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Juti
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Insgesamt 631 Bewertungen
Bewertung vom 14.01.2023
Revolusi
Reybrouck, David van

Revolusi


sehr gut

Wie Indonesien ein souveräner Stadt wurde

Meine Bewertung dieses dicken Schinkens ist problematisch. Einerseits lobe ich die Ausführlichkeit des von allen Seiten beleuchteten Weg von niederländisch Indien, von der Gewürzkolonie über die nur 34 Jahre andauernde holländische Besatzung, die dreijährige japanische Zeit bis hin zur wechselvollen Nachkriegszeit bis zur Unabhängigkeit 1950.

Andererseits war es mir – wie dem Zeitjournalisten – zu ausführlich. Wie seine Interviewpartner heute leben, wie genau die Menschen früher gefoltert wurden – einer wurde kopfüber an ein Seil gehängt und dann immer auf den Boden geschlagen, bis er Tod war – und letztlich bei den Interviews auch zu viel wörtliche Rede, das hätte ich besser im Anhang als ausführliches Interview aufgehoben gefunden.

Der Autor befasst sich nicht nur mit Indonesien, er erwähnt auch den bedeutensten niederländischsprachigen Roman des 19. Jahrhunderts: Multatulis Max Havelaar (68). Er verdeutlicht auch die japanische Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg, er lehrt uns, dass Indonesien die fünftmeisten Todesopfer hatte, nach der Sowjetunion, China, Deutschland und Polen, noch vor Japan. Dabei war der Anteil an Zivilisten mit 99,7 % deutlich höher als in anderen Ländern, selbst Polen hatten trotz Holocaust 96% (354).

Ein weiterer neuer Aspekt für mich war, dass in der britischen Armee Gurkhas aus Nepal kämpften und wohl immer noch kämpfen, die nur ihre Aufgabe erfüllen sollten und nicht über das volle Geschehen informiert wurden, ja nicht einmal Englisch sprechen konnten (406).
Die Kritik zum letzten Kapitel kann man schon in der FAZ lesen.


Für die, die sich besonders für Indonesien interessieren, ist dieses Buch ein Meisterwerk. Mir und der normalen Leserin ist es zu ausführlich und daher so anstrengend, dass ich gegen Ende großflächig lesen musste. Letzteres rechtfertigt allenfalls drei Sterne, ich erkennen aber die Mühe des Verfassers an und gebe 4 Sterne.

Bewertung vom 07.01.2023
Thronverzicht (eBook, ePUB)

Thronverzicht (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

passendes Sachbuch zum Titel

Selten ist der Titel so gelungen wie bei diesem Meisterwerk. Neben rechtlichen Fragen im ersten Teil und den Folgen für die Öffentlichkeit als kurzem Schlussteil behandelt.

Mich interessierte aber vor allem die Beispiele im zweiten Abschnitt und hier besonders der Markgraf von Baden. Der Verfasser Michael Roth ließ dort keine Frage offen.

Im Vertrauen darauf, dass auch die anderen Autoren ihr Handwerk verstehen, will ich das schöne Buch heute mit 5 Sternen ehren.

Bewertung vom 06.01.2023
Reise ohne Wiederkehr oder Die geheimen Hefte des Michel Adanson
Diop, David

Reise ohne Wiederkehr oder Die geheimen Hefte des Michel Adanson


gut

starke N-Wort Liebe

Braucht es die Rahmengeschichte wirklich? Dass die Tochter Aglaia von Michel Adanson in seinem Nachlass Hefte ihres Vaters über seine Senegalreise findet. Braucht es den Opernbesuch der Eltern von Aglaia? Braucht es das Ende, dass Aglaia zu einer Afrikanerin geht, die der Vater auf einem Bild gesehen hat und der er seinen Schmuck schenken will? Das letzte Kapitel wird demzufolge aus der Sicht von Madleine geschildert.

Nein, das alles braucht es nicht, aber das alles ist nicht so langweilig wie der Anfang des Buches. Wer eine wirklich starke Novelle lesen will, beginnt er auf Seite 112. Dann hört er die Geschichte wie der Wissenschaftler Adanson im Urwald im Senegal krank wurde und von der einheimischen Mara gesund gepflegt wurde. Mara erzählt ihm ihre Lebensgeschichte mit einer versuchten Vergewaltigung ihres Onkels und ihrer Flucht als Sklavin eines Franzosen, die Adason nicht kalt lässt.


Weil ich keinen Ratgeber hatte, der mich vor den Anfang warnte, habe ich das ganze Buch gelesen und mehr als 3 Sterne sind nicht drin. Wer das N-Wort nicht mag, sollte ganz die Finger weglassen. Der Übersetzer erklärt es zwar, aber es könnte heutigen Zeitgenossinnen doch stören.

Bewertung vom 31.12.2022
Trottel
Faktor, Jan

Trottel


weniger gut

die Niete des Buchpreises

Eigentlich fürchtete ich, dass De l'Horizon die Niete sei. Aber dieses Buch, auch eine Familiengeschichte ist schlechter. Es will eine Satire sein, ist aber nicht lustig. Die Fußnoten sind völlig überflüssig und wurde von mir nicht mehr gelesen. Zusätzlich gibt es noch Kommentare, die in Großbuchstaben und eckigen Klammern stehen, die man sich ebenfalls schenken kann.

Was als Substrat übrig bleibt ist die Erzählung eines Tschechen, der der Liebe wegen nach Ost-Berlin kam und dessen Sohn Selbstmord beging. Doch weder die Medikamentenaufzählung noch die Stadtbeschreibung vom alten Prag und vom alten Ost-Berlin noch die Ramsteinsongs konnten mich vom Hocker reißen.

Dennoch zeigt der Autor an winzigen Stellen: „Neulich las ich wieder mal diesen unfassbar widerlichen Satz wäre – auch mechanisch – bis zur Unkenntlichkeit heruntergenudelt und infolgedessen abgeschafft worden. […] Wenn schon, dann würde ich mich lieber ordentlich geschmacklos ausdrücken: „Er drangsalierte sie einvernehmlich moderat bis moderierend.“ Oder zartfühlig über „Liebende, sich ineinander verschiebende Menschen“ sprechen. (173)

Noch schöner ist die Frage: „Was hat man von einer schönen Stadt, wenn man sich dort beschissen fühlt?“ (193) Auch seine Sozialismuskritik kann schön sein: „man hätte in der Auslaufzeit aber wenigstens nur mäßig intensiv arbeiten müssen und hätten sich dafür viel Zeit für erotische Aktivitäten nehmen können“ (225).

Die guten Zitate retten dem Buch den zweiten Stern.

Bewertung vom 23.12.2022
Nebenan
Bilkau, Kristine

Nebenan


gut

Skizzen eines Dorfes

Ein Dorf getrennt durch den Nord-Ostseekanal. Ist das schon eine Geschichte? Es ist der Einstieg zu einem Buch, das genau solche Themen mit Hilfe zweier Frauen als Hauptfiguren anreißt.

Die eine heißt Astrid, lebt schon lange im Dorf und kennt als Ärztin fast alle Pappenheimer ihres Dorfes. Sie hat eine leicht demente Tante Elsa und wird von einem unzufriedenen Patienten oder Patientin mit Drohbriefen gepiesackt. In ihrem Beruf wurde sie zu einem Todesfall in der Badewanne gerufen, bei dem sie ein Gewaltverbrechen nicht ausschließen konnte.

Die andere heißt Julia, ist gerade mit Freund Chris aufs Land gezogen, hat einen Keramikladen, der aber nur durch den Onlineverkauf überlebt und wünscht sich vor allem ein Kind.

Beide Figuren treffen sich, weil sie beide bemerken, dass ein Haus im Dorf von einer Familie – aus welchen Gründen auch immer – plötzlich verlassen wurde. Außerdem spielen auch Kind sein und das Verhältnis zu den eigenen Kindern und in der Verwandtschaft eine Rolle.


Mich stört nicht, dass viele Themen nur skizziert werden. Dafür werden auch aktuelle Themen wie Klimawandel und Leerstand im Dorf behandelt. Mich stört, dass die Figuren in dem halben Jahr keine Entwicklung durchlaufen und so auch keine Spannung entsteht. Deswegen „nur“ 3 Sterne für ein Buch, das so gut angefangen hat.

Bewertung vom 18.12.2022
Susanna
Capus, Alex

Susanna


sehr gut

Historische Biografie

Die große Stärke von Capus ist, dass er große Erfindungen aus der Sicht der kleinen Leute darstellen kann. Die Eröffnung der Brooklyn-Bridge und die ersten Glühbirne gehören dazu, genauso wie die Ausbreitung der Elektrizität von den wichtigen Häusern zu den Normalbürgern.

Weiter hat mir sehr gefallen, dass er das Erbe von Susannas Mutter als „Rettungsseil“ bezeichnet hat und dass er das Verharren im Arbeitsleben in einer mittleren Stadt „Treibsand“ nennt.

Auch wenn dieser Treibsand erst gegen Ende des Buches auftaucht, so wird er schon bei Susannas Vaters ein Thema, der als Kaufmann seine Heimatstadt Basel nicht mehr verlassen will, während sein Freund Valentiny seinen Arztberuf in Dortmund aufgibt und nach New York auswandert, auch weil er als Anhänger der Revolution zu den politisch Verfolgten gehört. Susannas Mutter wird ihm mit der Tochter einige Jahre später folgen.

Gerade der erste Teil hat Längen. Zwei Kapitel widmen sich nämlich der Kutschfahrten, die die kleine Susanna mit Alex macht, dem wilden Mann der Fasnacht, dem sie als Kind ein Auge ausgestochen hat. Mir erschließt sich der Sinn dieser Kapitel nicht.

Im zweiten Teil – der nicht markiert wird, aber ab Seite 117 spielt die Handlung in Amerika, die Reise wird nur im Rückblick erzählt – wird das Personal auf das Notwendigste reduziert. Nur das Theaterstück über die Indianer gerät zu lang.


Sprachlich wäre wohl noch mehr möglich gewesen, wenn Capus in Amerika Susanna aus der Ich-Perspektive hätte erzählen lassen. So hat der Roman selbst in den Gefühlen einen zu dokumentarischen Charakter. Dennoch ein spannendes Thema, ich werde mehr vom Autor lesen. 4 Sterne.

Bewertung vom 11.12.2022
Kummer aller Art
Leky, Mariana

Kummer aller Art


ausgezeichnet

Unterhaltsame „Psychologie Heute“-Kolumnen

Lang ist es her, dass ich Lekys Roman gelesen habe. So war die Freude über ihr neues Buch groß. Auch wenn es „nur“ Kolumnen sind, so möge man sagen, wundere ich mich schon welche Mühe sich die Psychologin für ihr Fach macht.

Wie bei Kolumnen wohl üblich habe die Kapitel immer die gleiche Länge, 4 Seiten. Da war ich schon überrascht, dass kurz vor Schluss zwei Texte Überlänge haben und kurz die fünfte Seite anfangen. Ob die Autorin fürs Buch nachträglich etwas ergänzt hat?

Wächst einen nicht Nachbarin Frau Wiese ans Herz, als sie über ihren neuen, lauten Nachbarn lästert, ihm das aber nicht ins Gesicht sagen will? Und muss das Buch nicht enden, als Frau Wiese wegzieht? (War das ein Spoiler?)
Und auch der Vater, der als Psychiater mal einen Patienten vergessen hat, kommt immer wieder sympathisch rüber.


Ein ideales Buch für die Adventszeit mit kleinen, unabhängigen Geschichten, die das Herz erwärmen. 4 Sterne von mir, weil 5 Sterne der großen Literatur vorbehalten sind. Na gut, wenn ich nach jeder Geschichte hätte schmunzeln können, hätte es auch 5 Sterne gegeben, aber manchmal war der Mehrwert der Anekdote doch begrenzt.

Habe es mir doch anders überlegt. Ich schenke noch einen Stern, weil 1. bald Weihnachten ist und 2. die Leserin dieses Buches ohnehin keine große Literatur erwartet.

Bewertung vom 08.12.2022
Schiller als Philosoph

Schiller als Philosoph


schlecht

Nur der Titel und die Einleitung gut

Da findet man in der Bücherei einen Titel und denkt dieses Buch nehme ich mit. Dann lese ich mit Vergnügen die Einleitung von Rüdiger Safranski und dann merke ich, dass die nächsten Kapitel Original Schiller sind.

Sofort merke ich, dass das Schreiben eher die große Stärke des Dichters war als das Philosophieren. Ich blättere mich noch durch bis der Gedanke von Freiheit im Spiel behandelt wird, den ich bei Safranski so gut dargestellt fand, aber Schillers Worte erreichen mich nicht mehr.
Mir fehlt auch ein Quellenverzeichnis.


Bei Seite 150 lege ich das Buch endgültig beiseite. Nach meinen Kriterien nur 1 Stern. Aber die Einleitung von Rüdiger Safranski hätte 4 Sterne bekommen. Nur 30 Seiten sind in Deutschland wohl zu wenig für ein Buch.

Bewertung vom 06.12.2022
Ein Sommer in Niendorf
Strunk, Heinz

Ein Sommer in Niendorf


sehr gut

Happy-End bei Strunk

Dieses Buch kann auf zwei Arten gelesen werden: Für Thomas Mann Kenner mit dem Vergleich zum Zauberberg und für mich als Nichtzauberbergkenner ohne den Vergleich.

So sind wir wieder in der typisch strunkschen Abstiegsgesellschaft, die auch vor dem Ostseebad Niendorf keinen Halt macht. Bemerkenswert wie Roth die Beziehung zu einer Matjesfrau schildert, die mit unserm Erzähler schlafen will, der aber keine Lust hat, weil er vor allem vom Matjesgeruch abgeturnt wird.

Typisch Strunk ist auch die Erzählung des Besoffenen, der einen Fremden mit seinem Auto mitschleift, weil dieser seinen Arm im Beifahrerfenster eingeklemmt hat.
Da Lob ich mir die Handarbeit von Simone, die sonst so gar nicht zu den Themen des Autors passt.


Ich will mal eine Lanze für dieses Buch brechen und verteile 4 Sterne, auch wenn ich sehe, dass es neben den geschilderten Höhepunkten viele Längen hat. Allerdings befürchte ich auch, dass die Welt untergeht, wenn Strunk für seine pessimistische Weltanschauung den Buchpreis erhält.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.12.2022
Blutbuch
de l'Horizon, Kim

Blutbuch


gut

Überraschend guter Buchpreisträger

Wollte einen Buchladen für Tote aufmachen, aber der Slogan „Lesen statt Verwesen“ kam nicht so gut an. Dieser Spruch von mir bezieht sich auf die witzigste Seite 225, in der die Witze von Prostituierten gesammelt wurden.

Doch nach der Vorbemerkung möchte ich klassisch sagen, dass ich dieses Buch nicht gelesen hätte, wenn es nicht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises gestanden hätte. Im Laufe des nächsten Jahres werde ich alle Nominierten gelesen haben. Ich hoffe, dass De l'Horizon die jährliche Niete sei, die ich nach einige Seiten weglegen könnte, aber nein:

Die Hauptgeschichte ist die nicht uninteressante Familiengeschichte von Kim auf der Suche nach seinem Geschlecht. Dass selbstverständlich das Grünensternchen verwendet wird und „mensch“ statt „man“ geschrieben wurde, habe ich erwartet.

Unerwartet war jedoch, dass die Großmutter, im Berndeutsch Großmeer genannt, mich so gepackt hat, dass ich weiterlesen musste. Klar hat das Buch Längen, vor allem den Sinn der Briefe in Englisch im letzten Kapitel habe ich nicht verstanden. Ebenso habe ich die Dialektstellen überlesen.

Aber positiv fand ich den dritten Teil, der die Besonderheit der Blutbuche als Besonderheit der Natur beschreibt. Nur solange uns Transsexuelle ein ganzes Buch wert sind, ist diese Menschengruppe nicht vollständig in unsere Gesellschaft integriert.


Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass dieser Preisträger von mir 3 Sterne erhält. Ich hoffe, dass die Shortlist mir noch bessere Bücher bietet.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.