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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 30.10.2021
Zandschower Klinken
Kunst, Thomas

Zandschower Klinken


schlecht

Ist das Kunst oder kann das weg

Unter den Finalisten für den Deutschen Buchpreis befindet sich auch der Roman «Zandschower Klinken» von Thomas Kunst. Nomen est omen, denn was der Autor mit seinem Buch geschaffen hat, das ist zweifellos surreale Kunst. Alle Finalisten «zeigen den stilistischen, formalen und thematischen Reichtum der deutschsprachigen Gegenwarts-Literatur und zeugen von der immensen Lust und hohen Könnerschaft, Geschichten zu erzählen», hat die diesjährige Jury selbstbewusst erklärt. Ihren Mut muss man anerkennen, denn diese schräge, versponnene Aussteiger-Geschichte ist überaus verstörend, wie die verblüfften Kommentare in Feuilleton und Leserschaft beweisen.

Der Plot, soweit man hier von einem solchen reden kann, beginnt an einem Dorfteich. Bent Claasen wurde von der Freundin verlassen, sein Hund ist gestorben, er will nur noch weg. Wohin, das überlässt er dem Zufall, er wird dort bleiben, wo während der Autofahrt das Halsband des Hundes vom Armaturenbrett herunterfällt. Zandschow heißt das fiktive Kaff im Norden Deutschlands, nahe der Autobahn A7, in dem er schließlich landet. Außer dem Feuerlöschteich gibt es noch Getränke-Wolf als Treffpunkt des Ortes, wo es einen freien Internetzugang nach «Sansibar» gibt. Auf dem Teich werden jeden Donnerstag zwanzig Plastik-Schwäne ausgesetzt, unter künstlichen Palmen werden «Lagune-Festspiele» gefeiert, stündlich setzt ein Boot zu der Insel in der Mitte über. «Wir haben uns angewöhnt, sowohl Frauen als auch Männer an den Tagen, an denen wir dazu neigen, den Indischen Ozean mit unseren Füßen zu betreten, den Indischen Ozean in Zandschow mit unseren Füßen zu betreten». Was wie eine Stilblüte anmutet, ist die spezifische, eigenwillige Sprache von Thomas Kunst, in der er aus seiner fantastischen Traumwelt erzählt. In ihr fungiert das Dorf als Fluchtpunkt aus einer fremd gewordenen, globalisierten Welt, «Zandschow ist Sansibar» erfährt der Leser, «Und Sansibar ist weder ein paradiesischer militärischer Stützpunkt noch sonst wo. Die wenigsten von uns gehen einer geregelten Tätigkeit nach. Die meisten beziehen Stütze. Wir kriegen die Zeit trotzdem rum». Das Motto dieser alternativen Dorfgemeinschaft ist «Freude und Genussfähigkeit, die sich auf Armut und Fantasie gründen».

In kurzen Bildergeschichten wird hier anekdotisch in unbeirrt ritualisierter Sinnfreiheit aus einem eigenwilligen Soziotop von skurrilen Leistungs-Verweigerern berichtet. Auf die dabei zum Ausdruck kommenden Verlusterfahrungen weist schon das dem Buch vorangestellte Zitat von John Cheever hin, Derartiges sei das «brauchbare Vorgefühl auf den Tod». Stilistisch prägend sind in diesem renitent alle Konventionen des Erzählens negierenden, dadaistischen Roman die ständig wiederholten Satzkaskaden, die den Text als eine Art Prosa-Gedicht erscheinen lassen. Gefühlt mehr als hundertmal heißt es zum Beispiel wenig originell nach Aufzählungen: «Aber in umgekehrter Reihenfolge». Das ungehemmte Fabulieren und Phantasieren geschieht in wilden Sprüngen und sprachlichen Verrenkungen, die in ihrer Redundanz zuweilen an Lyrik erinnern, mit einer auf die Prosa angewandten, rhythmischen Musikalität. In diesem Verwirrspiel werden ständig neue Assoziationen erzeugt und kulturelle wie auch historische Bezüge hergestellt, die meistens jedoch schwer oder gar nicht zu entschlüsseln sind, geschweige denn zu deuten.

Mit seiner rigorosen Umkehr der Logik verlangt dieser in jeder Hinsicht radikale, geradezu widerborstige Roman seinen Lesern nicht nur sehr viel ab, er überschreitet häufig sogar recht deutlich die Grenze des Lesbaren, und literarisch damit auch des Zumutbaren. Man ist an die Anekdote um die Fettecke von Joseph Beuys erinnert, bei dem eine beherzte Putzfrau in der Düsseldorfer Kunstakademie auf die schwierige Frage «ist das Kunst oder kann das weg» eine gut nachvollziehbare Antwort gefunden hat. Mag die Buchpreis-Jury noch so jubeln, was man hier liest ist nichts anderes als eine literarische Zumutung.

Bewertung vom 27.10.2021
Mitgift
Ahrens, Henning

Mitgift


gut

Nichts zu lachen

Auch der neue Roman «Mitgift» von Henning Ahrens ist wieder in der niedersächsischen Provinz angesiedelt, in Klein Ilsede nahe Peine. Anders als seine bisherigen Romane aber weist dieser keine magischen, fantastischen Elemente auf, hier wird im Gegenteil, für ihn untypisch, sehr realistisch erzählt. Dieses acht Generationen umfassende, autobiografisch inspirierte Familienepos, das bis ins Jahr 1775 zurückreicht und 1962 ein jähes Ende findet, stützt sich, wie der Autor im Nachwort schreibt, auf Briefe und Tagebücher des eigenen Großvaters, der Pate stand für den Protagonisten seines Buches. Der Roman wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert, der bisher größte Erfolg für den Autor.

Wilhelm Leeb sen. bewirtschaftet den Bauernhof der Familie in siebter Generation, er ist ein glühender Nazi, das örtliche SA-Büro befindet sich in seinem Haus. Zum Entsetzen seiner Familie, zu der auch die beiden Großeltern-Paare gehören, meldet er sich zum Militär, obwohl er als Landwirt eigentlich unabkömmlich ist. Begeistert zieht er in den Krieg, für ihn scheinbar nur eine spektakuläre Abenteuer-Reise. Vier Jahre nach Kriegsende kehrt er dann schließlich desillusioniert aus polnischer Gefangenschaft zurück. Und vom ersten Tag an schikaniert der Despot seine Familie wie in alten Zeiten. Sein ältester Sohn Wilhelm jun., von allen nur ‹Willem› genannt, wird traditionell den Hof übernehmen müssen, obwohl er dazu so gar keine Lust verspürt. Und dass er während der Abwesenheit des Vaters, als Jüngling noch, ganz allein mit der Mutter, den Hof geführt hat, wird von dem Tyrannen nur mit maßloser Kritik bedacht, er ist mit nichts zufrieden und nörgelt nur rum. Immer mehr versinkt ‹Willem› nun in seinem Frust, er kommt gegen den Despoten einfach nicht an. Bis der dann eines Tages plötzlich vor der Tür der Nachbarin Gerda steht, seiner Jugendliebe. Er hatte sich damals, der hohen Mitgift wegen, doch lieber eine wohlhabende Bauerntochter zur Frau genommen, während Gerda unverheiratet geblieben ist. Gerade sie aber ist es, die nebenberuflich seit vielen Jahren den Dienst der «Totenfrau» versieht, die also im Dorf die Leichen zur Bestattung herrichtet. Wegen wem aus seiner Familie der Exfreund denn nun Gerda plötzlich in sein Haus bestellen muss, das erfährt der Leser erst ganz am Ende.

Die streng sachlich bleibende Erzählung klammert Emotionen fast völlig aus. Dem harten bäuerlichen Leben mit seinen starren Denkstrukturen angepasst ist auch das umfangreiche Figuren-Ensemble des Romans, das stimmig geschildert wird in seiner derben, weitgehend freudlosen Lebenswirklichkeit. Innige Liebe, aber auch Herzeleid kommen nicht vor, alles ist streng rational begründet. Ehen sind wohl kalkulierte Zweckbündnisse mit einer streng hierarchischen inneren Struktur, die ungeschriebenen Gesetzen folgt und unumstößlich scheint. Nur Willems jüngerem Bruder und auch seiner Schwester gelingt es, einer lebenslangen Fron auf dem Bauernhof zu entfliehen, er selbst zerbricht daran.

Erzählt wird fragmental, in großen Zeitsprüngen, manchmal sogar über Jahrhunderte hinweg. Durch diese in 21 Kapiteln zeitlich vor und zurück wechselnde Erzählweise bringt der Autor Spannung in die ansonsten narrativ ja weitgehend abgearbeitete Thematik. Das Geschehen einer problematischen Vater-Sohn-Beziehung bleibt in dieser Zeitreise mit elf kunstvoll angelegten, parallelen Handlungs-Strängen immer leicht nachvollziehbar. Die eher nüchterne Sprache wird auch durch eine Fülle von alltäglichen Redensarten und Gemeinplätzen geprägt, was die Geschichte sehr realistisch, fast authentisch erscheinen lässt. Auch die Dialoge in diesem Familien-Epos sind durchweg stimmig, man fühlt sich beinahe dazugehörig als Leser und ist nicht nur Zaungast. Die nüchterne Erzählweise lässt allerdings die Figuren sehr blutarm erscheinen, man erfährt, was ihnen geschieht, ohne selbst mitzufühlen, und zu lachen gibt es ja sowieso kaum mal was im freudlosen Alltag der Dörfler aus Klein Ilsede.

Bewertung vom 25.10.2021
Falken / Tudor-Trilogie Bd.2
Mantel, Hilary

Falken / Tudor-Trilogie Bd.2


gut

Vom Strippenzieher im Hintergrund

Auch für den zweiten Teil ihrer Cromwell-Trilogie mit dem Titel «Falken» hat Hilary Mantel 2012 wieder einen Booker-Prize verliehen bekommen, drei Jahre nach dem ersten Teil. Ein weiterer Riesenerfolg für die 2014 von der Queen zur Dame Commander des Order of the British Empire ernannte britische Schriftstellerin. Ein wenig erklärt diese altmodisch wirkende Adelstümelei auch die große Begeisterung der Briten für historische Stoffe, und ‹Dame Hilary› hat da mit ihren historischen Romanen unbestritten Maßstäbe gesetzt. Zumal der ebenso populäre wie berüchtigte Heinrich VIII. auch hier wieder den geschichtlichen Dreh- und Angelpunkt bildet, es geht mal wieder um seine Frauen.

Der englische König hat mit Rom gebrochen, die anglikanische Kirche gegründet und damit endlich seine Scheidung von Katharina von Aragon möglich gemacht. Seine zweite Frau Anne Boleyn und ihr familiärer Clan reüssieren nun bei Hofe, und Lordkanzler Thomas Cromwell, der all dies geschickt und intrigant eingefädelt hat, beginnt durch seine Skrupellosigkeit fast synchron zur neuen Königin ebenfalls einen allseits beneideten Aufstieg. Er wird einer der mächtigsten Männer im England des sechzehnten Jahrhunderts. Aber nachdem auch Anne dem König keinen männlichen Thronfolger schenkt, verliebt sich Heinrich VIII. bei einem Besuch auf dem Stammsitz der Familie Seymour in die stille Jane. Neben der Unfähigkeit seiner Frau, männliche Nachkommen zu gebären, für ihn also ein weiterer guter Grund, sich endlich von Anne zu trennen, er will nun unbedingt Jane Seymour heiraten. Wieder zieht Cromwell im Hintergrund die Fäden und bewirkt, dass Anne Boleyn wegen angeblicher Untreue und Hochverrat zum Tode verurteilt wird.

In der Zeit des Übergangs vom späten Mittelalter zur Renaissance angesiedelt, wird in diesem Roman das Panorama einer höfischen Gesellschaft beschrieben, deren Vorstellungen und Gedanken uns Heutigen völlig fremd erscheinen. Sich eng an die historische Wahrheit haltend beschreibt die Autorin minutiös ein unbekümmert herbei phantasiertes, fiktives Geschehen, das gleichwohl sehr real wirkt, nicht zuletzt auch durch seine sprachlich ‹heutigen› Dialoge. Neben ihrer beneidenswerten Fantasie ist dies insbesondere Hilary Mantels bewährtem Schreibstil zu verdanken. Sie erzählt nämlich konsequent im Präsens und erzeugt damit eine Gegenwart, in die man sich unmittelbar eingebunden fühlt als Leser, man ist quasi Zaungast des komplizierten höfischen und fast undurchschaubaren politischen Geschehens. Welches zudem dann auch noch spannend ist, denn selbst wenn man die Tudor-Geschichte in groben Zügen bereits kennt, kommen dank der akribischen Recherche der Autorin hier noch etliche weitgehend unbekannte Details ans Licht. Fern jeder Romantik und ohne psychologische Tiefenlotungen stattet sie zudem ihre sehr lebendig wirkenden Figuren mit viel Menschlichkeit aus und hält sich als Erzählerin unsichtbar im Hintergrund, wodurch ein fast reportageartiger Prosatext entsteht.

Ein Höhepunkt gekonnten Erzählens ist sicherlich die grausige Hinrichtung von Anne Boleyn, von der kein noch so winziges Detail unerwähnt bleibt, wahrlich nichts für empfindliche Gemüter. In ihrem Nachwort weist die Autorin auf die kontroversen Diskussionen über die näheren Umstände von Annes gewaltsamem Sturz hin und auf die eher spärliche und zudem auch noch unsichere Beweislage. Insbesondere aber geht es ihr um den einflussreichen und undurchschaubaren Sekretär des Königs. Im Nachwort schreibt sie dazu, sie versuche zu zeigen, «wie ein paar entscheidende Wochen aus Sicht Thomas Cromwells ausgesehen haben mögen», dem Strippenzieher im Hintergrund. Und weist mit dem Konjunktiv darauf hin, dass sie da wohl manches ergänzen musste. Ohne Zweifel ist der Königin des historischen Romans mit «Falken» wieder ein großes Werk gelungen. Die Begeisterung deutscher Leser dafür dürfte sich allerdings mangels spezifisch britischen Nationalgefühls in engen Grenzen halten.

Bewertung vom 20.10.2021
Zu den Elefanten
Karoshi, Peter

Zu den Elefanten


gut

Da hilft auch kein Wikipedia

Der österreichische Schriftsteller Peter Karoshi hat nach zwölf Jahren mit der Novelle «Zu den Elefanten» sein zweites Buch veröffentlicht. Es wurde unter 230 nominierten Büchern für den Deutschen Buchpreis 2021 auf die Longlist mit zwanzig Titeln gewählt, der größte Erfolg des bisher weitgehend unbekannten Autors. Andreas Platthaus hat in der FAZ zur dieser Liste angemerkt: «Einzige faustdicke Überraschung ist die Nominierung von Peter Karoshis Novelle».

Der Wiener Kultur-Wissenschaftler Theo verbringt wie jedes Jahr mit seiner Frau und dem neunjährigen Sohn Moritz die Sommerferien in dem abgeschiedenen Alpendorf Sonnseit. In tagebuchartig datierten Aufzeichnungen berichtet er als Ich-Erzähler, wie er mit seinem Sohn bei einer Wanderung auf den neu angelegten «Weg des Buches» gestoßen sei. Eine Fremden-Führerin erklärt ihnen, dass früher auf diesem Weg protestantische Bücher in den katholischen Süden geschmuggelt wurden, weil sie kurz nach der Reformation dort strengstens verboten waren. Und dass auf gleichem Wege, nur in umgekehrter Richtung, der spätere Kaiser Maximilian II ebenfalls hier unterwegs gewesen sei. Er hätte es sich nämlich nicht nehmen lassen, seinen Elefanten ‹Soliman›, den ihm sein portugiesischer Onkel geschenkt hat, auf dem Weg vom Hafen in Genua bis nach Wien persönlich zu eskortieren. «Einst kam ein großer Elefant / von Süden her in unser Land. / In dieses Haus da kehrt er ein / und aß und trank viel guten Wein. / Gesättigt froh und heiter / zog er dann wieder weiter. Also geschehen anno domini 1551», so hat man später in dem nun in ‹Hotel Elefant› umbenannten Gasthof in Auer über dieses historische Ereignis auf einer Inschrift gereimt. Nach einigen Tagen kommt Theo auf die Idee, einen Teil dieser Route mit dem hellauf begeisterten Moritz in südliche Richtung zu erwandern. Dabei wollen sie alle Gasthöfe dieses Namens aufsuchen, aber auch andere historische Spuren davon aufspüren.

Selbst den Nobelpreisträger José Saramago hat dieser Stoff 2011 schon animiert, sein vorletzter Roman trägt den Titel «Die Reise des Elefanten». Anders aber als bei ihm dient das historische Ereignis bei Peter Karoshi lediglich als narratives Gerüst für seine Geschichte einer quälenden Selbstfindung, der Reise seines Protagonisten zu sich selbst. Der beruflich frustrierte Theo findet weder als Wissenschafter noch in seinem Familienleben eine Erfüllung. Er ist wie ausgelaugt, so etwas wie Lebensglück scheint ihm nicht beschieden zu sein. Stattdessen befindet er sich dauerhaft in einem seelischen Schwebezustand. Und so steht denn auch das Abenteuer mit dem Sohn unter keinem guten Stern, der Neunjährige ist schon nach der ersten Nacht mitsamt seinem Einmannzelt spurlos verschwunden. In einer odysseeartigen Suchaktion eilt der Vater ihm entlang der Elefantenroute hinterher. Dabei gerät er immer mehr in persönliche Schwierigkeiten, ein Schrecken jagt den nächsten. So erleidet er beispielsweise im Hotel «Elefant» in Brixen einen Schwächeanfall und verletzt sich beim Sturz so schwer, so dass er ins Krankenhaus eingeliefert wird. In immer surrealistischer werdenden, desaströsen Rückschlägen taumelt er, unbeirrt vorangetrieben, von Katastrophe zu Katastrophe. An der Gegenwart verzweifelnd sinniert er in all dem Chaos wie ein Traumwandler pausenlos über das Leben und dessen unveränderbare Determiniertheit. Für ihn sind es Vergangenheit, Erinnerung und das Gedächtnis, welche allein als Bauplan des Lebens die Gegenwart bestimmen.

Das bekanntlich besonders gute Gedächtnis von Elefanten hilft gleichermaßen auch den Menschen, wenn sie sich denn nur intensiv zu erinnern suchen. Alles andere als eine Roadnovel, bringt diese mit einem nachwortartigen Endkapitel als Höhepunkt schließende Erzählung durch ihre magischen Momente den Leser ins Grübeln darüber, was Selbstentfremdung und Weltfremdheit anrichten können. Man müsse dem selbst beikommen, dabei helfe einem auch kein Wikipedia-Artikel, so die Katharsis.

Bewertung vom 18.10.2021
Es ist immer so schön mit dir
Strunk, Heinz

Es ist immer so schön mit dir


gut

Konzentrat aus 40 Jahren Liebesleben

Als Spezialist für menschliche Abgründe hat Heinz Strunk auch seinem neuen Roman «Es ist immer so schön mit dir» wieder eine düstere Thematik zugrunde gelegt, eine nur als toxisch zu bezeichnende Liebesgeschichte. Er lässt ein Paar zu einander finden, die beide als seelisch eher verkrüppelte Figuren so gar nicht zusammenpassen. Eine Amour fou also, bei der das Scheitern vorprogrammiert ist. Wie die flapsige Erkenntnis «Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen» hier am Beispiel demonstriert wird, das ist trotz des wenig originellen Themas sehr eindrucksvoll, und gekonnt erzählt ebenfalls.

Als Musiker ist der namenlose Protagonist mit Mitte zwanzig gescheitert. Er hat daraufhin ein Tonstudio eröffnet, in dem er seit nunmehr zwei Jahrzehnten Hörbücher und Hörspiele produziert, außerdem vertont er Produktvideos, Tutorials und anderes mehr. Davon kann er inzwischen gut leben, er ist insoweit eigentlich ganz zufrieden. Seine Freundin Julia ist Mathematiklehrerin, sie sind schon einige Jahre liiert. Er fühlt sich jedoch geradezu gefangen in dieser Beziehung, und der Sex ist inzwischen auch immer seltener geworden. Mit Vanessa lernt er plötzlich eine halb so alte Traumfrau kennen und wundert sich, dass die eher spröde Schöne ausgerechnet an ihm Gefallen findet. Er trennt sich daraufhin von Julia. Seine neue Liebste schlägt sich als wenig erfolgreiche Schauspielerin recht und schlecht mit allerlei Gelegenheitsjobs durchs Leben, beide sind beruflich allenfalls Mittelmaß. Sie erleben einen sexuellen Rausch miteinander, worauf ja auch der Titel «Mit dir ist es immer so schön» deutlich anspielt. Aber sie sind nicht nur dadurch aufeinander fokussiert, sie verstehen sich auch in vielerlei anderer Hinsicht. Sein unverhofftes Glück, aber auch das Chaos, das sie in sein Leben bringt, bindet ihn gleichermaßen an die rätselhaft bleibende, junge Frau. Er kommt trotz vieler Probleme und mancher Enttäuschung, die sie ihm beschert, einfach nicht mehr los von ihr.

In einem Mix aus Tragik und Komik erzählt der Autor aus einer zutiefst machohaften Sicht von der Midlife-Crisis seines wehleidigen, typisch strunkschen Antihelden. Wobei er ihm auch keines der Fettnäpfchen erspart, in das all die zunehmend verknöchernden, bindungsunfähigen ewigen Junggesellen so gern hineintreten. Die magersüchtige, als Jugendliche vom Diakon missbrauchte Vanessa hingegen bleibt als oft eher kalt erscheinende Figur nicht nur unberechenbar, sondern auch ziemlich konturlos. Der Autor entwickelt seine Figuren mit Hilfe oft funkelnder, zuweilen sogar amüsanter Dialoge, die in der Geburtstagsfeier von Vanessa zu einer virtuosen Redeschlacht mit deren neunmalkluger Schwester ausarten. Überhaupt sind etliche der Figuren recht schrullige Typen, die genüsslich mit allen ihren Ecken und Kanten geschildert werden. Der Roman ist das verstörende Psychogramm eines gescheiterten Künstlers, der sich notfalls mit viel Alkohol aus seinem seelischen Trümmerfeld in eine bessere Welt säuft. Am Ende stellt er dann immer ernüchtert fest, dass sie davon auch nicht besser geworden ist und die große Liebe wohl scheitern wird.

Diese düstere Geschichte ist in einer angenehm lesbaren Sprache geschrieben, in weiten Teilen mit dem für den Autor typischen Stilmittel der erlebten Rede, wobei auch sein morbider Humor nicht zu kurz kommt. Auffallend als erzählerische Besonderheit ist dabei seine ausgeprägt olfaktorische Beschreibung ekelerregender Szenerien, wohl um Unbehagen auszudrücken. Dem wird eine bei Männerhaushalten eher selten anzutreffende Putzwut des geruchsempfindlichen Helden gegenübergestellt. In Abkehr von seinen bisher autobiografisch geprägten Themen, die inzwischen «auserzählt» seien, hat Strunk nun sein Thema gewechselt: «Das Buch fasst alle meine Erfahrungen aus 40 Jahren Liebesleben zusammen», hat er dazu erklärt. Und das ist ihm, von einigen Ungereimtheiten abgesehen, zu denen auch ein roter Slip gehört, tatsächlich gelungen.

Bewertung vom 16.10.2021
Die Nibelungen
Hoppe, Felicitas

Die Nibelungen


sehr gut

Uns ist in alten mæren wunders vil geseit

Die Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe hat mit ihrem neuen Buch «Die Nibelungen» ein weiteres originelles Werk vorgelegt, das Mythen auf eine ganz eigene Art erzählt. Waren es bisher die Jungfrau von Orleans oder der Rattenfänger von Hameln, so ist es nun das in Worms beginnende Heldenepos, ein deutscher Stummfilm, wie es im Untertitel heißt, welches die Autorin auf ihre Weise neu bearbeitet hat. Sie bietet damit einen ungewöhnlichen Zugang zu dem mythologischen Stoff, dessen Inhalt sie als bekannt voraussetzt. Sie sei inspiriert worden «von dem verqueren Wunsch, ihn noch einmal ganz von vorn, bis hinein in die Gegenwart aufzurollen, jenseits von Aktualisierung und Kitsch, den größten Feinden der Rezeption eines Mittelalters, von dem wir nach wie vor wenig wissen», hatte sie vorab in einem ‹Werkstattbericht› erläutert.

In drei Kapiteln wird die sattsam bekannte, kanonische Geschichte in groben Zügen nacherzählt, unterbrochen jeweils von einem Kapitel «Pause». Zur Erläuterung der einzelnen Szenen werden, quasi als Reminiszenz an den Stummfilm, viele erläuternde Texttafeln zwischengeschaltet, was die Orientierung in der manchmal slapstickartig turbulenten Handlung durchaus erleichtert. Das mythische Geschehen selbst wird als alljährliches Festspiel in Worms unter freiem Himmel aufgeführt, ein wichtiges, touristisches Event. In den beiden langen Pausen werden die zahlreichen Darsteller, in einem erfrischend witzigen Plauderton, zu ihrer Rolle und ihrer Haltung zu dem Epos befragt. Als «Zeuge im Beiboot» beobachtet die im Abspann als Drehbuchautorin aufgeführte Felicitas Hoppe das kitschig inszenierte Schauspiel aus einer kritischen Distanz. Der vielbeschäftigte Tod wird dabei von einem «Laien aus Worms in einem Trainingsanzug von Woolworth» verkörpert, die Begleitmusik liefert der örtliche Männer-Gesangsverein, der Drache ist aus Pappmaschee. Mit «Die goldene Dreizehn» als Metapher bezeichnet die Autorin den im Rhein versenkten Schatz, der sich als ständig mutierender, unentwegt herum streunender Algorithmus erweist. Er ist der eigentliche Mittelpunkt in diesem blutrünstigen Tanz ums Goldene Kalb, denn darauf laufe es letzten Endes ja immer hinaus, macht uns die Autorin deutlich.

Sie benutzt dafür sehr virtuos drei Erzählebenen: Zum einen die Wormser Freilichtbühne mit ihrer massentauglichen, modernen Inszenierung der uralten Sage, die von ihr kräftig durch den Kakao gezogen wird, ferner der Stummfilm als dialogloser, künstlerisch anspruchsvoller Plot mit den Fakten sowie, kontemplativ besonders ergiebig, die schlagfertigen Pausen-Interviews, in denen auch das Theaterleben als solches karikiert wird. In einer Mischung aus intellektuell höchst anspruchsvollen Reflexionen mit immer wieder eingestreuten Späßen und Albernheiten brennt die Autorin ein erzählerisches Feuerwerk ab, das seinesgleichen sucht in der deutschsprachigen Literatur. Basis für Zitate ist die 2006 erschienene Übertragung des Nibelungenliedes von Uwe Johnson, szenisch wird auf den künstlerisch unerreichten Stummfilm von Fritz Lang Bezug genommen, der als einziger kitschfrei mit dem Stoff umgeht.

Stilistisch wortmächtig, thematisch anspruchsvoll, zugleich aber auch wohltuend albern, gelingt diesem Buch das Kunststück, mit fließenden Grenzen der abgedroschenen Sage nicht nur eine neue Sichtweise abzugewinnen, sondern auch auf witzige Art angenehm zu unterhalten. Alles in allem also ein raffiniert angelegtes literarisches Vergnügen, das im Nebeneffekt auch so manchen Leser dazu animieren dürfte, erstmals, oder mal wieder, entweder zum Original zu greifen oder diese Sage in moderner Übertragung nachzulesen, notfalls auch als Sachbuch. Und dabei stößt er womöglich dann auf den in Mittelhochdeutsch geschriebenen, ersten Satz des handschriftlich überlieferten Textes, den man früher in der Schule sogar auswendig gelernt hat: «Uns ist in alten mæren wunders vil geseit, von helden lobebæren, von grôzer arebeit».

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.10.2021
Besichtigung eines Unglücks
Loschütz, Gert

Besichtigung eines Unglücks


sehr gut

Fünf Richards

Dem neuen Roman von Gert Loschütz mit dem distanziert wirkenden Titel «Besichtigung eines Unglücks» liegt thematisch das schwere Eisenbahn-Unglück im Bahnhof von Genthin am 22. Dezember 1939 zugrunde. Eine Vorstufe zu dem Buch war das vor zwanzig Jahren zu dieser Katastrophe produzierte Hörspiel des Autors. Als dort Geborener erzählt er neben den sorgsam recherchierten Umständen, die zu dem Unglück führten, nicht nur die fiktive Geschichte eines weiblichen Unfallopfers, er unterlegt seinem Ich-Erzähler auch etliche autobiografische Details.

Im ersten der fünf Kapitel wird unter der Überschrift «Vier Sekunden» vom bis heute schwersten Eisenbahn-Unglück auf deutschem Boden berichtet. Dabei ergibt sich tatsächlich aus einer Reihe der verschiedensten, unglücklich zusammen treffenden Faktoren, dass letztendlich ein vier Sekunden zu früh gegebenes, manuelles Not-Haltesignal aus dem Stellwerk zum verhängnisvollen Stopp eines vollbesetzten D-Zug führte, auf den dann ein ebenso vollbesetzter, nachfolgender D-Zug ungebremst mit über 100 km/h auffuhr. Der sich aus den Gerichtsunterlagen und den Akten der Reichsbahn ergebende und für den Roman aufbereitete Ablauf des Geschehens ist spannend wie ein Krimi, auch was die archaisch anmutende Signaltechnik anbelangt. Aber Vorsicht! Wer da glaubt, das alles wäre heute mit modernster Elektronik nicht mehr möglich, der sei an die beiden Regionalzüge erinnert, die am 9. Februar 2016 nahe Kolbermoor frontal aufeinanderprallten. Schuld war modernste Technik, das Smartphone nämlich, von dem der Fahrdienstleiter abgelenkt war, als er manuell beide Züge in die einspurige Strecke einfahren ließ (aber das nur nebenbei!).

Im zweiten Kapitel wird von Carla berichtet, einem der Unfallopfer, die schwerverletzt überlebt. Sie ist mit dem Juden Richard Kuiper verlobt, der von den Nazis gesucht wird. Vor der verhängnisvollen Zugfahrt lernt sie einen Italiener kennen, mit dem sie zwei Tage später nach Berlin fährt, er überlebt das Unglück nicht. Im Krankenhaus gibt sie sich dann als seine Frau aus, ohne dass erkennbar wird, warum. Es darf spekuliert werden! Sie ist‹Halbjüdin›, nach der Ehe wäre sie ‹Volljüdin› mit allen negativen Konsequenzen, das ruft dann sogar die Gestapo auf den Plan. Mit dem Ladenmädchen Lisa kommt schließlich die Mutter des Journalisten und Ich-Erzählers Thomas Vandersee ins Spiel, sie versorgt Carla vor der Entlassung mit neuer Kleidung. Als junge Frau lernt Lisa mit dem namenlos bleibenden «Begabten» einen Violin-Virtuosen kennen und lieben, der sie unterrichtet. Er nimmt sie dann aber doch nicht mit in die USA, als er von dort ein lukratives Angebot bekommt. Denn er hat leider noch eine andere Geliebte, eine Ménage-à-trois aber kommt für Lisa nicht in Frage.

Als Journalist, lässt uns der Ich-Erzähler wissen, wurde er nach einem Vortrag von einem hochbetagten Zuhörer angesprochen und auf das Zugunglück in seiner Heimatstadt hingewiesen. Zunächst widerstrebend, dann aber immer eifriger habe er zu recherchieren begonnen und sich diverse Notizen gemacht, aus denen dann im vierten Kapitel zitiert wird. Eine journalistisch anmutende, eher unsichere Erzählhaltung ist das typische Merkmal dieser Spurensuche. Es bleibt reichlich Raum für Spekulationen, die Hauptrolle spielt bei alledem immer der Zufall. Kein Zufall aber ist es, wie sich erst ganz am Schluss herausstellt, dass die fünfmal verheiratete Carla immer Ehemänner mit Namen Richard hatte: Ryszard Wósz, Ricardo Fuchs, Richard Lessnik, Richard White, Richard Oettinger. Ein beredtes und auch betroffen machendes Zeichen lebenslanger Reue, Zeugnis ewiger Verbundenheit zudem mit ihrem einstigen Verlobten, den sie so schmählich seinem Schicksal überlassen hat. Dieser aus einer Verzahnung von Fakten und Fiktion entwickelte Roman wird reportageartig erzählt, mit einer elegischen Grundierung natürlich. Ein wenig leidet er jedoch an seinen disparaten Erzählebenen, es fehlt ihm ein stimmiger Erzählbogen als narrativer Überba

Bewertung vom 11.10.2021
Drei Kameradinnen
Bazyar, Shida

Drei Kameradinnen


weniger gut

Ambivalente Leserbeschimpfung

Fünf Jahre nach ihrem vielbeachteten Debüt hat Shida Bazyar, Tochter iranischer Eltern, unter dem Titel «Drei Kameradinnen» ihren zweiten Roman veröffentlicht. Er wurde jüngst für den Deutschen Buchpreis nominiert und thematisiert den Alltags-Rassismus im Deutschland unserer Tage, hier geschildert aus der Perspektive dreier «nichtweißer» Mädchen. Mit ‹Identitti› von Mithu Sanyal, der auf der Shortlist gelandet ist und sich ebenfalls mit dieser Thematik beschäftigt, sind gleich zwei derartige Romane unter den diesjährigen Nominierten.

Der Roman beginnt mit dem vorgeschalteten Zeitungsartikel «Jahrhundertbrand in der Bornemannstraße», in dem von vielen Todesopfern berichtet wird. Die radikalisierte Islamistin Saya M. wird der Brandstiftung in der Mietskaserne verdächtigt, sie hatte einen Streit mit dem dort wohnenden Volker M., dem Anhänger einer ‹patriotisch› orientierten Gruppierung, was als mögliches Tatmotiv gedeutet wird. Ich-Erzählerin ist Kasih, Teil des Dreierbundes mit Saya und Hani, mit denen sie seit frühester Jugend eine unverbrüchliche Freundschaft verbindet. Sie stammen aus einem ghettoartigen Stadtbezirk, der überwiegend von Migranten bewohnt wird. Trotz ihrer Herkunft aus prekären Verhältnissen finden alle drei ihren Weg, als Mitte-Zwanzigjährige haben sie sich allerdings ein wenig aus den Augen verloren und wollen nun mal wieder einige Tage zusammen verbringen, um die alten Zeiten aufleben zu lassen. Kashi hat Soziologie studiert, eine brotlose Kunst, sie ist trotz erstklassigem Abschluss arbeitslos und fast ohne Chancen auf eine adäquate Stellung. Die aufmüpfige Saya veranstaltet erfolgreich Workshops zur Berufswahl und Rassismus-Prävention, und die bienenfleißige, aber eher zurückhaltende Hani ist als umsichtige rechte Hand der Firmenchefin unersetzlich.

Mit vielen Rückblenden entwickelt Shida Bazyar in diesem Setting ihre Geschichte vom Leben in einer den Migranten oft feindlich, zumindest aber skeptisch gegenüber stehenden Gesellschaft. Auf dem Flug zum Treffen der «drei Kameradinnen» beobachtet Saya die unschöne Szene einer Kopftuchfrau mit einem feindseligen Deutschen auf dem Sitzplatz neben ihr. Im Internet findet sie ihn anschließend unter seinem Namen, er stellt sich tatsächlich als einschlägig bekannter, rassistischer Blogger heraus. Als Hintergrund dieser Geschichte dient der ein wenig verfremdete NSU-Prozess. Der Alltag der Freundinnen, deren fremdländische Abstammung nach wie vor zu Ressentiments ihnen gegenüber führt, ist geprägt von unausrottbaren Vorurteilen und haltlosen Verdächtigungen, denen sie, mehr oder wenig deutlich erkennbar, unentwegt ausgesetzt sind. «Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsche noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen», heißt es im Roman. Sie sind in Deutschland geboren, werden aber nicht als Deutsche wahrgenommen. Schon der fremdländische Name ist bei jeder Stellen- oder Wohnungssuche ein verhängnisvolles Handicap, sehr oft sogar der alleinige Ausschluss-Faktor.

Mit deutlichem Furor entwickelt sich aus den Perspektiven der handelnden Figuren ein wenig schmeichelhaftes Bild deutscher Ressentiments allem Fremden gegenüber. Dabei erweist sich die den Leser zuweilen direkt ansprechende und auch anklagende Autorin als unzuverlässige Erzählerin, die zuweilen sogar über den Schreibprozess als solchen berichtet. So bemerkt sie an einer Stelle, als ihre Heldinnen sich die Folge einer seichten TV-Serie reinziehen, sie würde sich «auch viel lieber mit Serien ablenken, statt weiterzuschreiben, oder habt ihr gedacht, ich mache das hier gerne?» Dieser kreativen Umkehrung feindseliger Anwürfe auf die ‹weiße› Leserschaft in Form einer veritablen ‹Leser-Beschimpfung› wird der ambivalente Roman stilistisch allerdings nicht gerecht, seine Figuren sind wenig glaubwürdig. Er wirkt zudem eher rüde und unbeholfen berichtend, als dass er wirklich unterhaltsam oder bereichend erzählen w

Bewertung vom 07.10.2021
Gentzen oder: Betrunken aufräumen
Dath, Dietmar

Gentzen oder: Betrunken aufräumen


weniger gut

Thematisch überfrachtet

Der vielseitige, produktive Schriftsteller Dietmar Dath lässt auch in seinem neuen Roman «Gentzen oder betrunken aufräumen» keine formalen Schranken für das Denken gelten. Die inhaltliche Themenpalette des linken Querdenkers, der die Abschaffung des Kapitalismus als Ziel formuliert hat, reicht über Wissenschafts-Theorie, Politik und Ökonomie bis zu Science-Fiction und Fantasy. Mit der Bezeichnung «Kalkülroman» weist er auf den titelgebenden Mathematiker hin, dessen Gentzentypkalküle ein formales System darstellen, bei dem sich in der Logik aus vorgegebenen Aussagen weitere Aussagen ergeben. Das logische Denken also steht im Mittelpunkt dieses ungewöhnlichen, anspruchsvollen Romans, der an einer Textstelle dann auch erklärt: «Denken heißt: Betrunken aufräumen». Seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis hat denn auch einiges Erstaunen ausgelöst.

Unter dem Titel «Schmerz und Programm» beginnt das erste der 140 kurzen Kapitel in einem Gefängnis, wo Gerhard Gentzen im August 1945 in Prag verhungert. Die dabei ablaufenden medizinischen Prozesse werden minutiös geschildert und weisen schon gleich am Anfang auf eine schwierige Lektüre hin. Die Idee zu dem Buch kam dem Autor, der als nebulöse Erzählinstanz im Roman auch als Figur fungiert, bei einer Gedenk-Veranstaltung für den Mathematiker Kurt Gödel im ZKM Karlsruhe. Beide, Gentzen und Gödel, hätten wichtige Vorarbeiten für die darauf basierenden Maschinen geleistet, denen wir in einem «sehr grundsätzlichen Sinn eigentlich nicht vertrauen» dürften, auch weil sie «Meinungen machen und sie verbreiten», lässt Dath seine Leser wissen. «An einer davon schreibe ich, was du jetzt liest». Er schreibe Texte, «die nicht davon handeln, wie es ist, sondern davon, wie es sein sollte, wie es hoffentlich nicht sein wird oder wie es ganz neutral sein könnte. Und das sind nun mal spekulative oder phantastische Texte».

Dieser zeitlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einschließende Gesellschaftsroman widmet sich besonders dem Computer mit seinen komplizierten Algorithmen. Dessen scheinbar ewig wachsende Rechenleistung stelle quasi die Grundlage unseres modernen Lebens dar. Aber es seien eben nicht nur sinnvolle und nützliche Beiträge, die er leiste. In den sozialen Netzwerken zum Beispiel generiere er eine «Zerstörung der Vernunft», die sich dort ungehindert in Kaufrausch, Genderstreit oder Rassismus artikuliere und wahre Probleme wie Klimakatastrophe oder Datensammelwut negiere. In verschiedenen Handlungs-Strängen agiert ein bunt gemischtes Figuren-Ensemble, zu dem eine Aktivisten-Gruppe gehört, die dem vergessenen Logiker nachforscht. Sie besteht aus Dietmar, der an einem Roman über ihn schreibt, sowie Laura und Jan. In einer vorangestellten, mit «Wer hier lebt» betitelten Aufstellung finden sich Figuren mit seltsamen Zuschreibungen wie «Sohn verarschter Eltern» oder «Verdächtige Nichtpräsenz» und auch bekannte wie Jeff Bezos, Geldheini oder Frank Schirrmacher, Mitherausgeber einer Zeitung oder auch Clemens J. Setz, Souffleur. Letzterer steht wie der Autor selbst für den Mut zu literarischer Eigenwilligkeit, die aus einer Nerd-Attitüde heraus den Leser auf diversen Meta-Ebenen vor den Kopf stößt mit einer Sturzflut abstruser Ideen und verklausulierter Verweise.

Man stößt auch auf allerlei amüsante Szenen, so wenn beispielsweise die Titelfigur mit Lady Gaga in einem Café zusammentrifft und über Primzahlen diskutiert. Andererseits öffnet der theorieversessene Autor einen Gedankenraum, zu dem er schreibt: «Es gibt Wahrheiten, die sind so eisig, dass der Verstand an ihnen zerreißt wie biologisches Gewebe, das einen allzu kühlen Stoff berührt: eine extrem schnelle Nekrose». Leider ist dieser dickleibige Roman thematisch total überfrachtet, er verwirrt zudem durch seine übergangslose Verschmelzung des Emotionalen mit dem Wissenschaftlichen. Ihn zu lesen setzt beim Leser die unbedingte Bereitschaft voraus, sich mit hochkomplizierten Theorien auseinander zu setzen

Bewertung vom 04.10.2021
Kairos
Erpenbeck, Jenny

Kairos


sehr gut

Entscheidende Momente in Liebe und Politik

Der jüngst erschienene Roman von Jenny Erpenbeck mit dem deskriptiven Titel «Kairos» bestätigt eindrucksvoll eine Kritik in der gestrigen Rede von Angela Merkel zum Tag der Deutschen Einheit, in der sich die Bundeskanzlerin dagegen verwehrt hat, Lebenserfahrungen in der DDR als Ballast zu bezeichnen. Vor dem Hintergrund der untergehenden DDR erzählt die in Ostdeutschland sozialisierte Schriftstellerin von der Liebe eines ungleichen Paares, die in ihrer Intensität an die Worte von Heinrich Heine erinnert: «Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu; und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei».

Genau das passiert den beiden Protagonisten dieses Romans, der 53jährige Schriftsteller Hans und die 19jährige Katharina verlieben sich in einem Linienbus auf den ersten Blick unsterblich ineinander, ihr Kairos also, jener in der griechischen Mythologie für eine schicksalhafte Entscheidung als günstig geltende Augenblick! Leitmotivisch häufig wiederkehrend begehen sie diesen entscheidenden Moment ihres Lebens wie einen persönlichen Feiertag, indem sie an die Bushaltestelle zurückkehren und das damalige Geschehen wie bei einer Prozession wiederholen. Der nachfolgende Liebestaumel entwickelt sich mit der Zeit allerdings zur Amour fou, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Ort des Geschehens ist Ost-Berlin, wo Hans in den achtziger Jahren neben seiner Schriftstellerei als «fester Freier» beim Rundfunk arbeitet und Katharina nach dem Abitur eine Lehre als Setzerin im Staatsverlag absolviert. Hans ist zwar verheiratet, mit seiner Frau hat er sich aber dahingehend arrangiert, dem jeweils anderen seine Freiheiten zu lassen. Im Bett findet zwischen ihnen seit zehn Jahren nichts mehr statt, aber eine Trennung wollen sie beide nicht. Hans und Katharina hingegen verbindet neben rauschhaftem Sex ihr kulturelles Interesse, sie leben in einer privilegierten Boheme, interessieren sich für Kunst, lieben gutes Essen in den angesagten Restaurants Ost-Berlins.

Ineinander verschachtelt werden hier, autobiografisch grundiert, die Probleme der beiden Protagonisten und die Geschichte der untergehenden DDR erzählt. In Hans ist der überzeugte Sozialist verkörpert, der als junger Nazi-Sympatisant bewusst in die DDR gegangen ist. Auch nach der Wende noch ist der charakterlich eher widersprüchliche Literat von der prinzipiellen Überlegenheit dieses staatlichen Systems überzeugt. Katharina ist fasziniert vom Intellekt ihres Geliebten, sie hängt an seinen Lippen, wenn er zu politischen oder kulturellen Themen mit ihr spricht oder ihr aus Büchern vorliest, er beflügelt regelrecht ihr Interesse an der Kunst und beeinflusst damit ihre Berufswahl. In ihrer Beziehung ist er dominant, lebt sogar sado-masochistische Gelüste an ihr aus, bis sie ihm einen einmaligen Fehltritt mit einem jungen Kollegen beichtet. Hans zerbricht daran, für ihn stürzt eine Welt zusammen, er glaubte an die einmalige, ewige Liebe zwischen ihnen. Schließlich begibt er sich sogar in psychiatrische Behandlung, kann sich aber trotz allem nicht von ihr trennen. Jahrelang finden sie immer wieder zueinander, eine Zeit seelischer Quälerei für alle beide.

Als atmosphärisch dichte Milieustudie aus der Ostberliner Kulturszene ermöglicht «Kairos» einen tiefen Einblick in das untergegangene Staatsgebilde, dem heute noch so mancher nachtrauert. Im Prolog und Epilog enthüllt die Autorin klammerartig als Katharsis den verstörenden Charakter des intellektuellen Schriftstellers. Dieser mit vielen heute schon fast vergessenen Details aus der deutschen Vergangenheit aufwartende, beklemmende Roman ist dramaturgisch geschickt aufgebaut und sprachlich adäquat umgesetzt. Im Mittelteil stören einige Längen in der Liebesbeziehung mit ihrem ewigen Aufs und Abs, zudem auch mit häufigen szenischen Wiederholungen, ein wenig den ansonsten aber durchaus gegebenen Lesegenuss. «Kairos» ist als Wenderoman wie als Liebesdrama gleichermaßen überzeugend!

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