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Christian1977
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Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 29.05.2021
Die Sprache des Lichts
Kramer, Katharina

Die Sprache des Lichts


ausgezeichnet

Europa im Jahre 1582: Während sich der sprachbegabte Lehrer Jacob Greve im sächsischen Pforta über seine unwilligen Schüler ärgert, tritt Margarète Labé in den Pyrenäen ihre Aufgabe als Übersetzerin und Spionin der Katholischen Liga an. Der Kontinent ist gespalten durch die Religionskriege zwischen Katholiken, Protestanten und anderen religiösen Gruppen. Einig sind sie sich offenbar nur in ihrer Suche nach der Sprache der Schöpfung, die Gott verwendet haben soll, um die Welt zu erschaffen. So scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sich die Wege Margarètes und Jacobs in den Wirren der Religionskriege kreuzen...

Katharina Kramer hat mit ihrem Debütroman "Die Sprache des Lichts" einen großartigen historischen Roman geschrieben, der gleichermaßen klug wie unterhaltsam und spannend ist. Hervorzuheben ist vor allem die Liebe zum Detail, die diesen Roman wie ein roter Faden vom Anfang bis zum Ende begleitet. Den allermeisten der 42 Kapitel hat Kramer im Anhang Erläuterungen oder historische Vertiefungen beigefügt, was sich für die Leser*innen als wirklicher Gewinn entpuppt. Denn so erfährt man beispielsweise ganz nebenbei, welche der Figuren historisch ist und welche vielleicht nur auf ähnlichen Figuren basieren. Dabei wirkt dieser Anhang nie belehrend oder zu detailliert, sondern ist einfach eine empfehlenswerte Zugabe.

Der Schreibstil Kramers ist trotz der Fülle an Figuren und historischen Themen nie überfrachtet oder gar langweilig, sondern passt sich den lebendigen Figuren und schillernden Orten hervorragend an. So entwickelt sich ein fast federleichter Roman, der beweist, dass sich Unterhaltung und Lernen nicht ausschließen. Denn so spannend die Romanhandlung ist, so viel lernt man über diese unruhige Zeit, die doch gerade erst der Anfang aller religiösen Streitigkeiten sein sollte.

Ein weiteres großes Plus sind die Figurenzeichnungen. Die Protagonist*innen Jacob, Margarète und der rätselhafte Alchimist Edward Kelley sind wunderbar ambivalent geraten. Keine*r von ihnen ist nur "gut oder böse", eine Schwarz-Weiß-Zeichnung umgeht die Autorin in bemerkenswerter Weise. Dies setzt sich glücklicherweise bei den Nebenfiguren fort. Bei fast niemandem von ihnen wirkt das Handeln unrealistisch oder nicht schlüssig. Im Gegenteil tragen sie mit ihrer Vielfältigkeit zum Gelingen des Romans bei.

Auch wenn Jacob Greve in "Die Sprache des Lichts" zahlreiche Fehler unterlaufen und er sich auch charakterlich nicht immer einwandfrei verhält, ist er meine klare Lieblingsfigur des Romans geworden. Seine Weltfremdheit, seine Synästhesie, sein bisweilen kindliches Gemüt berührten mich sehr - und auch zahlreiche weitere Figuren des Romans unterliegen diesem naiven Charme, in dem Jacob zwischen nörgeligem Jungen und alles durchdenkendem Erwachsenen sehr viele Facetten zeigt. Die dazugehörige Liebesgeschichte entfaltet eine zärtliche Magie und umkurvt geschickt sämtliche Kitschfallen.

Hinreißend schön fand ich, wie sehr man dem Roman anmerkt, dass Katharina Kramer die Sprachen dieser (und der göttlichen) Welt mindestens ebenso liebt wie ihre Figuren. Da werden Sprachcodes aufgedeckt, das Vater Unser schon mal gepfiffen und manchmal wird sogar rückwärts gesprochen. Ein Fest, für alle Leser*innen, die sich für Sprachen interessieren und diese in ihrer Vielfältigkeit schätzen.

Die "Auswahl-Bibliografie" am Ende des Romans beweist außerdem, wie zeitaufwändig und intensiv die Autorin an ihrem Debütwerk gearbeitet haben muss. Etwas Ähnliches habe ich in Verbindung mit den historischen Anmerkungen wohl noch nie zuvor in einem Historienroman gelesen.

Ein Aufwand, der sich gelohnt hat, denn "Die Sprache des Lichts" ist ein wirklich außergewöhnlicher Roman geworden, der trotz seines komplexen Themas stets zugänglich, aufregend und unterhaltsam bleibt - und mit Jacob Greve mindestens eine unvergessliche Figur erschaffen hat.

Bewertung vom 22.05.2021
Unverschwunden
Gurt, Philipp

Unverschwunden


ausgezeichnet

Der erfolgreiche Schrifsteller Lukas Cadisch steht kurz vor der Präsentation seines neuen Romans, als er eines Morgens feststellt, dass er ein "Unverschwundener" ist. Seine Mitmenschen bemerken ihn nicht mehr, Lebewesen kann er nicht mehr berühren. Was macht das mit einem Menschen, wenn er merkt, einsam aber nicht allein zu sein? Und wie verkraften die anderen das Verschwinden einer geliebten Person? Darüber und über so viel mehr schreibt Philipp Gurt in seinem neuen Roman "Unverschwunden".

Bereits der Name des Romans deutet an, dass Gurt hier etwas ganz Neues und Individuelles erschaffen hat, das sich in der Kreation des Titels "Unverschwunden" ausdrückt. Und treffender könnte der Begriff wohl nicht sein, denn Protagonist Lukas ist für seine Umwelt verschwunden, doch er selbst erlebt mit zunehmender Dauer des Romans nahezu alle Eindrücke viel intensiver als zuvor. Für sich selbst ist er ein "Unverschwundener", der Rest sind die "Wahrhaftigen". Der Autor steigt tief in seine Figur hinein, lässt seine Leser*innen die gesamte Gefühlsklaviatur fast körperlich spüren. Ob Lukas aus nächster Nähe einen Wolf oder eine Bärenfamilie beobachtet, ob er einem existenziell-bedrohlichen Gewitter ausgesetzt ist: Gurt schafft unvergessliche Momente eindringlicher Intensität. Mit der Zeit fragte ich mich, wer eigentlich "wahrhaftig" ist. Ist es nicht derjenige, der ungefiltert all diese Eindrücke, die Gerüche und Farben aufnehmen kann? Ist es vielleicht sogar die größte Wahrhaftigkeit überhaupt, ganz mit und bei sich zu sein?

Philipp Gurt ist klug und zurückhaltend genug, seinen Leser*innen diese existenziellen Antworten zu überlassen und zu überlegen, wie man selbst mit einer solchen Situation umgehen würde. Als angenehm habe ich außerdem empfunden, dass sich der Autor seinen Figuren insgesamt mit großer Empathie nähert. Wenn Lukas seinem demenzkranken Vater gegenübersteht und für einen gewissen Moment glaubt, von diesem gesehen zu werden, setzt nicht nur bei ihm das Herz für eine Sekunde aus. Und just, als alles verloren scheint, kommt es zu einer fast biblischen Erlösungsszene - in Gestalt eines blinden kleinen Hundes, dessen Name "Hope" auf den ersten Blick plakativ wirkt, aber letztlich genau das ausdrückt, was ich mir für Lukas sehnlichst wünschte.

Da es am besten ist, inhaltlich vor allem über das wirklich überraschende letzte Viertel des Buches nichts zu verraten, möchte ich nur noch erwähnen, dass "Unverschwunden" auch so etwas wie eine große Liebeserklärung an sein Heimatland, die Schweiz, und ihre Natur ist. Lukas reist ständig durch dieses kleine Land, nähert sich ihm auch gesellschaftskritisch, doch die Natur überstrahlt in ihrer Erhabenheit alles. Sympathisch und wichtig fand ich auch die Erwähnung und Verwendung der rätoromanischen Sprache, die als Minderheitensprache gern einmal übersehen wird.

Den Schreibstil Gurts habe ich überwiegend als positiv empfunden. Insbesondere in den erwähnten Naturbeschreibungen spielt er sein gesamtes Können aus, lässt Farben und Gerüche auf die Leser*innen wirken. Teils weniger gelungen fand ich die Dialoge. Vor allem in Rückblicken auf vergangene Liebesbeziehungen wird schon mal die Grenze zum Kitsch zumindest gestreift. In anderen Fällen konnte ich Lukas' Handeln nicht nachvollziehen. Gerade zu Beginn, als er noch in der Experimentierphase ist, war für mich nicht zu erklären, warum er nicht zumindest versucht, den Polizist*innen die Tür zu öffnen. Chancen, die zu einem weiteren moralischen Dilemma - und ganz nebenbei zu hinreißenden Szenen - führen könnten, werden nicht genutzt. So wird nie ganz geklärt, was es für Lukas bedeutet, sämtliche Dinge stehlen zu müssen.

Insgesamt sind dies aber Kritikpunkte, die von der genialen Grundidee des Romans und von den wirklich eindringlichen Momenten, die Gurt schafft, größtenteils überlagert werden. So ist "Unverschwunden" für mich ein absolut lesenswerter, aufregender Roman, der zum Nachdenken anregt und lange nachwirkt.

Bewertung vom 18.05.2021
Vor Gericht / Kriminaldirektor a.D. Manz Bd.2
Wittekindt, Matthias

Vor Gericht / Kriminaldirektor a.D. Manz Bd.2


ausgezeichnet

Kriminaldirektor a. D. Manz lebt in der Nähe von Dresden, wo er leidenschaftlich rudert und sich mit seinem Ruhestand arrangiert hat. Als ein Brief der Staatsanwaltschaft Berlin eingeht, hat die Beschaulichkeit ein Ende. Der 73-Jährige muss vor Gericht aussagen, denn in seinem letzten Berliner Fall vor der Versetzung nach Dresden haben sich dank eines DNA-Gutachtens neue Hinweise ergeben. Allerdings liegt das Verbrechen mittlerweile fast 30 Jahre zurück. Und so liest sich Manz ein in die Akten des damaligen Falles und versinkt dabei fast unmerklich nach und nach in der Vergangenheit...

"Ein alter Fall von Kriminaldirektor a. D. Manz" ist der Untertitel von Matthias Wittekindts neuem Kriminalroman "Vor Gericht". Und so unspektakulär dieser Untertitel auf dem ersten Blick anmutet, so wunderbar aus der Zeit gefallen ist der gesamte Roman. Wittekindt nimmt sich viel Zeit für die Einführung seines Protagonisten Manz, dessen Vorname im gesamten Buch nur ein einziges Mal auftaucht. So wird aus dem Kriminaldirektor a. D. ein wunderbar vielschichtiger Charakter. Ein Mann, der sich im Privatleben einen Fehltritt erlaubt hat, dessen Genauigkeit im Beruf aber über jeden Zweifel erhaben scheint. So glaubt es auch Manz selbst lange Zeit, ehe im letzten Drittel des Romans auch hier der große Selbstzweifel einsetzt. Wenn Manz in die Vergangenheit eintaucht, darüber die Gegenwart fast vergisst, Selbstgespräche führt und ihn eine große Melancholie überfällt, nimmt der Leser Anteil an dieser Figur mit all ihren Fehlern und Schwächen.

Der Roman selbst ist in zwei Teile gegliedert. Im längeren ersten Teil vermischen sich Manz' Gegenwart mit dem Studium der Akten. In Rückblicken zeigt Wittekindt detailliert die verschiedenen Verhöre auf und baut dadurch trotz - oder gerade wegen - dieser Details und der dazugehörigen Langsamkeit eine intensive Spannung auf. Fast folgerichtig scheint die Veröffentlichung von "Vor Gericht" im Kampa-Verlag zu sein, dem Verlag, der Georges Simenons Maigret zurück in die Gegenwart holte. Mehr als einmal erinnern diese ausschweifenden Verhöre an den belgischen Meister. Wunderbar gelungen ist in diesem Zusammenhang auch die ambivalente Charakterisierung des Mordopfers Regina Zeisig. Eine Frau, die Wahlwerbung für die Republikaner betreibt, aber Armenpakete nach Osteuropa schickt. Eine Vegetarierin mit Lust auf Currywurst und weniger Lust auf Hähnchen.

Der zweite Teil, der etwa 100 Seiten einnimmt, spielt dann vor dem Berliner Gericht. Ohne große Brüche lässt Wittekindt seine Leser*innen am Verhandlungsverlauf teilnehmen, erfasst jede Regung - und stürzt sie gemeinsam mit Manz in ein Meer aus Zweifeln.

Mit "Vor Gericht" ist Matthias Wittekindt somit abermals ein großer Wurf der deutschen Kriminalliteratur gelungen. Tolle Dialoge, starke Figuren und ein rätselhafter Kriminalfall, der laut Anmerkung des Autors lose auf einem wirklich stattgefundenen Prozess basiert, machen den Roman zu einem großen und unterhaltsamen Lesevergnügen.

Bewertung vom 13.05.2021
Grüne Glücksorte in Hamburg
Breukelchen, Tanja;Marzi, Moritz

Grüne Glücksorte in Hamburg


ausgezeichnet

Autorin Tanja Breukelchen kannte ich bereits vom letztjährigen Hamburg-Buch "Zu Fuß durch die Hansestadt Hamburg", mit dem sie mir auf zwölf wunderbar unterschiedlichen Spaziergängen das Gefühl gab, als Hamburger Urlaub in der eigenen Stadt zu verbringen. Nun liegt in Zusammenarbeit mit Fotograf Moritz Marzi "Grüne Glücksorte in Hamburg" vor, in dem die beiden - wie der Name es vermuten lässt - 80 Hamburger Orte präsentieren, an denen sich die Hansestadt an der frischen Luft besonders gut genießen lässt.

Jeder der Orte wird dabei auf zwei Seiten vorgestellt, bestehend aus jeweils einer Seite Text und Foto. Bei den Texten setzt Breukelchen auf eine gelungene Mischung aus Sachinformationen und persönlichem Bezug zum jeweiligen Ort. Oft gibt es eine kleine kulinarische oder kulturelle Empfehlung dazu. Besonders lobenswert ist, dass sie zu fast jedem "Glücksort" auch die jeweilige Bus- oder Bahnhaltestelle dazuliefert. Das erspart Interessierten die Suche, und in Hamburg kann man sich ja ohnehin wunderbar ohne eigenen PKW fortbewegen. Gefreut hat mich, dass mein Heimat-Stadtteil Bramfeld es mit dem Gut Karlshöhe und dem Erlebnispfad "Alraune" gleich zweimal in dieses Buch geschafft hat. Das habe ich in ähnlichen Büchern so noch nicht erlebt.

Die meisten Fotos von Moritz Marzi habe ich als ansprechend empfunden. Schaut man sich beispielsweise die Fischbeker Heide oder das Wittmoor an, braucht man den Text fast gar nicht mehr zu lesen, um spontane Lust darauf zu bekommen, den Ort zu besuchen. Die kleine Poppenbütteler Burg Henneberg könnte so auch aus einem Märchenbuch stammen. Einige Fotos erhalten außerdem eine sympathische persönliche Note, da sich Tanja Breukelchen auf ihnen offensichtlich gemeinsam mit ihrer Tochter zeigt und man dadurch gleich das Gefühl erhält, dass die Autorin alle Orte wirklich selbst "ausprobiert" hat.

Einen kleinen Abzug gibt es dafür, dass einige der Orte fast deckungsgleich so auch schon im oben genannten "Zu Fuß"-Buch enthalten waren und selbst die Texte den damaligen sehr ähneln. Für Leser*innen, die das andere Buch nicht kennen, ist dies selbstverständlich kein Nachteil und bei der Fülle an "Glücksorten" macht dies auch nur einen kleinen Teil aus. Zudem waren mir andere Orte auch schon aus ähnlichen Büchern bekannt, wodurch der Überraschungseffekt ein wenig verpuffte.

Für mich war die hinten angefügte "Glückskarte" problematisch. Da ich an einer Rot-Grün-Schwäche leide, konnte ich einige der roten Ziffern auf grünem Grund kaum erkennen. So verpufft der Zweck der Karte etwas, der ja eigentlich einen schnellen Überblick darüber liefern soll, wo man welchen Ort findet. Die große Mehrheit der Leser*innen wird damit natürlich kein Problem haben.

Insgesamt war "Grüne Glücksorte in Hamburg" für mich aber ein lesenswertes Buch, das mir einmal mehr aufzeigte, wie viele schöne Ecken ich in Hamburg noch nicht kenne, obwohl ich mittlerweile seit mehr als 44 Jahren hier lebe. Zugleich lieferte es mir zahlreiche Inspirationen für kommende Wanderungen. Ein Besuch der Fischbeker Heide muss im August oder September einfach mal drin sein. Und auch die Schafe im Spadenland möchte ich so schnell wie möglich kennenlernen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.05.2021
Hotel Weitblick
Silberer, Renate

Hotel Weitblick


gut

Der angesehene Consulter Dr. Marius Tankwart will den Absprung aus seinem bisherigen Leben schaffen: nur noch ein Seminar leiten, dann geht es nach Mexiko in ein neues Leben! Doch dieses letzte Seminar im titelgebenden "Hotel Weitblick" hat es in sich: Eine Frau und drei Männer, allesamt Führungskräfte einer Werbeagentur, finden sich zusammen und es ist an Marius, am Ende dieser drei Tage eine Empfehlung für den Geschäftsführer-Posten auszusprechen. Während sich die Kandidat*innen spinnefeind sind, entdeckt Marius plötzlich bedrohliche Parallelen zu seiner eigenen Erziehung - und droht an der Aufgabe und an sich selbst zu scheitern...

"Hotel Weitblick" ist der Debütroman Renate Silberers, der sich ganz auf die kammerspielartige Situation im Hotel einlässt und dabei zu mutigen und neugierig machenden literarischen Stilmitteln greift. Da reihen sich ganze Gedankenketten aneinander, in denen lediglich die Kommata den Leser*innen eine Verschnaufspause gönnen. Da verzichtet Silberer komplett auf Anführungszeichen, um die Rede- und Denkflüsse so selten wie möglich zu unterbrechen. Da wechselt die Erzählperspektive von einer Figur zur nächsten, manchmal innerhalb desselben Absatzes und ein Gedanke wird nicht einmal zu Ende geführt. Dass es sich dabei um mehr als eine literarische Spielerei handelt, merkt man, wenn man versucht, diesen Gedanken zu folgen. Es ist dabei höchste Konzentration gefragt, um nicht zu verpassen, wer eigentlich gerade spricht oder denkt. Gleichzeitig nimmt Silberer den Teilnehmer*innen der konformen Leistungsgesellschaft dadurch ein Stückchen Identität und deutet die Gleichförmigkeit der Figuren an. Durchaus gelungen!

Da man Consulter Marius am nächsten kommt, leidet man am ehesten noch mit ihm, während alle Kandidat*innen sich doch sehr unsympathisch mit dem gewollten Hang zur Überzeichnung präsentieren. Trotzdem funktioniert die Konstellation anfangs gut. Es ist unterhaltsam und böse, wenn man die Vorurteile der Figuren liest; ihr Verhalten lädt zum Kopfschütteln und Schmunzeln ein. Diese Ausgangssituation hätte Renate Silberer zu einem gesellschaftskritischen Roman erster Klasse ausbauen können, doch leider sinkt das Niveau in meinen Augen nach und nach.

Auslöser dafür sind die Erziehungsmethoden Johanna Haarers, die - das erfahren wir ziemlich schnell - bei Marius aufgrund seiner lieblosen Mutter ein regelrechtes Trauma ausgelöst haben. Haarers Methoden wurden vor allem zu Zeiten des Nationalsozialismus als die richtigen angesehen, setzten sich jedoch offenbar auch danach noch durch. Marius führt die furchtbarsten Erziehungsdogmen auf Karteikarten stets bei sich. Es ist ein legitimes Ansinnen der Autorin, diese schwarze Pädagogik den Leser*innen bewusst zu machen. Doch in meinen Augen sind die Mittel nicht richtig gewählt. Mit zunehmender Dauer des Romans konzentriert sich nämlich nahezu alles auf diese Karteikarten und Haarer. Marius glaubt, dass alle Kandidat*innen auf diese schreckliche Art erzogen wurden und deshalb dort stehen, wo sie sich jetzt befinden. Und tatsächlich erfahren wir, dass wirklich jede/r Einzelne ein Muttertrauma hat. Für Freudianer mag das ein Fest sein, für mich war das zu viel an Monster-Müttern, da sich ansonsten bei der Figurenentwicklung auch wenig tut.

Nach dem finalen Konflikt stellte sich bei mir die Frage, was außer Johanna Haarer und ein paar wirklich guten Ansätzen zu Beginn bei mir eigentlich hängen bleibt - und was letztlich die Moral von der Geschicht ist... Bis auf "Johanna Haarers Erziehungsmethoden waren definitiv falsch" fällt mir leider nicht viel ein.

Dass Silberer dabei den Seminarraum "Harmonie" nennt und den Corona-Lockdown trotz der Handlung im April 2020 komplett verschweigt, konnte ich da noch verkraften. Doch letztlich waren mir die Figuren zu ähnlich und zu eindimensional, um ein positiveres Fazit zu ziehen. Das "Hotel Weitblick" blickt nämlich fast ausschließlich weit nach hinten - in die verkorksten Mutter-Kind-Beziehungen sämtlicher Figu

Bewertung vom 07.05.2021
Caspers Weltformel
Grader, Victoria

Caspers Weltformel


ausgezeichnet

Der Physik-Doktorand Casper lebt ein vorhersehbares Leben. Täglich arbeitet er in einem Büro an seiner Dissertation, und auch seine Mitmenschen können ihn nicht überraschen. Kein Wunder, schließlich bastelt er seit seiner Kindheit an einer "Weltformel", mit der er alles voraussehen kann, was ihm widerfahren wird und ergänzt diese Formel täglich in seinen Notizbüchern. Was macht man aber, wenn man keine Lust mehr hat auf diese Formel? Wenn man aus seinem alltäglichen Leben ausbrechen möchte? Ganz einfach, denkt sich Casper: "Ich mach einfach immer das Gegenteil von dem, was ich sonst machen würde." Und so setzt er sich nicht in den Zug, der ihn zu seiner Mutter nach München bringt, sondern fährt kurzerhand nach Budapest. Dort trifft er auf Ilona - und merkt, dass seine Formel an dieser Frau scheitert...

Victoria Graders Debütroman "Caspers Weltformel" ist einfach hinreißend - und der Beweis dafür, wie lebendig junge deutschsprachige Literatur sein kann. Mit Casper und Ilona hat Grader zwei wahrlich unvergessliche Charaktere geschaffen. Der weltfremde Casper, dem die meisten Menschen mit Unverständnis begegnen, setzt sich ständig für eine bessere Welt ein, nur um jedes Mal aufs Neue enttäuscht zu werden. Die chaotische und aufbrausende Ilona, die für ihre ärmliche Wohnung mit drei Monatsmieten im Rückstand ist, und trotzdem von einem reichen Prinzen träumt, der sie mit nach Istanbul nimmt, wirkt auf den ersten Blick wie Caspers komplettes Gegenteil. Dennoch entsteht zwischen den beiden ein fast magisches Verhältnis voller zärtlicher Momente und mindestens ebenso vielen Konflikten.

Es ist gerade das Gespür für die Figuren und die Empathie der Autorin mit den AußenseiterInnen dieser auf Konformität gebürsteten Gesellschaft, das "Caspers Weltformel" zu dieser großen Besonderheit macht. Insbesondere Hauptfigur Casper hat mich wirklich angerührt und dafür gesorgt, dass der Roman mich auch beschäftigte, wenn ich nicht in ihm las. Ich konnte mich mit zahlreichen seiner skurrilen Eigenschaften identifizieren. Diese Empathie für die Figuren beschränkt sich glücklicherweise nicht auf die beiden ProtagonistInnen, so dass "Caspers Weltformel" bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein, darunter vor allem Lastwagenfahrer János, liebevoll stimmig wirkt.

Auf der Handlungsebene beschränkt sich die erste Hälfte vornehmlich damit, wie Casper in seinem neuen Leben in Budapest zurechtkommt, während das Erzähltempo vor allem im letzten Drittel ungemein zulegt, weil sich auch Caspers und Ilonas Leben aus Gründen, die ich nicht vorwegnehmen möchte, dramatisch ändert. In diesen Momenten nimmt der Roman Züge eines modernen Märchens an, das in einem feurig-furiosen Epilog seinen genialen und liebenswerten Höhepunkt findet.

So ist "Caspers Weltformel" für mich einer der ganz großen Höhepunkte des bisherigen Lesejahrs 2021 und der Beweis, dass es in der deutschsprachigen Literatur Zeit ist für neue Helden: für Casper, Ilona, aber auch für Victoria Grader, die bereits mit ihrem Debüt etwas Unvergessliches geschaffen hat.

Bewertung vom 30.04.2021
Die liegende Frau
Ehemann, Wolfgang

Die liegende Frau


sehr gut

3. Juni 1998: Auf der Fahrt von Hannnover nach Hamburg entgleist der ICE "Wilhelm Conrad Röntgen" bei Eschede. Unter den Schwerverletzten befindet sich auch Barbara Dahlmann, die sich fortan in einem Krankenhaus im Koma befindet - für die nächsten 20 Jahre...

Wie schreibt man einen Roman mit einer Protagonistin, die im Koma liegt? Ein nicht leichtes Unterfangen, dem sich Wolfgang Ehemann in seinem überraschenden und aufregenden Debütroman "Die liegende Frau" stellt. Nicht leicht fällt zu Beginn auch das Lesen, denn Ehemann greift nach dem nüchternen und dennoch intensiven Prolog zu einem genialen Kunstgriff, der mir bislang so nur aus dem hinreißenden "Fuchs 8" von George Saunders bekannt war. Denn so wirr Barbaras Gedanken nach fünf Jahren Koma - die Handlung setzt im Jahr 2003 wieder ein - sind, so konfus ist zunächst auch der Schreibstil. Gerade so, als müsste Barbara ihre Sprache erst wieder erlernen. "Dann hört sie so ne Aat Klocke", heißt es da oder "Ihr Denke wird klara". Eine Herausforderung für den Autoren und seine LeserInnen. Doch je stärker man sich mit der Zeit an diesen Schreibstil gewöhnt, desto klarer und fehlerfreier wird die Sprache auch schon.

Der erste Teil des Romans befasst sich ausschließlich mit dem komatösen Zustand Barbaras, mit dieser Schwebe zwischen Leben und Tod, die auch schon das Cover mit dem erleuchteten Spiegel oder Tunnel zeigt. Ehemann garniert die Gedanken Barbaras mit so vielen klugen Sätzen, dass man damit wohl ein ganzes Notizbuch füllen könnte. Dabei setzt er nicht nur auf zahlreiche rätselhafte Brüche, sondern auch auf zum Teil extreme Perspektivwechsel, bei dem man sich nie sicher sein konnte, wer dort eigentlich gerade erzählt: Barbara oder ein auktorialer Erzähler? In den schwächeren Momenten des Romans mag die Antwort "weder, noch" lauten, denn bei seiner Gesellschaftskritik übertreibt es Ehemann ein wenig und stellt in leicht nörgelndem Ton eine Art Grundsatzabrechnung an, die auf mich zu plakativ wirkte und nicht in den Gesamtzusammenhang des Romans passte - und eher wie die Meinung des Autoren auf mich wirkte. Auch wenn an den gesellschaftspolitischen Ansichten grundsätzlich nichts auszusetzen war, störten sie mich in diesem Kontext. Doch ansonsten überwiegt eine gelungene Rätselhaftigkeit: Wer berichtet denn 2005 über einen Twitter-Account Arno Schmidts, obwohl Twitter erst seit 2006 online ist? Und wer ist dieser Friedrich, der ständig an Barbaras Bett auftaucht, um sie einerseits mit Wortwitzchen zu nerven und ihr andererseits Lebensmut zuzusprechen?

Gerade dieser Friedrich war für mich ein absoluter Höhepunkt des Romans. Als eine Art metaphysischer Begleiter oder GOTT im schmutzigen Unterhemd hat Ehemann mit ihm einen unvergesslichen Charakter erschaffen, der glücklicherweise auch im zweiten Teil noch seinen Auftritt hat, nachdem Barbara aus dem Koma erwacht ist.

Über den zweiten Teil verliert man inhaltlich am besten keine Worte, um den großen Überraschungen in diesem Part nicht vorzugreifen. Rein stilistisch lassen die philosophischen Gedanken ein wenig nach, um den Dialogen mehr Platz zu geben, die Barbara mit ihrem Therapeuten führt. Dieser Therapeut entpuppt sich leider als wenig empathisch und war für mich ein Ärgernis. Ohnehin mutet Ehemann seinen Figuren in diesem zweiten Teil recht viel zu.

Insgesamt war "Die liegende Frau" für mich aber eine aufregende Lektüre. Wolfgang Ehemann wagt wirklich viel und hat so etwas ganz Neues kreiert - sowohl stilistisch, als auch inhaltlich. Ein Romanexperiment, das wahrscheinlich nicht jede/n LeserIn gleichermaßen anspricht, dafür aber polarisiert. Wer dran bleibt, wird mit einer intelligenten und bewegenden Geschichte belohnt. Da ich in kürzester Zeit mit diesem Roman und "Der ehemalige Sohn" von Sasha Filipenko gleich zwei Neuveröffentlichungen lesen durfte, die sich mit KomapatientInnen beschäftigen, komme ich um einen Vergleich nicht herum, bei dem "Die liegende Frau" für mich die Nase vorn hat.

Bewertung vom 24.04.2021
Der Lohn des Verrats / Lupe Svensson und Otto Hagedorn Bd.2
Berg, Mathias

Der Lohn des Verrats / Lupe Svensson und Otto Hagedorn Bd.2


sehr gut

Knapp zwei Monate nach den dramatischen Ereignissen im Vorgängerroman "Der Preis der Rache" steht das ungleiche Ermittlerpaar Lupe Svensson und Otto Hagedorn vor einem neuen Rätsel: Gabriele Küsters bittet die beiden, die Suche nach ihrem vor zehn Jahren verschwundenen Sohn Fabian wieder aufzunehmen. Bei der Beerdigung ihres Mannes gab es endlich ein Lebenszeichen Fabians. Doch lebt er wirklich noch oder ist er in die Hände eines perfiden Entführers oder gar Mörders geraten?

Im Oktober 2003 setzt die Handlung von Mathias Bergs zweitem Kriminalroman "Der Lohn des Verrats" ein und schlängelt sich von dort immer wieder zurück in die 90er-Jahre, um das Leben Fabians, seines besten Freundes Mark und der gemeinsamen Clique kennenzulernen. Und wie schon im Vorgänger sind diese Rückblicke eine große Stärke des Autors. In ihnen entfacht er eine gewisse Melancholie, eine nostalgische Grundstimmung, die mich einerseits wirklich berührt hat und auf der anderen Seite für die nötige Spannung rund um Fabians Verschwinden sorgte.

Ein weiteres Plus ist, dass Berg sich für die zahlreichen Verhöre in diesem Krimi wirklich Zeit nimmt. Ich-Erzählerin Lupe beobachtet hier gekonnt die kleinsten emotionalen Regungen ihres Gegenübers und schildert sie dem Leser unverblümt. Zudem wird man in diese Situationen regelrecht hineingesogen. In vielen aktuellen Krimis wird vor allem aufs Tempo gesetzt, doch diesen Druck verspürt der Autor offenbar gar nicht. Er lässt die Zeugen und die Verdächtigen erzählen, die ErmittlerInnen nachfragen und erinnert in den besten Momenten dabei an Simenons Maigret.

Zu jedem Zeitpunkt des Romans verspürte ich außerdem die große Empathie, die Mathias Berg seinen Figuren entgegenbringt. Da werden Opfer schon mal zu Tätern und Täter zu Opfern. Da ist eine so tiefe freundschaftliche Bande zwischen den Charakteren zu spüren, dass diese sämtliche Krisen zu meistern scheinen. Und da ist natürlich wie in "Der Preis der Rache" das kongeniale Zusammenspiel zwischen Lupe und Otto, das durch den flüssigen Schreibstil und die Charakterisierung der ProtagonistInnen zur großen Unterhaltung der LeserInnen beiträgt.

Nicht ganz so gelungen fand ich diesmal die eigentliche Kriminalhandlung. Während der Suche nach dem Vermissten gibt es nämlich plötzlich einen weiteren Erzählstrang um ungeklärte Morde an Anhalterinnen. Ich hätte diesen gar nicht benötigt, fand den Vermisstenfall spannend genug. Zudem schleichen sich in diesen Handlungsstrang einige logische Schwächen ein, die ich ein wenig ärgerlich fand. Hinzu kommt, dass man als erfahrene/r KrimileserIn relativ früh erkennt, in welche Richtung sich das Geschehen entwickelt.

Insgesamt war das für mich ein kleiner Wermutstropfen, der allerdings nicht dafür gesorgt hat, dass ich verärgert aus der Lektüre herausgegangen wäre. Denn im Finale besinnt sich Mathias Berg noch einmal seiner Stärken und schafft bewegende Momente, in denen die Grenzen zwischen Tätern und Opfern einmal mehr verschwimmen.

Fazit: Mit "Der Lohn des Verrats" setzt Mathias Berg die Reihe um Lupe Svensson und Otto Hagedorn gekonnt fort, schlägt aber in der eigentlichen Kriminalhandlung die ein oder andere Volte zu viel. Die Stärken dieses Romans sind für mich die Verhörsituationen und die Rückblicke - vor allem aber, wie Mathias Berg es schafft, auch in der dunkelsten Figur noch ein Fünkchen Licht zu erhalten.

Bewertung vom 10.04.2021
Bogners Abgang
Platzgumer, Hans

Bogners Abgang


ausgezeichnet

Der Künstler Andreas M. Bogner wartet auf seinen Durchbruch. Exzentrische Ideen sind genügend vorhanden, doch noch immer hat er nicht das Projekt gefunden, das zumindest in der Innsbrucker Kunstszene für Aufruhr sorgen könnte. Neuerdings arbeitet er daran, die unterschiedlichsten Waffen mit Tusche auf Papier zu bringen. Vielleicht überzeugt ja dieser Zyklus seinen schärfsten Kritiker Kurt Niederer. Aktuell liegt eine Pistole vor ihm, eine Walter PPK, ausgeliehen von seinem Schwiegervater. Als es an einem Aprilabend zu einem schweren Autounfall in der Nähe seines Ateliers kommt, ändert sich nicht nur Bogners Leben schlagartig...

"Bogners Abgang" von Hans Platzgumer ist ein vom Umfang her ausgesprochen kurzer Roman von nicht einmal 150 Seiten, der es trotzdem auf grandiose Weise schafft, eine eigenwillige und intensive Spannung zu erzeugen, mit der der Autor die Grenzen zum Kriminalgenre streift. Doch das Buch ist viel mehr als ein Krimi. Es stellt die großen Fragen nach Schuld und Moral, ohne seine Figuren zu verurteilen. Und was ist der Unterschied zwischen Schweigen und Lügen? Es bleibt den LeserInnen vorbehalten, ein eigenes Urteil zu fällen. Auch die Figurenzeichnung ist gelungen, insbesondere der ambivalente Charakter Bogners wirkt authentisch und mitreißend

Formal ist "Bogners Abgang" ohnehin ein Erlebnis. Neben einer stringenten Erzählung der Handlung nach dem Autounfall aus zwei Perspektiven gibt es Auszüge aus Bogners Arbeitsnotizen, Protokolle seiner therapeutischen Sitzungen, Rückblicke, Zeugenaussagen, Sprachnachrichten und Unfallmeldungen der Polizei. Das Ganze vermischt Platzgumer äußerst gelungen zu einem stimmigen Gesamtbild und erschafft damit das Kunstwerk, nach dem sich Protagonist Bogner vergeblich streckt.

Erwähnenswert sei dabei insbesondere eine Szene, in der sich der Protagonist an ein wirklich extremes Kunstprojekt heranwagt. In einem Genueser Hotelzimmer legt er sich auf den Boden, um durch gasförmig werdendes Trockeneis eine Nahtoderfahrung zu provozieren, deren Ergebnis er mit Kohlezeichnungen festhalten will. Die Szene ist eine Art Herzstück des Romans, die zeigt, was die Figur Bogner und ihren unbändigen Erfolgswillen ausmacht. Auf fast zehn Seiten schreibt sich Platzgumer in einen dramatischen Rausch voller philosophischer Fragen, der auf mich äußerst spannend wirkte. Durch den Tempuswechsel ins erzählerische Präsens ensteht eine soghafte Unmittelbarkeit. Wer "Bogners Abgang" liest, wird diese Szene nicht vergessen, sie ist eine der aufregendsten, die ich seit längerer Zeit in der deutschsprachigen Literatur zu lesen bekommen habe.

Im letzten Drittel nimmt der Roman fast Züge eines antiken Dramas der alten Griechen an. Während es im vorigen Verlauf immer wieder tragikomische Momente gab, überwiegt hier die große Tragödie um Schuld und Moral. So erhält auch der "Abgang" aus dem Titel seine ganz eigene Bedeutung in diesem kriminalistischen Drama. "Eine Pistole ist niemals unschuldig", urteilt Bogner gleich zu Beginn des Romans und erlebt am Ende eine Art selbsterfüllender Prophezeiung - wenn auch ganz anders als gedacht.

Fazit: Mit "Bogners Abgang" ist Hans Platzgumer ein kluger, spannender und bewegender Roman gelungen, der nicht nur durch seine Figuren und die Handlung überzeugt, sondern auch formal brilliert. Geschickt spielt es mit den Erwartungen der LeserInnen, um sie ein ums andere Mal über den Haufen zu werfen. Ein Buch, das trotz seiner Kürze lange nachwirkt.

Bewertung vom 03.04.2021
Gästebuch
Shapton, Leanne

Gästebuch


sehr gut

"Gespenstergeschichten" lautet der Untertitel von Leanne Shaptons "Gästebuch", in dem die Künstlerin, Illustratorin und Autorin eine ungemein originelle Mischung aus Fotos, Aquarellen und Texten zu einem stimmigen Gesamtkunstwerk verarbeitet.

Wer sich allerdings auf typische Schauergeschichten einstellt, die durch ein paar Fotos untermalt werden, wird vom "Gästebuch" wahrscheinlich enttäuscht sein. Vielmehr ist es so, dass der Grusel im Kopf entsteht und man als LeserIn seiner Kreativität freien Lauf lassen kann, um die Bedeutung einer der "Geschichten" herauszubekommen.

Was hat der unsichtbare Freund Walter damit zu tun, dass Tennis-Ass Billy Byron nach seinen Matches immer kollabiert? Wie viele Veranstaltungen an nur einem Tag kann Edward Mintz in seinem blauen Anzug eigentlich besuchen? Und was steckt hinter dem Familiengeist der Percys im Georgehythe Place?

Man betrachtet die wirklich gelungenen Fotos und nach und nach entsteht im Kopf eine Geschichte. Wenn man sich darauf einlässt, bleibt aus jeder dieser Geschichten etwas hängen. Manchmal sah ich mich genötigt, bestimmte Personen (wie beispielsweise Edward Mintz) im Internet zu suchen, da es Leanne Shapton gelingt, eine ebenso unheimliche wie realistische Atmosphäre zu schaffen. Bei anderen Geschichten oder Bildern passierte bei mir jedoch nichts. Das könnte allerdings auch daran liegen, dass man das "Gästebuch" immer wieder zur Hand nehmen und neu betrachten kann. Vielleicht ensteht beim nächsten Mal eine andere Inspiration, ein unerklärlicher Schauder.

Unbestritten ist, dass Shapton mit diesem höchst kreativen, unkonventionellen und skurrilen Buch etwas wirklich Eigenes und Besonderes erschaffen hat. Und auch wenn in meinen Augen die Qualität der Texte manchmal hinter den überwiegend großartigen Bildern zurückbleibt, ist das "Gästebuch" ein mehr als lohnenswertes Experiment für LeserInnen ohne Scheuklappen, die sich gern gruseln möchten.