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Benutzername: 
dj79
Wohnort: 
Ilsenburg

Bewertungen

Insgesamt 200 Bewertungen
Bewertung vom 17.02.2019
Archipel
Mahlke, Inger-Maria

Archipel


sehr gut

Unbequem verkürzt, trotzdem ganzheitlich

Das Lesen des Archipels begann ich mit gehörigen Respekt vor der rückwärts gewandten Erzählweise. Diese Abweichung von der Norm erschien mir ähnlich kompliziert wie manche Übung zum Trainieren des Zusammenspiels von linker und rechter Gehirnhälfte. Wie erwartet, musste ich mir des Öfteren die Reihenfolge klar machen, aber letztlich waren die verkürzte Sprache und Erzählweise sowie die Vielschichtigkeit des Romans die größeren Herausforderungen.

Auf eine sehr intensive Weise begleitet Inger-Maria Mahlke hauptsächlich drei Familien durch das vergangene Jahrhundert, die Bernadottes als Mitglieder der Aristokratie, die mittelständischen Bautes und die Morales aus der Unterschicht. Ausgehend von den Mitgliedern der Familie Bernadotte Baute und ihrer Haushaltshilfe Eulalia Moralez Ruiz in 2015 geht sie in der Geschichte bis zur Geburt des in 2015 ältesten Familienmitglieds, Julio Baute Ramos, zurück. Nicht durchgehend, sondern punktuell zu wichtigen historischen Ereignisse betrachtet Inger-Maria Mahlke in feinsten Details die einzelnen Familienstränge bezüglich ihrer Haltung zur aktuellen politischen Lage, in ihren Lebensmöglichkeiten und hinsichtlich ihrer Gefühlslagen. Sie beschreibt darüber hinaus die Schauplätze und Örtlichkeiten Teneriffa‘s mit einer Leidenschaft, die ihresgleichen sucht. Als Leser hat man Mühe, sich im Detailreichtum des Romans nicht zu verlieren.

Interessant, aber irgendwie auch deprimierend, ist die Entwicklung der Ehe im Betrachtungsrahmen des Archipels. Während in den 1920ern die Ehe sehr arrangiert erscheint und niemand wirklich diejenige oder denjenigen heiraten kann, den er oder sie liebt, sind die Ehen der mittleren Generation zumindest durch Zuneigung gekennzeichnet. Felipe und Ana aus 2015 erscheinen mit ihrer erwachsenen Tochter Rosa distanziert voneinander aufgrund ihrer beruflichen Erfolge. In allen Ehen habe ich echte Leidenschaft für einander vermisst. Die guten Ehen sind durch gegenseitige Achtung gekennzeichnet, in den schlechten wünschen sich Ehefrauen das Dahinscheiden des Gatten.

Vielleicht hat mich die fehlende Leidenschaft auf Distanz zu den Charakteren gehalten. Mit kaum jemanden konnte ich mitfiebern, mich niemanden konnte ich mich identifizieren. Möglicherweise waren es aber auch zu viele Familienmitglieder, die nach und nach in den Roman eintraten und aus der Geschichte ausschieden, um eine richtige Beziehung zu ihnen aufzubauen. Wirklich nahe gekommen bin ich nur Julio im Asilo, der sich um die Eingangskontrolle kümmert und nebenbei Tour de France guckt.

Der Sprachstil von Inger-Maria Mahlke war für mich sehr gewöhnungsbedürftig, weil zeitweise irgendwie karg und verkürzt. Subjekte und Verben fehlen plötzlich, dafür gibt es unendlich lange Aufzählungen. Anstrengend war dabei nicht der verkürzte Stil an sich, sondern der Wechsel zwischen unendlichem Detailreichtum und dieser abgehakten Art. Dadurch wird der Lesefluss ähnlich ausgebremst, manchmal ganz unterbrochen wie durch die diskontinuierliche, punktuelle Erzählweise.

Inger-Maria Mahlke hat mich mit Archipel wirklich herausgefordert. Von den vielen Details habe ich mir wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte gemerkt, aber es ist ein Gesamteindruck entstanden, der mir über den Touristenblick hinaus eine andere Perspektive von Teneriffa gezeigt hat. Archipel ist kein Roman für zwischendurch, er ist unbequem zu lesen, braucht Zeit und wirkliches Interesse an Geschichte, die den meisten im Rahmen ihrer Schulausbildung wahrscheinlich verborgen geblieben ist. Hält man das Lesen durch, bekommt man eine ganz unaufgeregte Familiengeschichte, die Politisches mit Persönlichem verknüpft. Mit den Familien erlebt man turbulente Zeiten, die hier jedoch vornehmlich nüchtern und niemals reißerisch präsentiert werden.

Bewertung vom 05.02.2019
I can see U
Morgenroth, Matthias

I can see U


sehr gut

Gut resümiert - nützlich und gefährlich

Das neue Jugendbuch von Matthias Morgenroth ist ein echter Hingucker. Ein smarter Typ mit weichen Gesichtszügen und vollen Lippen blickt einem entgegen. Es ist ein eindringlicher, angenehmer Blick, den man gern erwidert. Als Teenie wäre ich sicher dahingeschmolzen. Der Titel entsteht aus silbrig glänzenden Pixeln. Sie schimmern je nach Umgebung und Lichteinfall in allen Farben.

Wie meinem Teenie-Ich in Bezug auf das Cover erging es Marie, als Ben plötzlich mitten im Schuljahr als neuer Schüler ihrer Klasse vorgestellt wird. Sie fühlt sich sofort zu ihm hingezogen. Er ist stets zuvorkommend, weiß immer schon, was sie sich wünscht, bevor sie es auch nur ansatzweise ausspricht. Was erst ganz wunderbar erscheint, kommt Marie und ihren Freunden merkwürdig vor. Wer ist schon dauerhaft lieb und nett und immer gut gelaunt?

Zu Beginn des Romans kommen mir Marie und ihre Schulfreunde naiv vor. Sie geben viel von sich online preis, haben einen Sprachassistenten im Haushalt, nehmen an profilgesteuerten Bestellsystem teil. Ich habe mich immer wieder gefragt, wo die Kids das viele Geld hernehmen. Ganz leicht lassen sie sich wie Schachfiguren gegeneinander ausspielen. Als mehr und mehr Unstimmigkeiten auftauchen, wollen Marie, Elli und Josh den Hinweisen folgen. Bald schon stoßen sie auf Bens Geheimnis. Was danach passiert ist eine spannende Verfolgungsjagd mit einem überraschenden Ende.

Matthias Morgenroth setzt sich in seinem Roman kritisch mit den Erscheinungen unserer 4.0-Welt wie Social Media und Smart Home auseinander. Gekonnt, natürlich auch etwas überspitzt verwebt er Maries Schulalltag und Teeniedasein mit den lauernden Gefahren der Verbindung unseres Lebens mit dem Internet. Alles, was wir tun, wo wir uns gerade befinden, wen oder was wir mögen, könnte über kurz oder lang für andere im Netz verfügbar sein. Ganz schön beängstigend.

Nachdem mir die ersten Kapitel aufgrund des Gezickes der Jugendlichen untereinander etwas nervig vorkamen, habe ich die Lektüre der zweiten Buchhälfte richtig genossen. Da vermutlich meine Kritik den jungen Leser nicht stört, empfehle ich den Roman allen im Teenageralter.

Bewertung vom 05.02.2019
Ein wirklich erstaunliches Ding
Green, Hank

Ein wirklich erstaunliches Ding


weniger gut

Tolle Idee, suboptimale Umsetzung

Aus einer SciFi-Grundidee, einer kritischen Betrachtung der aktuellen Gesellschaftsentwicklung und ein paar Thriller-Elementen als Topping konstruiert Hank Green ein umfangreiches SocialMedia Abenteuer. Der Wunsch nach weltweiter Zusammenarbeit und die Kritik an Angstmacherei gegenüber Dingen oder Personen, die uns fremd sind, treten deutlich hervor. Einzelne Ideen, wie zum Beispiel die Gestaltung der Carls und das zu lösende Rätsel, fand ich sensationell.

Leider konnten diese Ideen ihre positive Wirkung für mich nicht vollends entfalten. Die überdurchschnittliche Ausprägung der wichtigsten Charaktere als weibliche Rollen fand ich nicht glaubwürdig. Abgesehen von April Mays Kontrahent sind alle männlichen Rollen, insbesondere die von Andy und Robin, im Sinne eines Schoßhündchens angelegt. Das hat mich schon irgendwie gestört. Ebenfalls unrealistisch empfinde ich die späten, nur punktuellen Reaktionen der Medien auf Aprils homosexuelle Beziehung zu Maya, einer Afroamerikanerin. So tolerant sind wir meines Erachtens im Allgemeinen nicht.

Mein schwerwiegendster Kritikpunkt ist jedoch April selbst, die im Buch ihre eigene Geschichte so erzählt, als hätte der Leser die Geschehnisse ähnlich wie den 11. September live mitverfolgt. Dabei ist die Erzählweise reißerisch, kündigt jeden Moment ganz gravierende Ereignisse an und dann kommt die Werbung. So fühlen sich jedenfalls die Exkurse an, die immer dann eingestreut werden, wenn gerade Spannung aufkommt. Mein Lesevergnügen wurde dadurch stark ausgebremst.

„Hättest du mal lieber rechtzeitig dein Gehirn eingeschaltet, du rotzfreches, altkluges Scheißgör.“(S. 200) Auch wenn dieser böse Vorwurf, den ihr schärfster Kontrahent April May an den Kopf wirft, an Gemeinheit kaum zu übertreffen ist, hatte ich beim Verfolgen ihrer Aktivitäten ganz oft ähnliche Gedanken. April stolpert regelrecht durch das Geschehen. Ihr enthusiastisches Handeln ist geprägt von puren Aktionismus. Obwohl April May zu Beginn ihrer Story hohe Ziele für sich als Vermittlerin zwischen den Carls und der Menschheit sowie zwischen den Menschen untereinander hatte, verrennt sie sich, wird vom „großen Geld“ in eine andere Richtung gezogen bis sich Aprils Welt ausschließlich nur noch um die eigene Marke dreht. In ihrer Art wirkt sie naiv, überdreht und unüberlegt. Deshalb konnte ich mit ihr leider überhaupt nicht identifizieren.

Trotzdem gibt es immer wieder auch positive Momente im Buch. Hervorzuheben ist die gut herausgearbeitete Gesellschaftskritik, wie auf Seite 281: „Es ist viel anstrengender, die eigene Einstellung immer wieder zu hinterfragen, sie neuen Gegebenheiten anzupassen, umzuformen und Ideen für eine bestmögliche Zukunft zu entwickeln, als die Ideen anderer kaputtzumachen.“ Darüberhinaus mag ich das Mysterium der Carls.

Insgesamt tue ich mich jedoch schwer mit einer Empfehlung, da mich April Mays Selbstverliebtheit über weite Strecken gelangweilt hat. Möglicherweise mögen um die 20-Jährige dieses Buch dennoch oder gerade deswegen. Vielleicht situationskomisch gemeint, aber für mich total unpassend, weil maximal einfallslos, ist der Name April May, wenn die Ereignisse im Juni und Juli spielen.

Bewertung vom 22.01.2019
Fünf Tage im Mai
Hager, Elisabeth R.

Fünf Tage im Mai


sehr gut

Ganz anders als ich dachte, aber so schön

Liebhaber von altem Handwerk oder Freunde des Ursprünglichen und Natürlichen werden die Optik dieses Romans mögen. Der Schutzumschlag wirkt, als hätte jemand die Tiroler Bergwelt auf ein gehobeltes Brett skizziert und dann den Titel aufgestempelt. Nimmt man den Umschlag ab, hält man ein schön gemasertes Brett in den Händen. Ich finde die Aufmachung sehr ansprechend.

Inhaltlich war der Roman ganz anders aufgebaut als ich gedacht hatte. Ich war davon ausgegangen, dass die Protagonistin in Erinnerungen an fünf aufeinanderfolgenden Tagen im Mai schwelgt. Weit gefehlt, die Ich-Erzählerin greift fünf besondere Tage im Mai aus unterschiedlichen Lebensjahren für ihre Geschichte auf. Die Lücken dazwischen werden bewusst ausgelassen, können durch den Leser gedanklich ausgefüllt werden. Kleine Rückblicksequenzen sorgen für ein gutes Verständnis.

Für mich war Illys Aufwachsen und Erwachsenwerden auch ein Eintauchen in eigene Erinnerungen, mit aus Elternsicht merkwürdigen Freunden, modischen Aussetzern und phasenweise „Bocklosigkeit“. Ich mochte Illy wirklich gern. Sie ist nicht annähernd perfekt, hat ein Händchen für Fettnäpfchen, also ein ganz normales „Pubertier“. Insbesondere die Beziehung zu ihrem Urgroßvater Tat‘ka habe ich als etwas Wunderbares empfunden. Sie verstehen sich auch ohne Worte, geben einander Geborgenheit, müssen sich die Unzulänglichkeiten des jeweils anderen nicht vorhalten. Somit hat sich die zu Beginn durchschnittliche Geschichte mit jedem Kapitel gesteigert. Zum Ende hin hatte ich mit Tränen zu kämpfen, weil da so viel Zuneigung und Liebe zwischen den beiden zu spüren war.

Etwas irritiert haben mich die Zeitangaben. 1986 hatte Illy Erstkommunion, zwölf Jahre später, 1998, war sie dann in der 7. Klasse am Gymnasium. Ich gehe davon aus, dass in Tirol die Einteilung der Klassen einfach anders gezählt wird als ich es kenne. Komisch kam mir auch vor, dass Illy als Tochter von Geschäftsleuten 2004 noch einen Walkman mit Kassette benutzt.

Insgesamt hat es mir „Fünf Tage im Mai“ gut gefallen, starke Gefühle ohne Kitsch. Ich empfehle den Roman gern weiter, insbesondere den in den 1980ern Geborenen.

Bewertung vom 22.12.2018
Die Plotter
Kim, Un-Su

Die Plotter


gut

Mehr Roman als Thriller

Angepriesen wurde mir Un-Su Kim als „koreanischer Henning Mankell“. Davon angefixt habe ich mich sofort in die unmenschliche Welt der Plotter, Auftragskiller, Tracker und Cleaner gestürzt. Überaus ansprechend, zusätzlich verlockend, ist die Optik des angekündigten Thrillers. Abgebildet ist eine Dahlie auf schwarzem Grund, über der gerade ein Blutregen nieder geht. Die Blutspritzer setzen sich auf dem Buchschnitt fort, so als würde einen der erste Mord ins Auge springen, sobald man das Buch aufschlägt.

Zu Beginn ist es richtig aufregend und spannend, den Elite-Killer Raeseng bei seinen Aufträgen zu begleiten. Auch die Entsorgung der dabei anfallenden Leichen ist ein hoch interessanter Vorgang. Nach dem ersten Einblick in das Leben der Killer-Elite konzentriert sich der Roman jedoch eher auf den politischen Umbruch und die damit einhergehende Neuordnung der Machtverhältnisse im Plotter-Milieu. Ja, ich empfinde „Die Plotter“ mehr als Roman, der ein brutales Umfeld thematisiert, denn als Thriller. Dazu hätte ich mir durchweg das Spannungsniveau der Anfangsphase gewünscht.

Raeseng selbst kommt als nachdenklicher Typ rüber. Er zweifelt an seiner Tätigkeit, möchte das Auftragskillerdasein aufgeben, fragt sich immer wieder, ob es für ihn nicht auch hätte anders laufen können. Eigentlich möchte er sich möglichst weit entfernt im Ausland absetzen. Mit seinen Wegbegleitern tauscht er sich stets bei ein, zwei Flaschen Soju über seine Gedanken aus, auch über das die Plotter gegenseitig provozierende Machtvakuum. Bei Uneinigkeit ersetzen Blicke Worte. Die Charaktere funkeln sich an. Trotz seines Wunsches, sich der drohenden Gefahr zu entziehen, wird Raeseng immer tiefer in den Konflikt hineingezogen.

So zieht sich leider der erwartete Thriller als langatmiger Roman hin. Die für einen Thriller aus meiner Sicht zu langen Kapitel tragen ihren Teil dazu bei. Etwas unglücklich konstruiert habe ich zudem das Eintreten neuer Charaktere in die Story empfunden. Zeitweise taucht in jedem Kapitel eine neue Persönlichkeit auf. Vielleicht auch dadurch wirkte der Roman auf mich irgendwie abgehakt. Ein richtiger Thriller-Lesefluss, wo man am liebsten in einem Zug durchlesen möchte, kam nicht auf. Dadurch unbefriedigt fand ich schließlich die ewige Soju-Trinkerei der Protagonisten und das ständige gegenseitige Anfunkeln nervig. Ebenso störend kamen die recht offensiven Product Placement Szenen rüber.

Letztlich war es einerseits interessant, sich mit dem Stil eines koreanischen Autors auseinander zu setzen, der ein extrem gewalttätiges Umfeld weniger voyeuristisch und irgendwie „sauberer“, im Sinne von „reinlicher“ skizziert. Vielleicht entspricht das der koreanischen Kultur. Andererseits hat mich der Mangel an echter Spannung enttäuscht. Aus meiner Sicht hinkt der Vergleich mit Henning Mankell.

Ich gebe eine eingeschränkte Leseempfehlung an alle experimentellen Leser, die sich gern auf etwas Neues, immer wieder Anderes einlassen können.

Bewertung vom 29.11.2018
Mörderische Renovierung
Cantero, Edgar

Mörderische Renovierung


sehr gut

Das Cover ist ein Hingucker für jeden Hobby-Verschwörungstheoretiker. In Schwarz und Weiß gehalten, zeigt es Axton House in einer übertriebenen Tiefe, aus einer ganz unwirklichen Perspektive. Über Allem prangt ein riesiges Auge, das dem Betrachter in die Seele zu schauen scheint. Römische Ziffern von eins bis zwanzig umranden das Auge, geheimnisvolle, englischsprachige Begriffe wie the oracle, the monster, the wizzard und the nobleman rahmen das Buch ein. Für mich hatte schon das Cover so viel Anziehungskraft, dass ich „Mörderische Renovierung“ unbedingt lesen wollte.

A., dessen vollständiger Name nicht erwähnt wurde, und Niamh, katholische, stumme Punkerin mit immer wieder neuen, abgefahrenen Frisuren, verlassen Europa, um in Point Bless, Virginia, das Axton House zu beziehen. Axton House wurde A. von seinem Cousin vierten Grades, Ambrose Wells, zusammen mit einem ansehnlichen Geldvermögen vermacht. Doch es handelt sich nicht nur um ein Herrenhaus vom Feinsten, im Axton House soll es spuken. Schon nach kurzer Zeit gibt es erste paranormale Erscheinungen. Dazu kommen die Geschichten der Kleinstadtbewohner über geheime jährliche Treffen. Also fangen A. und Niamh an, das Rätsel um Axton House zu lösen. Bewundernswert sind dabei der unermüdliche Ehrgeiz der beiden, ihre Unerschrockenheit und ihre Steh-auf-Männchen-Natur.

Neu war für mich die Konstruktion des Romans. Nicht ein Prosatext erzählt die ganze Geschichte, nein, sie entsteht aus verschiedensten Puzzleteilen wie Tagebucheinträgen von A., Briefen an eine zunächst ominöse Tante Liza, Gesprächsnotizen, die Niamh zur Verständigung macht. Später kommen noch Ton- und Kameraaufzeichnungen, sowie Traumjournale und scheinbar wissenschaftliche Abhandlungen dazu. Aus alldem entsteht ein fantastischer Roman, der aus meiner Sicht zwar mit Aufmerksamkeit gelesen werden muss, aber trotzdem sehr gut verständlich ist. Ich fühlte mich beim Lesen ein bisschen wie ein Forensiker, der aus Hinweisen einen Tathergang rekonstruiert.

Besonders gut haben mir die escape-room-ähnlichen, stufenweise zu lösenden Rätsel, sowie der Ausflug in die Kryptographie gefallen. Schön fand ich darüberhinaus den unterschwelligen Witz des Romans, der immer wieder gekonnt platziert wird, z. B. als Niamh beim Besuch der Brodies das Tischgebet „spricht“ (S. 101) oder dass der Menschen kreuzende und züchtende Axton charles hieß (S. 104).
Zwei Dinge sind allerdings kritikwürdig, der nach meinem Geschmack nicht passende Titel und das Ende, was mir persönlich zu schnell kam. Nach der intensiven Auseinandersetzung mit den Geheimnissen von Axton House hätte ich mir auch mehr Raum für die Wendung und das Ende gewünscht.

Fazit: Insgesamt hat mir „Mörderische Renovierung“ gut gefallen. Daher kann ich Edgar Canteros Roman ohne Bedenken weiterempfehlen, insbesondere allen experimentierfreudigen Leser, die gern auch mal etwas Neues ausprobieren.

Bewertung vom 03.11.2018
Der Apfelbaum
Berkel, Christian

Der Apfelbaum


ausgezeichnet

„Mein lieber Freund und Kupferstecher“ (z. B. S. 209), welch aufregende, generationsübergreifende Familiengeschichte hat uns Christian Berkel da geschenkt. Er gewährt dem Leser einen Einblick in Zeiten des Überschwangs, die die Jugend der Großeltern geprägt hatten, in Zeiten der alles bestimmenden Angst während des Krieges, der damit einhergehenden Flucht und Gefangenschaft, wie auch in Zeiten gewisser Ziellosigkeit, des Zweifels und der Trauer.

Dabei begibt sich Christian Berkel nicht nur gedanklich, sondern auch sprachlich an die Orte des Geschehens. Die grobe Sprache seiner Großeltern väterlicherseits im Berliner Dialekt hat mich mitgenommen auf den dritten Hinterhof mitten in die problematische, von brutalen Gesten geprägte Kindheit Ottos hinein. Ich habe mit im gelitten und war begeistert von seiner Entwicklung, zu der Otto dennoch im Stande war. Genauso wurde ich in Salas Flucht und ihre verzweifelte Suche nach einem Platz im Leben mit hineingezogen. Die eingestreuten französischen und spanischen Worte und Halbsätze haben mich durchgehend noch dichter ans Geschehen treten lassen. Wie ein Schatten hatte ich mich beim Lesen an die Fersen der Protagonisten geheftet, gefühlt war ich die ganze Zeit dabei.

Etwas ins Stolpern kam ich beim Lesen anfangs in den Szenen, in denen Christian Berkel seine alternde Mutter nach ihrer Vergangenheit befragt und sich mit ihr in ihre schon unvollständigen Erinnerungen begibt. Rückblickend betrachtet, passt dieses Holprige zum Inhalt. Wo nur Bruchstücke vorhanden sind, kann letztlich auch kein geradliniger Lesefluss entstehen.

Besonders gelitten habe ich während der jahrelangen, kriegsbedingten Trennung von Sala und Otto. Die vielen Hemmnisse, die sich im Verlauf ergeben haben, die jeweils durchlebten Qualen, die unterschwellige Eifersucht haben den beiden ein erneutes Zusammenfinden schwer gemacht. So wirkt folgendes Zitat auf Seite 168 wie eine Ankündigung von dem, was noch passieren wird: „Was wäre das Leben ohne ein Fünkchen Eifersucht? Liebe braucht auch immer wieder einen kleinen stechenden Schmerz, sonst schmeckt sie zu sehr nach Bratkartoffeln.“

„Der Apfelbaum“ ist keine leichte Kost, die man in zwei Tagen weg liest, auch wenn der Titel recht unschuldig daherkommt. Der Roman hat mich tief bewegt, immer wieder musste ich innehalten, um das Gelesene wirken zu lassen. Dabei war die Familiengeschichte zu keinem Zeitpunkt langatmig. Mir hat der Roman richtig gut gefallen. Ich empfehle ihn gern weiter.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.10.2018
Bösland
Aichner, Bernhard

Bösland


ausgezeichnet

Spannende Psychospielchen
1987 richtet ein 13-Jähriger auf dem Dachboden eines Bauernhauses ein Blutbad an. Mit sieben Schlägen auf den Kopf ermordet er seine Mitschülerin. Die Mordwaffe ist ein Golfschläger. Nachdem dreißig Jahre lang Gras über die Geschichte wachsen konnte, beginnt sie nun von Neuen.

Obwohl sich recht schnell herauskristallisierte, wer der Mörder des Mädchens ist, blieb das hohe Niveau der Spannung von Beginn bis zum Schluss durchgehend erhalten. Ich war ständig in aufgeregter Erwartung einer neuerlichen Grausamkeit, die als Nächstes seinem planerischen Wesen entspringt. Es wurde viel Wert auf die Herangehensweise des Mörders, auf sein jeweiliges Motiv gelegt. Dadurch wurde ich als Leser so tief in die Geschichte mit reingezogen, dass es auch gut möglich gewesen wäre, selbst der nächsten Gräueltat zum Opfer zu fallen.

Der Protagonist, Ben, war charakterlich sehr gut angelegt. Zunächst hat er noch voller Selbstzweifel ein bescheidenes, zurückgezogenes Leben im Hintergrund geführt. Er war unscheinbar, fast unsichtbar. Im Verlauf hat er dann eine enorme Entwicklung durchgemacht. Bens Kommunikation und sein Handeln wurden aktiver, selbstbewusster. Immer häufiger ging die Initiative von ihm aus. Dabei waren seine sehr detailliert herausgearbeiteten Gedanken stets Indikator für seinen aktuellen Entwicklungsstand.

Rein technisch betrachtet besteht der Thriller aus kurzen Kapiteln, die zum Lesen bis tief in die Nacht hinein verleiten. Dabei wechseln sich Prosakapitel mit Kapiteln im Protokoll-/Dialogstil ab, was mir sehr gefallen hat. So kam passend zur Handlung Geschwindigkeit ins Lesen, die Kapitel flogen nur so dahin.

Fazit: Für mich ist Bösland ein Thriller, den ich sehr gern weiterempfehle. Er ist fesselnd und spannend bis zum Schluss, jederzeit sind Beweggründe und Taten der Charaktere nachvollziehbar. Es gibt eine Wendung, die man erwarten konnte, von der man sich aber auch überraschen lassen kann. Bösland hat also alles, was ein Thriller braucht, Herzrasen inklusive. Besonders gut hat mir die Perspektive des Thrillers gefallen. Die Jagt nach dem Täter durch die Polizei findet nur als Nebenhandlung statt. Vielmehr begleitet der Leser den Mörder mit all seiner Schaffenskraft.

Bewertung vom 07.10.2018
Arminuta
Di Pietrantonio, Donatella

Arminuta


sehr gut

Starke Geschwister

Wenn Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, nicht genug Energie für die Zuwendung zu ihren Kindern haben, müssen die Kinder stark sein um zu überleben.

Nachdem Arminuta von einer entfernten Tante Adalgisa überaus liebevoll groß gezogen worden ist, kehrt sie im dreizehnten Lebensjahr gezwungenermaßen zu ihren leiblichen Eltern zurück. Dort erlebt sie quasi einen Kulturschock. Mit all ihren Geschwistern haust sie, ungeachtet von Alter und Geschlecht, zusammen in einem heruntergekommenen Raum. Ihre Schwester Adriana macht jede Nacht ins gemeinsame Bett. Zu Essen gibt es minderwertige Lebensmittel. Um halbwegs satt zu werden, muss man gegen die Anderen um die eigene Portion kämpfen.

Arminuta, deren richtigen Namen wir nicht kennen, mochte ich von Beginn an. Am Anfang, als sie von der Situation zu Hause bei den leiblichen Eltern überrollt wurde, empfand ich Mitleid für sie. Später wich das Mitleid der Bewunderung. Arminuta lernt sehr schnell in diesem herausfordernden Umfeld aus Armut, Hunger und Prügelstrafe zurecht zu kommen. Dabei hilft ihr die „Verbrüderung“ mit den zunächst unbekannten Geschwistern. Zu ihnen, insbesondere zu Vincenzo, Adriana und Giuseppe, entwickelt Arminuta eine so tiefe Liebe, dass ihr später jede Trennung ungeahnte Schmerzen bereitet. Vincenzo und Adriana sind dabei die beiden Charaktere, die Arminuta stark machen, weil sie sich ihrer sofort nach der Ankunft annehmen, ihr die Zuneigung zu Teil werden lassen, die die Eltern zu geben nicht in der Lage sind, und ihr zeigen, dass Armut kein Ausschlusskriterium für Spaß sein muss.

Neben der beeindruckenden Geschichte der Geschwister hat mir auch Arminutas Beziehung zu ihrer Mutter gefallen. Sie wirkt zwar zu keinem Zeitpunkt wirklich liebevoll, ist gleichzeitig dennoch von Liebe gekennzeichnet. Die Gesten sind nur klein, aber intensiv, wie zum Beispiel das Hühnerbein zu Beginn.

Insgesamt war es mir eine Freude, Arminuta zu lesen, auch wenn ihre Geschichte teilweise sehr bedrückend ist. Der Schreibstil war gut lesbar, hat zu ausgiebigen Lesevergnügen verleitet. Ich musste mich regelrecht zwingen, zwischendurch eine Pause einzulegen, damit ich mehr als einen Tag lang, etwas von diesem schön Buch hatte.

Fazit: Klare Leseempfehlung.