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Buchbesprechung
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

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Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 28.09.2020
Es war einmal ein blauer Planet
Lelord, François

Es war einmal ein blauer Planet


sehr gut

REZENSION – Märchenhaft wirken nicht nur Titel und Titelbild des im August erschienenen Romans „Es war einmal ein blauer Planet“. Tatsächlich liest sich die ganze Geschichte des französischen Schriftstellers François Lelord (67), in Deutschland seit 2004 bekannt durch seine Romanreihe um den jungen Psychiater Hector, wie ein futuristisches Märchen, das einer modernen Version des „kleinen Prinzen“ seines Landsmanns Antoine de Saint-Exupéry gleicht. Auch bei Lelord geht es um Freundschaft und Menschlichkeit und die Sehnsucht nach Glück.
Doch Lelords Protagonist ist kein kleiner Prinz, sondern ein „Neutrum“ in einer Mars-Kolonie, deren Besiedlung vor Generationen nach einer atomaren Apokalypse auf der Erde die letzte Rettung war. „Neutrum ist ein besseres Wort für Nichtsnutz, aber jeder hier weiß, was es bedeutet.“ Robin nimmt dies hin, hat doch Athena ihn dieser Gesellschaftsklasse zugeteilt - jene Künstliche Intelligenz mit dem Namen der griechischen Göttin der Weisheit und Strategie, aber auch des Kampfes, der sogar die Präsidentin hörig ist.
Doch ausgerechnet dieser Nichtsnutz Robin wird von Athena auserwählt, zum blauen Planeten zu fliegen, um die Möglichkeit einer Rückkehr zu prüfen. Zuvor wird er gewarnt, mögliche Überlebende der Erdbewohner könnten „nicht unbedingt sanftmütig sein und zu allem Überfluss wahrscheinlich noch von Männern angeführt“ werden. Selbstverständlich sind in der Mars-Kolonie alle wichtigen Positionen längst von Frauen besetzt, hatten sich doch die Männer auf der Erde als Kriegstreiber und Zerstörer erwiesen.
Auf der Erde spürt Robin erstmals den warmen Sand, den sanften Wind und das Farbenspiel des Meeres – echte Natur, so viel schöner als in ihrer virtuellen Nachbildung auf dem Mars. Er ist auf einer polynesischen Insel gestrandet, wo er auf junge, hübsche, glückliche und zufriedene Menschen trifft, die keiner Arbeit nachgehen. Sie streben nicht nach Wohlstand. Ihnen reicht, was die Natur bietet. Sie leben in freier Liebe, ohne feste Partnerschaften. Robin gibt dieser Insel den Namen Eros. Doch bald trifft er dort auf Ausgestoßene, die „Anderen“ - auf Alte, Kranke und Paare.
Wochen später setzt Robin auf eine entfernte zweite Insel über, wo er ein starres patriarchalisch geführtes Klassensystem vorfindet. Hier arbeitet man für Anerkennung und gesellschaftlichen Aufstieg, man strebt nach Macht und Wohlstand. Wer nicht arbeitet oder nicht arbeiten kann, ist ein „Überflüssiger“. Letztlich läuft hier alles auf Krieg und Eroberungen hinaus. „Hier regiert nicht Eros, sondern Ares“ - der griechische Gott des Krieges und der Zerstörung, stellt Robin fest, notiert aber: „Glück ist, ein frei gewähltes Ziel zu erreichen“. Menschen arbeiten besser, wenn sie ihre Aufgabe frei gewählt zu haben glauben. Doch Athena hält Freiheit für eine Illusion: „Am Ende stand die Apokalypse.“
Im Roman bilden der sanfte, märchenhafte Erzählstil und die ernste Thematik einen dramaturgisch interessanten und spannenden Gegensatz. „Es war einmal ein blauer Planet“ ist wahrlich kein Märchen. Angesichts des globalen Klimawandels und Raubbaues irdischer Ressourcen sowie terroristischer und kriegerischer Konflikte auf der Erde sorgt sich der Autor in seinem Buch um nichts Geringeres als den Fortbestand der Menschheit und deren Suche nach Glück. Wie wollen oder sollten wir in Zukunft auf dem blauen Planeten leben? Eines weiß sein junger Held genau: „Ich möchte eine Welt ohne Ausgeschlossene, Neutren oder Überflüssige.“ Aber kann es eine von Menschen bewohnte Welt voller Liebe und Solidarität geben? Eine Welt, in der Glück auch Verzicht bedeutet? „Es war einmal ein blauer Planet“ ist ein Roman, der seine Leser nachdenklich zurücklässt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.09.2020
Meine lieben jungen Freunde
Fallada, Hans

Meine lieben jungen Freunde


sehr gut

REZENSION – Auch wer einige Romane Hans Falladas (eigentlich Rudolf Ditzen,1893-1947) gelesen und deren Klappentexte aufmerksam studiert hat, weiß längst nicht alles über den Schriftsteller, Ehemann und Vater. Es ist dem Aufbau-Verlag zu verdanken, der seit einigen Jahren neben der Neuausgabe von Falladas Werken – man denke nur an die 2019 veröffentlichte Urfassung des Romans „Der eiserne Gustav“ – ergänzend auch Autobiographisches erstmals veröffentlicht. Nach „Mein Vater und sein Sohn“ (2004), Falladas Briefwechsel mit seinem seit 1940 in Templin im Internat lebenden Sohn Ulrich, und „Ohne Euch wäre ich aufgesessen“ (2018), dem Schriftwechsel mit seinen beiden Schwestern aus den Jahren 1928 bis 1946, folgte jetzt der Band „Meine lieben jungen Freunde. Briefe an die Kinder“.
Der Buchtitel ist allerdings doppelt irreführend. Der Band enthält nicht, wie der Untertitel verspricht, „Briefe an die Kinder“, sondern Falladas Briefwechsel der Jahre 1942/1943 mit nur einem Kind, seiner neunjährigen Tochter Lore, genannt Mücke, die damals – aus gleichem Grund wie ihr Bruder Ulrich seit 1940 im Templin – zwecks besserer Schulausbildung im fernen Hermannswerder bei Potsdam im Internat lebte, während Fallada mit Ehefrau Anna seit 1933 auf seinem kleinen Hof in Carwitz (Feldberger Seenplatte, Mecklenburg) wohnte. Auch der Titel des Buches „Meine lieben jungen Freunde“ bezieht sich nicht auf Falladas drei Kinder, sondern ist die Überschrift eines Vortrags vor Schulkameraden seines Sohnes Ulrichs, die sich 1946 in einem literarischen Zirkel verbunden hatten. Trotz dieser Irreführung im Titel ist dieser neue Band eine willkommene Ergänzung, um Fallada/Ditzen besser kennenzulernen.
Im Schriftwechsel mit seiner „Mücke“ erkennen wir die uns weniger bekannte Seite Falladas als liebenden, sich um das Glück seiner kleinen Tochter sorgenden Vater. In allen Einzelheiten schildert er das um Hausangestellte, Hofarbeiter und ausgebombte Städter bereicherte Familienleben im Dörfchen Carwitz, beschreibt die immer beschwerlichere Wohnsituation im kleinen Haus ebenso wie die mühevolle Arbeit auf dem Hof. Kaum ist von seiner Arbeit als Schriftsteller die Rede. Vielmehr ermahnt der Vater seine Tochter immer wieder zu besserer Rechtschreibung und häufigerem Schreiben. Durch diese Briefe wird uns der gelernte Landwirt Rudolf Ditzen vertrauter, der in Carwitz bis zu seiner Scheidung (1944) seinen kleinen Hof bestellte.
Der Schriftsteller Hans Fallada begegnet uns erst im zweiten Teil dieses Bandes. In seinem Vortrag berichtet er Ulrichs Schulkameraden über seine Arbeit als Autor. Er mahnt die Jugendlichen, sich bei der Berufswahl nichts vorschreiben zu lassen, sondern sich eigener Talente zu besinnen, die sich auch erst sehr spät zeigen können. So habe er selbst erst mit 37 Jahren als Schriftsteller zu arbeiten begonnen. „Ich glaube nicht daran, dass man ein Schriftsteller wird, sondern dass man einer ist.“ Zwang habe er bei der Auswahl seiner Themen nie geduldet – bis auf eine Ausnahme: Zum Roman „Jeder stirbt für sich allein“ (1947) sei er von einer Filmgesellschaft gedrängt worden. Doch nach anfänglichem Zögern habe er diesen Stoff auch wieder zu seinem eigenen gemacht, so dass er auch diesen Roman zügig schreiben konnte. Es wurde Falladas letzter Roman.
„Meine lieben jungen Freunde“ ist ein lesenswertes Buch – nicht nur für Liebhaber der Romane Falladas. Es vermittelt allen Lesern einen interessanten Einblick in das private Alltagsleben des Landwirts Rudolf Ditzen und ergibt ein kleines Psychogramm seines Alter Ego, des international erfolgreichen Schriftstellers Hans Fallada, der am 5. Februar 1947 im Alter von nur 53 Jahren an den Folgen seines Morphiumkonsums starb.

Bewertung vom 20.09.2020
Kein Ort ist fern genug
Amigorena, Santiago

Kein Ort ist fern genug


ausgezeichnet

REZENSION – Das Schweigen der am Holocaust direkt beteiligten oder nur indirekt davon betroffenen Generation ist den Älteren in Deutschland noch aus persönlicher Erfahrung, den Jüngeren vielleicht aus der Literatur vertraut. Das Schweigen über das Unfassbare und Unvorstellbare als Thema des im Juli in deutscher Übersetzung erschienenen und für den Prix Goncourt nominierten französischen Romans „Kein Ort ist fern genug“ des argentinischen Schriftstellers Santiago Amigorena (58) wäre insofern nichts Neues. Doch bemerkenswert und deshalb lesenswert macht diesen internationalen Bestseller, dass es sich eben nicht um eine der üblichen Erinnerungen eines Holocaust-Opfers oder um eine Täter-Biografie handelt, sondern – eine völlig neue Sichtweise dieses Themas – um die Frage einer persönlichen Mitschuld des während des Nazi-Regimes längst in der fernen argentinischen Hauptstadt Buenos Aires lebenden Vicente Rosenberg, Großvater des seit Jahren in Paris lebenden Autors.
Vicente hatte bereits 1928 seine Heimatstadt Warschau verlassen und war als junger Mann nach Argentinien ausgewandert, um dort ein freies Lebens zu führen – frei von der Mutter, frei vom erstarkenden Antisemitismus in Polen. Bis 1940 führte er ein glückliches Familienleben, verheiratet mit Rosita, Vater kleiner Kinder, Inhaber eines vom Schwiegervater finanzierten Möbelgeschäfts. An seine in Warschau verbliebene Mutter Gustawa, seinen Bruder Berl und die in Russland verheiratete Schwester dachte und schrieb er kaum.
Mit jedem weiteren Brief der Mutter aus dem Warschauer Ghetto verdüstert sich auch Vicentes bisher so sorgloses Leben im fernen Buenos Aires von Mal zu Mal, wachsen Schuld und das Gefühl der Ohnmacht. Denn „kein Ort ist fern genug“, um nicht vom Geschehen in Europa und persönlicher Verantwortung unbehelligt bleiben zu können. Welches Grauen das Leben der Juden im Warschauer Ghetto bestimmt, ließ sich aus den Briefen der Mutter erahnen: „Wie die übrige Menschheit konnte Vicente wissen und gleichzeitig nicht wissen wollen“, beschreibt der Autor diese uns vertraute Haltung. Vicente verweigert sich anfangs diesem Wissen – aus Egoismus, aus Angst. Doch letztlich „wusste er genug, um zu beschließen, nicht mehr nur mit halbem Auge, sondern gar nicht mehr hinzuschauen“. Das Wissen, er hätte seine Mutter rechtzeitig nach Argentinien holen müssen und das Bewusstsein der tiefen Schuld, als Sohn versagt zu haben, lässt ihn bald verstummen und seiner Familie fremd werden. „Jetzt war er ein Flüchtiger, ein Feigling, der nicht da war, wo er hätte sein sollen, der geflohen war und noch lebte, während die Seinen umkamen.“ Vicente flieht in die innere Emigration, wird ein „Gefangener im Ghetto seines Schweigens“. Wann Großvater Vicente nach dem Krieg erfahren hat, dass Mutter Gustawa ins Vernichtungslager Treblinka II deportiert wurde und Bruder Berl schon beim Ghetto-Aufstand umgekommen waren, weiß der Enkel nicht. Denn auch in seiner Familie waren diese Jahre später kein Gesprächsthema.
Doch aus dem Wenigen, dass er und sein Bruder recherchieren konnten, schrieb Santiago Amigorena eine ergreifende Romanbiografie, die jeden Leser wohl tief beeindruckt und nachdenklich zurücklässt. Der Autor schafft es auf unvergleichliche Weise, uns an den quälenden Gedanken und der schmerzenden Verzweiflung seines schweigenden Großvaters, den er selbst kaum noch gekannt hat, lebensnah teilhaben zu lassen.

Bewertung vom 11.09.2020
Kalmann
Schmidt, Joachim B.

Kalmann


ausgezeichnet

REZENSION – Man muss ihn einfach mögen, diesen „Kalmann“, Hauptperson und Ich-Erzähler des kürzlich erschienenen, gleichnamigen Romans von Joachim B. Schmidt, dem seit 2007 in Island lebenden Schweizer Schriftsteller. Kalmann, der selbsternannte „Sheriff von Raufarhöfn“, dem einstigen Fischerdorf und letzte Siedlung vor dem Nordpol, ist fast 34 Jahre alt und lebt als letzter Haifischfänger allein im alten Häuschen seines Großvaters.
Er jagt gelegentlich Polarfüchse und fängt Grönlandhaie, die er nach Großvaters Rezept zu Gammelhai verarbeitet, einer isländischen Spezialität. So weit scheint die Welt in Ordnung und es besteht also „kein Grund zur Sorge“, wie sich Kalmann immer wieder selbst beruhigt. Überhaupt ist dieser Sonderling, der kaum die Grundschule, aber bei seinem Großvater die Schule des Lebens genossen hat, mit sich und der Welt zufrieden. „Ich war einfach anders. Aber Großvater hatte mir mal gesagt, dass jeder in gewisser Weise anders sei.“
Obwohl der Wandel der Zeit auch die Nordspitze Islands erreicht hat, die Quotenregelung den Fischern von Raufarhöfn die Arbeit nahm, die meisten Einwohner abgewandert sind, Fischhallen und Wohnhäuser leer stehen, hat Kalmann, ausstaffiert mit Cowboyhut, Sheriff-Stern und einer alten, vom Vater geerbten Mauser-Pistole im Gürtel, alles im Griff und sieht sich als Beschützer des Dorfes. Dumm nur, dass die meisten Dorfbewohner ihn herablassend, andere eher mitleidig behandeln. Denn Kalmann ist, wenn man ihm böse will, der unter der Vormundschaft seiner Mutter stehende Dorftrottel. Doch die lebt in der weit entfernten Stadt, so dass er auf sich allein gestellt ist. Auch dies wäre „kein Grund zur Sorge“, wenn Kalmann nicht eine Schwäche hätte: Wird er gereizt oder gar geärgert, dann laufen bei ihm die Räder rückwärts, dann reagiert er aggressiv, wird handgreiflich, verletzt sich dabei gelegentlich sogar selbst, verdrängt das Geschehen aber schnell wieder. Der „Sheriff“ hat eben alles im Griff, also wirklich „kein Grund zur Sorge“. Doch eines Tages gerät diese scheinbare dörfliche Ordnung ins Wanken: Kalmann entdeckt auf der Jagd nach einem Polarfuchs im Schnee eine riesige Blutlache. Gleichzeitig geht die Meldung um, der reichste und wohl auch meistgehasste Mann des Dorfes, der Hotelier Robert McKenzie, werde vermisst.
Damit beginnt ein in mehrfacher Weise ungewöhnlicher und nicht nur durch die Auflösung des Falles überraschender Island-Krimi. Denn nicht so sehr der Kriminalfall, sondern die liebevolle Charakterisierung der wichtigsten Einwohner von Raufarhöfn, jede und jeder für sich ein interessanter Typ, sowie die Schilderung des wirtschaftlichen Niedergangs und gesellschaftlichen Umbruchs auf Island machen den eigentlichen Reiz dieser wunderbaren und lesenswerten Geschichte aus. Vor allem Kalmann, „Sheriff von Raufarhöfn“, wird in seiner naiven Natürlichkeit einerseits sachlich nüchtern und doch so mitfühlend beschrieben, dass man diesen Sonderling einfach ins Herz schließen muss. „Manchmal beneide ich Kalmann um seine Bodenständigkeit“, wird Autor Schmidt im angefügten Interview zitiert. „Kalmann ist einfach Kalmann, Behinderung hin oder her.“ So muss man sich am Ende dieser 360 Seiten unweigerlich fragen, wer eigentlich die Dummen im Leben sind.

Bewertung vom 30.08.2020
Die Reise nach Ordesa
Vilas, Manuel

Die Reise nach Ordesa


ausgezeichnet

REZENSION – Mit seiner ungewöhnlichen und faszinierenden Autobiographie „Die Reise nach Ordesa“, erst kürzlich in deutscher Übersetzung von Astrid Roth im Piper-Verlag erschienen, wurde der Spanier Manuel Vilas (58) in seiner Heimat zum Bestseller-Autor. Obwohl schon seit 2002 für seine lyrischen Arbeiten in Spanien vielfach ausgezeichnet und von der Fachwelt als einer der großen Lyriker seiner Generation gefeiert, war es ausgerechnet sein Romandebüt, das ihm erst 2018 die Anerkennung der breiten Öffentlichkeit, Lobeshymnen in den wichtigsten Zeitungen seines Landes und 2019 in Frankreich den Prix Femina für den besten ausländischen Roman einbrachte.
Doch ein Roman ist „Die Reise nach Ordesa“ eigentlich nicht, auch keine typische Autobiographie einer namhaften Persönlichkeit. Denn Manuel Vilas, der vor seiner Wandlung zum Lyriker zwei Jahrzehnte lang das aus seiner Sicht eintönige Leben eines Lehrers geführt hatte, hatte sich in der Öffentlichkeit noch keinen „Namen“ gemacht. Auch ist es kein chronologischer Bericht seines persönlichen und beruflichen Werdegangs, sondern eine scheinbar ungeordnete Ansammlung vieler Erinnerungsfetzen an Eltern, Großeltern und andere Verstorbene, die sich erst allmählich von Kapitel zu Kapitel zu einem Bild mit vielen interessanten Facetten voller Lebenserfahrung zusammenfügen.
Der Einstieg ins Buch mag manchen Lesern deshalb vielleicht schwerfallen. Doch es lohnt sich dranzubleiben. Denn gerade die von ihm selbst behauptete Bedeutungslosigkeit des Autors, der 1962 während der Franco-Diktatur in eine ärmliche, unterprivilegierte Familie eines provinziellen Handelsvertreters hineingeboren wurde, und seine Erinnerungen an die Kindheit sind es, die ihn und seine Lebensgeschichte so „menschlich“ und allgemeingültig werden lässt. Vieles scheint uns vertraut.
Man hat während der Lektüre den Autor förmlich vor Augen, wie er als „armer Poet“, der als trockener Alkoholiker auch die Tiefen des Lebens erfahren musste, in seinem nur spärlich möblierten Hochhaus-Appartement sitzt – mit sich selbst und seinen Gedanken allein, verlassen von den verstorbenen Eltern, geschieden von der Ehefrau und kaum noch Kontakt zu seinen zwei erwachsenen Söhnen – und sich seinen Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten hingibt. In kurzen Kapiteln, von einer Einzelheit, einem Gedanken oder Kindheitserlebnis ausgehend, entwickelt Vilas eine oft überraschende Gedankenkette über den Sinn des Lebens und den Tod, über seine ihm unbekannten Vorfahren („Mein Großvater war eine aufgegebene Grabnische.“), über sich selbst und seine Söhne, über das damals diktatorische und das heute monarchistische Spanien und immer wieder über seine geliebten Eltern. In der Rückbesinnung kommen Fragen auf, die Vilas früher hätte stellen sollen. „Ich fragte nicht, als es noch ging, weil ich dachte, dass ich sie irgendwann einmal fragen würde, als würden sie immer da sein.“ Seine Vorfahren sind vergessen, die Erinnerung an die Eltern schwindet. Der einsame Autor fürchtet, auch selbst in absehbarer Zeit von den eigenen Söhnen vergessen zu werden. Deshalb seine Erkenntnis: „Wir sollten über unsere Familien schreiben, ohne jede Beschönigung, ohne dabei zu erfinden. Wir sollten nur von dem erzählen, was passiert ist, oder von dem wir glauben, dass es passiert sei.“
Die sprachgewaltige, philosophisch wie psychologisch tiefgehende Auseinandersetzung mit seiner Familie macht Manuel Vilas' Prosawerk „Die Reise nach Ordesa“, eine literarische Erkenntnisreise zu sich selbst, zu einem nicht alltäglichen und faszinierenden Leseerlebnis, an dem zweifellos auch Übersetzerin Astrid Roth ihren lobenswerten Anteil hat.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.08.2020
Der letzte Satz
Seethaler, Robert

Der letzte Satz


sehr gut

REZENSION – Es sind wenige Momente des nur fünf Jahrzehnte währenden Lebens des österreichischen Komponisten und Dirigenten Gustav Mahlers (1860-1911), die Robert Seethaler (54) in seinem aktuellen Buch „Der letzte Satz“ auf knapp 130 Seiten zu einem Mosaik zusammenfasst. Es ist zugleich ein literarisches Psychogramm dieses Ausnahmekünstlers, das auch für solche Leser empfehlenswert ist, die nicht zu den Kennern klassischer Musik gehören.
Denn über Mahlers Musik wird kaum etwas berichtet, was mancher Kritiker schon bemängelte – wie ich meine, zu Unrecht. „Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür“, lässt Schriftsteller Seethaler den Musiker sagen. Als Romancier, dessen Handwerkszeug die Sprache ist, geht es dem Autor folgerichtig nicht um den Musiker oder dessen Werke, sondern um den Menschen Gustav Mahler, um den arbeitswütigen Künstler, den Ehemann und Vater.
Um Buch treffen wir Mahler nach Abschluss seiner Arbeit mit den New Yorker Philharmonikern im Frühjahr 1911 an Deck des Passagierdampfers „Amerika“ auf seiner letzten Heimfahrt nach Europa. Es ist seine letzte Reise, sinnbildlich die Überfahrt in den Tod. Herzkrank und vom Fieber geschwächt, sitzt er einsam an Deck, nur umsorgt von einem Schiffsjungen, und lässt Momente seines Lebens Revue passieren. Bilder seiner Kindheit als „Judenbub“ tauchen auf, seine Hochzeit mit Alma Schindler, die Arbeit als Intendant der Wiener Hofoper und der Metropolitan Opera und als Dirigent in den Konzertsälen der Welt. Wir erfahren Privates über ihn als Vater zweier Töchter und als untauglicher Ehemann, der zugunsten seiner Arbeit seine junge, selbstbewusste Ehefrau vernachlässigt, die schließlich die ihr vorenthaltene Zuwendung beim Architekten Walter Gropius findet. „Ich bin eine Frau. Er ist ein Mann. …. Davon hast du natürlich keine Ahnung. …. Damit will man nichts zu tun haben, wenn man immer nur nach dem Höchsten strebt“, wirft Alma ihm vor.
Mahler ist zeitlebens ein von seiner Arbeit Getriebener. Verzweifelnd an der Unvollkommenheit anderer, will er das Vollkommene erreichen. Nicht einmal für die Hochzeit findet er die angemessene Zeit. Direkt von der Arbeit stürzt der Workaholic die Treppen zur Kirche hoch, so dass der dort sitzende Bettler folgert: „Sie sehen nicht aus wie ein Bräutigam.“ Für liebevolle Zweisamkeit und alles Private ist Mahler ungeeignet. Selbst am Urlaubssitz arbeitet er abgeschottet in seinem „Komponierhäuschen“.
Auch der weltweite Erfolg als Komponist und Dirigent lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Er missachtet nicht nur seine Mitmenschen, sondern auch sich selbst – bis hin zur todbringenden Erkrankung. Überrascht wird er auf seiner letzten Schiffsreise von der Lebensweisheit des erst 15-jährigen Schiffsjungen: „Wer weit geht, kommt spät an.“ Gustav Mahler ist nie angekommen, wollte immer nur weiter.
Ob „Der letzte Satz“ den Deutschen Buchpreis 2020 wirklich verdient hat, für den der Roman nominiert ist, mag jeder Leser selbst beurteilen. Der Verkaufserfolg, der das Büchlein im August auf den Spitzenplatz der Spiegel-Bestsellerliste gebracht hat, mag Seethalers Nachruhm als Autor des „Trafikant“ geschuldet sein. „Der letzte Satz“ ist kein literarisches Meisterwerk, aber in jedem Fall eine sprachlich angenehm und locker geschriebene, deshalb leicht lesbare Kurzbiografie über einen interessanten Mann, der sich selbst und seine Nächsten vollständig der Arbeit unterordnete. „Ich sollte noch ein bisschen bleiben.“ Dies ist der letzte Satz Mahlers in Seethalers Kurzroman. Der Mensch ist längst vergangen, seine Musik aber ist geblieben.

Bewertung vom 18.08.2020
Blues in New Iberia
Burke, James Lee

Blues in New Iberia


sehr gut

REZENSION – Einerseits wie eine unbändige Explosion von Gewaltausbrüchen und Gefühlen wirkt der kürzlich im Pendragon-Verlag erschienene Kriminalroman „Blues in New Iberia“ des amerikanischen Bestseller-Autors James Lee Burke (83). Andererseits liest sich der knapp 600 Seiten starke Thriller in seinen ruhigen Textpassagen wie ein gemütvoller Heimatroman über die Region Acadiana, die Heimat der frankokanadisch-stämmigen Bevölkerungsgruppe der Cajuns im Süden Louisianas. Es ist dieser Kontrast wie Feuer und Eis zwischen absoluter Brutalität und tiefer Sensibilität, zwischen teuflischem Hass und Mitleid erregenden Eigenschaften seiner Protagonisten, aber auch zwischen offener Sozialkritik und tief empfundener Heimatliebe des in der Kleinstadt New Iberia lebenden Schriftstellers. Damit sticht auch dieser 22. Roman aus der mehrfach mit höchsten Preisen ausgezeichneten Südstaaten-Reihe um Detective Dave Robicheaux aus der Masse amerikanischer Krimis hervor.
Diesmal ist der im Vietnam-Krieg traumatisierte Ex-Soldat und Ex-Alkoholiker, jetzt Detective des Sheriff-Departments von New Iberia zu Gast im Strandhaus seines Jugendfreundes Desmond Cormier, inzwischen ein erfolgreicher Hollywood-Regisseur. Zufällig entdeckt er durch ein im Garten aufgestelltes Teleskop die auf dem Meer treibende, an ein Holzkreuz genagelte Leiche der jungen Farbigen Lucinda Arceneaux. Die Inszenierung gleicht einer Karte des Tarot-Spiels, wie Daves neue Kollegin Bailey Ribbons vermutet. Auch die bald nachfolgenden Morde wurden nach Motiven dieses zur Wahrsagerei verwendeten Kartenspiels inszeniert. Bald erscheinen Desmond Cormier und seine Produzenten Antoine Butterworth und Lou Wexler verdächtig, doch es fehlen konkrete Beweise. Im Laufe der vielschichtigen Handlung wird die Situation immer verwirrender, da das Ermittlerteam zwar aufgrund der theatralischen Mord-Inszenierungen Zusammenhänge vermutet, aber deren Hintergründe nicht ausmachen kann. Die Situation wird immer verworrener, am Ende erscheinen fast alle irgendwie verdächtig. Robicheaux traut schließlich niemandem mehr, nicht einmal seiner sehr viel jüngeren Kollegin Bailey, in die er sich inzwischen verliebt hat, oder seinem Deputy Sean McClain. Jeder scheint etwas zu verheimlichen. Als einzige Vertrauensperson bleibt ihm nur sein einstiger Kriegskamerad, der jetzige Privatdetektiv Clete Purcel, sowie seine Adoptivtochter, die Schriftstellerin und Drehbuch-Autorin Alafair, die sich aber zu ihres Vaters Leidwesen ausgerechnet mit Produzent Lou Wexler eingelassen hat. Mit Alafair bringt Autor Burke ein Stück Realität in seinen Krimi, denn er hat tatsächlich eine 50-jährige Tochter dieses Namens, die Rechtswissenschaftlerin und wie ihr Vater erfolgreiche Kriminalschriftstellerin ist. Auch das alte Burke-Haus, das Elternhaus in New Iberia, wird erwähnt.
Diese heimatliche Verbundenheit des Autors zum „Tatort“ New Iberia und seine gelegentlich ausführlichen, meist stimmungsvollen Landschaftsbeschreibungen lassen diesen 22. Robicheaux-Krimi sehr authentisch wirken. Glaubwürdig mit ihren charakterlichen Stärken, vor allem aber ihren nur schwer zu verbergenden Schwächen und traumatischen Ängsten sind auch die beiden Kriegsveteranen Dave Robicheaux und Clete Purcel charakterisiert.
Nicht nur in der szenischen Abfolge gibt es den anfangs erwähnten Kontrast. Auch stilistisch und sprachlich prallen Gegensätze aufeinander: Da gibt es Absätze mit philosophischen Betrachtungen in akademischem Sprachduktus, dann Dialoge mit ordinären Slang „harter Männer“, was oft allzu übertrieben wirkt. Ungemein spannend ist dieser Südstaaten-Heimat-Krimi „Blues in New Iberia“ trotz mancher typisch amerikanischer Klischees in jedem Fall. Warum die Handlung allerdings auf fast 600 Seiten ausgedehnt musste, bleibt zu fragen.

Bewertung vom 16.08.2020
Schatten der Welt / Wege der Zeit Bd.1
Izquierdo, Andreas

Schatten der Welt / Wege der Zeit Bd.1


sehr gut

REZENSION – Leise und beschaulich, als wäre im deutschen Kaiserreich alles im Lot, beginnt der neue Roman des Schriftstellers Andreas Izquierdo (52), in der Werkstatt des jüdischen Schneiders Friedländer im westpreußischen Thorn. Doch der Schein trügt: In der fernen Reichshauptstadt Berlin wird gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht demonstriert, und der sich der Erde nähernde Halleysche Komet lässt Unheil, wenn nicht sogar den Weltuntergang vermuten. „Schatten der Welt“ trüben die vermeintliche, nur oberflächliche Idylle, die soziale Missstände brüchig werden lassen.
Protagonisten dieses sozialkritischen Romans sind drei heranwachsende Freunde – noch in der Pubertät, nicht mehr Kinder, doch für Erwachsene noch zu jung: Der schüchterne Carl Friedländer, von Freundin „Isi“ als „Carl Schneiderssohn“ geneckt, unterstützt seinen verwitweten Vater. Luise, genannt Isi, die aufmüpfige Tochter eines despotischen Lehrers und später populistischen Reichstagsabgeordneten, verweigert die von einem bürgerlichen Mädchen geforderte Anpassung. Sie wird, obwohl von Carl heimlich geliebt, die Freundin von Artur Burwitz, dem dank seiner Körperkraft durchsetzungsfähigen Sohn eines prügelnden Stellmachers. Die drei Freunde ergänzen sich in ihren Charakteren und Fähigkeiten zu einem unverbrüchlichen Trio. Statt sich der Gesellschaftsnorm zu fügen, gehen die drei Jugendlichen ihren eigenen Weg und werden – obwohl noch nicht geschäftsfähig – bald zu erfolgreichen Unternehmern: Anfangs verkaufen sie ihren abergläubischen Zeitgenossen unnütze Überlebenspillen und vom Militär auf unkonventionelle Art beschaffte Gasmasken gegen den drohenden Kometen-Absturz. Später kaufen sie auf Arturs Empfehlung, der den Wandel der Zeit frühzeitig erkannt hat, erst einen, dann mehrere dieser neuartigen Lastkraftwagen und unterbieten damit als moderne Spediteure die traditionellen Kutscher.
Als Trio scheinen die Freunde Artur, Isi und Carl erfolgreich und unschlagbar. Als im Juni 1914 der österreichische Thronfolger in Sarajevo von einem serbisch-nationalistischen Attentäter getötet wird, interessiert es sie nicht. Sogar als der Weltkrieg seinen Anfang nimmt, glauben sie sich davon nicht betroffen: „Krieg war etwas, womit sich Menschen beschäftigten, die sonst nichts zu tun hatten. Wir dagegen wollten etwas erschaffen, nicht zerstören. Wir wollten etwas aufbauen, nicht niederreißen. Wir wollten nach oben und nicht im Schlamm irgendeines Niemandslands verrecken“, blickt Carl als Erzähler des Romans zurück. Doch die Geschichte, die so jugendlich leicht und locker begann, entwickelt sich auch für die drei zu einem Drama – für jeden auf andere Weise.
Izquierdos Geschichte liest sich stellenweise wie ein Abenteuerroman vor historischer Kulisse. Doch die drei aufstrebenden Protagonisten, ergänzt um Gutsbesitzerssohn Falk Boysen als Vertreter des feudalistischen Systems, stehen für eine Gesellschaft im Umbruch: Carl hat bereits unter dem noch unterschwelligen Antisemitismus zu leiden. Artur, den Repräsentanten der Arbeiterklasse, drängt es gesellschaftlich „nach oben“. Und Lehrerstochter Isi kämpft unter Missachtung eigener Gefährdung aktiv gegen die gesellschaftliche Unterdrückung und Missachtung der Frauen.
Andreas Izquierdo versteht es – wie schon in seinen früheren Romanen „Das Glücksbüro“ (2013) oder zuletzt „Fräulein Hedy träumt vom Fliegen“ (2018) – wieder ausgezeichnet, den Leser für seine Helden einzunehmen. Man freut sich und leidet mit ihnen. Izquierdos fast sanfte Erzählweise macht das Buch trotz der sich zum Ende zuspitzenden Dramatik angenehm lesbar und trotz aller Ernsthaftigkeit mittels humorvoller Einschübe recht unterhaltsam. Am Ende bleibt die Erkenntnis: Nach dem Krieg ist nichts ist geblieben, wie es einmal war – und doch scheint ein Neuanfang möglich. Carl, Artur und Isi treffen sich in Berlin. Eine Fortsetzung ist wünschenswert.

Bewertung vom 26.07.2020
Der weiße Abgrund
Boëtius, Henning

Der weiße Abgrund


ausgezeichnet

REZENSION – Nicht nur literaturhistorisch interessierte Leser dürfte der im Juli erschienene Roman „Der weiße Abgrund“ von Henning Boëtius (81) begeistern, sondern alle Freunde der klassischen Literatur deutscher Sprache. Sprachlich grandios und überaus lebendig, auch für fachlich Unkundige leicht zu lesen, beschreibt der für die Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ausgewiesene Fachmann die letzten Jahre und Wochen des Dichters Heinrich Heine (1797-1856) auf dem Sterbebett in seiner kleinen Pariser Wohnung, bescheiden möbliert mit Möbeln vom Flohmarkt. Fast glaubt man als Leser, auf Heines Bettkante zu sitzen und ihm beim Hinscheiden in den „weißen Abgrund“ zu beobachten.
Der sterbenskranke Mittfünfziger ist längst kein Revolutionär mehr, weshalb er vor 20 Jahren nach Anfeindungen wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen Ansichten mit nachfolgendem Publikationsverbot ins Pariser Exil auswich. „Körperliches Leiden macht reaktionär“, vermutet Boëtius und fährt fort: „In den letzten Monaten seines Lebens, befreit von vielen ablenkenden Zwängen irdischen Daseins ... schreibt Heine seine besten Texte.“
Schon seit den 1830er Jahren leidend, seit 1848 in seiner „Matratzengruft“ dahinsiechend, während draußen die Industrialisierung voranschreitet und Paris sich auf die Weltausstellung vorbereitet, kann Heine schon lange nicht mehr an gesellschaftlichen Treffen in den Salons der Pariser Bohème teilnehmen. „Kein Wunder, dass sich Heine angesichts dieser Entwicklung wie ein Fossil vorkommt, dessen Reimereien nur noch ein schwaches Echo sind, zurückgeworfen vom Waldrand der Vergangenheit.“ Stattdessen empfängt der immer noch von vielen bewunderte, von manchen beneidete und von einigen auch ausgenutzte Dichter alte Freunde und neue Bekannte am Krankenbett. „Er hat viel Besuch in diesen Tagen. So etwas wie ein Leichenzug, der hinter einem Sarg herläuft. Dabei ist er noch gar nicht tot, aber er scheint für viele so etwas wie ein interessanter lebender Leichnam zu sein. …. Er ist ein sterbender König, mit seinem winzigen Dreizimmer-Versailles, seinem kleinen Hofstaat, seinen Schranzen, seinen Günstlingen, seiner Mätresse.“
Heine fürchtet sich nicht vor dem Tod, zumal der „weiße Abgrund“ für den Schwerkranken eher Erlösung ist. „Er findet ihn nur ärgerlich, zu banal, zu phantasielos, ein Philister des Nichts.“ Trost gibt ihm seine letzte große, wenn auch platonische Liebe Elise Krinitz, die als Heines Bewunderin hofft, in als Mentor für eigene literarischen Ambitionen zu gewinnen. Ist sie es wirklich, die auf Druck ihres Freundes, des Schriftstellers Alfred Meißner, des Dichters Sterben durch gepanschten Wein beschleunigt? Heines Leibarzt David Gruby erstattet jedenfalls nach dessen Tod bei der Polizei Anzeige: Heine sei sich zwar sicher gewesen, an Syphilis erkrankt zu sein. Doch extremes Erbrechen, die Koliken, wochenlang anhaltende Verstopfung, die Lähmung der Gliedmaßen, „all das passt eher zu einer Bleivergiftung“, zumal Heines Schaffenskraft bis zum Ende niemals nachließ.
Boëtius schildert, wie Heine sein Schicksal mit beißender Ironie und Sarkasmus erträgt. Dem Sterben und Tod des Dichters hält der Autor Heines Spott über das Leben und seine Künstlerkollegen entgegen. Wunderbar beschrieben ist der Abend im Salon seines Arztes, bei dem wir unter den illustren Gästen auch Gustave Flaubert antreffen, der an einer Enzyklopädie der menschlichen Dummheit arbeitet. Henning Boëtius' schmaler, nur 190-seitiges Buch „Der weiße Abgrund“ ist dagegen ein erfreulich intelligenter Roman, von einem Kenner der Szene verfasst. Boëtius schafft es mit seiner kurzen Romanbiografie, auch solchen Lesern einen der bedeutendsten deutschen Dichter näher zu bringen, die sich mit Heinrich Heine noch nie zuvor befasst haben. Wer durch dieses Buch von Heines Sterben erfahren hat, wird sich anschließend gern über Heines Leben informieren wollen.

Bewertung vom 21.07.2020
Totenwelt / Inspektor Jens Druwe Bd.2
Jensen, Michael

Totenwelt / Inspektor Jens Druwe Bd.2


gut

REZENSION – Nach dem lesenswerten Krimi-Debüt „Totenland“ (2019) von Michael Jensen, Pseudonym des holsteinischen Arztes und Trauma-Therapeuten Jens-Michael Wüstel (54), durfte man auf die Fortsetzung gespannt sein. Doch „Totenwelt“, nach den in Band 1 geschilderten Geschehnissen während der letzten Kriegstage des untergehenden Deutschen Reiches chronologisch nun in den ersten Mai-Tagen 1945 spielend, in denen Hitler-Nachfolger Dönitz in Flensburg eine neue Regierung aufzubauen versucht, während britische Truppen die Stadt besetzen, enttäuscht trotz durchaus spannender Elemente leider auf mehrfache Weise.
Der von der Ostfront kriegsverletzt heimgekehrte Polizei-Inspektor Jens Druwe soll als Hilfspolizist der Briten einen Doppelmord aufklären. Das zur Übergabe brisanten Materials über untergetauchte Nazi-Funktionäre arrangierte Geheimtreffen eines Captains mit einem früheren Canaris-Mitarbeiter endet für beide tödlich. Zwar scheint es zunächst, als hätten beide sich gegenseitig erschossen, doch Druwe hat berechtigte Zweifel und sucht nach dem unbekannten Dritten. Gleichzeitig wird er von der Dönitz-Regierung beauftragt, eine neue deutsche Polizei-Einheit aus politisch unbelasteten Beamten aufzustellen. Als Diener zweier Herren, die völlig gegensätzliche Interessen verfolgen, gerät Druwe zwangsläufig zwischen die Räder gegenläufiger politischer Interessen und wird als „Ermittler, der dem Grauen des Krieges die Liebe zur Wahrheit entgegenhält“ auch diesmal enttäuscht. Denn seinem britischen Vorgesetzten geht es nicht, wie Druwe gehofft hatte, um die Aufklärung des Doppelmordes und vor allem um die Festnahme untergetauchter Nazis, sondern als Mitarbeiter des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 ausschließlich um politische Interessen Großbritanniens und Vorteile gegenüber den anderen Siegermächten.
Autor Michael Jensen versteht es hervorragend, die Atmosphäre jener Tage in seiner Heimatregion absolut authentisch und lebendig wiederzugeben. Auch die so unterschiedlich gesetzten Charaktere – ob Opfer, Täter und Mitläufer der Nazis oder Vertreter der britischen Besatzungsmacht – sind tiefgründig ausgearbeitet und nachvollziehbar beschrieben: „Ich habe versucht, diese Gefühle und Gedanken [jener Tage] lebendig werden zu lassen.“ Denn „die innere Geschichte ist erst die wahre Geschichte“, zitiert Trauma-Therapeut Wüstel als Autor Michael Jensen im Nachwort den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard.
Doch als Buchautor verzettelt sich Michael Jensen in seinen komplexen Ansprüchen um genaue Analyse, was sich in „Totenwelt“ auf lähmend auf die Spannung auswirkt. Die um Korrektheit bemühte Schilderung der historischen Geschehnisse nimmt allzu viel Platz ein, gehört in dieser Breite auch nicht in einen Krimi. Hierzu wäre die Lektüre des zeitgleich erschienenen Buches „Acht Tage im Mai“ des Historikers Volker Ullrich besser. Jensens Bemühen um Genauigkeit zeigt sich in „Totenwelt“ leider auch in ständigen Bezugnahmen zu Handlung und Personen des ersten Bandes „Totenland“. Manches wird sogar innerhalb dieses zweiten Bandes noch mehrfach wiederholt, was das Lektorat hätte vermeiden müssen. Diese durchgängigen Bezüge auf Band 1 stören nicht nur das Vergnügen jener Leser, die den ersten Band bereits kennen, sondern irritieren auch Erstleser, da die rückblickenden Halbsätze nicht ihren Zweck erfüllen können. Besser wäre es stattdessen gewesen, dem zweiten Band die Geschichte des ersten auf drei Seiten zusammengefasst voranzustellen.
Da man beide Bände in Folge lesen sollte und es dem Autor ohnehin mehr um seine Charaktere als um die Mordfälle und deren Aufklärung geht, wäre es besser gewesen, von vornherein auf die Zweiteilung zu verzichten und die Handlungen vor und nach der deutschen Kapitulation in einem einzigen Band zu vereinen. Doch so aufgeteilt, konnte der zweite Band „Totenwelt“ den durch seinen Vorgänger „Totenland“ hochgesteckten Erwartungen leider nicht im eigentlich erwarteten Maß entsprechen.