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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 182 Bewertungen
Bewertung vom 29.07.2021
Niemehrzeit
Dittloff, Christian

Niemehrzeit


ausgezeichnet

2018 sterben innerhalb von vier Monaten die Eltern des Autoren. Wie überlebt man solche Schicksalsschläge, wie geht man mit ihnen um? Darüber schreibt Christian Dittloff in seinem Buch "Niemehrzeit".

Es ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Buch geworden: bemerkenswert ehrlich, bemerkenswert persönlich, bemerkenswert berührend - und bemerkenswert tröstlich. Denn der Autor lässt die Leser:innen unmittelbar teilhaben an seiner Trauer, aber auch an den Erinnerungen, der Liebe und Freude. Dabei schafft es Dittloff, dass sein Text von einer Melancholie und Nostalgie untermalt ist, die dennoch nie kitschig wirkt.

Der Sprachstil ist zugänglich, angemessen, manchmal poetisch und verursachte bei mir in sehr vielen Momenten eine Gänsehaut. Gerade wenn man selbst seine Eltern verloren hat, ist dieses Buch ein hilfreicher und liebenswerter Begleiter. Denn so wie Christian Dittloff seinen Trost im Schreiben und Lesen sucht und findet, so erlebt man als betroffener Leser diesen unmittelbar in "Niemehrzeit" selbst.

Dittloff ist ein sensibler und empathischer Erzähler, der sich nicht in den Vordergrund drängt, obwohl es seine so persönliche Geschichte ist. Er selbst sagt gegen Ende des Buches, es gehe ihm nicht um Mitleid, doch dieser Verdacht keimt ohnehin zu keiner Zeit auf.

Es sind gerade die kleinen Momente, die mit ihrer Unmittelbarkeit anrühren. Wenn der Autor sich auf die Suche nach alten Fahrplänen begibt, um nachvollziehen zu können, in welcher S-Bahn sich seine Eltern wohl kennengelernt haben. Wenn er die Fernsehzeitung seiner Mutter durchstöbert, um zu begreifen, welche Sendung sie sich wohl vor ihrem Tod angesehen haben könnte. Oder wenn er eine "Faktenliste" über seinen Vater erstellt und dabei im ersten Punkt fast lapidar feststellt: "Mein Vater war lieb."

So ist "Niemehrzeit" ein insgesamt beeindruckendes Buch, dessen mehrfache Lektüre zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Lebens sicherlich lohnenswert ist. Für mich persönlich war es eine wichtige Lektüre, die lange nachwirkt und der ich viele Leser:innen wünsche.

Bewertung vom 29.07.2021
Wie viel von diesen Hügeln ist Gold
Zhang, C Pam

Wie viel von diesen Hügeln ist Gold


ausgezeichnet

Die von chinesischen Einwanderern abstammenden Geschwisterkinder Lucy und Sam begeben sich im Wilden Westen des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit dem gestohlenen Pferd Nellie auf eine abenteuerliche Reise. Ihre schwere Last: eine Truhe der verstorbenen Mutter, darin die Leiche des Vaters. Doch die beiden sind nicht nur auf der Suche nach einer Begräbnisstätte...

In ihrem bemerkenswerten Debütroman "Wie viel von diesen Hügeln ist Gold" erzählt die 1990 in Peking geborene C Pam Zhang eine nahezu unglaublich wirkende Geschichte, die sich komplett auf die Sichtweise ihrer jungen Protagonist:innen einlässt. Es ist nicht nur sprachlich ein Fest. Zhang schafft es auch, so grundlegende Themen wie (sexuelle) Identität, Herkunft, Heimat, Familie, Tod und Trauer miteinander zu verbinden, dass alles wie aus einem Guss wirkt. Dabei gelingt es der Autorin mehr als einmal, mit gesellschaftlichen - und literarischen - Konventionen zu brechen und die Leser:innen immer wieder zu überraschen. In poetische Beschreibungen der schrecklich-schönen Natur mischen sich in Rückblicken brutale väterliche Gewaltausbrüche. Ein Tigerschädel liegt wie selbstverständlich neben einem Bisonskelett. Ein Kapitel wird "Pflaume" betitelt, dreht sich aber um das verwesende männliche Geschlechtsteil des Vaters. Immer wieder hält Zhang den Leser:innen den Spiegel vor, spielt mit den Erwartungen und den vorgefertigten Meinungen, um in einem nächsten Kapitel alles über den Haufen zu werfen und die Geschichte aus einer völlig anderen Perspektive zu erzählen. An der Grenze zum magischen Realismus lässt Zhang Geisterstimmen in den Wind hineinfließen und verwirrt damit nicht nur Lucy.

Wo sich andere Autor:innen verheben könnten, schafft es Zhang in ihrer Mischung aus Coming-of-Age-, Abenteuer- und Familienroman fast spielerisch, die Spannung und das sprachliche Niveau hochzuhalten. Während die ein Jahr ältere Lucy die eigentliche Hauptfigur ist, hatte es mir vor allem das jüngere Geschwisterkind Sam angetan. Insbesondere im überragenden ersten Teil des Romans ist Sam so voller Wut und innerer Zerrissenheit, dass ich fast schon körperlichen Schmerz spürte und mich komplett in dieser Figur verlor.

Und auch wenn die zweite Hälfte des Romans den Vergleich mit der einzigartigen ersten verlieren mag, ist sie keinesfalls enttäuschend. Die zentrale Frage des Buches "Was macht ein Zuhause zum Zuhause?" zieht sich konsequent wie ein roter Faden durch das Geschehen, um Lucy und Sam letztlich ganz unterschiedliche Antworten darauf finden zu lassen.

Man muss sicherlich kein großer Prophet sein, um vorauszusagen, dass man von C Pam Zhang noch viel hören wird. Sämtliche amerikanischen Vorschusslorbeeren sind berechtigt, und es ist der Autorin und dem Roman zu wünschen, dass das Buch auch in Deutschland für die nötige Aufmerksamkeit sorgen wird. In diesem Zusammenhang sei auch die großartige deutsche Übersetzung von Eva Regul erwähnt.

"Wie viel von diesen Hügeln ist Gold" ist ein bemerkenswertes Buch von eindringlicher Intensität. Aufregend, überraschend und mit Themen wie Rassismus, der Ausbeutung der Natur und Fragen nach der sexuellen Identität äußerst zeitgemäß - ein echtes Ereignis.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.07.2021
Zu den Elefanten
Karoshi, Peter

Zu den Elefanten


sehr gut

Kulturwissenschaftler Theo steckt mit 40 Jahren in einer Lebenskrise. Beruflich und privat scheint es keine großen Veränderungen zu geben, zudem vereinsamt er immer mehr. Gut, dass ihm im Urlaub die Idee kommt, gemeinsam mit seinem neunjährigen Sohn Moritz, eine waghalsige Reise zu unternehmen: Die beiden wollen sich - in entgegengesetzter Richtung - auf die Spuren des Elefanten Soliman begeben, der Mitte des 16. Jahrhunderts gemeinsam mit dem zukünftigen Kaiser Maximilian von Spanien aus über die Alpen nach Wien wanderte. Doch von Beginn an steht das Unternehmen unter keinem günstigen Stern...

"Zu den Elefanten" von Peter Karoshi ist eine Novelle auf sprachlich hohem Niveau, die von den Leser:innen ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit fordert, um der Handlung und den Beweggründen der Figuren folgen zu können. Zu Beginn wirkte die Sprache auf mich ein wenig sperrig, was aber gewollt ist, denn Kulturwissenschaftler Theo, der mit seinem "Reisetagebuch" gleichzeitig der Erzähler ist, kann seinen wissenschaftlichen Hintergrund eben nicht so einfach leugnen. Doch je länger die Novelle andauerte, desto mehr fand ich mich mit dieser Sprache zurecht, die irgendwann eine regelrechte Sogwirkung bei mir entfachte.

Ein großer Pluspunkt war für mich zudem die melancholische Stimmung, die dem Buch von Beginn an wie ein roter Faden folgt und bis zum bewegenden Ende auch nicht nachlässt. Protagonist Theo umweht ein gewisser Weltschmerz, zudem sorgen die berührenden Naturbeschreibungen für eine äußerst gelungene Atmosphäre.

Ohne etwas verraten zu wollen, kommt es auf der gemeinsamen Reise von Vater und Sohn zu einem entscheidenden Wendepunkt, durch den bei mir zwischenzeitlich eine gewisse Genervtheit vom Protagonisten, gepaart mit einer kleineren Lesemüdigkeit auftrat. Theo fürchtet sich vor sich selbst, vor Fremden, vor der Reise, vor dem Altern, vor dem Nicht-dazu-Gehören. Das Zentrum der Erzählung lenkt sich von der Vater-Sohn-Reise und der Soliman-Thematik zunehmend auf die Hauptfigur und dessen doch recht schwere persönliche Krise. Dies bedauerte ich, denn gerade der Blick auf die gegenläufige Reise und auf das Vater-Sohn-Verhältnis waren für mich die interessantesten Aspekte der Novelle. Zunehmend verliert sich Theo in immer unrealistischer werdenden Situationen, in denen er sich zudem auch noch konsequent falsch verhält. Dadurch weist das Buch in meinen Augen in der Mitte kleinere Längen auf.

Doch das konsequente und sehr gelungene Ende, das zudem die Mehrdeutigkeit des Titels klug vor Augen führt, hat mich letztlich wieder versöhnt. So ist "Zu den Elefanten" eine kluge Novelle, die zwar nicht alle meine Erwartungen erfüllt hat, mich aber zu keinem Zeitpunkt kalt ließ und zudem mit einigen Überraschungen aufwartet. Über die sprachliche Erhabenheit sollte es trotz einiger kleiner Fäkalausrutscher ohnehin keine Zweifel geben. Mit ihrer Nachdenklichkeit wirkte sie bei mir lange nach.

Bewertung vom 09.07.2021
Zum Sterben zu viel
Kinskofer, Lotte

Zum Sterben zu viel


ausgezeichnet

Pasing, 1922: In der Münchner Vorstadt wird der Heimatdichter Carus von Waldfels auf dem Weg zum Bahnhof ermordet. Die Leiche des erstochenen Dichters weist eine Verletzung an der Schläfe auf. Der Münchner Oberkommissär Benedikt Wurzer macht sich auf, das Rätsel um den Casanova zu lösen. Schnell findet sich mit dem Schreiner Benno Stöckl ein Verdächtiger, der zudem ein Motiv gehabt hätte: von Waldfels machte seiner Frau Agnes schöne Augen. Nach Bennos Verhaftung ist es vor allem Agnes, die den Kampf um ihren Mann nicht aufgeben mag...

"Zum Sterben zu viel" von Lotte Kinskofer ist ein historischer Krimi, der zur Zeit der Weimarer Republik spielt. Anders als die zahlreichen Berlin-Krimis aus dieser Zeit ist der Roman in München und Umgebung angesiedelt. Schon dadurch hebt er sich wohltuend aus der Masse ab, denn Kinskofer macht die großen Unterschiede zwischen Stadt- und Landleben deutlich und betont die klaffende Schere zwischen Arm und Reich. Seinen besonderen Charme gewinnt der Roman auch durch den Lokalkolorit und vor allem durch den Dialekt, den die Figuren sprechen. Die Autorin spielt mit diesem Dialekt und gibt den aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stammenden Charakteren dadurch eine ganz eigene Stimme.

Der Kriminalfall an sich sorgt für solide Spannung, auch wenn ich in der Täterfrage - trotz zahlreicher gelungener falscher Fährten - relativ früh auf der richtigen Spur war. Für mich stand die Suche nach dem Täter aber auch gar nicht im Vordergrund, da "Zum Sterben zu viel" viel mehr bietet. Lotte Kinskofer beweist nämlich vor allem in der Figurenzeichnung ein sehr gutes Gespür. Ihre Empathie ist bei den Armen und Schwachen, die sich spielend leicht auf die Leser:innen überträgt. Insbesondere die Frauenfiguren Agnes und Martha sorgen für bewegende Momente. Wie schwer es die Frauen zu dieser Zeit hatten, macht Agnes mit dem bitteren Ausruf "A Weib alloa is halt a Depp" gegenüber Oberkommissär Benedikt Wurzer mehr als deutlich. Trotz aller Widerstände entpuppt sich Agnes aber als große Kämpferin und als eigentliche Heldin dieses Romans, der auch damit überrascht, sich nicht auf einen, sondern gleich auf mehrere Protagonist:innen zu konzentrieren.

Die Figur des Ermittlers Wurzer ist ebenso gelungen. Der eigentlich konservative Oberkommissär entpuppt sich als Liberaler mit dem Herz am rechten Fleck, der sich bei aller Grausamkeit der Fälle seine Menschlichkeit bewahrt. Überhaupt ist es ein großes Plus des Romans, dass die Figuren stets Schattierungen aufweisen. Von den zentralen Charakteren ist - vielleicht mit Ausnahme von Agnes - keiner einem klassischen Gut-Böse-Schema zuzuordnen. Sie alle machen ihre Fehler und haben ihre Zweifel.

Als kleine Schwäche des Romans habe ich empfunden, dass die Gedanken der einzelnen Figuren zu stark ausgebreitet werden. Deutlich wird das vor allem beim Anwalt Wolf Strate. Die wohl ambivalenteste Figur des Romans wird oft von Selbstzweifeln geplagt und hadert mit sich, ob sie wohl gerade das Richtige tue. Lotte Kinskofer führt diese Gedanken sehr oft aus, dabei wären die Leser:innen auch von selbst darauf gekommen. Hier hätte ich mir mehr Vertrauen in die Leser:innen gewünscht. Hinzu kommt eine Wendung im Finale, die wohl eingebaut wurde, um die Mehrheit der Leser:innen zufriedenzustellen. Mich selbst hat diese Wendung, auf die ich inhaltlich nicht eingehen kann, ohne etwas zu verraten, verärgert.

Insgesamt ist "Zum Sterben zu viel" aber ein berührender und lesenswerter Historienkrimi, der mit seinem lokalen Charme und den bewegenden Figuren punktet. Ich gebe 4,5 von 5 Sternen.

Bewertung vom 30.06.2021
Das brennende Haus
Wilder, Kyra

Das brennende Haus


sehr gut

Auch wenn der Klappentext fälschlicherweise von einer Protagonistin namens Erika spricht, folgen wir in Wahrheit der Ich-Erzählerin I, die ihren eigenen Vornamen genauso auf den Anfangsbuchstaben reduziert wie die ihres Mannes und der beiden Kinder. I ist gerade mit M, Tochter E und Babysöhnchen B von den USA in die Schweiz, genauer nach Genf, gezogen. Ihr Mann ist beruflich so stark eingebunden, dass er kaum zuhause ist. Und so ist es an I, die Zeit mit ihren beiden Kindern in der kleinen, engen Wohnung zu verbringen. Ist sie einmal draußen, versteht sie noch nicht einmal die fremde Sprache. Und so zieht sich die Erzählerin nach und nach zurück, isoliert sich so stark, dass die Grenze zwischen Mutterliebe und Wahnsinn irgendwann so schmal ist, dass sie überschritten wird...

"Das brennende Haus" ist der bemerkenswerte Debütroman Kyra Wilders, die ihrerseits mit ihrer Familie aus den Staaten in die Schweiz zog, wo sie bis heute lebt. Das Faszinierendste an ihm ist die Stimme der Erzählerin. Die Leser:innen müssen sich auf diese Stimme verlassen, wenn sie die dargelegte Handlung glauben wollen. Problematisch wird es immer dann, wenn der Roman Dinge auslässt, verschweigt - oder sogar umdeutet, wie im fast selbst wahnsinnig machenden dritten Teil.

Aufgeteilt ist "Das brennende Haus" in eben drei Teile. Während man sich im ersten Teil der Erzählerin und ihrer Familie annähert, befürchtet man im zweiten Teil das Schlimmste. Immer wieder zerfasert die Handlung, indem sie in kursiver Sprache Schritt für Schritt klar macht, wo sich die Erzählerin in diesem zweiten Teil befindet.

Und so schleicht sich mehr und mehr das Grauen ein. Die Ich-Erzählerin selbst sieht und hört in ihrem Haus plötzlich fremde Gesichter und Stimmen und sieht sich in einer besonders beeindruckenden Szene plötzlich Hunderten Frauen in grünen Kleidern ausgesetzt - weil die hübsche Assistentin ihres Mannes ein solches Kleid in der vorherigen Begegnung trug. In diesen Szenen nähert sich "Das brennende Haus" dem Horror-Genre, überschreitet die Grenzen dazu vielleicht sogar auf psychologischer Ebene.

Und auch wenn die Erzählerin im Finale versucht, das Furchtbare ungeschehen zu machen, haben sie die Leser:innen längst durchschaut. Hier gibt es nichts mehr zu beschönigen, nichts wiedergutzumachen.

Obwohl der Roman nur gut 250 Seiten aufweist, hatte ich an einigen Stellen das Gefühl, dass noch weniger sogar mehr gewesen wäre. Denn einige liebevolle Rituale, die I mit ihren Kindern durchführt, wiederholen sich doch sehr oft, genauso wie zentrale Nebenfiguren wie eine andere Mutter, die von I "Nell" genannt wird, keine große Entwicklung aufweisen.

Dennoch ist "Das brennende Haus" ein faszinierender Roman, bei dem sich das Grauen auf leisen Sohlen anschleicht und sich nicht mehr aus den Gedanken vertreiben lässt. Originell, radikal - und sehr bedrohlich.

Bewertung vom 26.06.2021
Die fremde Spionin / Die Spionin Bd.1
Müller, Titus

Die fremde Spionin / Die Spionin Bd.1


sehr gut

Im Ostberlin des Jahres 1961 erhält die 21-jährige Ria eine Stelle im Ministerium für Außenhandel. Was ihr Chef Alexander Schalck nicht weiß: Die junge Frau wurde kurz zuvor vom westdeutschen BND als Agentin engagiert. Ihr Motiv: Rache, denn mit zehn Jahren verlor sie aufgrund der Stasi nicht nur ihre Eltern, sondern wurde auch noch von ihrer jüngeren Schwester Jolanthe getrennt. Schlecht allerdings, wenn der Feind schnell Lunte wittert - und mit dem Top-KGB-Agenten Sorokin einen Mann auf sie ansetzt, der auch vor Morden nicht zurückschreckt...

Titus Müllers "Die fremde Spionin" ist der Auftakt der großen "Spionin-Trilogie", dessen Nachfolger in den nächsten beiden Jahren erscheinen sollen. Es ist ein insgesamt gelungener Auftakt, denn Müller schafft es fast spielerisch, historische und fiktive Figuren zu einer so spannenden wie unterhaltsamen Mischung zu verbinden. Doch während Schalk, Honecker und Ulbricht im wahren Leben die Strippenzieher waren, konzentriert sich der Autor vor allem auf die fiktiven Widerparte Ria und Sorokin.

Sehr positiv fand ich, dass Titus Müller die Figuren differenziert darstellt, sie mit all ihren Stärken und Schwächen präsentiert - egal, für welche Seite sie letztlich arbeiten. Bis auf den Stasi-Offizier Bernd Eickhoff, der eine von vorn bis hinten unangenehme Nebenfigur ist, gibt es bei seinen Charakteren kein Schwarz-Weiß.

Während Ria die eigentliche Heldin des Romans sein soll, bleibt ihre Figur im Vergleich zu ihrem Gegenspieler Sorokin jedoch ein wenig blass. Ich konnte ihr Handeln oft nicht nachvollziehen, sie riskiert viel zu viel. Obwohl ihr Rachemotiv so groß ist, hatte ich häufig das Gefühl, sie nimmt ihren Auftrag einfach nicht ernst genug. Viel zu vage, zu riskant, bleibt ihre Tätigkeit.

KGB-Agent Sorokin hingegen, der den Roman mit einem wunderbar ambivalenten Auftritt auch eröffnen darf, handelt - bis auf eine desaströse Ausnahme gegen Ende des Buches - stets nachvollziehbar. Die inneren Konflikte, die Zerrissenheit der Figur, die Titus Müller nicht nur bei der Geburt seines Sohnes, sondern auch beim Weinen in einem Amsterdamer Museum hervorragend herausgearbeitet hat, sind echte Höhepunkte des Romans, die den Agenten zur unbestritten spannendsten Figur machen.

Seine stärksten Momente hat "Die fremde Spionin", wenn der Roman die Haupthandlung mal ein wenig ruhen lässt. Da lässt der Autor den Blick seitenweise über die geteilte Stadt gleiten, um ganz am Ende der Szene mit einem wahren Paukenschlag in die Haupthandlung zurückzukehren. Da rattern eines Nachts zwei Züge aneinander vorbei, in denen sich zwei Kontrahenten für den Bruchteil einer Sekunde sehen könnten, wenn sie aus den Fenstern blickten. Ganz große Gänsehautmomente, von denen ich mir viele mehr gewünscht hätte.

So schritt mir die Haupthandlung dann in vielen Momenten auch zu schnell voran. Zu schnell wird Ria enttarnt, zu schnell entscheidet sie sich mal für die eine, dann für die andere Seite. Zu vage bleiben die inneren Konflikte der jungen Frau, bei denen Müller an anderer Stelle ja beweist, dass die Zeit für solche Dinge durchaus vorhanden gewesen wäre. Hier regieren die Dialoge, von denen es etwas weniger hätte geben können.

Doch insgesamt ist "Die fremde Spionin" ein lesenswerter und unterhaltsamer Historienroman geworden, der die Genregrenzen des Agententhrillers streift, ohne sich um eine Einteilung zu scheren. Gerade in diesem Jahr, in dem wir wohl noch häufig des Mauerbaus vor 60 Jahren gedenken werden, wird das Buch hoffentlich viel Aufmerksamkeit erhalten - auch bei der jungen Generation, für die die DDR und der Mauerbau aufgrund ihres Geburtsjahrs reine Geschichte sind.

Bewertung vom 20.06.2021
Aus der Welt
Knausgard, Karl Ove

Aus der Welt


sehr gut

Der 26-jährige Aushilfslehrer Hendrik Vankel ist noch nicht wirklich angekommen in dem kleinen Ort in Nordnorwegen. Zwar genießt er bei seinen Schüler:innen durchaus hohes Ansehen, doch bis auf seinen etwa gleichaltrigen Kollegen Henning fühlt er sich die meiste Zeit über einsam. Als er sich in seine 13-jährige Schülerin Miriam verliebt, gerät sein Leben aus den Fugen - seine ganze Existenz fällt "aus der Welt". Aus Angst flüchtet er nach Kristiansand, den Ort seiner Jugend. Doch auch dort lassen ihn die Geister der Vergangenheit nicht ruhen...

"Aus der Welt" ist Karl Ove Knausgards Debütroman aus dem Jahre 1998, der im letzten Jahr erstmals als deutsche Übersetzung erschien. Es ist ein gut 900-seitiges Epos über die Irrungen und Wirrungen der Jugend, die sich bei Protagonist Henrik bis ins Erwachsenenalter fortsetzen. In Schweden sorgte die Übersetzung vor gut fünf Jahren für einen Skandal, in dessen Folge der Autor das Land verließ. Ähnlicher Aufregung ist er in Deutschland entgangen.

Gemeinsam mit Jan Kjaerstad ist Knausgard der wohl aufregendste zeitgenössische norwegische Autor. Schon aufgrund der ähnlichen Länge kommt man nicht umhin, "Aus der Welt" mit Kjaerstads "Femina Erecta" zu vergleichen. Auch wenn "Aus der Welt" eigentlich schon 20 Jahre mehr auf dem Buckel hat, sind es nun einmal die jeweils aktuellen Veröffentlichungen der beiden auf dem deutschen Markt.

Während ich bei Kjaerstads gut 800 Seiten nicht ein einziges Mal das Gefühl hatte, "Femina Erecta" wäre an einigen Stellen zu lang geraten, kann ich das "Aus der Welt" leider nicht bescheinigen. Was nicht heißt, dass es sich nicht trotzdem um einen sehr guten Roman handelt.

Aufgeteilt in drei Teile befasst sich der erste Abschnitt mit Henriks Leben und Liebe in der Schule, der kurze mittlere Teil erzählt das Kennenlernen seiner Eltern. Doch gerade der fast 420 Seiten lange letzte Abschnitt gerät an der einen oder anderen Stelle doch sehr "aus der Welt". Wobei der Titel als geflügelter Begriff immer und immer wieder entweder direkt auftaucht oder sich mehrfach metaphorisch aus den Begebenheiten herauslesen lässt.

Henrik erzählt über sich, er habe gewisse Aussetzer, weiß manchmal nicht, was er in bestimmten Stunden gemacht hat oder wo er gewesen ist. Er ist in diesen Momenten "aus der Welt". Auch die Romanhandlung an sich begibt sich aus ihrer Erzählwelt. So kommt es zu seitenlangen literatur-theoretischen Auseinandersetzungen über Flaubert und James Joyce, zu einem Besuch Gottes, der Henrik vom Christentum überzeugen will oder gar zu einer über 60-seitigen Traumexistenz Henriks, in der er ein völlig anderes Leben führt und sich die Kultur und Geschichte ebenso anders entwickelt hat. Das ist manchmal genial, häufig zu lang, aber immer überraschend und durchaus aufregend.

Protagonist Henrik macht es einem grundsätzlich nicht leicht. Er ist kein klassischer Held, eher eine Art Anti-Held. Henrik lügt, betrügt, benutzt, missbraucht. Und dennoch ließ er mich in seiner Einsamkeit und Eigenartigkeit nicht kalt. Zwar erfährt man aus seiner Kindheit so gut wie gar nichts, aus seiner Jugend umso mehr, wobei dennoch Fragezeichen und Lücken bleiben. Wieso schloss sein Vater ihn im Badezimmer ein und geschah dies mehrfach? Ein Fest für Freudianer, die sich zudem an eindeutigen Metaphern wie der Angst vor Schlangen oder anderen diversen sexuellen Anspielungen ergötzen können.

Die stärksten Momente hat der Roman, wenn sich Henrik in der Beschreibung der norwegischen Natur verliert, egal ob im Süden oder Norden des Landes - und darüber selbstvergessen schon einmal einschläft. Grandios auch das bewegende offene Ende, in dem Henrik in einem einzigen Moment wohl alles verliert, aber gleichzeitig so viel gewinnt - oder ist es andersherum?

"Aus der Welt" ist ein insgesamt beeindruckender Roman, dem 200 Seiten und ein paar Abschweifungen weniger sicherlich nicht geschadet hätten. Im direkten Vergleich mit Jan Kjaerstad unterliegt er bei mir jedoch knapp.

Bewertung vom 08.06.2021
Das Salzfass
Sailer, Simon

Das Salzfass


ausgezeichnet

Der Antiquitätenhändler Maurice erhält durch die Übernahme eines Nachlasses ein kleines Salzfass, auf dessen Boden sich der Rest einer weißen Substanz befindet. Während sich daraus ein pilzartiges Geflecht bildet, leidet Maurice zunehmend unter einem seltsamen Brummen im Kopf. Beheben lässt sich dieses offenbar nur durch ein Füttern des Salzfasses. Als das Geflecht größer und größer wird, sieht Maurice keinen anderen Ausweg als sich vom Salzfass zu trennen. Doch niemand erbarmt sich und zeigt Interesse...

Wer von Simon Sailer bereits die im letzten Jahr erschienene Erzählung "Die Schrift" gelesen hat, fühlt sich bei der Grundkonstellation im "Salzfass" unmittelbar an diese erinnert: Ein eigentlich mit beiden Beinen im Leben stehender Mann wird von einer Antiquität im wahrsten Sinne des Wortes aus selbigem gerissen. Während die "Schrift" Leo Buri vertrieb, muss sich nun Maurice Demel mit den Auswüchsen eines Salzfasses auseinandersetzen. Beide Erzählungen sind jedoch völlig eigenständig und damit unabhängig voneinander lesbar.

Simon Sailer überzeugt im "Salzfass" einmal mehr mit einer wunderbar-grotesken Schauergeschichte. Wie sehr Maurice nach und nach den Boden unter den Füßen verliert, machen auch die äußerst gelungenen Illustrationen von Jorghi Poll deutlich. Da erkennt man das Tier im Manne, und ein Einsatz Maurices gegen das Geflecht sieht aus, als sei der Antiquitätenhändler knapp einem Reaktorunglück entkommen. Anders als in der "Schrift" sind die Illustrationen diesmal in Schwarz-Weiß gehalten, dadurch aber keineswegs weniger eindringlich.

Gelungen ist die von Sailer gewählte Perspektive, in der Maurices Nachfolgerin einem Kunden erzählt, wie sie an das Salzfass geraten ist, wobei nie ganz klar ist, wie verlässlich sie wirklich ist. Auch hier fühlt man sich an den unzuverlässigen Erzähler aus der "Schrift" erinnert. Das Finale verblüfft in dieser Hinsicht mit einem großartigen Perspektivwechsel, über den man jedoch am besten keine Worte verliert, um die Überraschung nicht zu verderben.

Auch die Figuren überzeugen. Während man mit Maurice leidet, sind es auch die Nebenfiguren, die den Leser*innen das Herz öffnen. Allen voran der genial-überhebliche Karl Kappitsch, der mich mit seinem Schmäh mehr als einmal zum Lachen brachte. Insgesamt hat "Das Salzfass" mehr komische Elemente als "Die Schrift", bei der mir Protagonist Leo in seiner Melancholie irgendwann nur noch leid tat.

Eigentlicher Hauptdarsteller ist ohnehin das Salzfass, das in seiner schier unendlich wirkenden Gier schon mal Panini-Sticker der österreichischen Fußballnationalmannschaft empört wieder ausspuckt, um sich eher dem Fraß einer wertvollen Briefmarke hinzugeben - herrlich und ganz nebenbei Konsumkritik erster Güte.

So zeigt Simon Sailer in "Das Salzfass", welche dramatischen Auswirkungen der Besitz eines wertvollen Gegenstands auf den Menschen haben kann und wie es ist, wenn dieser Gegenstand die Macht förmlich an sich reißt. Eine große Unterhaltung, die schon jetzt Vorfreude auf die geplante dritte Erzählung macht.

Bewertung vom 02.06.2021
Die Karte ist nicht das Gebiet
Meyer, Stephan Martin

Die Karte ist nicht das Gebiet


ausgezeichnet

Der 14-jährige Johan ist unglücklich. Ausgerechnet sein bester Freund Nils umgibt sich nur noch mit Linus, dem Jungen, der Johan fast täglich mobbt und beleidigt. Da kommt es ihm gelegen, die Ferien wie gewohnt mit seinen Eltern in Südtirol zu verbringen, wo er auf Luise und Paul, zwei langjährige Ferienfreunde, trifft. Als bei einem Erdrutsch die gemeinsame Ferienpension zerstört wird und gar ein Todesopfer geborgen werden muss, bezweifeln die drei Jugendlichen, dass es sich dabei wirklich um einen Unfall handelt. Für weitere Aufregung sorgt Johans Verhältnis zu Paul, der mit seinen sexuellen Anspielungen nicht nur Johan verwirrt...

Hinter dem anfangs etwas sperrig wirkenden Titel "Die Karte ist nicht das Gebiet" von Stephan Martin Meyer verbirgt sich ein warmherziger Coming-of-Age-Jugendroman mit liebenswerten Protagonisten und einer wirklich spannenden Rahmenhandlung. Schon bevor der Roman mit einem sprachlich fulminanten Prolog beginnt, steht ein gezeichneter Kompass auf dem Kopf - und deutet schon einmal die Irrungen und Wirrungen des Erwachsenwerdens an, die insbesondere Johan und Paul mit fortschreitender Dauer zunehmend beschäftigen.

In Johan erwachen homosexuelle Gefühle, was der Autor empathisch und warmherzig begleitet und seiner Figur mit großer Ernsthaftigkeit den Rücken stärkt. Denn gerade das Ernst-genommen-Werden fehlt nicht nur Johan, sondern auch zahlreichen weiteren Kindern und Jugendlichen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Vor allem für sie lohnt sich dieser Roman, dem ich in dieser Hinsicht eine große Aufmerksamkeit wünsche. Realistisch, unterhaltsam, aber nie peinlich werden sich die Figuren ihrer aufkommenden Sexualität bewusst, und auch dieses Hin- und Hergerissensein zwischen Gefühlen für verschiedene Personen und Geschlechter stellt Stephan Martin Meyer beeindruckend und authentisch dar.

Doch nicht nur das bevorstehende Coming-Out, sondern auch das "Verbrechen", wie es der Untertitel nennt, sorgt für Spannung. Im positiven Sinne fühlte ich mich an Enid Blytons "Abenteuer"- oder "Geheimnis um"-Reihen erinnert - allerdings im modernen Gewand und mit durchaus drastischeren Folgen. Die Mädchenfigur Luise geht mit fortschreitenden Ermittlungen leider ein wenig unter und beklagt sich auch gegen Ende des Buches nicht zu Unrecht darüber. Doch in den entscheidenden Momenten ist auch sie wieder zur Stelle, um Johan und Paul zu unterstützen.

Ein weiteres Plus ist die Figurenzeichnung, insbesondere bei den vermeintlich "bösen" Charakteren. Sie werden ambivalent mit all ihren Stärken und Schwächen porträtiert - vielleicht mit Ausnahme von Johans Erzrivalen Linus, der eigentlich den ganzen Roman über nur "blöd und gemein" erscheint.

Insgesamt ist "Die Karte ist nicht das Gebiet" ein lesenswerter und wichtiger Jugendroman, der unterhält und gleichzeitig berührt und dabei allen Jugendlichen, egal ob homo-, hetero-, bisexuell oder was auch immer, ein bedeutender Kompass sein kann - auf der Suche nach dem Erwachsenwerden und nach sich selbst.

Bewertung vom 29.05.2021
Die Sprache des Lichts
Kramer, Katharina

Die Sprache des Lichts


ausgezeichnet

Europa im Jahre 1582: Während sich der sprachbegabte Lehrer Jacob Greve im sächsischen Pforta über seine unwilligen Schüler ärgert, tritt Margarète Labé in den Pyrenäen ihre Aufgabe als Übersetzerin und Spionin der Katholischen Liga an. Der Kontinent ist gespalten durch die Religionskriege zwischen Katholiken, Protestanten und anderen religiösen Gruppen. Einig sind sie sich offenbar nur in ihrer Suche nach der Sprache der Schöpfung, die Gott verwendet haben soll, um die Welt zu erschaffen. So scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sich die Wege Margarètes und Jacobs in den Wirren der Religionskriege kreuzen...

Katharina Kramer hat mit ihrem Debütroman "Die Sprache des Lichts" einen großartigen historischen Roman geschrieben, der gleichermaßen klug wie unterhaltsam und spannend ist. Hervorzuheben ist vor allem die Liebe zum Detail, die diesen Roman wie ein roter Faden vom Anfang bis zum Ende begleitet. Den allermeisten der 42 Kapitel hat Kramer im Anhang Erläuterungen oder historische Vertiefungen beigefügt, was sich für die Leser*innen als wirklicher Gewinn entpuppt. Denn so erfährt man beispielsweise ganz nebenbei, welche der Figuren historisch ist und welche vielleicht nur auf ähnlichen Figuren basieren. Dabei wirkt dieser Anhang nie belehrend oder zu detailliert, sondern ist einfach eine empfehlenswerte Zugabe.

Der Schreibstil Kramers ist trotz der Fülle an Figuren und historischen Themen nie überfrachtet oder gar langweilig, sondern passt sich den lebendigen Figuren und schillernden Orten hervorragend an. So entwickelt sich ein fast federleichter Roman, der beweist, dass sich Unterhaltung und Lernen nicht ausschließen. Denn so spannend die Romanhandlung ist, so viel lernt man über diese unruhige Zeit, die doch gerade erst der Anfang aller religiösen Streitigkeiten sein sollte.

Ein weiteres großes Plus sind die Figurenzeichnungen. Die Protagonist*innen Jacob, Margarète und der rätselhafte Alchimist Edward Kelley sind wunderbar ambivalent geraten. Keine*r von ihnen ist nur "gut oder böse", eine Schwarz-Weiß-Zeichnung umgeht die Autorin in bemerkenswerter Weise. Dies setzt sich glücklicherweise bei den Nebenfiguren fort. Bei fast niemandem von ihnen wirkt das Handeln unrealistisch oder nicht schlüssig. Im Gegenteil tragen sie mit ihrer Vielfältigkeit zum Gelingen des Romans bei.

Auch wenn Jacob Greve in "Die Sprache des Lichts" zahlreiche Fehler unterlaufen und er sich auch charakterlich nicht immer einwandfrei verhält, ist er meine klare Lieblingsfigur des Romans geworden. Seine Weltfremdheit, seine Synästhesie, sein bisweilen kindliches Gemüt berührten mich sehr - und auch zahlreiche weitere Figuren des Romans unterliegen diesem naiven Charme, in dem Jacob zwischen nörgeligem Jungen und alles durchdenkendem Erwachsenen sehr viele Facetten zeigt. Die dazugehörige Liebesgeschichte entfaltet eine zärtliche Magie und umkurvt geschickt sämtliche Kitschfallen.

Hinreißend schön fand ich, wie sehr man dem Roman anmerkt, dass Katharina Kramer die Sprachen dieser (und der göttlichen) Welt mindestens ebenso liebt wie ihre Figuren. Da werden Sprachcodes aufgedeckt, das Vater Unser schon mal gepfiffen und manchmal wird sogar rückwärts gesprochen. Ein Fest, für alle Leser*innen, die sich für Sprachen interessieren und diese in ihrer Vielfältigkeit schätzen.

Die "Auswahl-Bibliografie" am Ende des Romans beweist außerdem, wie zeitaufwändig und intensiv die Autorin an ihrem Debütwerk gearbeitet haben muss. Etwas Ähnliches habe ich in Verbindung mit den historischen Anmerkungen wohl noch nie zuvor in einem Historienroman gelesen.

Ein Aufwand, der sich gelohnt hat, denn "Die Sprache des Lichts" ist ein wirklich außergewöhnlicher Roman geworden, der trotz seines komplexen Themas stets zugänglich, aufregend und unterhaltsam bleibt - und mit Jacob Greve mindestens eine unvergessliche Figur erschaffen hat.