bringen.

Bewertung vom 22.05.2022
Der Mord in der Rose Street / Leo Stanhope Bd.2 (eBook, ePUB)
Reeve, Alex

Der Mord in der Rose Street / Leo Stanhope Bd.2 (eBook, ePUB)


gut

Mit Leo Stanhope hat der Autor Alex Reeve einen ungewöhnlichen Protagonisten erschaffen. Ursprünglich als Lottie Pritchard, Tochter eines Landpfarrers geboren, nun als Transgender-Mann im viktorianischen London lebend, als es das Wort noch nicht einmal gab. Und es ist dieses biografische Detail, das in „Der Mord in der Rose Street“ verstärkt in den Fokus rückt, als Leo wider Willen in einen düsteren Mordfall hineingezogen wird.

Es hat sich nicht viel in Leos Leben verändert. Noch immer arbeitet er als Pedell am St Thomas’s Hospital, noch immer bewohnt er das Zimmer über der Apotheke, noch immer bemüht er sich nicht aufzufallen, um seine Identität zu schützen. Aber dann wird in einem Hinterhof-Club, in dem sich Umstürzler, Sozialisten und Anarchisten treffen, eine Kundin der Apotheke ermordet aufgefunden, die einen Zettel bei sich hat, auf dem Leos Name und Adresse steht. Kein Wunder, dass kurz darauf die Polizei vor seiner Tür steht.

Er wird zu dem Tatort gebracht, wo er auf den Hauptverdächtigen John Thackery, Sohn eines vermögenden Fabrikbesitzers trifft, den Leo aus seinem früheren Leben kennt und der ihn in große Schwierigkeiten bringen könnte, Droht er doch, sein Wissen über Leo preiszugeben, wenn er ihn nicht mit einem Alibi versorgt. Zähneknirschend willigt Leo ein, denn es steht nichts weniger als sein neues Leben auf dem Spiel. Aber die Frage nach Thackerys Unschuld oder Schuld treibt Leo um, er muss dringend herausfinden, was hier gespielt wird, zumal die Kinder des Opfers seinen Beschützerinstinkt wecken. Unterstützung erfährt er von Rosie, der Kuchenbäckerin, die ihm, wie schon im letzten Band, eine große Hilfe ist.

Es ist eine spannende Epoche, in der dieser Kriminalroman angesiedelt ist. Durch die Industrialisierung haben sich die gesellschaftlichen Probleme Englands immens verstärkt. Die Fabrikbesitzer sind zu Ansehen und Reichtum durch die Ausbeutung ihrer Arbeiter gelangt, die Kluft zwischen Arm und Reich gewachsen, das Wahlrecht bedarf dringend einer Reform. Viele Brandherde, aber leider bleiben diese Aspekte der sozialen Spannungen in der Handlung weitestgehend unberücksichtigt und werden nur angedeutet.

Ein weiteres Manko ist das Setting. Es fehlen die Beschreibungen der Schauplätze, der besonderen Atmosphäre, die man bei viktorianischen Krimis zwangsläufig erwartet. Alles wird überlagert von den persönlichen Problemen, mit denen sich der Protagonist aufgrund seiner persönlichen Situation herumschlagen muss. Hier wäre etwas mehr Realismus und gleichberechtigtes Nebeneinander dieser verschiedenen Faktoren wünschenswert gewesen und hätte der Story mit Sicherheit gut getan. Es bleibt also Luft nach oben.

Bewertung vom 18.05.2022
Alles muss raus
Mischke, Thilo

Alles muss raus


gut

Mischke ist ein renommierter, mehrfach ausgezeichneter Journalist, u.a. 2020 mit dem Bayerischen Fernsehpreis für seinen Bericht über deutsche Kämpfer auf Seiten des IS. Nun hat er „Alles muss raus. Notizen vom Rand der Welt“ veröffentlicht, ein Konglomerat aus Reiseeindrücke und besonderen Begegnungen, vor allem aber ein Blick in sein Inneres. Über allem steht die Frage danach, was diese zurückliegenden Jahre in ihm bewirkt haben, inwieweit sie seine Sicht auf sich als Person und auf die Welt, auf Leben und Tod, verändert haben.

Weder kenne ich seine TV-Sendung noch seinen Podcast und bin deshalb relativ unvorbelastet an die Lektüre herangegangen. Was habe ich von diesem Buch erwartet? Nun, in erster Linie den geschärften Blick eines Journalisten im Ausland, auf Menschen, auf Situationen, die ich nicht aus eigenem Erleben kenne und die ich wohl auch zukünftig erleben werde.

Wurden meine Erwartungen erfüllt? Ja, teilweise, denn vor allem hätte mir mehr Hintergrundinformationen zu den besuchten Ländern gewünscht, warum Mischke genau dorthin gereist ist. Leider waren die Reportagen stellenweise doch zu sehr von seinem jeweiligen Gemütszustand überlagert, hier erwarte ich von einem Journalisten etwas mehr professionelle Distanz und nicht das Baden in den eigenen Befindlichkeiten. So gleiten die einzelnen Berichte dann doch sehr in persönliche Nabelschauen ab, in denen das Äußere lediglich als Katalysator für die Frage nach dem Wer-bin-ich fungiert und die Neugier seiner Anhängerschaft und des Boulevard nach der Person Thilo Mischke zufriedenstellt. Bleibt zu hoffen, dass er durch seine vergangenen und zukünftigen Reisen zumindest ein Stück weit zu eigener Nähe findet.

Bewertung vom 17.05.2022
Terra di Sicilia. Die Rückkehr des Patriarchen / Die Carbonaro-Saga Bd.1
Giordano, Mario

Terra di Sicilia. Die Rückkehr des Patriarchen / Die Carbonaro-Saga Bd.1


ausgezeichnet

Für „Terra di Sicilia“ hat der deutsch-italienische Autor Mario Giordano die Geschichte seiner sizilianischen Vorfahren genommen, sich von ihr inspirieren lassen, bestimmte Ereignisse herausgegriffen, diese weitergesponnen und mit der ihm eigenen Lust und Fähigkeit am Fabulieren zu einem großen Familienepos zusammengefügt. Herausgekommen ist dabei ein höchst unterhaltsamer Schmöker, der in allen Bereichen überzeugen kann.

Wer nun aber glaubt, dass wir es hier einer typischen Migrantengeschichte der fünfziger Jahre zu tun haben, in der die Männer aus dem italienischen Süden um der Arbeit willen nach Deutschland gekommen sind, wird enttäuscht sein, denn Barnaba Carbonaro, die zentrale Person dieses Romans, derjenige um den sich alles dreht, ist zu dieser Zeit längst schon wieder zurück in die Heimat gereist und wird erst in den sechziger Jahren zurück nach Deutschland kommen.

Von Sizilien nach Deutschland und zurück, von der Orangenplantage in Taormina bis zum Münchner Großmarkt, vom kleinen Buben ohne Schuhe bis zum geachteten Geschäftsmann. Wir begleiten Barnaba durch die Jahrzehnte. Von 1880 bis 1960. Den Tausendsassa mit den vielen Talenten und dem unbändigen Willen nach Reichtum und dem Wunsch, ein Imperium zu schaffen. Den Analphabeten mit der herausragenden Begabung für Zahlen. Den Netzwerker vor dem Herrn, der die Gesellschaft der Einflussreichen sucht, um im Fall des Falles selbst daraus einen Vorteil ziehen zu können. Mutig, leidenschaftlich und geschäftstüchtig, aber manchmal auch zu gutgläubig und risikobereit. Den, der alles auf eine Karte setzt, und wieder von vorne beginnt, wenn er verliert.

Atmosphärisch, mit genauem Blick auf die archaische Gesellschaft Siziliens und die italienische Geschichte, eine wendungsreiche Story samt liebevoll und detailliert ausgearbeitetem Personentableau. Mitreißend und empathisch erzählt. Absolut empfehlenswert!

Mario Giordano hat bereits angekündigt, dass es eine Fortsetzung geben wird, in der dann die in diesem Band eher zu kurz gekommenen Frauen der Familie Carbonaro die Hauptrolle spielen werden. Ich freue mich darauf!

Bewertung vom 16.05.2022
Amelia
Burns, Anna

Amelia


ausgezeichnet

„Amelia“ ist das wiederaufgelegte Debüt der in Belfast geborenen Anna Burns, die 2018 mit „Milchmann“ sowohl den Man Booker Prize Fiction als auch den National Books Critics Circle Award gewann. Und tatsächlich kann man diese beiden Romane als Einheit sehen. Wo „Milchmann“ eher vage in den Beschreibungen der täglichen Gewalt während der nordirischen „Troubles“ bleibt, wird diese in „Amelia“ schonungslos präsentiert. Und wenn manche Leser*innen monieren, dass die Autorin in diesem Buch kaum Informationen zu den Ursachen des Nordirlandkonflikts anbietet, kann man ihnen grundsätzlich zwar zustimmen, aber bei Interesse kann man sich diese Informationen problemlos selbst beschaffen.

Allerdings geht es in diesem Roman nicht um die gewaltsame Besetzung der Insel durch die Engländer im 12. Jahrhundert, die Aufteilung Irlands in die Republik und Nordirland im Jahr 1921, noch um die politische und wirtschaftliche Diskriminierung der katholischen Minderheit durch die Protestanten, die in dem Nordirland-Konflikt zwischen 1968 und 1998 ihren blutigen Höhepunkt findet. Es geht um die Auswirkungen, die dieser Bürgerkrieg nicht nur auf Familien, sondern auf eine ganze Generation hat.

Burns (1962 geboren) nimmt uns in „Amelia“ in den nordirischen Alltag dieser Jahre mit, die sie selbst erlebt hat, und zeigt schonungslos und unsentimental die Gewalt, die das Aufwachsen der Kinder prägt. Bombenanschläge, Schießereien, zwielichtige Gruppierungen, tote Familienangehörige, die nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren, häusliche Gewalt. Eine Spirale, aus der es kein Entkommen gibt. Die Flucht in Drogen und Alkohol schafft kurzzeitiges Vergessen des trostlosen Alltags. Die Hoffnung auf Normalität bleibt ein unerfüllter Wunschtraum.

Ein schwer verdaulicher Coming-of-Age Roman, in dem die kindliche Unschuld Stück für Stück auf der Strecke bleibt, und die Verletzungen an Geist und Seele keine Heilung erfahren. Harte Kost.