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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 820 Bewertungen
Bewertung vom 12.05.2021
Alabama Song
Leroy, Gilles

Alabama Song


sehr gut

Adieu Zelda, es war mir eine Ehre

Mit dem Prix Goncourt für seinen Roman «Alabama Song» ist dem französischen Schriftsteller Gilles Leroy 2007 der Durchbruch gelungen. Der mit nur zehn Euro dotierte Preis ist quasi ein literarischer Ritterschlag, er bedeutet regelmäßig einen anhaltenden, lukrativen Bestsellerstatus in Frankreich. Die deutsche Ausgabe erschien ein Jahr später als erst drittes Buch aus seinem umfangreichen Œuvre, das in Übersetzung vorliegt. Der brechtsche Titel bezieht sich auf den amerikanischen Staat, in dem Zelda Fitzgerald geboren wurde. Sie war eine Galionsfigur der hedonistischen ‹flapper girls› in den Zwanziger Jahren, zu Zeiten der Prohibition.

Die lebenslustige Ich-Erzählerin Zelda, Tochter einer angesehenen Familie aus Montgomery, Alabamas Hauptstadt, heiratet nach einigem Hin und Her den selbstbewussten jungen Schriftsteller F. Scott Fitzgerald. Vor ihm liege eine große Zukunft, hatte er ihr versichert. Und nach vielen Brot-und-Butter-Arbeiten gelang ihm 1925 mit dem Roman «Der große Gatsby» tatsächlich ein sensationeller Erfolg, der ihm neben dem Ruhm auch sehr viel Geld einbrachte. Das publicity-süchtige Ehepaar lebte daraufhin in Saus und Braus, sie waren mit vielen Größen aus Literatur und Filmindustrie eng befreundet. Der Champagner floss in Strömen, beide verkörperten geradezu die ‹Roaring Twenties›. Nicht nur wegen der Prohibition lebten sie dann zeitweise in Frankreich, wo Scott Fitzgerald zur Gruppe der von Gertrude Stein als ‹Lost Generation› bezeichneten Kriegsteilnehmer um Ernest Hemingway zählte. Mit ihm war er, auch alkoholbedingt, eng befreundet. Der spätere Nobelpreisträger hielt allerdings nicht viel von Fitzgeralds Kunst, und tatsächlich blieb ‹Gatsby› sein einziges herausgehobenes Werk.

Die unkonventionelle Zelda, erstaunlichste ‹Southern Belle› ihrer Generation, geradezu eine Symbolfigur als Südstaaten-Schönheit, hatte nebenbei Liebesaffären, die ihren Mann aber kaum störten, die allenfalls seine Eitelkeit verletzten. Es gab viel Streit zwischen ihnen, und neben Scotts unmäßigem Alkoholkonsum holte er sich ungeniert auch noch einen Liebhaber ins Haus, was ihr Zerwürfnis weiter verschärfte. Zelda, die selber Romane und Kurzgeschichten schrieb, war auch als Malerin tätig und widmete sich, altersbedingt jedoch aussichtslos, dem Ballett. Ihre Manuskripte jedoch waren gut, sie wurden ihr sehr oft von Scott weggenommen, der viele davon unter seinem Namen veröffentlichte. Sie brachten als seine Werke deutlich mehr Geld ein, die Verlage sahen das ebenso. Als Zelda schließlich ernsthafte psychische Probleme bekam und immer öfter in Kliniken war, erklärte ihr mal einer der Psychiater, sie sei eifersüchtig auf den Erfolg ihres Mannes. Ihr Wahn rühre daher, unbedingt erfolgreich sein zu müssen und ständig Publicity zu brauchen. «Sie haben nicht geheiratet, junge Frau. Sie haben einen Reklamevertrag unterschrieben».

Der zwischen 1918 und 1943 angesiedelte Roman ist in fünf Abschnitte unterteilt, die nicht chronologisch erzählt werden, sondern kapitelweise vor und zurück springen. Gilles Leroy berichtet in einer angenehm lesbaren Sprache über das turbulente Leben seiner liebevoll gezeichneten Figuren, die einem trotz all ihrer Verrücktheit und Geltungssucht schnell sympathisch werden. Aber er betont in seinem informativen Nachwort auch: «Alabama Song will als Roman und nicht als Biografie der historischen Person Zelda Fitzgerald gelesen werden». Und er zählt detailliert auf, was alles fiktional ist an seiner Geschichte. Im letzen Kapitel schließlich berichtet er als Autor über seine Recherchen, als er im Jahre 2007 das Fitzgerald-Museum in Montgomery besucht. Er findet Zeitungsausschnitte des New York Herald vom 11. März 1948, die vom tragischen Tod der 47jährigen Zelda Fitzgerald beim Brand in einer psychiatrischen Klinik berichten. Wie sehr ihm seine Heldin ans Herz gewachsen ist, beweisen die letzten Worte dieses Schlusskapitels: «Adieu, Zelda. Es war mir eine Ehre.»

Bewertung vom 07.05.2021
Die Schlange im Wolfspelz
Maar, Michael

Die Schlange im Wolfspelz


sehr gut

Von den Ursachen getrübter Lesefreude

Die Reihe nützlicher Sachbücher zum Thema Literatur ist von Michael Maar mit «Die Schlange im Wolfspelz», einem bei Eva Menasse entlehnten Titel, jüngst um ein populäres Werk ergänzt worden. Der Untertitel «Das Geheimnis großer Literatur» weist auf das durchaus ambitiöse Vorhaben hin, Licht ins Dunkel der Buchstaben-Kunst zu bringen. Wobei der Autor sich als Germanist, wen wundert’s, auf die deutsche Literatur beschränkt. Wer also als Leser in seiner Lektüre mehr sieht als nur einen angenehmen Zeitvertreib, wer sich über die Finessen eines gekonnten Schreibstils umfassend aufklären lassen will, der wird in diesem informativen Buch fündig. Um dann, deutlich besser gerüstet, in künftige Leseabenteuer aufzubrechen.

Diese Stilkunde beginnt denn auch gleich, die Frage «Was ist Stil?» mit vielen Textbeispielen systematisch und unterhaltsam zu klären. Was sind denn wohl die Fallstricke, die beim Schreiben auf den Autor warten? Um zu verdeutlichen, was denn Stil überhaupt ist, zitiert Maar eine kurze Passage aus Daniel Kehlmanns Roman «Die Vermessung der Welt». Darin wird Humboldt von seinen Ruderern gebeten, etwas zu erzählen. Er könne, bietet er ihnen an, das schönste deutsche Gedicht für sie ins Spanische übersetzen: «Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald wird man tot sein». Die Zuhörer sind verblüfft. Aber er hat alles richtig gemacht, er hat genau das erzählt, was Goethe, als «Wanderers Nachtlied», 1870 an die Holzwand einer Jagdhütte geschrieben hatte. Inhaltlich also gleich, nur stilistisch nicht! «Über allen Gipfeln / ist Ruh, / in allen Wipfeln / spürest du / kaum einen Hauch; / die Vöglein schweigen im Walde. / Warte nur! Balde / ruhest du auch.» Einprägsamer kann man die Funktion von Inhalt und Stil in der Literatur wohl kaum demonstrieren. Und solche anschaulichen Beispiele gibt es ungewöhnlich viele in diesem Buch! Inhalt und Stil, so lernen wir, kann man eben nicht trennen voneinander. Sie gehören zusammen, bilden eine künstlerische Einheit, die, wenn alles perfekt aufeinander abgestimmt ist, zu großer Literatur werden kann.

Mit vielen Porträts ganz unterschiedlicher Schriftsteller verdeutlicht Maar in unzähligen Textauszügen sprachliche Besonderheiten. Satzbau, Wortwahl, Sprach-Rhythmus, Dialoge, gekonnt eingesetzte Metaphorik oder einprägsame Leitmotive sind Bausteine, aus denen wahre Prosa-Kathedralen entstehen können, wenn Sprachgenies die Baumeister sind. Trotz aller akademischen Bemühungen bleibt die Beurteilung von Sprachkunst aber ein eitles Unterfangen. Das weiß der Autor auch, und so finden sich bei seiner oft sehr strengen Kritik häufig Anmerkungen wie «Die Arno-Schmidt-Jünger werden laut Protest erheben». Es bleibt also auch nicht aus, dass man als Leser manchen Einwand partout nicht nachvollziehen kann. Aber das ist völlig normal und mindert den Wert dieses Literatur-Führers keineswegs. Die Auswahl der als Referenz herangezogenen Schriftsteller ist, Germanisten können wohl nicht anders, zudem derart vorvorgestrig, dass man als heutiger Leser viele nie gelesen hat, bei einigen nicht mal ihrem Namen kennt. Umso erstaunter ist man dann, wenn plötzlich Hildegard Knef auftaucht, deren Autobiografie von Michael Maar stilistisch sehr gelobt wird, - nicht zu unrecht übrigens, wie die Textzitate zeigen.

Wer einigermaßen belesen ist, wird natürlich auch manches finden, bei dem er mitreden, seine Meinung mit dem vergleichen kann, was Maar, oft durchaus scharfzüngig, darüber schreibt. En passant erfahren wir zudem, dass Goethe mit ausgezählten 90.000 Wörtern den höchsten je gemessenen deutschen Wortschatz hatte. Trotzdem sind «Die Wahlverwandtschaften» kein Roman, den heute jemand freiwillig lesen würde, Wortschatz ist eben nicht alles! Schlechten Stil aber dürften aufmerksame Leser nach der Lektüre dieses Ratgebers deutlich besser entlarven können als eine Ursache getrübter Lesefreude!

Bewertung vom 04.05.2021
Der zweite Jakob
Gstrein, Norbert

Der zweite Jakob


gut

Zum Nutzen des eigenen Schadens

Der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein, der in wenigen Tagen sechzig Jahre alt wird, hat sich mit seinem soeben erschienenen Roman «Der zweite Jakob» quasi selbst ein Geburtstags-Geschenk gemacht. Und so beginnt das Buch denn auch mit den Worten «Natürlich will niemand sechzig werden», die das Lebensgeständnis eines alternden Schauspielers einleiten. Man könnte einen Schlüsselroman darin sehen, in jedem Fall aber dürfte es eine künstlerische Selbstverortung des Autors sein, von der aus er das Leben seines Protagonisten herleitet.

Die Rahmenhandlung dieser Erzählung beginnt mit der Frage einer Tochter, «Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?» Damit bringt sie den Ich-Erzähler, ihren Vater, in arge Verlegenheit. Der erfolgreiche Innsbrucker Schauspieler mit dem Künstlernamen Jakob Thurner, der eigentlich einen Nachnamen mit vier aufeinander folgenden Konsonanten hat, «ähnlich wie Gestirn», steht kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag. Der soll in seinem Tiroler Heimatort groß gefeiert werden, wovor sich der eher menschenscheue Jubilar aber am liebsten drücken würde. Ein Verlag hatte zuvor schon eine Biografie von ihm in Auftrag gegeben, die Gespräche mit seinem Biografen endeten jedoch in einem Desaster, er zog wutentbrannt seine Autorisierung zurück. Der sensationslüsterne Schreiberling hatte nämlich allzu aufdringlich in Jakobs nicht gerade rühmlicher Vergangenheit herumgestöbert. In einer zeitlich Ende der achtziger Jahren angesiedelten, zweiten Handlungsebene erzählt Jakob von einem Filmdreh bei El Paso, nahe der amerikanisch-mexikanischen Grenze, bei dem er eine tragende Rolle als Frauenmörder hatte. Während der Drehtage in New Mexico kam es zu einem tödlichen Autounfall in der Wüste, bei dem Jakob nur Beifahrer war, sich aber wegen unterlassener Hilfeleistung und gemeinsamer Fahrerflucht zumindest mitschuldig gemacht hat.

Diese Schuld lässt ihn nicht los, obwohl seitdem Jahrzehnte vergangen sind. Es gibt aber noch ein weiteres Problem für ihn, denn er hatte in einem Interview seine Familie mal als Faschisten bezeichnet. Das nimmt man ihm in seinem Heimatdorf auch heute noch übel, er ist seit vielen Jahren nicht mehr dort gewesen. Überhaupt ist Jakob ein schwieriger Mensch, er hat drei Ehen hinter sich, das Verhältnis zu seiner Tochter ist äußerst problematisch, er ist ein Eigenbrödler durch und durch. Das hier mit dem Stilmittel des unzuverlässigen Erzählers angestimmte, literarische Vexierspiel entlarvt den Protagonisten als elegischen Schwächling, der alles andere als sympathisch wirkt. Die von Norbert Gstrein eifrig betriebene Dekonstruktion seines psychisch schwer einschätzbaren Romanhelden ist voller literarischer und historischer Anspielungen und Verweise. Sogar ein späterer US-Präsident kreuzt seinen Weg, in dem unschwer George W. Bush zu erkennen ist. Und von Jakob wird erzählt, dass er eine Rolle als Frauenmörder in einem Spielfilm abgelehnt habe, die dann der amerikanische Filmstar John Malkovich mit Freuden übernommen hat.

Jakobs Lebenslüge erweist sich als handfeste Tragödie, die hier geradezu kammerspielartig in Szene gesetzt ist und ganz unaufgeregt, fast schon beiläufig erzählt wird. Er steht vor den Trümmern seiner psychischen Existenz, insbesondere weil er sich als zweiter Jakob fühlt. Sein gleichnamiger Onkel war geistig zurückgeblieben und wurde von ihm oft gehänselt, wie er reumütig bekennt. Während der Nazizeit hatte die Familie ihn dann ins Heim gegeben, dort war er allerdings später von Euthanasie bedroht. Es gibt so manche Ungereimtheit bei den vielen Nebenfiguren, bei der von Mörderbanden bedrohten Prostituierten in Mexico zum Beispiel, oder der kurzen Affäre mit der dreißig Jahre jüngeren Kollegin. «Er handelt zum Nutzen des eigenen Schadens aus trotzigem Stolz» hat der Autor über Jakobs zwielichtige Rolle in diesem Spiel mit Identitäten erklärt. ‹Nur keine Wirklichkeit zulassen› scheint das Motto dieses eher verstörenden Romans zu sei

Bewertung vom 28.04.2021
Unsichtbare Tinte
Modiano, Patrick

Unsichtbare Tinte


sehr gut

Vexierspiel der Erinnerung

Der französische Nobelpreisträger Patrick Modiano hat mit seinem neuesten Roman «Unsichtbare Tinte» wieder ein Werk vorgelegt, in dem das Erinnern thematisiert wird. Die Jury in Stockholm hatte ihm 2014 den Preis «Für die Kunst des Erinnerns» verliehen. Der Buchtitel spielt darauf an, dass manche versteckte Botschaft erst durch äußere Einflüsse wieder entschlüsselt und damit ins Bewusstsein zurückgerufen werden kann.

Der zwanzigjährige Jean, Ich-Erzähler und trotz belgischem Pass unverkennbar Alter Ego des Autors, nimmt Anfang der sechziger Jahre einen Job bei einer Pariser Detektei an. «Ich hatte gedacht, diese zeitweilige Arbeit würde mir einen Haufen Material liefern, das mich später einmal inspirieren könnte, falls ich mich der Literatur widmete». Er bekommt zur Einarbeitung den Auftrag, möglichst viel über das Verschwinden einer gewissen Noëlle Lefebvre herauszufinden. Doch seine Recherchen sind wenig ergiebig, es gibt kaum verwertbare Spuren, und von den wenigen passt einfach nichts zusammen. Es gibt zwar einige Orte wie die Tanzbar ‹Dancing de la Marine›, in der sie anscheinend verkehrte, oder ein Lederwaren-Geschäft, in dem sie gearbeitet hat, aber nirgendwo weiß man etwas über ihr plötzliches Verschwinden. Als hartnäckiger Schnüffler stöbert er sogar einen Schauspieler auf, der mit ihr befreundet war, und findet mit dessen Hilfe auch ihre letzte Wohnung, wo er schließlich auf ein Notizbuch von ihr stößt. Aber auch dessen Einträge bringen ihn nicht weiter, ebenso wenig wie das über sie angelegte Dossier, das er später beim Ausscheiden aus der Detektei an sich genommen hat. Auch nach vielen Jahren, er geht längst einer anderen Beschäftigung nach, denkt er immer wieder mal an den ungelösten Fall zurück. Denn eine der damals gesammelten Informationen betrifft ihn ganz persönlich, die Frau stammt aus der Gegend um Annecy, wo auch er herkommt. Damit erweist sich diese Geschichte in Wahrheit als eine Identitätssuche des Erzählers.

«Diese Nachforschungen könnten den Eindruck erwecken, ich hätte ihnen viel Zeit gewidmet – schon über hundert Seiten», heißt es auf Seite 104, «aber das stimmt nicht. Zählt man die Augenblicke zusammen, die ich bisher in einer gewissen Unordnung erwähnt habe, dann kommt ein knapper Tag heraus. Was ist ein Tag in einem Zeitraum von dreißig Jahren?» Das scheinbar simple Handlungsgerüst dieses mehrdeutigen Romans erweist sich zusehends als immer komplexer, aber auch wenn mit den Jahren weitere Puzzelteile hinzu kommen, zu denen auch das rote amerikanische Cabriolet auf dem Einband gehört, widersetzt sich das Rätsel um die schattenhafte Existenz der Frau jeder Klärung. Bis plötzlich auf den letzten vierzig Seiten des schmalen Bändchens ein Orts- und Perspektiv-Wechsel stattfindet. Ein auktorialer Erzähler berichtet nun aus der Perspektive einer Frau, die in Rom eine Fotogalerie betreut. Eines Tages tritt ein Unbekannter bei ihr ein, der als französischer Professor für Geschichte Nachforschungen für eine Studie anstellt. Die wichtigsten Begegnungen, das lernt der Leser am Ende, sind immer die zufälligen!

Was treibt einen Siebzigjährigen an, eine etwa gleichaltrige Frau zu suchen, die vor fast fünfzig Jahren spurlos abgetaucht ist? «Im ziemlich geradlinigen Verlauf meines Lebens war es eine ohne Antwort gebliebene Frage», heißt es im Buch dazu. Leerstellen, erzählerische Sackgassen, trügerische Namen und unzuverlässige Zeugen beherrschen diesen wie mit Zaubertinte geschriebenen, narrativ extrem reduzierten Roman des Erinnerns und Vergessens. Wie immer bei Modiano beherrscht auch hier seine Paris-Nostalgie das Geschehen. Es geht kreuz und quer durch die Straßen der französischen Metropole, von Café zu Café. Und wie immer wird auch das Wetter als stimmungsmäßige Grundierung gekonnt in das Geschehen mit einbezogen. Statt als Vexierspiel der Erinnerungen kann man diesen großartigen Altersroman natürlich auch als eine Reflexion über das Entstehen von Literatur deuten.

Bewertung vom 27.04.2021
Welt aus Glas (eBook, PDF)
Händler, Ernst-Wilhelm

Welt aus Glas (eBook, PDF)


schlecht

Literarische Bußübung

Ernst-Wilhelm Händler spürt in seinem Roman «Welt aus Glas» den großen Themen der Menschheit nach, wobei ihm die Glaskunst als Vehikel dient für seine Geschichte. Was in Hesses «Glasperlenspiel» als Überwindung einer lebensfeindlichen Bildungselite angelegt ist, das wird hier als Kapitalismuskritik mittels einer dekorativen Kunstgattung thematisiert. Mit seiner Detailfülle dürfte der dickleibige Roman besonders für Liebhaber dieser elitären Kunstgattung interessant sein, aber auch bereichend für kunstsinnige Leser, die sich noch nie mit exquisiten Glasobjekten beschäftig haben.

Die Protagonisten, das Ehepaar Jillian und Jacob Arbogast, betreiben in New York erfolgreich eine Galerie für Glaskunst. Der dreißig Jahre ältere Jakob hat sich beim Ankauf der Villa eines verstorbenen Kunstsammlers total verspekuliert. Statt der von ihm bezahlten vier ist das Anwesen allenfalls eine Million Dollar wert, sie sind wahrscheinlich ruiniert. Aber Jillian rechnet damit, durch den Ankauf einer überaus wertvollen Glaskunst-Sammlung, von deren wahrem Wert die Mailänder Eigentümer keinerlei Vorstellung haben, diese finanzielle Schlappe ausgleichen zu können, sie hat Käufer dafür bereits an der Hand. Wenn das Geschäft erfolgreich abgewickelt ist, will sie sich dann auch endlich von ihrem Mann trennen. Der hofft, eine reiche Kundin als Investorin für einen Großauftrag gewinnen zu können, bei dem es um die Gestaltung der Grenzbefestigung der USA in Richtung Mexico geht, ihm schwebt eine landschafts-verträgliche Glaskonstruktion vor. Bei seiner Erkundungstour entlang der Grenze zusammen mit der steinreichen Investorin, die inzwischen auch seine Geliebte ist, werden sie von einem kriminellen mexikanischen Polizisten entführt, der Lösegeld erpressen will.

Ideenreich entwickelt der Autor seine Geschichte in zwei abwechselnd erzählten Handlungs-Strängen, die mit vielen Rückblenden das Leben des Ehepaares schildern. Über den Erotomanen Jacob heißt es lapidar: «Existierte noch etwas außer Geld, Sex und Kunst? Ihm fiel nichts ein». Jillian hingegen ist an Sex wenig interessiert, und wenn, dann bevorzugt sie Frauen, mit Jacob hat sie quasi mal eine Ausnahme gemacht. Sie findet stattdessen ihr Glück in Tiffany-Lampen mit floralen Motiven, hat allerbeste Beziehungen zu finanzstarken Sammlern und ist im Übrigen genauso geldgierig wie ihr Mann. Wobei sie auch genauso skrupellos ist wie er, ihrer beider Transaktionen bewegen sich hart am Rande der Legalität, sie nutzen die Sammel-Gier und Unkenntnis ihrer Kunden schamlos aus. ‹Sex sells› ist ja eine Marketing-Weisheit auch in der Literatur, und diesem Mantra folgend gibt es im Roman reichlich Szenen, die ins Pornografische abdriften, ohne jede Beziehung zum eigentlichen Thema, der Selbstfindung zwischen Kommerz und Kunst.

Der Autor versteht es zweifellos, stilistisch gekonnt philosophische Reflexionen und penibel bis ins letzte Detail beschriebene Szenen in seinem Plot miteinander zu verbinden. Es ist aber genau diese filigrane Beschreibungs-Kunst, die auf Dauer lästig wird und zum reinen Selbstzweck ausartet. Allein das mit «Flunky» betitelte Kapitel, in dem Jillian die Glas-Sammlung für den Transport zum Käufer in eigens angefertigte Transportkisten verpackt, erstreckt sich über neunzehn Seiten. Man meint, die Staubkörner zählen zu können, die sie akribisch beseitigt, bevor sie die teuren Objekte vorsichtig, als wäre eine Bombe zu entschärfen, in ihrer jeweiligen Kiste verstaut. Man fragt sich als Leser genervt, warum macht der Autor das? Weil er es eben kann, - so einfach ist die Antwort! Wo blieb da der Rotstift des Lektors? Sowohl die pathetisch vorgetragenen philosophischen Betrachtungen und endlosen Selbst-Reflexionen wie auch die sich immer mehr ausbreitende Langeweile bei den endlosen kunsttheoretischen Exkursen machen die Lektüre zu einer regelrechten Bußübung. Da können dann auch die Thriller-Elemente nichts mehr retten, und die deplazierten Sexszenen erst recht nicht

Bewertung vom 24.04.2021
Der Vogel, der spazieren ging (eBook, ePUB)
Kluger, Martin

Der Vogel, der spazieren ging (eBook, ePUB)


sehr gut

Leichtfüßig mit Tiefsinn

In seinem satirischen Roman «Der Vogel, der spazieren ging» erzählt Martin Kluger mit viel Witz eine jüdische Familiengeschichte, deren überbordende Lebensfülle von einer verborgener Tragik überschattet ist, welche aber nur sehr vage angedeutet wird. Man merkt dem Plot an, dass sein Verfasser auch Erfahrungen als Drehbuchautor hat, viele Szenen sind geradezu filmreif. Wobei hier der kriminalistischen Elemente wegen eher an den ‹Film noir› zu denken ist, vor allem aber ist sehr viel schwarzer Humor im Spiel. Beim Humor jedoch scheiden sich ja bekanntlich die Geister, denn wenn man die Anspielungen oder falschen Fährten, die in diesem Schelmen-Roman immerzu gelegt werden, nicht als solche erkennt und einordnen kann, dann kann man sich natürlich auch nicht darüber amüsieren!

Der Ich-Erzähler Samuel Leiser lebt als einer von neunundzwanzig Übersetzern der Kriminalromane seines Vaters in Paris. Yehuda Leiser, der als Jude dem Naziterror entkommen konnte und mit seinem dreijährigen Sohn nach Amerika ausgewandert ist, schreibt unter dem Pseudonym Jonathan Still eine äußerst erfolgreiche Krimireihe. Sam, der die Bücher des Vaters ins Deutsche übersetzt, hat eine Tochter mit der bekannten Filmregisseurin Letitia aus Montevideo, die sich von ihm aber getrennt hat und jetzt mit einem glamourösen Filmstar zusammenlebt. Die zwölfjährige Ashley verlässt ihr englisches Internat und zieht zu Sam nach Paris. Damit beginnt für ihn ein turbulentes Leben mit dem frühreifen Mädchen gerade in dem Moment, als er sich frisch in seine Spanisch-Lehrerin verliebt hat.

So beginnt ein im Jahre 1972 angesiedelter, zuweilen fast slapstickartig turbulenter Plot, in dessen Verlauf nicht nur die pubertäre Tochter, sondern auch die aus aller Welt anreisende Familie voller skurriler Typen das Leben von Samuel völlig durcheinander wirbelt. Höhepunkt ist Ashleys Geburtstag, zu dem sich alle in seiner Wohnung versammeln. Mit erkennbarer Wonne lässt der Autor seine liebevoll beschriebenen Figuren, die in ganz unterschiedlichen Beziehungen zueinander stehen, aufeinander prallen. Als da wären: Tochter, Geliebte, Samuels Ex, deren Neuer, der dominante Vater, der mafiöse Onkel samt Bodyguards, eine ungemein erfolgreiche Bestseller-Autorin trivialer Kitschromane. In diesem Trubel geht für Sam so ziemlich alles schief, Ashley nervt mit Fragen nach ihren jüdischen Wurzeln, seine längst überfällige Übersetzung bleibt unerledigt liegen, mit der Liebsten gibt es erste Probleme, die Geburtstagsfeier für die Tochter endet im Fiasko.

Bereichernd sind die Einblicke in jüdisches Leben, und amüsant sind vor allem die vielen Beispiele für jüdischen Humor. Das dominante stilistische Merkmal dieses Romans aber liegt in der Fülle von intertextuellen und philosophischen Querverweisen, die einiges an Belesenheit voraussetzt, will man all die Anspielungen verstehen. Zudem gibt es interessante Einblicke in das Zusammenwirken von Autor, Übersetzer und Verleger, es wird aber auch über stilistische Finessen und Tricks beim Schreiben erzählt. Die Pachtwork-Familie des Romans spricht verschiedene Sprachen wild durcheinander, was durch viele, oft längere englische, spanische und französische Einschübe betont wird, die unübersetzt den Lesefluss allerdings ziemlich stören. Wer außer dem Autor ist denn schon firm in allen drei Fremdsprachen? Sehr erfreulich hingegen sind seine vielen kreativen Satzgebilde, so wenn eine WG-Küche erwähnt wird, «deren Zustand zu beschreiben ein völlig neues Vokabular erfordern würde». Oder wenn sein Protagonist zu erkennen glaubt, die Wirkung der erzwungenen Gemeinschaft in einem Internat würde «eine steppenwolfartige Solidarisierung des Zöglings mit sich selbst zu fördern». Ähnlich burschikos formuliert auch Felicitas Hoppe, die genau deshalb ihre Fangemeinde hat mit einer dem Spaß zugeneigten Leserschaft, den Rezensenten eingeschlossen! Wer also leichtfüßig Erzähltes mit reichlich Tiefsinn sucht, der ist auch hier genau richtig!

Bewertung vom 21.04.2021
Der Sandler
Ostermair, Markus

Der Sandler


gut

Über die Ekelgrenze hinaus

Mit einer eher ungewöhnlichen Thematik überrascht Markus Ostermair in seinem jüngst erschienenen Debütroman «Der Sandler», wobei der Titel nur Bayern und Österreichern verständlich sein dürfte. Er steht nämlich für Obdachlose, umgangssprachlich abwertend auch als Penner oder Berber bezeichnet, in der mobilen Variante als Nichtsesshafte, Vagabunden, Tippelbrüder oder Landstreicher bezeichnet, mit ideell überhöhtem Nimbus auch als Clochards. Im vorliegenden Roman, dessen Verfasser während seines Zivildienstes in der Münchner Bahnhofs-Mission gearbeitet hat, wird von den Stadtstreichern erzählt, die in München ‹Platte machen›, also vorwiegend auf der Straße leben. Man merkt dem Roman deutlich an, dass sein Autor weiß, wovon er spricht, seine Geschichte wirkt überaus authentisch. Sechs Jahre zuvor schon hat Thomas Melle in «3000 Euro» sehr kapitalismus-kritisch ebenfalls von gescheiterten Existenzen in einer Großstadt erzählt.

Vor den schmucken Schickeria-Fassaden der Münchner Spaßgesellschaft streift der ehemalige Mathematik-Lehrer Karl Maurer ruhelos durch die bayerische Metropole. Er pendelt zwischen Bahnhofsmission, Suppenküche und Notunterkünften, ständig auf der Suche nach einem Dach über dem Kopf und einer Flasche Hochprozentigem. Sein Absturz begann mit einem tödlichen Autounfall, bei dem ihm ein kleiner Junge unvermittelt vor den Wagen lief. Obwohl er vor Gericht freigesprochen wurde, sieht er sich moralisch in der Schuld. Er hat seither ständig Alpträume, die er nur mit Alkohol unterdrücken kann. Seinen Beruf musste er schon bald aufgeben, er verlor dann auch noch Frau und Tochter und landete, in einer unaufhaltbaren Spirale nach unten, auf der Straße.

Der Roman beginnt mit dem sinnigen Satz: «Das darf man eigentlich niemandem erzählen, dachte Karl». Mit diesem inneren Monolog verdeutlicht der Autor gleich zu Beginn das schamhafte Schweigen der Gescheiterten über ihren sozialen Abstieg. Der Protagonist ist durch eine böse Narbe im Gesicht entstellt, die von der Attacke eines anderen ‹Sandlers› herstammt, er meidet seither möglichst den Kontakt zu seinen Schicksals-Genossen. Sein einziger Freund ist Lenz, ein psychisch kranker, an sich und der Welt scheiternder Möchtegern-Philosoph und Weltverbesserer. Der übergibt ihm vor seinem Suizid den Schlüssel für eine kleine Souterrain-Wohnung in bester Wohnlage. Die hatte er geerbt, in seinem Wahn grenzenloser Selbstverachtung aber selbst nicht bewohnen wollen, er hat die Strasse vorgezogen. Tausende von Zetteln mit obskuren Visionen und Erkenntnissen hatte Lenz vollgeschrieben, die der Autor im Roman trickreich zu allerlei kontemplativen Einschüben nutzt, hinter denen sich dann sogar manche Wahrheit verbirgt.

Mit bewundernswerter Akribie beschreibt Markus Ostermair weitere, ähnlich skurrile Typen im Umfeld von Karl. Ebenso detailliert schildert er weit über die Ekelgrenze hinaus die absurde hygienische Verwahrlosung seiner Figuren. Ein weiterer Alptraum ist deren medizinisch bedenkliche, körperliche Verfassung. Alles wenig erbaulich für den arglosen Leser, aber leider authentisch beschriebene Realität. ‹Lustiges Zigeunerleben› und ‹Grenzenlose Freiheit› werden als Illusion brutal demaskiert, stattdessen Betteln und Hausieren, Pfand sammeln, kleine Gaunereien. Bis hin zur Beraubung dreier wohlstands-verwahrloster Schnösel, die Karl dabei erwischt, wie sie auf einen schlafenden ‹Sandler› pinkeln, was er spontan mit beherzten Fausthieben rächt. Völlig eingeschüchtert geben die Drei ihm widerstandslos nicht nur ihr ganzes Geld, sie gehen mit ihm auch noch zum nächsten Geldautomaten und plündern ihre Konten. Dieser Roman wird mit nicht immer leicht nachvollziehbaren Perspektivwechseln erzählt, und leider schleichen sich dabei auch Längen ein. Stereotypen allerdings werden geschickt vermieden, womit der Autor jeden Kitschverdacht entkräftet. Die mit einem schönen Traum Karls endende Geschichte deutet realiter jedenfalls auf ein Fiasko hin.

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Bewertung vom 15.04.2021
Stein der Geduld
Rahimi, Atiq

Stein der Geduld


ausgezeichnet

Vom Ende der Geduld

Der in Kabul geborene Schriftsteller Atiq Rahimi hat für seinen dritten Roman «Stein der Geduld» 2008 den Prix Goncour bekommen. «Sein erschütterndes Buch berührt unser Herz» hat die Buchpreis-Jury dazu angemerkt. Wie schon in anderen seiner Werke thematisiert auch dieser inzwischen verfilmte, schmale Band die unterwürfige Rolle der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft Afghanistans. Dieses Land, hatte der Autor bei der Preis-Verleihung erklärt, symbolisiere für ihn den ganzen Terror der Welt. Durch den gerade gestern erst verkündeten Abzug der Nato ist zu befürchten, dass der Taliban-Terror dort sehr schnell wieder die Oberhand gewinnt. Insoweit ist der Roman hochaktuell, verdeutlich er doch die archaischen gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes ebenso wie die Schrecken des nicht enden wollenden, verheerenden Bürgerkrieges.

Eine Frau pflegt mitten im Bürgerkriegs-Geschehen eines kleinen Ortes in Afghanistan ihren vor zwei Wochen durch einen Schuss in den Hals schwer verletzten, im Koma liegenden Mann. Die Verletzung des als Kriegshelden gefeierten Mannes stammt jedoch nicht von den Kampf-Handlungen, sondern von einem banalen Streit unter Männern. Obwohl seine Augen offen sind, reagiert er nicht, sie glaubt jedoch, dass der wie ein Stein reglos Daliegende sie hören kann und spricht ihn deshalb immer wieder an. Allmählich werden dann ihre inbrünstigen, endlosen Gebete durch immer unfangreicher werdende Monologe der Frau ersetzt, die sich damit zunehmend die Probleme ihrer zehnjährigen Ehe mit dem Tyrannen von der Seele redet. Sie wurde nämlich, nach Landessitte ungefragt, mit dem sehr viel älteren Partisanen verheiratet, den sie nie gesehen hatte, und das auch noch in dessen Abwesenheit. Erst nach fünf Jahren kam er dann zum ersten Mal nach Hause und hat die Ehe mit seiner ihm unbekannten Frau ‹vollzogen›. Wie unbeholfen er dabei war, wurde ihr erst später klar, als ihre als Prostituierte arbeitende Tante sie wegen des ausbleibenden Kinder-Segens, an dem sie keine Schuld traf, einem Mann zugeführt hat, der dann auch prompt zwei Kinder mit ihr gezeugt hatte. Und was Lust bedeutet wird ihr sogar erst jetzt, Jahre später klar, als ein blutjunger, durchs Dorf streunender Kämpfer in dem Glauben, sie sein eine Hure, mehrmals mit ihr Sex hat.

In einem bühnenreifen, kammerspielartigen Szenario erzählt der Autor von einem islamischen Ehe-Alptraum, von dem die Frau sich nach afghanischer Mythologie durch den magischen «Stein der Geduld» zu befreien sucht. Die drehbuchartig kurzen Szene-Beschreibungen und anfangs sehr kurzen Sätze, die die Frau an ihren im Koma liegenden Mann richtet, entwickeln zunehmend eine beklemmende Dramatik. Was sie dem Bewusstlosen erzählt, könnte sie ihm sonst niemals sagen, es wäre ihr sicherer Tod, aber gerade darin liegt ja wohl auch der Reiz für ihre Geständnisse. Wie der magische «Stein der Geduld» muss er jetzt aber alles ertragen oder er wird platzen, wenn es nämlich zuviel wird für Gott, der sich in Wahrheit in dem Stein verbirgt.

Die Frau erzählt, zunächst sehr zögerlich, dann aber immer selbstbewusster werdend, in Rückblenden von ihrem schweren Leben unter der Fuchtel der Schwiegermutter, oder vom gewalttätigen Vater, der mit der Zucht von Kampf-Wachteln Geld zu verdienen sucht. Schließlich fügt sie sogar scheherazadeartig eine märchenhafte Königs-Geschichte ein, in der es um ein an Ödipus gemahnendes Dilemma geht. Immer beteiligt sind bei alldem ihr Koran mit der noch aus dem Paradies stammenden Vogelfeder als Lesezeichen, ferner ihre geduldig mit den 99 Namen Allahs herunter gebetete schwarze Kette. In der poetischen Prosa von Atiq Rahimi bilden Ameisen, eine Fliege und eine Spinne das Personal für raffiniert eingeschleuste Szenen von signifikant Insignifikantem, mit dem das Geschilderte eine erstaunlich authentische Note bekommt. Der Befreiungsakt der nicht mehr so ganz geduldigen Frau endet hochdramatisch mit dem Zerspringen des titelgebenden Steins.

Bewertung vom 14.04.2021
Drei starke Frauen
NDiaye, Marie

Drei starke Frauen


gut

Fanal der Selbstbehauptung

Die erfolgreiche französische Schriftstellerin Marie NDiaye hat mit «Drei starke Frauen» ganz offensichtlich einen Nerv der Zeit getroffen, das als Roman deklarierte Buch wurde 2009 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. In Frankreich war es, trotz seiner eher deprimierenden, feministischen Thematik, ein auch politisch aufgeladener Bestseller. Gemeinsam ist den Frauen in den nur sehr lose verbundenen drei Erzählungen ihre unbeirrbare Würde, mit der sie scheinbar stoisch ihr Schicksal ertragen. Keine Wohlfühl-Lektüre also, aber als feministischer Weckruf ein wichtiger Beitrag zur nach wie vor nicht realisierten Emanzipation des vorgeblich schwachen Geschlechts.

Im ersten Teil besucht die vierzigjährige Anwältin Norah widerstrebend ihren herrischen Vater in Dakar. Der Patriarch hat sie eilends herbeigerufen, damit sie seinen über alles geliebten Sohn aus dem Gefängnis hole, er habe nach seiner desaströsen Firmenpleite kein Geld mehr für einen Verteidiger. Norahs Bruder soll seine Stiefmutter erwürgt haben, mit der er eine Liebesaffäre hatte. Im Mittelteil geht es um Fanta, die mit Rudy, ihrem französischen Mann, von Dakar nach Frankreich in die Provinz gezogen ist, sie langweilt sich dort und scheint aus ihrer kaputten Ehe ausbrechen zu wollen. Im letzten, äußerst dramatischen Teil versucht die 25jährige Khady, deren Mann plötzlich verstorben ist und die nun bei den Schwiegereltern wie eine Sklavin gehalten wird, illegal nach Frankreich einzuwandern.

Den drei ganz unterschiedlichen Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen, stehen drei gewalttätige, völlig gefühllose Männer gegenüber, die sich letztendlich dann eher doch als ziemlich schwach erweisen. Die Anwältin Norah muss zuhause einen ebenso liebenswürdigen wie parasitären Partner mit durchfüttern. Ihr einst erfolgreicher Vater und auch ihr nichtsnutziger, vom Vater verhätschelter Bruder widern sie an, sie würde am liebsten sofort wieder zurückreisen. Der Total-Versager Rudy, aus dessen Perspektive anschließend erzählt wird, ist ein aus dem Schuldienst entlassener Lehrer, der nun als Küchenverkäufer schon wieder einer Kündigung entgegensieht. Er versinkt in einen alles vernichtenden Exzess aus Selbstmitleid, in den auch mystische Symbolik hineinspielt. Seine völlig desillusionierte Frau Fanta, die vor den Scherben ihrer Ehe steht, erträgt all das mit einer trügerischen Gelassenheit. Und auch in der Flucht-Geschichte fällt einem jungen Mann eine eher schäbige Rolle zu. Er steht Khady zwar bei der Flucht hilfreich zur Seite, stiehlt ihr letztendlich aber dann doch all ihr durch Prostitution für die Flucht aufgespartes Geld. Sie bleibt in ihrem Elend zurück, während er sich rücksichtslos allein nach Frankreich durchschlägt.

Marie NDiaye erzählt ihre drei archaisch anmutenden Geschichten in einem nicht gerade angenehm lesbaren, hypotaktischen Stil, wobei sie das Geschehen allerdings sehr bildhaft zu schildern versteht. Sie taucht dabei tief in die Psyche ihrer Figuren ein und legt eindrucksvoll die komplizierten Macht-Strukturen im Verhältnis der Geschlechter ebenso bloß wie auch die verzwickten Familien-Verhältnisse. Einen nicht unwesentlichen Anteil am Narrativ haben Dämonen und Engel, die wie selbstverständlich in das Geschehen eingebaut sind. So steigt beispielsweise Norahs despotischer Vater allabendlich in den Flammenbaum, wozu auch immer. Oder der Versagertyp Rudy wird mehrfach von einem Bussard angegriffen und einmal sogar verletzt. Und in Visionen aus der Kindheit sitzen dann auch schon mal Dämonen auf jemandes Bauch, was mutmaßlich als pädophile Anspielung zu deuten ist. Die Autorin hat ihr Buch, das eher als Erzählband denn als Roman zu bezeichnen ist, ihr «hellstes» genannt, was angesichts seiner düsteren Thematik doch sehr verwundern muss. Aber auch wenn zuweilen langatmig erzählt wird, ist dieses Fanal der Selbstbehauptung als Lektüre durchaus lohnend und mit seiner Flüchtlings-Problematik nach wie vor sogar hochaktuell.

Bewertung vom 12.04.2021
Ob wir wollen oder nicht
Ott, Karl-Heinz

Ob wir wollen oder nicht


sehr gut

Alles eine Frage der Sprache

Karl-Heinz Ott hat für seinen dritten Roman «Ob wir wollen oder nicht» eine stilistisch eigenständige Form gefunden, die er im Interview als « Gedankenmusik» bezeichnet hat. Er benutzt sie, um mit Hilfe von Rhythmus und Wortklang die Seelenzustände seines Protagonisten wahrnehmbar zu machen, sie regelrecht anklingen zu lassen. In einem geradezu manisch wirkenden, inneren Monolog offenbart sein Protagonist letztendlich die Leere seiner Seele. Der am Leben Gescheiterte hat sich selbst in eine Misere hinein manövriert, in der die Frage nach Schuld ebenso im Dunkeln bleibt wie das Geschehen im Ungewissen.

Was zunächst wie ein Krimi in der Untersuchungshaft beginnt, erweist sich beim Lesen sehr schnell als ein nur rudimentäres Handlungsgerüst, der Leser erfährt bis zum Ende nicht, was da genau passiert ist. Häppchenweise lässt der etwa fünfzigjährige Ich-Erzähler immer wieder mal beiläufig ein neues Detail in seinen Monolog einfließen, während er in der Zelle auf seine Vernehmung durch den Untersuchungs-Richter wartet. Als ehemaliger Tankstellen-Pächter hatte Richard T. seine Geschäfts-Grundlage in einem Dorf im Südschwarzwald verloren, denn nach dem Bau einer Talbrücke fließt der Verkehr jetzt nicht mehr durch den Ort. Er war lange mit Lisa, der Wirtin des örtlichen Gasthofes liiert, deren Mann sie verlassen hat, nachdem das Dorf in eine Art Dornröschen-Schlaf gefallen war. Richards bester und auch einziger Freund, der ehemalige Dorfpfarrer Johannes, wurde vor sieben Jahren wegen Pädophilie angeklagt. Er wurde zwar freigesprochen, hat den Dienst damals aber quittiert und sich in ein ehemaliges Bahnwärter-Häuschen zurückgezogen. Dort beschäftigt er sich als Privatgelehrter mit vergleichenden Bibelstudien und hört sich immer wieder Haydns Oratorium «Die Schöpfung» an. Seit einiger Zeit hat er ein Verhältnis mit Lisa, die sich allmählich von Richard gelöst hat, ohne dass die Beiden je offen darüber gesprochen hätten. Für Richard war weder die Liaison mit Lisa noch die Freundschaft mit Johannes seelisch wirklich tief gründend. Der notorische Eigenbrödler und ehemalige 68er mit abgebrochenem Studium schlägt sich mit fragwürdigen Geschäften durchs Leben, aber auch das wird wie vieles nur sehr vage angedeutet.

Kann er schuldig sein, wenn er doch gar nichts getan hat? Das an Kafka gemahnende, nebulöse Geschehen wird in einem an Thomas Bernhard erinnernden Stil erzählt, nur dass hier der innere Monolog nicht als Hasstirade nach außen gerichtet ist, sondern als Selbstreflexion nach innen. Der überwiegend monologisch geprägte Roman wird nur im Mittelteil durch einen köstlichen Dialog des Häftlings mit dem jungen Richter unterbrochen. Die schon fast slapstickartige Befragung führt schließlich zu seiner sofortigen Entlassung. War der Ich-Erzähler einst aufgebrochen, die Welt zu verändern, steht er nun nicht nur materiell vor den Trümmern seiner Existenz, Lisa und Johannes haben sich aus dem Staub gemacht, er ist auch seelisch ganz allein.

Richard T. lebt absichtslos vor sich hin und sinniert nur pausenlos über das eigene Versagen und den Sinn seines Lebens. «Venceremos» hatte einer seiner Vorgänger in der Gefängnis-Zelle in die Wand geritzt, ‹wir werden siegen›, und zehn Ausrufezeichen dahinter gesetzt. Richard kennt das spanische Verb noch als Aufkleber aus seiner ehemaligen WG-Küche, von Sieg aber kann bei ihm nun wirklich keine Rede sein. Diese nur knapp vier Tage umfassende Geschichte wird in bandwurmartig langen, kunstvoll miteinander verketteten Sätzen erzählt, womit scheinbar die Verschrobenheit des Protagonisten verdeutlicht werden soll. «Alles ist eine Frage der Sprache», hatte Johannes ganz im Sinne von Wittgenstein behauptet, das wäre auch bei seiner Gerichtsverhandlung damals so gewesen. Und so dominiert denn auch in diesem Roman über einen Sonderling in einer Ausnahme-Situation die Sprache über das mysteriöse Geschehen, das sich dann erst im Kopf des Lesers zu einem Ganzen formen muss.