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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 188 Bewertungen
Bewertung vom 20.02.2023
Seht mich an
Brookner, Anita

Seht mich an


ausgezeichnet

Frances Hinton ist eine intelligente, gebildete und wohlhabende junge Frau. Sie lebt mit der Haushälterin ihrer verstorbenen Mutter in einer großzügigen Wohnung in London. Ihre Arbeitsstelle gefällt ihr: sie arbeitet als Archivarin in einer medizinischen Bibliothek und ist kunsthistorisch versiert. Die äußeren Rahmenbedingungen sind also beneidenswert.

Aber Frances leidet. Sie leidet unter einer beklemmenden Einsamkeit und schaut voll Schmerz auf das gesellige Leben der anderen, das diese mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit führen, um die sie Frances beneidet. Sie, Frances, gehört nicht dazu, sie ist unauffällig und wird übersehen wie ein Möbelstück ihrer Arbeitsstelle – und würde doch so gerne dazugehören. In dieser Situation lernt sie das Paar Alix und Nick kennen: ein glamouröses Paar, das einen exaltiert-snobistischen Freundeskreis unterhält, in den Frances aufgenommen wird. Endlich: sie wird gesehen! Ihr einsames Leben ist beendet!

Sie registriert allerdings sehr genau die herablassende und dominierende Art, mit der v. a. Alix in dem Freundeskreis und auch ihr gegenüber den Ton angibt. Alix stammt aus einer zwischenzeitlich verarmten Familie von Großgrundbesitzern und wird nicht müde, auf ihre ehemals herausragende gesellschaftliche Position zu verweisen. Sie fühlt sich daher allen überlegen und nimmt für sich das Recht in Anspruch, andere zu mindern, der Lächerlichkeit preiszugeben und vernichtende Urteile zu fälle. Alix fehlt jede Empathie. Sie geht über die Bedürfnisse anderer hinweg und lässt niemals einen Zweifel daran, dass sich jeder ihrem Willen unterordnen zu habe. So werden z. B. Einladungen von entfernten Freunden zwar zugesagt, aber kurzfristig nicht wahrgenommen, weil das Wetter zum Flanieren einlädt.

Das alles beobachtet Frances sehr genau. Mit einer unglaublichen Präzision beobachtet sie sowohl Alix und ihren Zirkel als auch sich selbst. Sie erkennt schließlich sehr schmerzhaft, dass sie nicht als Freundin gesehen und geschätzt wird, sondern nur ein Beobachtungsobjekt des Paares ist, das sie zudem finanziell ausnutzt. Sie wird zwar nun endlich gesehen, aber umgekehrt wird sie von dem Paar beobachtet, mitleidlos und voyeuristisch, ausschließlich zu seinem eigenen Vergnügen, so wie ses auch das Leben der anderen „Freunde“ nur unter dem Aspekt der eigenen Unterhaltung sehen kann.

Mit ihrer glasklaren, völlig schnörkellosen Sprache seziert die Autorin ihre Protagonistin, und zwar mit einer Gnadenlosigkeit, die mir stellenweise den Atem nahm. Mir kam es so vor, als ob sie Frances nicht nur sezierte, sondern fast skelettierte: schonungslos und unbestechlich.

Lesenswert!

Bewertung vom 16.02.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


sehr gut

Sabrina Janesch entführt ihren Leser in eine Welt, die in Geschichtsbüchern eher marginal auftaucht und deren letzte Zeitzeugen allmählich aussterben. Sie stellt uns das Schicksal der deutschen Familie Ambacher vor, die vor Generationen in das Warteland eingewandert war und von dort im II. Weltkrieg nach Sibirien verschleppt wurde – als Zivilgefangene, wie so viele andere deutschstämmige Familien auch. Janesch erzählt von der Verschleppung, dem Leben in Kasachstan und der Rückkehr nach Deutschland in ein Land, das den Rückkehrern fremd geworden ist.

Die Autorin verteilt die Handlung auf zwei Zeitebenen und auf zwei Protagonisten, beides Kinder: einmal das Kind Josef, aus dessen Perspektive die Zeit in der kasachischen Steppe erzählt wird, und in der Jetztzeit ist es Josefs Tochter Leila, aus deren Sicht wir die Situation der Rückkehrer erleben.
Die Art und Weise, wie die Autorin diese beiden Ebenen miteinander verbindet, ist bestechend flüssig und geschmeidig. Assoziativ reiht sie die Erlebnisse der beiden Kinder aneinander; ob es ein Sturm in der Steppe ist, der Schamane bzw. die Tante als Heilerin, der Wintereinbruch, der Schulbesuch – die Zeitebenen verzahnen sich bewundernswert leicht ineinander.
Dadurch wird deutlich, welche Gemeinsamkeiten zwischen den Generationen bestehen. Beide leiden unter dem Trauma der Entwurzelung, beide fühlen sich fremd und ausgegrenzt, beide suchen letztlich nach ihrer Identität.

In der Gegenwart kommt noch eine Facette hinzu. Was zunächst wie ein unmotivierter Kinderstreich aussieht – der Diebstahl von Zahngold -, entpuppt sich als Hinweis auf diejenigen, die für die Verschleppung und die Traumatisierung vieler Menschen verantwortlich waren: die Nationalsozialisten, deren Täter nach wie vor ungestraft unter uns leben. Hier schafft die Autorin mit Pawel eine wirklich beeindruckende Figur.

Der Teil, der in der Steppe spielt, hat mir wesentlich besser gefallen. Hier gelingen der Autorin einfach schöne Bilder wie z. B. das Kind Josef, das heimlich Wörter aus dem verbotenen Deutsch sammelt und aufbewahrt, um seine Identität und auch die Verbindung mit seiner toten Mutter zu bewahren. Sie vermeidet auch jede Schwarz-Weiß-Zeichnung der Figuren, und damit gelingen ihr mit wenigen Federstrichen Bilder von menschlicher Solidarität über ethnische Grenzen hinweg, aber auch Verrat und Eigennutz.

Der Jetzt-Teil gerät mir teilweise zu larmoyant. Die ständigen Klagen über die „schwere Kindheit“ und die grobe Ausgrenzung der Rückkehrerkinder – z. B. getrennte Sitzplätze in der Schule – wirken zu dramatisch. Zudem decken sie sich nicht mit meinen eigenen Wahrnehmungen.

Das Hörbuch wird eingelesen von Julia Nachtmann: perfekt, ein großer Hör-Genuss!

Insgesamt ein überzeugendes Buch, intelligent konstruiert.
Lese- und Hör-Empfehlung!

Bewertung vom 02.02.2023
Nives
Naspini, Sacha

Nives


ausgezeichnet

Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag: Anteo, Nives‘ Mann, will die Schweine füttern, erleidet einen Herzschlag und stürzt tot in den Schweinetrog, worauf ihn das Schwein anknabbert.

In der Folgezeit leidet Nives unter der Einsamkeit und holt sich das Huhn Giacomina ins Haus, und in der Gesellschaft dieser gefiederten Freundin lebt sie wieder auf. Sie erkennt aber durchaus das Groteske der Situation: „Ich hab mein Leben für einen gegeben, den ich hätte durch ein Huhn ersetzen können.“ Eines Tages verfällt Giacomina beim Werbe-Fernsehen in eine katatonische Starre, und Nives ruft den Tierarzt Loriani an – und dieses Telefonat ist der eigentliche Roman.

Der Dialog beginnt recht kurzweilig und amüsant, passend zu der merkwürdigen Situation. Beide sind im selben Ort aufgewachsen und kennen sich ihr Leben lang, und so wendet sich das Gespräch der Jugendzeit zu und dem damaligen überraschend locker-sinnenfrohen Miteinander des Freundeskreises. Bis dahin denkt der Leser, dass der Roman sich darin erschöpft: in der Ansammlung von Sprachwitz und allerlei Skurrilitäten, über die man lachen muss.

Aber dann gewinnt die Geschichte einen unerwarteten Tiefgang. Nives holt nämlich das verbale Hackebeilchen heraus und nimmt die gemeinsame Vergangenheit gnadenlos ins Visier. Und nun entfaltet sich ihr ganzes Leben, dem der Leser/Hörer atemlos folgt: eine schlimme Geschichte von Liebe, Treue und Untreue, Versprechungen und gebrochenen Schwüren, von Verrat, Einsamkeit, Rache und Schuld, von Trauer und nicht heilenden Verletzungen bis hin zur Giftmischerei.

Nives‘ Sprache ist ländlich-direkt. Vor allem ihre originellen plastischen Vergleiche bringen den Leser trotz des bitteren Inhalts immer wieder zum Lachen. Dabei überschreitet der Autor aber nie die Grenze zum Obszönen.

Das Telefonat endet mit der bitteren Erkenntnis, dass Nives ihr ganzes bisheriges Leben als vertane Chance verlebt und der Hochherzigkeit ihres Mannes keine Chance gegeben hat. Dieser eigentlich bittere Schluss wird vom Autor im letzten Satz ins Leichte überführt: das Huhn Giacomina kommt zu sich und legt ein Ei.

Das Hörbuch wird eingelesen von Timo Weisschnur und Tanja Fornaro. Durch die beiden Stimmen wirkt der telefonische Dialog authentischer. Tanja Fornaro übernimmt am Schluss neben ihrem Part der Protagonistin auch den von Donatella, der Ehefrau des Tierarztes, und die Differenzierung der beiden Stimmen gelingt ihr mühelos.

Fazit: eine originelle Erzählsituation, eine tiefgründige Geschichte.
Lese- und Hörempfehlung!!

Bewertung vom 25.01.2023
Internat
Zhadan, Serhij

Internat


ausgezeichnet

Der Plot ist eigentlich schnell erzählt: Pascha, ein Lehrer in den Dreißigern, holt seinen Neffen Sascha aus einer umkämpften Stadt zu sich nach Hause.

Ort und Zeit werden nur marginal erwähnt: wir hören einmal den Namen der Stadt Charkiw, es ist Januar – man kann also davon ausgehen, dass der Roman im umkämpften Donbecken spielt. Es geht jedoch nicht um die Ukraine, es geht nicht um einen konkreten Krieg. Der Autor ergreift nicht Partei, er nimmt keine Schuldzuweisungen vor. Es geht in einem weiteren Sinn allgemein um die Schrecklichkeiten des Krieges, wie sie überall stattfinden können.

Pascha, der Protagonist, ist ein völlig unpolitischer Mensch. Er ist Lehrer, Zivilist, hört keine Nachrichten, vermeidet eine politische Positionierung und mischt sich nirgendwo ein. Der Weg zu seinem Neffen und der Weg zurück nach Hause macht aus ihm einen anderen Menschen. Er durchläuft apokalyptische Szenerien, die an die Gedichte Georg Trakls erinnern. Dabei begegnet er Menschen, meistens Frauen und Kindern, und er erkennt, dass er handeln muss. Als Lehrer kommt ihm offensichtlich eine besondere Rolle zu; von ihm wird erwartet, dass er die richtigen und wichtigen Informationen hat, dass er Hilfe leistet und Sorge für die anderen trägt. In diese Rolle - eine Rolle, die Pascha bisher vermieden hat – wächst er jetzt Schritt für Schritt tatsächlich hinein.

Der Roman führt uns eindringlich vor, was der Krieg mit Menschen macht. Hier gelingen dem Autor verhaltene und zugleich ausdrucksstarke Bilder, die sich dem Leser einprägen; ob das der durchschossene Mantel des tapferen Sportlehrers ist oder das klingelnde Handy eines Toten, der jeden Tag um 8 Uhr von seinen Kindern angerufen wird. Pascha begegnet auf seiner „Winterreise“ Menschen, die sich in Endzeit-Landschaften bewegen, die alles aufgegeben haben und nur das Notwendigste mit sich führen. Sie wissen nicht wohin, die Infrastruktur ist zusammengebrochen. Die Realität dieser Menschen besteht aus gegenseitigem Misstrauen, aus ständiger Angst, aus Sorge um die nächste Mahlzeit, aus dem dringenden Bedürfnis nach Wärme, aus Desinformation seitens der Regierung, Alarm und Beschuss, Verlust der Wohnung und der Lebensgrundlage, aus Begegnungen mit Soldaten, deren Zugehörigkeit nicht immer zu erkennen ist. Solidarität und Hilfe trifft er selten. „Kein Mitleid mit niemandem“ wird zum Mantra Paschas. Ein bitteres Fazit!

Der Roman wird eingelesen von Frank Arnold. Seine klare, teilweise metallische Stimme passt zu den Schrecken, die der Roman erzählt. Frank Arnolds Vorlesekunst zeigt sich besonders in den Dialogpassagen, die er mit wechselnder Lautstärke und vor allem wechselnder Stimmfärbung perfekt gestaltet.

Absolute Lese- und Hör-Empfehlung!

Bewertung vom 23.01.2023
Frankie
Köhlmeier, Michael

Frankie


ausgezeichnet

Der Autor lässt einen Jugendlichen erzählen: Frank Thaler, fast 14, ein braver und unauffälliger Junge, der mit seiner alleinerziehenden berufstätigen Mutter zusammenlebt. Jeden Mittwoch kocht er, am Wochenende schauen sie gemeinsam „Tatort“, und manchmal krabbelt er in ihr Bett. In dieses Familienidyll schiebt sich nun der Großvater, der nach vielen Gefängnisjahren vorzeitig entlassen wird. Der Großvater tritt fordernd und übergriffig auf. Nicht nur, dass er den Namen seines Enkels gegen dessen Willen zu „Frankie“ amerikanisiert, er benimmt sich auch sonst wie ein alter Cowboy: ruppig, unfreundlich und gewalttätig. „Ein Tier“, sagt seine ängstliche Tochter über ihn, und ist es ein Zufall, dass Frank gerne Tierfilme sieht, vor allem, wenn es um Fressen und Gefressen-Werden geht?

Frank ist abgestoßen, aber dann auch wieder fasziniert von der Art seines Großvaters. Und so entsteht diese Geschichte: wie das Muttersöhnchen sich befreit aus dem langweiligen, kleinbürgerlich-braven Mief.

Köhlmeier trifft den Ton des Jugendlichen, die Figur des Jungen wirkt authentisch. Frank räsoniert über dies und das, über Worte, einen Lehrer, den Freund der Mutter, das Kochen – aber das, was die Handlung vorantreibt, spart er in seinen Gedanken aus. Diese fehlende Kausalität hat mich zunächst gestört, bis ich sie als erzählerischen Kunstgriff verstanden hatte. Damit bringt der Autor eine Verzögerung in die Geschichte, die die tatsächlichen Ereignisse dann um so plakativer wirken lässt. Gleichzeitig lässt er seinem Leser Freiräume, die dieser selber füllen kann.

Auf mich wirkte das Erzählen daher wie ein Eisberg: das Wesentliche bleibt ungesagt unter der Oberfläche, schimmert aber durch. Und dieses souveräne Erzählen hat mir hervorragend gefallen.

Bewertung vom 18.01.2023
Einsteins Hirn
Franzobel

Einsteins Hirn


sehr gut

Was für eine bizarre Geschichte!

Franzobel hat sich einen historischen Stoff ausgesucht: die Geschichte des Thomas Stoltz Harvey (1912 – 2007), Chefpathologe des Krankenhauses in Princeton, in dem am 18.4. 1955 Albert Einstein infolge eines Aneurysmas gestorben war. Zu Einstein muss man nicht viel sagen: Nobelpreisträger und zu Lebzeiten schon einer der weltweit bekanntesten Wissenschaftler. Seine Relativitätstheorie revolutionierte die Physik, und die Menschen erfuhren staunend, dass Zeit und Raum keine Konstanten sind, dass der Kosmos sich seit einem Urknall ständig ausdehnt und andere Kosmen neben unserem denkbar sind. Einstein war nicht nur ein genialer Wissenschaftler, sondern wurde wegen seiner pazifistischen Einstellung auch zu einer Pop-Ikone seiner Zeit.

Harvey ist ein freundlicher und gutartiger Mensch, ein frommer Quäker. Er obduziert Einsteins Leiche und entnimmt dabei eigenmächtig Einsteins Hirn, um Forschungen zur Anatomie der Genialität in Gang zu bringen. Dazu fehlen ihm jedoch die Arbeitsmittel und auch die fachliche Kompetenz. Daher zerschneidet er es in zentimetergroße Kuben, die er in Einmachgläsern bei sich zuhause lagert und wiederholt Hirnforschern zur Untersuchung anbietet – vergeblich.

Franzobel ist ein Autor, der penibel recherchiert und für den historische Redlichkeit ein Muss ist. So suchte er alle Orte auf, an denen Harvey lebte und wirkte, und ließ sich von den letzten Zeitzeugen ihre Eindrücke schildern. Daher kann er weit ausholen. Wir lernen Harveys Elternhaus kennen, vor allem seinen frommen Vater und dessen Prügelexzesse, und verfolgen Harveys eher unruhiges Leben. Seine Ehen scheitern, zu seinen Kindern hat er kaum Kontakt, seine beruflichen Tätigkeiten variieren, er verliert seine Approbation und schlägt sich als Nachtwächter und Hilfsarbeiter durch, die politischen Verhältnisse wechseln (und hier kann sich der Autor seine bissige Kritik nicht verkneifen), panta rhei – die einzige Konstante in seinem Leben ist das Zusammensein mit Einsteins Hirn, das er in Einmachgläsern „eingeweckt“ immer mit sich führt. Und hier warten Überraschungen auf den Leser, die ihm Einsteins widersprüchlichen Charakter, seine Gedanken buchstäblich zu Gott und der Welt nahebringen.

Franzobel vermischt originell die historische Realität mit einer Fiktion, wie sie hätte sein können. Seine Sprache ist wie gewohnt bildgewaltig, gelegentlich derb, aber immer wieder blitzt sein Humor durch; „Lungenfachärzte rauchten, und der Proktologe bohrte in der Nase“ (S. 118). Aber ich habe auch sehr anrührende Szenen gelesen, als er z. B. schildert, wie der über 80jährige Harvey, einsam, krank und verarmt, sich ein Zusammensein mit seiner ersten Frau erhofft.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.01.2023
Ein simpler Eingriff
Inokai, Yael

Ein simpler Eingriff


sehr gut

Wann spielt die Geschichte? Und wo? Der Leser bleibt im Unklaren und erkennt, dass es hier nicht um konkrete Verortungen in Raum und Zeit geht

Die Protagonistin Meret, eine junge Krankenschwester, bewegt sich in zwei Mikrokosmen: ihrer Familie und dem Krankenhaus. Ihre Familie wird geprägt durch eine fast unerträgliche Beschränktheit des Wohnraums und vor allem durch den Vater, der uneingeschränkt die Familie beherrscht und seine Aggressionen entlädt in gewalttätigen Übergriffen auf seine Kinder. Der andere Mikrokosmos ist das Krankenhaus, Merets Arbeitsplatz. Zusammen mit vielen namenlosen Krankenschwestern funktioniert sie wie ein Rädchen im Getriebe.

Beiden Mikrokosmen gemeinsam ist ihre streng patriarchalische Struktur und das System von Unterordnung und Gehorsam.

Meret ist als Pflegerin beteiligt an der operativen Behandlung von psychischen Erkrankungen. Die Details der Operation bleiben unscharf, aber der ausführende Arzt verspricht ein besseres Leben nach dem Eingriff. Der Mensch – meist sind es Frauen – würde befreit von unangenehmen Verhaltensweisen. Immer wieder werden Wut und Aufmüpfigkeit als unerwünschtes Verhalten erwähnt, d. h. die Operation hat nicht das Ziel einer Heilung, sondern sie hat das Ziel, Frauen an die gesellschaftlich erwünschten Normen anzupassen, und diese Normen sind von Männern gesetzt. Unerwünschtes Verhalten von Frauen wird operativ eliminiert, und die versprochene Besserung sieht so aus, dass Frauen zu einem klaglos funktionierenden Teil dieser restriktiven Gesellschaftsordnung werden. Für Männer gilt dies offensichtlich nicht, wenn man an Merets Vater denkt.

Meret fügt sich in dieses autoritäre System ein und verteidigt die Notwendigkeit der Anpassung. Bis sie unter dem Einfluss ihrer Geliebten Zweifel entwickelt und einen Ausbruch wagt.

Der Roman wirkt merkwürdig schwebend. Nicht nur wegen der fehlenden zeitlichen und räumlichen Verortung, sondern auch inhaltlich. Der Leser bewegt sich zwischen den beiden Mikrokosmen hin und her. Wir lesen kurze Rückblicke in die Familiengeschichte und Erinnerungen an die geliebte Schwester, Andeutungen über das Schicksal des Bruders – und auch der konkrete Klinikalltag, das Miteinander mit den Kolleginnen, der Kontakt zum Bruder einer Patientin, all das wird nicht klar konturiert, sondern bleibt angedeutet stehen.

Der Sprecherin Lisa Hrdina gelingt es hervorragend, die Ich-Erzählerin lebendig werden zu lassen. Sie trifft den leicht naiven Ton der jungen Protagonistin, und ihre junge Stimme wirkt authentisch.

Bewertung vom 09.01.2023
Das Rätsel der Schamanin
Michel, Kai;Meller, Harald

Das Rätsel der Schamanin


ausgezeichnet

Eigentlich sind die Landesgartenschau in Bad Dürrenberg, geplant für 2024, und die Umgestaltung des Kurparks schuld. Im Bereich dieses Kurparks liegt nämlich ein 9000 Jahre altes, steinzeitliches Grab, das bereits 1934 ausgegraben wurde und schon damals wegen seiner überreichen Grabbeigaben für Aufsehen sorgte. Wegen der geplanten Neugestaltung des Kurparks fand nun eine Nachgrabung statt, und deren Ergebnisse legt das Autorenduo Meller und Michel vor. Dazu nutzen sie die Elemente des Kriminalromans: sie sprechen von einem „cold case“ gehen investigativ vor, stellen Hypothesen auf und verwerfen sie wieder, und der Leser verfolgt gespannt den Gang der Entdeckungen.

Es ist tatsächlich eine außerordentliche Geschichte, die der Leser erfährt. Die Archäologen von 1934 hielten aufgrund der damals üblichen patriarchalischen Sichtweise ein reich ausgestattetes Grab stets für das eines Mannes. Und dieser Fund wurde nun eingepasst in das völkische Geschichtskonstrukt: dieser Mann war ihrer Meinung nach weiß und blond und diente daher als Beweis für eine Art Ur-Arier, der nicht durch Migration nach Mitteldeutschland fand, sondern der sich hier bodenständig entwickelt habe. Ein Beweis für die völkische Ideologie der Nationalsozialisten. Sehr umfassend wird der Leser informiert, wie diese ideologisch verblendeten (und zudem unwissenschaftlich arbeitenden) Prähistoriker ihre üble Rolle als „Vordenker der Vernichtung“, wie Götz Aly sie nennt, spielen.

Was hätten diese Archäologen zu der Tatsache gesagt, dass ihr „Mann“ nicht nur eine Frau war, sondern zudem dunkelhäutig? Eine Person of Colour? So wie auch der noch ältere Fund, der sog. Neuessinger Mann aus dem Altmühltal?

Die Ergebnisse der Nachgrabung und ihre umfangreichen Auswertungen werden dem Leser umfassend und auch für archäologische Laien immer verständlich vorgestellt. Die beiden Autoren nehmen ihren Leser mit an die Schnittstelle zwischen Mesolithikum und Neolithikum. Nachdem unsere Ahnen jahrtausendelang als Jäger und Sammler gelebt hatten- immerhin die längste Zeit der Menschheitsgeschichte! - wandelt sich allmählich ihre Lebensweise: sie werden sesshafte Ackerbauern und Viehzüchter. Und sie spezialisieren sich, und dafür sprechen die reichen Grabfunde: hier wurde eine Heilerin bestattet, eine spirituelle Expertin, eine charismatische, reiche und äußerst angesehene Frau, deren Grab noch Jahrhunderte nach ihrem Tod Besucher an sich zog, quasi ein „Lourdes der Steinzeit“.

Da drängt sich der Begriff „Schamane“ auf. Auch hier holen die Autoren weit und differenziert aus. Sie informieren nicht nur über die Geschichte des Schamanentums, das vom Christentum verteufelt wurde und Opfer ideologischer Anschauungen wurde, sondern stellen auch die angewendeten bewusstseinserweiternde Praktiken vor. Ebenso umfassend und reflektiert sind die Darstellungen der animistischen, d. h. allbeseelten Sichtweise der Welt.

Sehr spannend fand ich die Darstellung der sozialen Konsequenzen, die die veränderte Lebensweise nach sich zog. Die Sesshaftwerdung führte zu kleinräumigeren sozialen Netzen und es entstehen neue soziale Hierarchien. Aber immer noch betrachtet sich der einzelne Mensch als Knotenpunkt eines Netzes unterschiedlicher Lebewesen – und der Verlust dieser Netzwerke quält den modernen Menschen.

Aber: Muss ich eine Grabbeigabe „fancy“ nennen und eine Persönlichkeit „sparkling“? Ab und zu eine Streichung einiger Redundanzen hätte dem Buch auch gutgetan.

Das Hörbuch wird eingelesen von Helge Heynold: eine angenehme Stimme, sauber artikuliert, sinngerecht betont, perfekt!

Fazit: Ein kluges, faktenreiches, informationsreiches, immer reflektierendes Buch, das die ferne Steinzeit heranrückt und zudem Auskunft gibt über die vielen wissenschaftliche Methoden des Erkenntnisgewinns.
Absolute Lese- und Hörempfehlung.

Bewertung vom 06.01.2023
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


ausgezeichnet

Klappentext

„Das glückliche Geheimnis“ wird gleich auf der ersten Seite, in den ersten beiden Sätzen gelüftet: der Autor wühlt sich seit 25 Jahren durch die Wiener Altpapiertonnen, bei Wind und Wetter, zu Fuß und mit dem Fahrrad. Dabei findet er all das, was Menschen entsorgen: Bücher, Plakate, persönliche Briefe, unbenutztes Firmenbriefpapier, Glückwunschkarten, Briefmarkensammlungen etc. Das setzt in ihm Überlegungen frei: welche Gründe haben Menschen, sich von Schriftlichem zu trennen? Ordnung? Nachlass-Sichtung? Desinteresse? Zu wenig Platz?
Müll ist, so meint er, nicht nur eine gewaltige Rohstoff-Ressource, sondern ebenfalls eine kulturelle Ressource, ein Teil des kulturellen Gedächtnisses.
Trotzdem schämt er sich für seine Müll-Touren, bis er den Film „Die Sammler und die Sammlerin“ von Agnes Varda sieht. Der Film bringt ihn zur Auffassung, dass das Sammeln ein menschliches Grundbedürfnis sei, und auch das Sammeln von Müll sei eine Kulturtechnik, bei der sich „auch im Wertlosen ein Reichtum“ (S. 36) finde.
So erlebt es der Autor die ersten Jahre auch, und zwar wortwörtlich: er verkauft seine Funde auf dem Flohmarkt und finanziert damit seinen Lebensunterhalt. Der Fund und die Lektüre von Briefkonvoluten setzt allmählich aber einen schöpferischen Impuls bei ihm frei. So erzählt er z. B., wie ein gefundenes Konvolut von Briefen aus dem I. Weltkrieg in ihm die Grundidee für sein Buch „Unter der Drachenwand“ habe entstehen lassen.

Das Müllsammeln strukturiert den Alltag des Schriftstellers, und es strukturiert auch verblüffend leichtfüßig das Buch. Der Leser erfährt in dieser besonderen Biografie, wie Geigers erste Romane zustande kamen und wieviel Frust und Ablehnung er seitens seines Verlages auszuhalten hatte und wie er trotzdem an seinem Lebensziel, Schriftsteller zu sein, festhielt. Geiger nimmt kein Blatt vor den Mund. Wir erfahren viel von seinem Privatleben, z. B. seiner sexuellen Libertinage, gelegentlich mehr, als es mich persönlich interessiert hätte. Ebenso offen geht er mit den Erkrankungen seiner Eltern um: des „alten Königs in seinem Exil“ und seiner intelligenten Mutter, die nach einem schweren Schlaganfall ihr Leben neu lernen musste.
Genauso offen und ungeschönt erzählt er von seinem „depressiven Intermezzo, wie er es nennt: eine längere Schaffenskrise, aus der ihn ein streng strukturierter Alltag schließlich befreit, und zu dieser Struktur gehört auch das „Lumpensammeln“, wie er es nennt. Das er übrigens auch nicht aufgibt, als er mit Preisen überhäuft wird und zur öffentlichen Person geworden ist; niemand vermutet in dem Lumpensammler den preisgekrönten Autor.

Auch hier ist also wie im ganzen Buch immer das Durchforsten der Altpapiercontainer der zentrale Punkt, und daher sollte der Leser keine chronologische Biografie erwarten, sondern sich der Führung des Autors überlassen.

Geiger beobachtete in den Altpapierbriefen eine unverkrampfte, menschliche Offenheit, die ihm gefiel und die er zum Maßstab seines Erzählens machte. Das ist ihm gelungen. Geiger ist nicht frei von Selbstlob und Stolz auf unkonventionelles Verhalten, und einige Passagen hätten durchaus gestrafft werden können. Dennoch bleibt nach der Lektüre der Eindruck zurück, dass hier ein liebenswerter Mensch spricht, dem wenig Menschliches fremd ist.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.01.2023
Raue Wasser
Pert, Rebecca

Raue Wasser


gut

Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen und setzt zwei Erzählstimmen ein. Auf der ersten Zeitebene erzählt eine junge Frau, Sylvia, in ihrem Tagebuch von ihrem Leben auf der kargen Shetland-Insel Unst und vor allem von ihrer psychischen Erkrankung, die zu schrecklichen Ergebnissen führt. Die zweite Zeitebene befindet sich in der Jetztzeit. Sylvias Tochter Jane findet die Tagebücher ihrer Mutter und durchlebt damit ihre Kindheit noch einmal. Und so gelingt es ihr, sich ihrer Traumatisierung zu stellen und sie in ihr Leben zu integrieren.

Der Roman ist spannend und durch die beiden Erzählstimmen auch sehr kurzweilig zu lesen. Die unwirtliche, karge Kulisse der Shetland-Insel, vor der die Handlungen sich abspielen, ist sehr schön gewählt, da die innere Verfassung der beiden Protagonistinnen sich hier widerspiegeln. Dazu passt auch der Titel „Raue Wasser“, der sich nicht nur auf die Affinität der Hauptfiguren zur See bezieht, sondern ebenso metaphorisch zu verstehen ist: Sowohl Sylvia als auch ihre Tochter haben raue Zeiten zu durchleben.

Die Themen sind ausgesprochen dramatisch: Einsamkeit, Depression, Halluzinationen, innere Stimmen, Suizide, Eifersucht und Trennung, blutige Unfälle, Traumatisierung, schwierige Geburt, Mord und einiges andere. Man merkt es vielleicht schon: mir war es zu viel Drama. Wäre etwas weniger nicht mehr gewesen? Vor allem gegen Ende des Buches geht es recht melodramatisch zu. Die Autorin nimmt dafür Längen in Kauf, die für die Handlung nicht wesentlich sind wie z. B. die langatmige Schilderung einer Geburtsszene. Gelegentlich fehlt auch der innere Zusammenhang der einzelnen dramatischen Blöcke – leider kann ich keine Beispiele geben, ohne zu spoilern. Nur ein eher nebensächliches Beispiel: es wirkt nicht überzeugend, wenn sich die Mutter einer verlassenen Verlobten aufopferungsvoll um deren Nachfolgerin kümmert.

Trotz dieser dramaturgischen Schwächen habe ich den Roman gerne gelesen! Ein Roman zum Schmökern.