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LichtundSchatten

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Insgesamt 237 Bewertungen
Bewertung vom 09.04.2023
Das Schloss der Schriftsteller
Neumahr, Uwe

Das Schloss der Schriftsteller


ausgezeichnet

Spannende Schilderung der Literaten und Journalisten bzw. ihrer Berichte/Interpretationen der Nürnberger Prozesse. Im klirrenden Zerspringen des 1000-jährigen Reiches beginnt der kalte Krieg und Literaten/Journalisten sind eitel wie immer.

Auch Richter haben Ängste oder Konkurrenten, Liebeleien, und Göring wird - rauschgiftbefreit und abgemagert - zu einem intellektuellen Gegenspieler der Anklage.

Ein Tenor der Sieger: "Das nationalsozialistische Übel lauere noch immer hinter der schönen deutschen Landschaft."

Besonders in Erinnerung blieben mir Erika Mann und die Journalistin Gellhorn, ehem. Frau von Hemingway, die beim Betrachten einer soeben erschossenen Wachmannschaft (Dachau) Freude empfindet.

Diese Männer waren kurz zuvor gezwungen worden, dort Dienst zu tun. "Gellhorn ist in Bestform, wenn sie wütend ist oder Mitleid hat", schrieb Hemingway. Sie hatte lebenslang einen großen Abscheu vor allem Deutschen und hielt sie für unheilbar. Jetzt sind sie durch Konsum und Verfettung ruhig gestellt, wehe aber, sie werden wieder losgelassen, skizziert sie ihre Angst.

Bewertung vom 07.04.2023
Zeit meines Lebens
Schlaffer, Hannelore

Zeit meines Lebens


ausgezeichnet

„Wer oft in die Oper geht, kommt nach Hause und will singen. Wer viel liest, will bald auch schreiben.“ Mit diesen Einstiegs-Sätzen war ich dabei, die Gedanken von Hannelore Schlaffer auflesen und weiter spinnen zu wollen.

Sie beschreibt im ersten Essay, wie ihre Lust am Schreiben entstand. Als 6-Jährige genoss sie 1945 die erste Klasse und war traurig, als die Weihnachtsferien anfingen. Aber bald ging es weiter und sie liebte die weiße, schnell fließende Schrift auf der Schiefertafel, noch heute trägt sie gerne schwarz-weiss und die Buchstaben entwickelten sich bei ihr so zu Worten, Sätzen, Gedanken, Ideen. Von der Kreide über die Schreibmaschine zum Laptop, sie lernte auch blind zu tippen und skizziert die so entstehende Kunst des schnellen Korrigierens, des fast lautlosen Formulierens mit der ganz einfachen, 10-fingrigen Doppelhand.

Die zweite Momentaufnahme ihres Lebens geht über das Lesen. Wer seinen Kindern schon mal vorgelesen hat, weiß es. Das Unglaubliche, Furchterregende muss passieren, um die Erzählung so einzurichten, dass alles schnellstens aufgelöst und der Gerechtigkeit zugeführt wird. Die kleine Hanne entkommt ihren drangsalierenden Brüdern immer mit einem Buch und schließlich gewinnt sie Vater und Lieblingsbruder für Karl May, ein lebenslang bleibendes Erlebnis, wie bei mir auch. Bildung aber war das nicht, sie wusste aus den Erzählungen des Karl May nichts über das aktuelle Amerika. „Bildung, die sich in Büchern auskennt, dient mehr dem emotionalen und intellektuellen Training, weniger der Wissensvermittlung.“

Niemand redete als Jugendliche über Bücher, außer im Pflicht-Deutsch-Unterricht. Sie leidet und flieht ins Theater, ihre abgeschottete, einsame Welt. Umgeben von Brüdern, die aggressiv nicht lesen, ich kann mir vorstellen, was in ihr vorging. Erst an der Uni konnte sie ernsthaft über Bücher reden, jenseits simpler Plauderei. "Gleich nach der Lust, Bücher zu besitzen, kommt das Vergnügen, über sie zu reden." (Charles Nodier) Sie kehrt immer wieder zurück in die Einsamkeit des Lesens, aber auch die Unterhaltung mit jenen langen Briefen, die Bücher ja im Grunde sind. Sie selbst schrieb in der Jugend abartig gute Briefe, eines ihrer Kennzeichen.

Dass man Bücher beim Schreiben nicht um sich haben will, um nicht gestört zu werden, wäre mir zuviel. In jedem Fall aber interessant, es zu begreifen und durchaus nachvollziehen zu können. Umgebende Bücher vermitteln mir eine Art Wohngefühl, ein Gemeinschaftserlebnis mit vielen Denkern, die jene schwierigste Leistung vollbracht haben, die es (für mich) gibt: ein ganzes Buch zu durchdenken, es zu schreiben, verwerfen, korrigieren und letzten Endes so stehen zu lassen, wie der eigene Gedankengang es in jenem Moment erforderte.

Kurzum, ich habe begonnen, sehr schnell, mich mit Hannelore Schlaffer zu unterhalten, sie gleichsam zu befragen, ihr zu widersprechen und doch jene Gleichklänge zu erleben, die alle Leser von Karl May aufweisen: Verständnis für Schicksale und Einsamkeiten, die auch Karl May erlebt hat. Seine Lebensgeschichte ist eine der spannendsten überhaupt, der unglaublichsten.

Wunderschön, die Beschreibung einer Bibliothek: „Die Bibliothek ist kein Ort, sondern ein Zustand, in dem nicht nur der Geist, sondern auch der Körper fast schwerelos wird.“ Man ist allein und doch zusammen, „man versinkt ins Buch und fühlt dennoch ein Außen.“ 2020 eröffnet die neue Württembergische Landesbibliothek in Stuttgart, Hannelore Schlaffer beschreibt den Leseplatz dort, den Gemeinschaftsraum als eine Vereinzelung hinter einem Bullauge, für das Lesen keinesfalls ein Ort sein kann. Man fragt sich automatisch, was Architekten denken, die Interieurs entwickeln fernab von Bedürfnissen der Leser.

Suche ich nach dem Konzept dieser Bibliothek, an die jeder Verlag/Autor auch die sog. Pflichtexemplare schicken muss, finde ich schnell im Netz ein Papier: „Wissen teilen – Konzept für die Württembergische Landesbibliothek 2020-2025.“

Kurz gesagt soll alles Digitale weiter vorangetrieben werden, vom Leser und dem Ort des Lesens in einem Gemeinschaftsraum liest man in diesem Papier eigentlich nichts. Der Leser schrumpft sozusagen in das überall reproduzierbare Verhältnis Auge-ComputerScreen zusammen, natürlich kann er in diesem Zusammenhang auch Texte hören, gar sehen. Die Umgebung wird mithin ausgeblendet, sie kann überall stattfinden, und auch vor Ort gibt man einem Gemeinschafts-Lese-Erlebnis wie von Hannelore Schlaffer so schön beschrieben, keine Aufmerksamkeit mehr. In jedem Fall werde ich diese Bibliothek in nächster Zeit besuchen.

Bücher sind nichts als längere Briefe. Die Gedanken von Hannelore Schlaffer haben mich bestens unterhalten, sie versteht es meisterhaft, über Lesen und Schreiben nachzudenken und hat mich als Bücherliebhaber wirklich berührt. Ein ungewöhnliches, wunderschönes Buch, das den weiten Horizont seiner Urheberin in 13 Essays auffächert.

Bewertung vom 06.04.2023
Pünktlich wie die deutsche Bahn?
König, Johann-Günther

Pünktlich wie die deutsche Bahn?


ausgezeichnet

Johann-Günther König gelingt mit diesem Buch ein spannender, weit verzweigter Wurf, um Interesse für eine Fortbewegungsart zu entwicklen, die in naher Zukunft eher noch an Bedeutung gewinnen wird. Ich selbst bin in der Nähe eines Dampflokschuppens aufgewachsen und kann die morgendlichen Anheiz-Geräusche noch gut (fast romantisch) erinnern.

Die Geschichte der Eisenbahn in Deutschland startete in Nürnberg, die Bahn oder der Fahrweg nach Fürth wurde 1835 mit Eisenschwellen & Schienen belegt und konnte so den Wagons eine feste Spur geben. 1798 hatte bereits in England ein Erfinder die Hochdruckdampfmaschine entwickelt, mit der Autos fuhren, aber stärker wurde zunächst die Dampflokomotive nachgefragt, die zum ersten Mal 1804 auf einer Hüttenwerksbahn in Südwales fuhr und fünf Waggons mit einer Last von zehn Tonnen über eine Strecke von rund 15 km zog.

Im Jahr 1830 eröffnete dann die erste öffentliche Bahn zwischen Manchester und Liverpool – von den 30 Kutschen, die bis dahin diese Strecke befuhren, stellten 29 unmittelbar danach ihren Betrieb ein. Früher reisten täglich 500 Personen auf dieser Strecke, kurz danach waren es per Bahn schon 1600 Menschen täglich.

Friedrich List, ein deutscher Wirtschaftstheoretiker, der nach USA ausgewandert war, kam zurück und gilt als einer der Begründer der deutschen Eisenbahnen. Sein Traum von einer Trasse zwischen Leipzig und Dresden ging 1839 in Erfüllung. 150 km Eisenbahnschienen verkürzten die Reisezeit von 21 auf damals unglaubliche 3 Stunden. Es folgte die Strecke Potsdam-Berlin, die Spurweite richtete sich nach englischen Vorgaben und ist uns mit 1,435 m bis heute erhalten geblieben.

Die Vision von Friedrich List über die Segnungen des neuen Verkehrsmittels liest sich wie eine Menschheits-Verbrüderung in Toleranz und gegenseitigem Respekt. Wie wollte man noch Kriege anzetteln, wenn sich alle kennen? Eisenbahnen sah er als eigentliche Volkswohlstands- und Bildungsmaschinen.

Mit der parallel einsetzenden Dampfkraft-Schifffahrt wurde der Industrialisierung und auch dem Tourismus der Turbo zugeschaltet, Johann-Günther König lässt den Leser unmittelbar teilhaben und nachempfinden, wie eine beschleunigte Gesellschaft Fahrt aufnahm. Die Geschwindigkeit multiplizierte sich um das Zehnfache. Pferde und Kutschen bzw. die Post wurden aber im 19. Jahrhundert weiterhin, sogar vermehrt benötigt, vor allem in jenen Gebieten, wo es noch keine Bahnstrecke gab. Alle profitierten also von den Neuerungen.

Zu Beginn gab es in Deutschland nur private Bahnen und Länderbahnen, eine verwirrende Vielfalt von Tarifen und Regelungen entwickelte sich, insgesamt 4 Klassen inkl. einem nach oben offenen Wagon konnte man buchen.

In der Schweiz wurde die Bahn schon 1898 nach einer Volksabstimmung verstaatlicht, das Deutsche Reich brauchte einen verlorenen Weltkrieg, um hier nachzuziehen. Aber sowohl die Weimarer Republik, das Dritte Reich und auch die BRD gewährten dem Autoverkehr die Vorfahrt. Die Eisenbahn diente in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem dazu, die gigantischen Reparationszahlungen der Siegermächte zu bedienen. In der DDR fuhr man auf Verschleiß und ließ die Infrastruktur verkommen.

Dass die neue DB AG es nicht leicht hat, ist klar. Wir lesen in diesem Buch von den Schwierigkeiten und fahren in der Zeit zurück und mit einem besseren Verständnis für die Schiene in die Zukunft. Ich mag dieses Buch als eine geschickte Verquickung zwischen Wissen, Geschichte und Geschichten, dabei kommen auch die Bahnhofsbuchhandlungen zu Wort, ein Bereich, den ich in allen Bahnhöfen immer als erstes ansteuere. Leider dominieren heute auch hier die Ketten, in den 80ern gab es noch individuelle, ganz persönliche Anbieter. So einen besuchte ich in Frankfurt am Main oft und nahm mir kurz vor der Abfahrt irgendein Buch und kaufte es. So z.B. „Unfug des Lebens und des Sterbens“ von Prentice Mulford.

2008 druckte die Deutsche Bahn AG das letzte Kursbuch, das mit 2800 dünnen Seiten fast zwei Kilo wog. Wann immer ich heute nach einem Kursbuch von Enzensberger suche, taucht auch eines der Bahn auf, als Rarität. Wie werden heute die elektronischen Fahrpläne entwickelt? „6,2 Mio Fahrgäste fahren täglich auf 75.000 Verkehrswegen, in einem 33.300 km langen Streckennetz mit 24.220 Zügen (2018). Hinzu kommen noch 4000 Güterzüge auf den gleichen Schienen. Ein Fahrplan für die Deutsche Bahn und 400 Bus- und Eisenbahnunternehmen ist eine hochkomplexe Sache.“

Tatsächlich gab es früher Züge, bei denen Verspätungen hoch erwünscht waren, z.B. beim Orient Express. Heute blendet das gleichmäßige Rattern auf den Schienen die Sorgen der Welt ebenso aus und wer es schafft, die vorbeifliegende Landschaft zu genießen, gönnt sich Meditation pur, ganz wie zu Beginn des Bahnfahrens.

Den umfangreichen Literaturhinweisen habe ich dieses Buch entnommen und lese es demnächst: „Der Teufel steckt im ICE. Die abgefahrensten Erlebnisse einer Zugbegleiterin, von Juliane Zimmermann.

Bewertung vom 01.04.2023
Rolf H. Krauss: Lachen als Waffe. Große Erfindungen um 1900 in Karikatur und Satire
Krauss, Rolf H.

Rolf H. Krauss: Lachen als Waffe. Große Erfindungen um 1900 in Karikatur und Satire


ausgezeichnet

Fotografe, Fahrrad, Auto und Flugzeug. Wie immer gab es kritische Stimmen und verpackt in Humor ließen sich die Erfolge dieser vier technischen Neuerungen besser ertragen. "Das Lied vom Rad", erschienen in Fligende Blätter 1900, Text von Georg Bötticher, vermittelte das ultimative Zugeständnnis an ein Fortbewegungsmittel, das alle begeisterte: "Zeigt sich eins wo, sprich alles froh: Was Reizendes, dies Radeln."

Letzten Endes hat wohl das Radeln eine neue Frauenmode begründet, endlich weg vom Reifrock und den ungemütlichen Kleidern. Insgesamt ein wirklich erhellendes Buch, tatsächlich witzig und gut vermittelnd, wieviele Ansichten falsch, aber auch richtig lagen. Kaiser Wilhelm II sagte beim Anblick eines Automobils: "Die Zukunft gehört dem Pferd."

Bewertung vom 01.04.2023
Von Wagemut, Irrtum und Verblendung
Augstein, Franziska

Von Wagemut, Irrtum und Verblendung


weniger gut

Eher bescheidene Gedankenführungen. Frau Augstein bezeichnet Trump als chaotischen Vulgärpolitiker. Kann man machen, muss man aber nicht. Wieviel Kriege hat Trump begonnen im Vergleich zu Obama - das wäre eine relevante Frage.

Bewertung vom 28.03.2023
Friede Springer
Kloepfer, Inge

Friede Springer


ausgezeichnet

Spannendes Buch zur Entwicklung einer Frau vom Kindermädchen zur Verlegerin. Es ist vor allem ein Stück Geschichte der BRD auf dem Weg in eine völlig veränderte Medienlandschaft. Frau Springer hat vor allem das Andenken an ihren Mann bewahrt und den Verlag in seinem Sinne zusammengehalten bzw. weiter entwickelt. Aus dieser Quelle speiste sich ihr Mut auf dem Weg einer zunächst konsensorientierten Frau zu einer verhandlungsstarken Managerin. Man muss ihren Weg bewundern, der sich in den Untiefen von Kirch und Co. bewährt hat. Die Probleme schienen übermächtig, auch mit den anderen Erben, und doch hat ihre bestimmte, ruhige Art gewonnen.

Bewertung vom 21.03.2023
Februar 33
Wittstock, Uwe

Februar 33


ausgezeichnet

Im Grunde unglaublich, wie schnell damals die Unterdrückung von missliebigen Autoren durchgesetzt wurde. Mit atemloser Spannung bin ich den Ausführungen gefolgt und habe die Vertreibungs-Zeit vor 90 Jahren als etwas erlebt, das man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Die szenischen Schilderungen sind äußerst gelungen und vermitteln ein realistisches Bild, auch die unterschiedlichsten Verhaltensweisen, von sofortiger Abreise bis hin zum Glauben, man könne dagegen halten.

Uwe Wittstock meint Ähnlichkeiten zum Heute erkennen zu können, im allgemeinen Vorfeld-Zustand: "Die wachsende Spaltung der Gesellschaft. Die Dauerempörung im Netz, die den Keil immer tiefer treibt." Die offene Frage wäre, wer diesen Keil verursacht hat und weiter befeuert. Ich sehe aber keine Gefahr eines nationalen Überschwangs mehr, gleichwohl befremdet mich die Kriegsbegeisterung der Grünen, die vor der letzten Wahl keinesfalls Kriegsgerät in Krisengebiete schicken wollten.

Falls überhaupt ist heute eine nach links und grün tendierende Stimmung vorhanden, die Schuldige im rechten Spektrum sucht, ohne noch Unterschiede zu machen. Die religiös aufgeladene Glaube an unsere Schuld am Klimawandel verheißt leider nichts Gutes.

Bewertung vom 21.03.2023
Ginsterhöhe
Caspari, Anna-Maria

Ginsterhöhe


ausgezeichnet

Wenn nach zwei Weltkriegen die eigentliche Vernichtung erst beginnt, dann sind wir in der Eifel, in dem kleinen Ort Wollseifen. Er liegt ganz in der Nähe der NS Ordensburg Vogelsang, heute ein Museum.

Die Geschichte beginnt mit dem schwer verwundeten Kriegsheimkehrer Albert. Er hat den ersten Weltkrieg überlebt und versucht, seinen Bauernhof in Wollseifen wieder in Schwung zu bringen. Wir erleben die Zeit der 20er, 30er und 40er Jahre anhand seiner Familie und vieler Freunde mit.

Die Spannung schäumt nie über, wir werden Betrachter von eher stillen, schlechten und schönen Momenten, das ganz normale menschliche Leben auf dem Land, immer mit großer Hoffnung durchzogen.

Wie verzweifelt müssen Eltern sein, wenn ihre Kinder gerne in die Hitlerjugend gehen und begeistert in den Krieg ziehen? Oder eine Mutter, deren einziges Kind von einem fanatischen Vater und NS-Anhänger indoktriniert wird?

Man ist auf dem Land normalerweise sicherer als in der Stadt, nicht aber durch die Nähe einer NS-Ordensburg. Die Menschen in Wollseifen fallen im zweiten Weltkrieg von einem Drama in das nächste. Am Ende müssen sie innerhalb von 3 Wochen ihr Hab und Gut verlassen und sich neu ansiedeln.

Ein Buch, das Geschichte live vermittelt und die persönlichen Beziehungen zu einem Flickenteppich verwebt, in dem die Historie direkt erfahrbar wird. Die Autorin war mir durch das Buch "Bühlerhöhe" bekannt. Sie entwickelt in diesem neuen Buch eine ähnlich starke Sogwirkung, eine wirklich gekonnte Verbindung zwischen Geschichten und Geschichte.

Wollseifen ist heute eine sogenannte Wüstung, man kann immerhin wieder dorthin gehen, zu Fuß, um der Bewohner und ihrer Leiden zu gedenken. Nach dem Ende des Truppenübungsplatzes 2006 ist der Ort ein eingetragenes Bodendenkmal.

Bewertung vom 21.03.2023
Kreuzfahrt durch die Republik
Meyer, Lorenz

Kreuzfahrt durch die Republik


ausgezeichnet

Es könnte sich so zugetragen haben. Der Autor trifft den Ton und die Schieflachlagen seiner Interviewpartner, besonders die erste Geschichte mit Markus Lanz hat mir gut gefallen. Die Lieblingsaussagen des ewigen Talkers sind gut getroffen und in den Alltag übertragen worden. Lorenz Meyer ist ein süffisanter, genauer Beobachter mit der Fähigkeit zur humor-, durchaus auch liebevollen Zuspitzung.

Gabor Steingart formuliert eine politische Stellungnahme mit dem Wort Blumenvase: "Die Mitglieder der aktuellen Regierung sind in der letzten Legislaturperiode verwelkt wie die Blumen eines Fleurop-Straußes, der vor der falschen Tür abgelegt und nie hereingeholt wurde. Die Koalition ist wie eine leere Blumenvase!"

Sehr gelungene, witzige, oft absurde Unterhaltungen bzw. Situationen. Armin Laschet ist bspw. Vorsitzender/Präsident einer Garten-Kolonie und Initiator einer Wiedervereinigung zerstrittener Parteien.

Bewertung vom 08.03.2023
Konservatives Manifest
Peterson, Jordan B.

Konservatives Manifest


ausgezeichnet

Konservative unterwerfen die Menschheit nicht einer universalen Moral und Kultur. Die permanente Beschwörung des Sozialen, Solidarischen und Gemeinschaftlichen liegt ihnen nicht. Konservative wollen diesem auch für sie Erstrebenswerten die Kraft des Realen und die des Individuums mitgeben. Sie bündeln alle Erfahrungen, die uns heute an die Spitze von Fortschritt und Technik gebracht haben. Ihr Skeptizismus ist nicht unsolidarisch oder unmenschlich, sondern innovativ und fortschrittsgetrieben, mit dem andauernden Wissen und Gewissen, dass man falsch liegen kann.

Die Bezeichnung "Konservativ" als Gegenpol zu linken Sichtweisen polarisiert heute mehr denn je, sachliche Debatten finden kaum noch statt. Schade, denn es lohnt sich darüber nachzudenken, welche Eigenschaften notwendig sind, um der Welt ein lebenswertes Antlitz zu geben, sie ebenso zu bewahren wie vorsichtig interessenausgleichend nach vorne zu bringen.

Peterson umfasst die Dimensionen des Konservativen mit folgenden Kennzeichnungen: Demut, Freiheit, Autonomie, Wahrheit, Handlungsfähigkeit, Identität. Leistung, Verantwortung, Gemeinschaft, Schöpfungsverantwortung, Gerechtigkeit, Tradition und Einigkeit.

"Demut ist das Gegenteil jener hochmütigen, autoritären Arroganz, die für sich beansprucht, über umfassende und endgültige Fähigkeiten und Kenntnisse zu verfügen." Wenn man so wirklich versucht, anderen zuzuhören, ihre Ideen zu begreifen, grenzt man niemanden aus, sondern ist der sachlichen Vernunft verpflichtet, immer im Interesse einer guten, nicht ideologischen Lösung.

Freiheit wird von Konservativen nicht hedonistisch verstanden, sondern ist eine Grundlage des Erschaffens. „Freiheit ist kostbar, weil sie allen freien und einzigartigen Menschen die Möglichkeit gibt, sich dem Potenzial der Zukunft bestmöglich zu stellen.“ Für Konservative sollte der einzelne Mensch gut sein, nicht aber die ganze Menschheit. Diese Erwartung ist völlig unrealistisch, weil zu viele, oft widersprüchliche Interessen aufeinander prallen.

Nach der Abhandlung der wesentlichen Kriterien für Konservatismus vermittelt Peterson seine Sichtweise zur Armut bzw. dem Abfedern derselben (Anhang 1) und die konservativ-bürgerliche Lebensweise in ihren Ausprägungen, Anhang 2: „Über persönliche Veranwortung“.

Der gut lesbare, nicht mit Fremdwörtern überfrachtete Text von Peterson wird von drei anderen Autoren aus Deutschland (Norbert Bolz, Birgit Kelle, Alexander Grau) besprochen bzw. diskutiert, höchst spannend und genau so wie man vorgehen sollte, um neue Lösungen zu erhalten. Man erkennt, konservatives Denken ist vor allem das Infragestellen anderer Einstellungen, immer mit dem Ziel, das Gemeinsame weiterzuentwickeln.

Möglicherweise erleben wir wir soeben einen Niedergang der nivellierenden Kraft globaler Märkte und eine Renaissance jener Werte, die uns notwendig erscheinen: "In einer heterogenen Welt, die die Vielfalt der Kulturen und Traditionen bewahren und vor einer universellen Buntheit schützen möchte, benötigen wir mehr Kontroversen, mehr Dissens und mehr Mut zum Eigenen." (A. Grau, S. 81)

Das Buch könnte ein Auftakt sein zum Diskurs zwischen allen politischen Fronten, alleine mir fehlt der Glaube. Die aktuelle, bunt-grüne Richtung scheint viel zu sehr von sich und ihren hehren moralischen Zielen überzeugt als dass sie erkennen könnte, wie sehr man das hinterfragen bzw. einem konservativen Prozess unterziehen müsste. Schade, denn die Innovationskraft des Konservativen wäre jene Korrektur, die der vermutete, universelle, globale Heilsglaube so dringend nötig hat.

Bewahrend nach vorne gehen bei harmonischem Ausgleich aller Interessen und wissend, was wirklich trägt, abseits überforderter Moral, das war und bleibt der unspektakuläre Weg zum Besseren. Viele nennen es soziale Marktwirtschaft und umschreiben damit den Kern eines sich gegenseitig erhaltenden gesellschaftlichen, solidarischen Zusammenlebens bei größtmöglichen Freiheiten des Einzelnen.

Der gescheiterte Sozialismus oder Kommunismus, alles kollektiv Einengende bedarf schon lange einer Korrektur durch ein schlüssiges Gegen-Konzept. Der Begriff konservativ ist m.E. missverständlich, die Abgrenzung zu Liberalismus zudem diffus. Die problematische Aufladung des Begriffes erhält jeder, wenn er im Netz danach sucht. Längst wäre es Zeit für ein eigenes Konzept, auch einen neuen Namen.

Im Englischen habe ich dazu das Wort „Innovism“ gefunden. Tatsächlich ist die konservative Denkweise heute fortschrittlicher als z.B. grüne Sichtweisen, die uns eher zurück führen wollen in eine Zeit, die mit Fahrrad und Pferden gekennzeichnet war. In jedem Fall ist konservativ-bürgerlich das Gegenteil von radikalen Umbrüchen oder Revolutionen, ihr Kern ist nahe am menschlich-eigenen Gefühl.

„Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“ (A. von Humboldt) Es sind meist jene, die Italo Svevo so umschreibt: „Ideologen sind Leute, die glauben, dass die Menschheit besser ist als der Mensch.“

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