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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 152 Bewertungen
Bewertung vom 14.08.2022
Reisen mit leichtem Gepäck
Jansson, Tove

Reisen mit leichtem Gepäck


ausgezeichnet

So viele Erzählungen, wie das Jahr Monate hat: so viele Erzählungen legt Tove Jansson in diesem kleinen Band vor. Mit ihrer symbolischen Aufladung suggeriert die Zahl 12 einerseits Vollkommenheit im Sinne von Ganzheit und andererseits Einheit. Vielleicht ist das eine unorthodoxe Art der Herangehensweise, aber es erweist sich als durchaus reizvoll, sich den Texten auf diese Weise zu nähern.

Geht man also mit dieser Zahlensymbolik an die Geschichtensammlung heran, erschließt sich dem Leser der Anspruch der Ganzheit recht schnell. Die Geschichten spielen zu Wasser, am Wasser und zu Lande, in der nordischen Heimat der Autorin und anderen Ländern Europas, auf dem Land und in der Stadt. Sie spielen in der Gegenwart, aber auch in einer Dystopie. Die Protagonisten sind Männer, Frauen und auch Kinder, sie leben alleine, in einer Lebensgemeinschaft oder einer Familie, und alle Lebensphasen von der Kindheit bis zum hohen Alter sind vertreten.

Wie sieht es mit der Einheit aus?

Alle Geschichten werden zusammengebunden durch einen gemeinsamen zugrundeliegenden Inhalt, der in unterschiedlichsten Variationen vorgestellt wird. Immer sind es Menschen, die sich bewegen: auf andere zu, aber auch von anderen weg. Die Bewegungen finden konkret statt: die Menschen reisen, sie besuchen Freunde, Familienangehörige oder umgekehrt: sie entfernen sich aus diesen Bindungen und suchen ihr persönliches Neuland. Sie versuchen eine Flucht vor den alltäglichen Gewohnheiten und Strukturen; nicht immer erfolgreich.

Einige dieser Reisen führen zu bitteren Erkenntnissen: z. B. zur Erkenntnis der emotionalen Kälte und Empathielosigkeit des Ehemannes in der Erzählung „Der Tod des Sportlehrers“. Eine besonders bittere Erkenntnis wird in „Die Möwen“ thematisiert: ein überreizt nervöser Mann erträgt die Naturverbundenheit und Heiterkeit seiner Frau nicht und reagiert mit erschreckender Aggressivität, die sich äußerlich gegen die Möwen richtet – wenn er nicht einer Möwe den Namen seiner Frau geben würde... Die Titelgeschichte „Reisen mit leichtem Gepäck“ lässt den Leser ebenfalls nachdenklich zurück. Da ist ein Mensch, der sich von allen Bindungen des Alltags befreit hat, seine Heimat hinter sich lässt und sich auf Reisen begibt, um dann mit dem Gepäck im konkreten und auch übertragenen Sinn seiner Mitreisenden konfrontiert und belastet zu werden. Auch in anderen Geschichten wird klar, dass der Reisende nicht seinem eigentlichen Wesen entfliehen kann. Zwischenmenschliche Beziehungen verändern sich, belasten und erfreuen, verändern die gewohnten Familienstrukturen und lassen junge Menschen erwachsen werden.

Tove Jansson erzählt ihre Geschichten in leichtem Ton, aber unter dieser leichtfüßig-eleganten sprachlichen Gestaltung verbirgt sich oft ein bitterer Humor. Die Autorin beobachtet ihre Mitmenschen sehr genau, aber immer mit einem wohlwollenden, niemals abwertendem Blick.

Und das macht das Buch so lesenswert: eine kluge Autorin, ein verständnisvoller Blick auf ihre Mitmenschen, und über jede Geschichte kann man sich als Leser seine eigenen Gedanken machen.

Fazit: Ein gedankenreiches Buch mit klugen Beobachtungen unserer Mit-Menschen.

Bewertung vom 02.08.2022
Galatea
Miller, Madeline

Galatea


gut

Miller erzählt die Sage um Pygmalion nicht neu, sondern führt sie fort: die Erzählung endet nicht mit der Eheschließung und der Geburt des Tochter Paphos, sondern schließt sich daran an. Die im Mythos namenlose Statue bekommt hier einen Namen: Miller macht sie Hauptfigur und entthront damit Pygmalion.

Galatea, gr. die Milchweiße, ist die zum Leben erweckte Statue des Pygmalion, die sich dieser aus Elfenbein - Miller redet allerdings von Stein - erschaffen hatte. Sie ist in einer Ehe gefangen, in der sie ausschließlich durch den Blick ihres Mannes lebt, der ihr Schöpfer ist und daher alle Rechte an ihr, ihrem Körper und ihrem Leben beansprucht. Galatea bricht aus, sie flieht, wird gefangen und in einer Hütte interniert; ihr Verhalten wird als dermaßen außergewöhnlich betrachtet, dass es als krankhaft bezeichnet wird, sie wird also von Ärzten und Krankenschwestern „umsorgt“, immer nach den Wünschen ihres Schöpfers. Ein täglicher Tee lähmt ihren Kopf und ihre Zunge; sie wird also täglich neu in den erwünschten Zustand der Gedankenlosigkeit und Stummheit versetzt.

Hier setzt nun Millers Erzählung ein.

Mit einer List, die auf einer Art Frauensolidarität beruht, gelingt Galatea die Flucht. Pygmalion verfolgt sie - eine merkwürdige Szene, wenn man sich die beiden im Wettlauf vorstellt! Galatea lockt Pygmalion ins Meer - und diese Idee hat mir gut gefallen, da Galatea der Name einer der Nereiden ist, der Nymphen des Meeres. Galatea sucht also ihren ursprünglichen Lebensbereich wieder auf, und damit gelingt ihr die Befreiung der Tochter.

Miller setzt hier im Unterschied zur Ovid-Sage einen anderen Schwerpunkt: die Frau steht im Mittelpunkt und hat einen Namen, während der Mann, Pygmalion, namenlos bleibt. Eine originelle, feministische Sichtweise des Mythos!

Ein sprachlich geschmeidiges Buch, allerdings stören die wiederholten Wendungen „und vögelte mich“ – auf der anderen Seite rücken diese ganz und gar ungriechischen Wendungen den Text über die Jahrhunderte an den heutigen Leser heran.

Vorwort, Nachwort und auch der Abdruck der Ovid-Sage erklären Text und Vorlage mehr als hinreichend. Da geht es mir wie meinen Vorrednerinnen. Ich empfinde das Verhältnis zwischen Begleittexten und Erzählung als überfrachtet: wie so oft wäre hier weniger mehr gewesen und hätte es dem Leser ermöglicht, eigene Entdeckungen zu machen.