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Christian1977
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Leipzig

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Insgesamt 176 Bewertungen
Bewertung vom 20.06.2021
Aus der Welt
Knausgard, Karl Ove

Aus der Welt


sehr gut

Der 26-jährige Aushilfslehrer Hendrik Vankel ist noch nicht wirklich angekommen in dem kleinen Ort in Nordnorwegen. Zwar genießt er bei seinen Schüler:innen durchaus hohes Ansehen, doch bis auf seinen etwa gleichaltrigen Kollegen Henning fühlt er sich die meiste Zeit über einsam. Als er sich in seine 13-jährige Schülerin Miriam verliebt, gerät sein Leben aus den Fugen - seine ganze Existenz fällt "aus der Welt". Aus Angst flüchtet er nach Kristiansand, den Ort seiner Jugend. Doch auch dort lassen ihn die Geister der Vergangenheit nicht ruhen...

"Aus der Welt" ist Karl Ove Knausgards Debütroman aus dem Jahre 1998, der im letzten Jahr erstmals als deutsche Übersetzung erschien. Es ist ein gut 900-seitiges Epos über die Irrungen und Wirrungen der Jugend, die sich bei Protagonist Henrik bis ins Erwachsenenalter fortsetzen. In Schweden sorgte die Übersetzung vor gut fünf Jahren für einen Skandal, in dessen Folge der Autor das Land verließ. Ähnlicher Aufregung ist er in Deutschland entgangen.

Gemeinsam mit Jan Kjaerstad ist Knausgard der wohl aufregendste zeitgenössische norwegische Autor. Schon aufgrund der ähnlichen Länge kommt man nicht umhin, "Aus der Welt" mit Kjaerstads "Femina Erecta" zu vergleichen. Auch wenn "Aus der Welt" eigentlich schon 20 Jahre mehr auf dem Buckel hat, sind es nun einmal die jeweils aktuellen Veröffentlichungen der beiden auf dem deutschen Markt.

Während ich bei Kjaerstads gut 800 Seiten nicht ein einziges Mal das Gefühl hatte, "Femina Erecta" wäre an einigen Stellen zu lang geraten, kann ich das "Aus der Welt" leider nicht bescheinigen. Was nicht heißt, dass es sich nicht trotzdem um einen sehr guten Roman handelt.

Aufgeteilt in drei Teile befasst sich der erste Abschnitt mit Henriks Leben und Liebe in der Schule, der kurze mittlere Teil erzählt das Kennenlernen seiner Eltern. Doch gerade der fast 420 Seiten lange letzte Abschnitt gerät an der einen oder anderen Stelle doch sehr "aus der Welt". Wobei der Titel als geflügelter Begriff immer und immer wieder entweder direkt auftaucht oder sich mehrfach metaphorisch aus den Begebenheiten herauslesen lässt.

Henrik erzählt über sich, er habe gewisse Aussetzer, weiß manchmal nicht, was er in bestimmten Stunden gemacht hat oder wo er gewesen ist. Er ist in diesen Momenten "aus der Welt". Auch die Romanhandlung an sich begibt sich aus ihrer Erzählwelt. So kommt es zu seitenlangen literatur-theoretischen Auseinandersetzungen über Flaubert und James Joyce, zu einem Besuch Gottes, der Henrik vom Christentum überzeugen will oder gar zu einer über 60-seitigen Traumexistenz Henriks, in der er ein völlig anderes Leben führt und sich die Kultur und Geschichte ebenso anders entwickelt hat. Das ist manchmal genial, häufig zu lang, aber immer überraschend und durchaus aufregend.

Protagonist Henrik macht es einem grundsätzlich nicht leicht. Er ist kein klassischer Held, eher eine Art Anti-Held. Henrik lügt, betrügt, benutzt, missbraucht. Und dennoch ließ er mich in seiner Einsamkeit und Eigenartigkeit nicht kalt. Zwar erfährt man aus seiner Kindheit so gut wie gar nichts, aus seiner Jugend umso mehr, wobei dennoch Fragezeichen und Lücken bleiben. Wieso schloss sein Vater ihn im Badezimmer ein und geschah dies mehrfach? Ein Fest für Freudianer, die sich zudem an eindeutigen Metaphern wie der Angst vor Schlangen oder anderen diversen sexuellen Anspielungen ergötzen können.

Die stärksten Momente hat der Roman, wenn sich Henrik in der Beschreibung der norwegischen Natur verliert, egal ob im Süden oder Norden des Landes - und darüber selbstvergessen schon einmal einschläft. Grandios auch das bewegende offene Ende, in dem Henrik in einem einzigen Moment wohl alles verliert, aber gleichzeitig so viel gewinnt - oder ist es andersherum?

"Aus der Welt" ist ein insgesamt beeindruckender Roman, dem 200 Seiten und ein paar Abschweifungen weniger sicherlich nicht geschadet hätten. Im direkten Vergleich mit Jan Kjaerstad unterliegt er bei mir jedoch knapp.

Bewertung vom 08.06.2021
Das Salzfass
Sailer, Simon

Das Salzfass


ausgezeichnet

Der Antiquitätenhändler Maurice erhält durch die Übernahme eines Nachlasses ein kleines Salzfass, auf dessen Boden sich der Rest einer weißen Substanz befindet. Während sich daraus ein pilzartiges Geflecht bildet, leidet Maurice zunehmend unter einem seltsamen Brummen im Kopf. Beheben lässt sich dieses offenbar nur durch ein Füttern des Salzfasses. Als das Geflecht größer und größer wird, sieht Maurice keinen anderen Ausweg als sich vom Salzfass zu trennen. Doch niemand erbarmt sich und zeigt Interesse...

Wer von Simon Sailer bereits die im letzten Jahr erschienene Erzählung "Die Schrift" gelesen hat, fühlt sich bei der Grundkonstellation im "Salzfass" unmittelbar an diese erinnert: Ein eigentlich mit beiden Beinen im Leben stehender Mann wird von einer Antiquität im wahrsten Sinne des Wortes aus selbigem gerissen. Während die "Schrift" Leo Buri vertrieb, muss sich nun Maurice Demel mit den Auswüchsen eines Salzfasses auseinandersetzen. Beide Erzählungen sind jedoch völlig eigenständig und damit unabhängig voneinander lesbar.

Simon Sailer überzeugt im "Salzfass" einmal mehr mit einer wunderbar-grotesken Schauergeschichte. Wie sehr Maurice nach und nach den Boden unter den Füßen verliert, machen auch die äußerst gelungenen Illustrationen von Jorghi Poll deutlich. Da erkennt man das Tier im Manne, und ein Einsatz Maurices gegen das Geflecht sieht aus, als sei der Antiquitätenhändler knapp einem Reaktorunglück entkommen. Anders als in der "Schrift" sind die Illustrationen diesmal in Schwarz-Weiß gehalten, dadurch aber keineswegs weniger eindringlich.

Gelungen ist die von Sailer gewählte Perspektive, in der Maurices Nachfolgerin einem Kunden erzählt, wie sie an das Salzfass geraten ist, wobei nie ganz klar ist, wie verlässlich sie wirklich ist. Auch hier fühlt man sich an den unzuverlässigen Erzähler aus der "Schrift" erinnert. Das Finale verblüfft in dieser Hinsicht mit einem großartigen Perspektivwechsel, über den man jedoch am besten keine Worte verliert, um die Überraschung nicht zu verderben.

Auch die Figuren überzeugen. Während man mit Maurice leidet, sind es auch die Nebenfiguren, die den Leser*innen das Herz öffnen. Allen voran der genial-überhebliche Karl Kappitsch, der mich mit seinem Schmäh mehr als einmal zum Lachen brachte. Insgesamt hat "Das Salzfass" mehr komische Elemente als "Die Schrift", bei der mir Protagonist Leo in seiner Melancholie irgendwann nur noch leid tat.

Eigentlicher Hauptdarsteller ist ohnehin das Salzfass, das in seiner schier unendlich wirkenden Gier schon mal Panini-Sticker der österreichischen Fußballnationalmannschaft empört wieder ausspuckt, um sich eher dem Fraß einer wertvollen Briefmarke hinzugeben - herrlich und ganz nebenbei Konsumkritik erster Güte.

So zeigt Simon Sailer in "Das Salzfass", welche dramatischen Auswirkungen der Besitz eines wertvollen Gegenstands auf den Menschen haben kann und wie es ist, wenn dieser Gegenstand die Macht förmlich an sich reißt. Eine große Unterhaltung, die schon jetzt Vorfreude auf die geplante dritte Erzählung macht.

Bewertung vom 02.06.2021
Die Karte ist nicht das Gebiet
Meyer, Stephan Martin

Die Karte ist nicht das Gebiet


ausgezeichnet

Der 14-jährige Johan ist unglücklich. Ausgerechnet sein bester Freund Nils umgibt sich nur noch mit Linus, dem Jungen, der Johan fast täglich mobbt und beleidigt. Da kommt es ihm gelegen, die Ferien wie gewohnt mit seinen Eltern in Südtirol zu verbringen, wo er auf Luise und Paul, zwei langjährige Ferienfreunde, trifft. Als bei einem Erdrutsch die gemeinsame Ferienpension zerstört wird und gar ein Todesopfer geborgen werden muss, bezweifeln die drei Jugendlichen, dass es sich dabei wirklich um einen Unfall handelt. Für weitere Aufregung sorgt Johans Verhältnis zu Paul, der mit seinen sexuellen Anspielungen nicht nur Johan verwirrt...

Hinter dem anfangs etwas sperrig wirkenden Titel "Die Karte ist nicht das Gebiet" von Stephan Martin Meyer verbirgt sich ein warmherziger Coming-of-Age-Jugendroman mit liebenswerten Protagonisten und einer wirklich spannenden Rahmenhandlung. Schon bevor der Roman mit einem sprachlich fulminanten Prolog beginnt, steht ein gezeichneter Kompass auf dem Kopf - und deutet schon einmal die Irrungen und Wirrungen des Erwachsenwerdens an, die insbesondere Johan und Paul mit fortschreitender Dauer zunehmend beschäftigen.

In Johan erwachen homosexuelle Gefühle, was der Autor empathisch und warmherzig begleitet und seiner Figur mit großer Ernsthaftigkeit den Rücken stärkt. Denn gerade das Ernst-genommen-Werden fehlt nicht nur Johan, sondern auch zahlreichen weiteren Kindern und Jugendlichen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Vor allem für sie lohnt sich dieser Roman, dem ich in dieser Hinsicht eine große Aufmerksamkeit wünsche. Realistisch, unterhaltsam, aber nie peinlich werden sich die Figuren ihrer aufkommenden Sexualität bewusst, und auch dieses Hin- und Hergerissensein zwischen Gefühlen für verschiedene Personen und Geschlechter stellt Stephan Martin Meyer beeindruckend und authentisch dar.

Doch nicht nur das bevorstehende Coming-Out, sondern auch das "Verbrechen", wie es der Untertitel nennt, sorgt für Spannung. Im positiven Sinne fühlte ich mich an Enid Blytons "Abenteuer"- oder "Geheimnis um"-Reihen erinnert - allerdings im modernen Gewand und mit durchaus drastischeren Folgen. Die Mädchenfigur Luise geht mit fortschreitenden Ermittlungen leider ein wenig unter und beklagt sich auch gegen Ende des Buches nicht zu Unrecht darüber. Doch in den entscheidenden Momenten ist auch sie wieder zur Stelle, um Johan und Paul zu unterstützen.

Ein weiteres Plus ist die Figurenzeichnung, insbesondere bei den vermeintlich "bösen" Charakteren. Sie werden ambivalent mit all ihren Stärken und Schwächen porträtiert - vielleicht mit Ausnahme von Johans Erzrivalen Linus, der eigentlich den ganzen Roman über nur "blöd und gemein" erscheint.

Insgesamt ist "Die Karte ist nicht das Gebiet" ein lesenswerter und wichtiger Jugendroman, der unterhält und gleichzeitig berührt und dabei allen Jugendlichen, egal ob homo-, hetero-, bisexuell oder was auch immer, ein bedeutender Kompass sein kann - auf der Suche nach dem Erwachsenwerden und nach sich selbst.

Bewertung vom 29.05.2021
Die Sprache des Lichts
Kramer, Katharina

Die Sprache des Lichts


ausgezeichnet

Europa im Jahre 1582: Während sich der sprachbegabte Lehrer Jacob Greve im sächsischen Pforta über seine unwilligen Schüler ärgert, tritt Margarète Labé in den Pyrenäen ihre Aufgabe als Übersetzerin und Spionin der Katholischen Liga an. Der Kontinent ist gespalten durch die Religionskriege zwischen Katholiken, Protestanten und anderen religiösen Gruppen. Einig sind sie sich offenbar nur in ihrer Suche nach der Sprache der Schöpfung, die Gott verwendet haben soll, um die Welt zu erschaffen. So scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sich die Wege Margarètes und Jacobs in den Wirren der Religionskriege kreuzen...

Katharina Kramer hat mit ihrem Debütroman "Die Sprache des Lichts" einen großartigen historischen Roman geschrieben, der gleichermaßen klug wie unterhaltsam und spannend ist. Hervorzuheben ist vor allem die Liebe zum Detail, die diesen Roman wie ein roter Faden vom Anfang bis zum Ende begleitet. Den allermeisten der 42 Kapitel hat Kramer im Anhang Erläuterungen oder historische Vertiefungen beigefügt, was sich für die Leser*innen als wirklicher Gewinn entpuppt. Denn so erfährt man beispielsweise ganz nebenbei, welche der Figuren historisch ist und welche vielleicht nur auf ähnlichen Figuren basieren. Dabei wirkt dieser Anhang nie belehrend oder zu detailliert, sondern ist einfach eine empfehlenswerte Zugabe.

Der Schreibstil Kramers ist trotz der Fülle an Figuren und historischen Themen nie überfrachtet oder gar langweilig, sondern passt sich den lebendigen Figuren und schillernden Orten hervorragend an. So entwickelt sich ein fast federleichter Roman, der beweist, dass sich Unterhaltung und Lernen nicht ausschließen. Denn so spannend die Romanhandlung ist, so viel lernt man über diese unruhige Zeit, die doch gerade erst der Anfang aller religiösen Streitigkeiten sein sollte.

Ein weiteres großes Plus sind die Figurenzeichnungen. Die Protagonist*innen Jacob, Margarète und der rätselhafte Alchimist Edward Kelley sind wunderbar ambivalent geraten. Keine*r von ihnen ist nur "gut oder böse", eine Schwarz-Weiß-Zeichnung umgeht die Autorin in bemerkenswerter Weise. Dies setzt sich glücklicherweise bei den Nebenfiguren fort. Bei fast niemandem von ihnen wirkt das Handeln unrealistisch oder nicht schlüssig. Im Gegenteil tragen sie mit ihrer Vielfältigkeit zum Gelingen des Romans bei.

Auch wenn Jacob Greve in "Die Sprache des Lichts" zahlreiche Fehler unterlaufen und er sich auch charakterlich nicht immer einwandfrei verhält, ist er meine klare Lieblingsfigur des Romans geworden. Seine Weltfremdheit, seine Synästhesie, sein bisweilen kindliches Gemüt berührten mich sehr - und auch zahlreiche weitere Figuren des Romans unterliegen diesem naiven Charme, in dem Jacob zwischen nörgeligem Jungen und alles durchdenkendem Erwachsenen sehr viele Facetten zeigt. Die dazugehörige Liebesgeschichte entfaltet eine zärtliche Magie und umkurvt geschickt sämtliche Kitschfallen.

Hinreißend schön fand ich, wie sehr man dem Roman anmerkt, dass Katharina Kramer die Sprachen dieser (und der göttlichen) Welt mindestens ebenso liebt wie ihre Figuren. Da werden Sprachcodes aufgedeckt, das Vater Unser schon mal gepfiffen und manchmal wird sogar rückwärts gesprochen. Ein Fest, für alle Leser*innen, die sich für Sprachen interessieren und diese in ihrer Vielfältigkeit schätzen.

Die "Auswahl-Bibliografie" am Ende des Romans beweist außerdem, wie zeitaufwändig und intensiv die Autorin an ihrem Debütwerk gearbeitet haben muss. Etwas Ähnliches habe ich in Verbindung mit den historischen Anmerkungen wohl noch nie zuvor in einem Historienroman gelesen.

Ein Aufwand, der sich gelohnt hat, denn "Die Sprache des Lichts" ist ein wirklich außergewöhnlicher Roman geworden, der trotz seines komplexen Themas stets zugänglich, aufregend und unterhaltsam bleibt - und mit Jacob Greve mindestens eine unvergessliche Figur erschaffen hat.

Bewertung vom 22.05.2021
Unverschwunden
Gurt, Philipp

Unverschwunden


ausgezeichnet

Der erfolgreiche Schrifsteller Lukas Cadisch steht kurz vor der Präsentation seines neuen Romans, als er eines Morgens feststellt, dass er ein "Unverschwundener" ist. Seine Mitmenschen bemerken ihn nicht mehr, Lebewesen kann er nicht mehr berühren. Was macht das mit einem Menschen, wenn er merkt, einsam aber nicht allein zu sein? Und wie verkraften die anderen das Verschwinden einer geliebten Person? Darüber und über so viel mehr schreibt Philipp Gurt in seinem neuen Roman "Unverschwunden".

Bereits der Name des Romans deutet an, dass Gurt hier etwas ganz Neues und Individuelles erschaffen hat, das sich in der Kreation des Titels "Unverschwunden" ausdrückt. Und treffender könnte der Begriff wohl nicht sein, denn Protagonist Lukas ist für seine Umwelt verschwunden, doch er selbst erlebt mit zunehmender Dauer des Romans nahezu alle Eindrücke viel intensiver als zuvor. Für sich selbst ist er ein "Unverschwundener", der Rest sind die "Wahrhaftigen". Der Autor steigt tief in seine Figur hinein, lässt seine Leser*innen die gesamte Gefühlsklaviatur fast körperlich spüren. Ob Lukas aus nächster Nähe einen Wolf oder eine Bärenfamilie beobachtet, ob er einem existenziell-bedrohlichen Gewitter ausgesetzt ist: Gurt schafft unvergessliche Momente eindringlicher Intensität. Mit der Zeit fragte ich mich, wer eigentlich "wahrhaftig" ist. Ist es nicht derjenige, der ungefiltert all diese Eindrücke, die Gerüche und Farben aufnehmen kann? Ist es vielleicht sogar die größte Wahrhaftigkeit überhaupt, ganz mit und bei sich zu sein?

Philipp Gurt ist klug und zurückhaltend genug, seinen Leser*innen diese existenziellen Antworten zu überlassen und zu überlegen, wie man selbst mit einer solchen Situation umgehen würde. Als angenehm habe ich außerdem empfunden, dass sich der Autor seinen Figuren insgesamt mit großer Empathie nähert. Wenn Lukas seinem demenzkranken Vater gegenübersteht und für einen gewissen Moment glaubt, von diesem gesehen zu werden, setzt nicht nur bei ihm das Herz für eine Sekunde aus. Und just, als alles verloren scheint, kommt es zu einer fast biblischen Erlösungsszene - in Gestalt eines blinden kleinen Hundes, dessen Name "Hope" auf den ersten Blick plakativ wirkt, aber letztlich genau das ausdrückt, was ich mir für Lukas sehnlichst wünschte.

Da es am besten ist, inhaltlich vor allem über das wirklich überraschende letzte Viertel des Buches nichts zu verraten, möchte ich nur noch erwähnen, dass "Unverschwunden" auch so etwas wie eine große Liebeserklärung an sein Heimatland, die Schweiz, und ihre Natur ist. Lukas reist ständig durch dieses kleine Land, nähert sich ihm auch gesellschaftskritisch, doch die Natur überstrahlt in ihrer Erhabenheit alles. Sympathisch und wichtig fand ich auch die Erwähnung und Verwendung der rätoromanischen Sprache, die als Minderheitensprache gern einmal übersehen wird.

Den Schreibstil Gurts habe ich überwiegend als positiv empfunden. Insbesondere in den erwähnten Naturbeschreibungen spielt er sein gesamtes Können aus, lässt Farben und Gerüche auf die Leser*innen wirken. Teils weniger gelungen fand ich die Dialoge. Vor allem in Rückblicken auf vergangene Liebesbeziehungen wird schon mal die Grenze zum Kitsch zumindest gestreift. In anderen Fällen konnte ich Lukas' Handeln nicht nachvollziehen. Gerade zu Beginn, als er noch in der Experimentierphase ist, war für mich nicht zu erklären, warum er nicht zumindest versucht, den Polizist*innen die Tür zu öffnen. Chancen, die zu einem weiteren moralischen Dilemma - und ganz nebenbei zu hinreißenden Szenen - führen könnten, werden nicht genutzt. So wird nie ganz geklärt, was es für Lukas bedeutet, sämtliche Dinge stehlen zu müssen.

Insgesamt sind dies aber Kritikpunkte, die von der genialen Grundidee des Romans und von den wirklich eindringlichen Momenten, die Gurt schafft, größtenteils überlagert werden. So ist "Unverschwunden" für mich ein absolut lesenswerter, aufregender Roman, der zum Nachdenken anregt und lange nachwirkt.

Bewertung vom 18.05.2021
Vor Gericht / Kriminaldirektor a.D. Manz Bd.2
Wittekindt, Matthias

Vor Gericht / Kriminaldirektor a.D. Manz Bd.2


ausgezeichnet

Kriminaldirektor a. D. Manz lebt in der Nähe von Dresden, wo er leidenschaftlich rudert und sich mit seinem Ruhestand arrangiert hat. Als ein Brief der Staatsanwaltschaft Berlin eingeht, hat die Beschaulichkeit ein Ende. Der 73-Jährige muss vor Gericht aussagen, denn in seinem letzten Berliner Fall vor der Versetzung nach Dresden haben sich dank eines DNA-Gutachtens neue Hinweise ergeben. Allerdings liegt das Verbrechen mittlerweile fast 30 Jahre zurück. Und so liest sich Manz ein in die Akten des damaligen Falles und versinkt dabei fast unmerklich nach und nach in der Vergangenheit...

"Ein alter Fall von Kriminaldirektor a. D. Manz" ist der Untertitel von Matthias Wittekindts neuem Kriminalroman "Vor Gericht". Und so unspektakulär dieser Untertitel auf dem ersten Blick anmutet, so wunderbar aus der Zeit gefallen ist der gesamte Roman. Wittekindt nimmt sich viel Zeit für die Einführung seines Protagonisten Manz, dessen Vorname im gesamten Buch nur ein einziges Mal auftaucht. So wird aus dem Kriminaldirektor a. D. ein wunderbar vielschichtiger Charakter. Ein Mann, der sich im Privatleben einen Fehltritt erlaubt hat, dessen Genauigkeit im Beruf aber über jeden Zweifel erhaben scheint. So glaubt es auch Manz selbst lange Zeit, ehe im letzten Drittel des Romans auch hier der große Selbstzweifel einsetzt. Wenn Manz in die Vergangenheit eintaucht, darüber die Gegenwart fast vergisst, Selbstgespräche führt und ihn eine große Melancholie überfällt, nimmt der Leser Anteil an dieser Figur mit all ihren Fehlern und Schwächen.

Der Roman selbst ist in zwei Teile gegliedert. Im längeren ersten Teil vermischen sich Manz' Gegenwart mit dem Studium der Akten. In Rückblicken zeigt Wittekindt detailliert die verschiedenen Verhöre auf und baut dadurch trotz - oder gerade wegen - dieser Details und der dazugehörigen Langsamkeit eine intensive Spannung auf. Fast folgerichtig scheint die Veröffentlichung von "Vor Gericht" im Kampa-Verlag zu sein, dem Verlag, der Georges Simenons Maigret zurück in die Gegenwart holte. Mehr als einmal erinnern diese ausschweifenden Verhöre an den belgischen Meister. Wunderbar gelungen ist in diesem Zusammenhang auch die ambivalente Charakterisierung des Mordopfers Regina Zeisig. Eine Frau, die Wahlwerbung für die Republikaner betreibt, aber Armenpakete nach Osteuropa schickt. Eine Vegetarierin mit Lust auf Currywurst und weniger Lust auf Hähnchen.

Der zweite Teil, der etwa 100 Seiten einnimmt, spielt dann vor dem Berliner Gericht. Ohne große Brüche lässt Wittekindt seine Leser*innen am Verhandlungsverlauf teilnehmen, erfasst jede Regung - und stürzt sie gemeinsam mit Manz in ein Meer aus Zweifeln.

Mit "Vor Gericht" ist Matthias Wittekindt somit abermals ein großer Wurf der deutschen Kriminalliteratur gelungen. Tolle Dialoge, starke Figuren und ein rätselhafter Kriminalfall, der laut Anmerkung des Autors lose auf einem wirklich stattgefundenen Prozess basiert, machen den Roman zu einem großen und unterhaltsamen Lesevergnügen.

Bewertung vom 13.05.2021
Grüne Glücksorte in Hamburg
Breukelchen, Tanja;Marzi, Moritz

Grüne Glücksorte in Hamburg


ausgezeichnet

Autorin Tanja Breukelchen kannte ich bereits vom letztjährigen Hamburg-Buch "Zu Fuß durch die Hansestadt Hamburg", mit dem sie mir auf zwölf wunderbar unterschiedlichen Spaziergängen das Gefühl gab, als Hamburger Urlaub in der eigenen Stadt zu verbringen. Nun liegt in Zusammenarbeit mit Fotograf Moritz Marzi "Grüne Glücksorte in Hamburg" vor, in dem die beiden - wie der Name es vermuten lässt - 80 Hamburger Orte präsentieren, an denen sich die Hansestadt an der frischen Luft besonders gut genießen lässt.

Jeder der Orte wird dabei auf zwei Seiten vorgestellt, bestehend aus jeweils einer Seite Text und Foto. Bei den Texten setzt Breukelchen auf eine gelungene Mischung aus Sachinformationen und persönlichem Bezug zum jeweiligen Ort. Oft gibt es eine kleine kulinarische oder kulturelle Empfehlung dazu. Besonders lobenswert ist, dass sie zu fast jedem "Glücksort" auch die jeweilige Bus- oder Bahnhaltestelle dazuliefert. Das erspart Interessierten die Suche, und in Hamburg kann man sich ja ohnehin wunderbar ohne eigenen PKW fortbewegen. Gefreut hat mich, dass mein Heimat-Stadtteil Bramfeld es mit dem Gut Karlshöhe und dem Erlebnispfad "Alraune" gleich zweimal in dieses Buch geschafft hat. Das habe ich in ähnlichen Büchern so noch nicht erlebt.

Die meisten Fotos von Moritz Marzi habe ich als ansprechend empfunden. Schaut man sich beispielsweise die Fischbeker Heide oder das Wittmoor an, braucht man den Text fast gar nicht mehr zu lesen, um spontane Lust darauf zu bekommen, den Ort zu besuchen. Die kleine Poppenbütteler Burg Henneberg könnte so auch aus einem Märchenbuch stammen. Einige Fotos erhalten außerdem eine sympathische persönliche Note, da sich Tanja Breukelchen auf ihnen offensichtlich gemeinsam mit ihrer Tochter zeigt und man dadurch gleich das Gefühl erhält, dass die Autorin alle Orte wirklich selbst "ausprobiert" hat.

Einen kleinen Abzug gibt es dafür, dass einige der Orte fast deckungsgleich so auch schon im oben genannten "Zu Fuß"-Buch enthalten waren und selbst die Texte den damaligen sehr ähneln. Für Leser*innen, die das andere Buch nicht kennen, ist dies selbstverständlich kein Nachteil und bei der Fülle an "Glücksorten" macht dies auch nur einen kleinen Teil aus. Zudem waren mir andere Orte auch schon aus ähnlichen Büchern bekannt, wodurch der Überraschungseffekt ein wenig verpuffte.

Für mich war die hinten angefügte "Glückskarte" problematisch. Da ich an einer Rot-Grün-Schwäche leide, konnte ich einige der roten Ziffern auf grünem Grund kaum erkennen. So verpufft der Zweck der Karte etwas, der ja eigentlich einen schnellen Überblick darüber liefern soll, wo man welchen Ort findet. Die große Mehrheit der Leser*innen wird damit natürlich kein Problem haben.

Insgesamt war "Grüne Glücksorte in Hamburg" für mich aber ein lesenswertes Buch, das mir einmal mehr aufzeigte, wie viele schöne Ecken ich in Hamburg noch nicht kenne, obwohl ich mittlerweile seit mehr als 44 Jahren hier lebe. Zugleich lieferte es mir zahlreiche Inspirationen für kommende Wanderungen. Ein Besuch der Fischbeker Heide muss im August oder September einfach mal drin sein. Und auch die Schafe im Spadenland möchte ich so schnell wie möglich kennenlernen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.05.2021
Hotel Weitblick
Silberer, Renate

Hotel Weitblick


gut

Der angesehene Consulter Dr. Marius Tankwart will den Absprung aus seinem bisherigen Leben schaffen: nur noch ein Seminar leiten, dann geht es nach Mexiko in ein neues Leben! Doch dieses letzte Seminar im titelgebenden "Hotel Weitblick" hat es in sich: Eine Frau und drei Männer, allesamt Führungskräfte einer Werbeagentur, finden sich zusammen und es ist an Marius, am Ende dieser drei Tage eine Empfehlung für den Geschäftsführer-Posten auszusprechen. Während sich die Kandidat*innen spinnefeind sind, entdeckt Marius plötzlich bedrohliche Parallelen zu seiner eigenen Erziehung - und droht an der Aufgabe und an sich selbst zu scheitern...

"Hotel Weitblick" ist der Debütroman Renate Silberers, der sich ganz auf die kammerspielartige Situation im Hotel einlässt und dabei zu mutigen und neugierig machenden literarischen Stilmitteln greift. Da reihen sich ganze Gedankenketten aneinander, in denen lediglich die Kommata den Leser*innen eine Verschnaufspause gönnen. Da verzichtet Silberer komplett auf Anführungszeichen, um die Rede- und Denkflüsse so selten wie möglich zu unterbrechen. Da wechselt die Erzählperspektive von einer Figur zur nächsten, manchmal innerhalb desselben Absatzes und ein Gedanke wird nicht einmal zu Ende geführt. Dass es sich dabei um mehr als eine literarische Spielerei handelt, merkt man, wenn man versucht, diesen Gedanken zu folgen. Es ist dabei höchste Konzentration gefragt, um nicht zu verpassen, wer eigentlich gerade spricht oder denkt. Gleichzeitig nimmt Silberer den Teilnehmer*innen der konformen Leistungsgesellschaft dadurch ein Stückchen Identität und deutet die Gleichförmigkeit der Figuren an. Durchaus gelungen!

Da man Consulter Marius am nächsten kommt, leidet man am ehesten noch mit ihm, während alle Kandidat*innen sich doch sehr unsympathisch mit dem gewollten Hang zur Überzeichnung präsentieren. Trotzdem funktioniert die Konstellation anfangs gut. Es ist unterhaltsam und böse, wenn man die Vorurteile der Figuren liest; ihr Verhalten lädt zum Kopfschütteln und Schmunzeln ein. Diese Ausgangssituation hätte Renate Silberer zu einem gesellschaftskritischen Roman erster Klasse ausbauen können, doch leider sinkt das Niveau in meinen Augen nach und nach.

Auslöser dafür sind die Erziehungsmethoden Johanna Haarers, die - das erfahren wir ziemlich schnell - bei Marius aufgrund seiner lieblosen Mutter ein regelrechtes Trauma ausgelöst haben. Haarers Methoden wurden vor allem zu Zeiten des Nationalsozialismus als die richtigen angesehen, setzten sich jedoch offenbar auch danach noch durch. Marius führt die furchtbarsten Erziehungsdogmen auf Karteikarten stets bei sich. Es ist ein legitimes Ansinnen der Autorin, diese schwarze Pädagogik den Leser*innen bewusst zu machen. Doch in meinen Augen sind die Mittel nicht richtig gewählt. Mit zunehmender Dauer des Romans konzentriert sich nämlich nahezu alles auf diese Karteikarten und Haarer. Marius glaubt, dass alle Kandidat*innen auf diese schreckliche Art erzogen wurden und deshalb dort stehen, wo sie sich jetzt befinden. Und tatsächlich erfahren wir, dass wirklich jede/r Einzelne ein Muttertrauma hat. Für Freudianer mag das ein Fest sein, für mich war das zu viel an Monster-Müttern, da sich ansonsten bei der Figurenentwicklung auch wenig tut.

Nach dem finalen Konflikt stellte sich bei mir die Frage, was außer Johanna Haarer und ein paar wirklich guten Ansätzen zu Beginn bei mir eigentlich hängen bleibt - und was letztlich die Moral von der Geschicht ist... Bis auf "Johanna Haarers Erziehungsmethoden waren definitiv falsch" fällt mir leider nicht viel ein.

Dass Silberer dabei den Seminarraum "Harmonie" nennt und den Corona-Lockdown trotz der Handlung im April 2020 komplett verschweigt, konnte ich da noch verkraften. Doch letztlich waren mir die Figuren zu ähnlich und zu eindimensional, um ein positiveres Fazit zu ziehen. Das "Hotel Weitblick" blickt nämlich fast ausschließlich weit nach hinten - in die verkorksten Mutter-Kind-Beziehungen sämtlicher Figu

Bewertung vom 07.05.2021
Caspers Weltformel
Grader, Victoria

Caspers Weltformel


ausgezeichnet

Der Physik-Doktorand Casper lebt ein vorhersehbares Leben. Täglich arbeitet er in einem Büro an seiner Dissertation, und auch seine Mitmenschen können ihn nicht überraschen. Kein Wunder, schließlich bastelt er seit seiner Kindheit an einer "Weltformel", mit der er alles voraussehen kann, was ihm widerfahren wird und ergänzt diese Formel täglich in seinen Notizbüchern. Was macht man aber, wenn man keine Lust mehr hat auf diese Formel? Wenn man aus seinem alltäglichen Leben ausbrechen möchte? Ganz einfach, denkt sich Casper: "Ich mach einfach immer das Gegenteil von dem, was ich sonst machen würde." Und so setzt er sich nicht in den Zug, der ihn zu seiner Mutter nach München bringt, sondern fährt kurzerhand nach Budapest. Dort trifft er auf Ilona - und merkt, dass seine Formel an dieser Frau scheitert...

Victoria Graders Debütroman "Caspers Weltformel" ist einfach hinreißend - und der Beweis dafür, wie lebendig junge deutschsprachige Literatur sein kann. Mit Casper und Ilona hat Grader zwei wahrlich unvergessliche Charaktere geschaffen. Der weltfremde Casper, dem die meisten Menschen mit Unverständnis begegnen, setzt sich ständig für eine bessere Welt ein, nur um jedes Mal aufs Neue enttäuscht zu werden. Die chaotische und aufbrausende Ilona, die für ihre ärmliche Wohnung mit drei Monatsmieten im Rückstand ist, und trotzdem von einem reichen Prinzen träumt, der sie mit nach Istanbul nimmt, wirkt auf den ersten Blick wie Caspers komplettes Gegenteil. Dennoch entsteht zwischen den beiden ein fast magisches Verhältnis voller zärtlicher Momente und mindestens ebenso vielen Konflikten.

Es ist gerade das Gespür für die Figuren und die Empathie der Autorin mit den AußenseiterInnen dieser auf Konformität gebürsteten Gesellschaft, das "Caspers Weltformel" zu dieser großen Besonderheit macht. Insbesondere Hauptfigur Casper hat mich wirklich angerührt und dafür gesorgt, dass der Roman mich auch beschäftigte, wenn ich nicht in ihm las. Ich konnte mich mit zahlreichen seiner skurrilen Eigenschaften identifizieren. Diese Empathie für die Figuren beschränkt sich glücklicherweise nicht auf die beiden ProtagonistInnen, so dass "Caspers Weltformel" bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein, darunter vor allem Lastwagenfahrer János, liebevoll stimmig wirkt.

Auf der Handlungsebene beschränkt sich die erste Hälfte vornehmlich damit, wie Casper in seinem neuen Leben in Budapest zurechtkommt, während das Erzähltempo vor allem im letzten Drittel ungemein zulegt, weil sich auch Caspers und Ilonas Leben aus Gründen, die ich nicht vorwegnehmen möchte, dramatisch ändert. In diesen Momenten nimmt der Roman Züge eines modernen Märchens an, das in einem feurig-furiosen Epilog seinen genialen und liebenswerten Höhepunkt findet.

So ist "Caspers Weltformel" für mich einer der ganz großen Höhepunkte des bisherigen Lesejahrs 2021 und der Beweis, dass es in der deutschsprachigen Literatur Zeit ist für neue Helden: für Casper, Ilona, aber auch für Victoria Grader, die bereits mit ihrem Debüt etwas Unvergessliches geschaffen hat.

Bewertung vom 30.04.2021
Die liegende Frau
Ehemann, Wolfgang

Die liegende Frau


sehr gut

3. Juni 1998: Auf der Fahrt von Hannnover nach Hamburg entgleist der ICE "Wilhelm Conrad Röntgen" bei Eschede. Unter den Schwerverletzten befindet sich auch Barbara Dahlmann, die sich fortan in einem Krankenhaus im Koma befindet - für die nächsten 20 Jahre...

Wie schreibt man einen Roman mit einer Protagonistin, die im Koma liegt? Ein nicht leichtes Unterfangen, dem sich Wolfgang Ehemann in seinem überraschenden und aufregenden Debütroman "Die liegende Frau" stellt. Nicht leicht fällt zu Beginn auch das Lesen, denn Ehemann greift nach dem nüchternen und dennoch intensiven Prolog zu einem genialen Kunstgriff, der mir bislang so nur aus dem hinreißenden "Fuchs 8" von George Saunders bekannt war. Denn so wirr Barbaras Gedanken nach fünf Jahren Koma - die Handlung setzt im Jahr 2003 wieder ein - sind, so konfus ist zunächst auch der Schreibstil. Gerade so, als müsste Barbara ihre Sprache erst wieder erlernen. "Dann hört sie so ne Aat Klocke", heißt es da oder "Ihr Denke wird klara". Eine Herausforderung für den Autoren und seine LeserInnen. Doch je stärker man sich mit der Zeit an diesen Schreibstil gewöhnt, desto klarer und fehlerfreier wird die Sprache auch schon.

Der erste Teil des Romans befasst sich ausschließlich mit dem komatösen Zustand Barbaras, mit dieser Schwebe zwischen Leben und Tod, die auch schon das Cover mit dem erleuchteten Spiegel oder Tunnel zeigt. Ehemann garniert die Gedanken Barbaras mit so vielen klugen Sätzen, dass man damit wohl ein ganzes Notizbuch füllen könnte. Dabei setzt er nicht nur auf zahlreiche rätselhafte Brüche, sondern auch auf zum Teil extreme Perspektivwechsel, bei dem man sich nie sicher sein konnte, wer dort eigentlich gerade erzählt: Barbara oder ein auktorialer Erzähler? In den schwächeren Momenten des Romans mag die Antwort "weder, noch" lauten, denn bei seiner Gesellschaftskritik übertreibt es Ehemann ein wenig und stellt in leicht nörgelndem Ton eine Art Grundsatzabrechnung an, die auf mich zu plakativ wirkte und nicht in den Gesamtzusammenhang des Romans passte - und eher wie die Meinung des Autoren auf mich wirkte. Auch wenn an den gesellschaftspolitischen Ansichten grundsätzlich nichts auszusetzen war, störten sie mich in diesem Kontext. Doch ansonsten überwiegt eine gelungene Rätselhaftigkeit: Wer berichtet denn 2005 über einen Twitter-Account Arno Schmidts, obwohl Twitter erst seit 2006 online ist? Und wer ist dieser Friedrich, der ständig an Barbaras Bett auftaucht, um sie einerseits mit Wortwitzchen zu nerven und ihr andererseits Lebensmut zuzusprechen?

Gerade dieser Friedrich war für mich ein absoluter Höhepunkt des Romans. Als eine Art metaphysischer Begleiter oder GOTT im schmutzigen Unterhemd hat Ehemann mit ihm einen unvergesslichen Charakter erschaffen, der glücklicherweise auch im zweiten Teil noch seinen Auftritt hat, nachdem Barbara aus dem Koma erwacht ist.

Über den zweiten Teil verliert man inhaltlich am besten keine Worte, um den großen Überraschungen in diesem Part nicht vorzugreifen. Rein stilistisch lassen die philosophischen Gedanken ein wenig nach, um den Dialogen mehr Platz zu geben, die Barbara mit ihrem Therapeuten führt. Dieser Therapeut entpuppt sich leider als wenig empathisch und war für mich ein Ärgernis. Ohnehin mutet Ehemann seinen Figuren in diesem zweiten Teil recht viel zu.

Insgesamt war "Die liegende Frau" für mich aber eine aufregende Lektüre. Wolfgang Ehemann wagt wirklich viel und hat so etwas ganz Neues kreiert - sowohl stilistisch, als auch inhaltlich. Ein Romanexperiment, das wahrscheinlich nicht jede/n LeserIn gleichermaßen anspricht, dafür aber polarisiert. Wer dran bleibt, wird mit einer intelligenten und bewegenden Geschichte belohnt. Da ich in kürzester Zeit mit diesem Roman und "Der ehemalige Sohn" von Sasha Filipenko gleich zwei Neuveröffentlichungen lesen durfte, die sich mit KomapatientInnen beschäftigen, komme ich um einen Vergleich nicht herum, bei dem "Die liegende Frau" für mich die Nase vorn hat.