Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
YukBook
Wohnort: 
München

Bewertungen

Insgesamt 290 Bewertungen
Bewertung vom 24.03.2021
Die Telefonzelle am Ende der Welt
Imai Messina, Laura

Die Telefonzelle am Ende der Welt


sehr gut

Schauplatz dieses Romans ist eine "Telefonzelle am Ende der Welt", genauer gesagt am Hang des Kujirayama in Ôtsuchi an der Küste Nordostjapans. Hauptfigur Yui erfährt erstmals von einem Windtelefon, das tatsächlich existiert, in ihrer eigenen Radiosendung. Seit dem Tsunami im März 2011 reisen Trauernde dorthin, um mit ihren verstorbenen oder vermissten Angehörigen zu sprechen.

Yui, die ihre Mutter und ihre Tochter beim Tsunami verloren hat, sucht eines Tages diesen Pilgerort auf und lernt den Arzt Takeshi kennen, der um seine verstorbene Frau trauert. Von nun an fahren sie gemeinsam einmal im Monat von Tokio nach Ôtsuchi und kommen sich während der langen Autofahrt näher.

Wir bekommen nicht nur Einblick in die tragische Geschichte der beiden Figuren, sondern auch in das Schicksal anderer Hinterbliebenen, die – jeder auf seine Weise – versuchen, über ihren Verlust hinwegzukommen. Originell fand ich die Einschübe zwischen den Kapiteln, in denen die Autorin bestimmte Details hervorhebt statt sie in die Handlung einzubetten, zum Beispiel Erinnerungen an ein bestimmtes Gespräch, an die Kleidung oder Gewohnheiten des Verstorbenen.

Trotz aller Tragik strahlt die Erzählweise eine Leichtigkeit, Sanftheit, aber auch Verletzlichkeit aus. Man merkt, dass die Schriftstellerin schon lange in Japan lebt. Sie verwendet viele japanische Ausdrücke und beschreibt die Alltagskultur und typische Bräuche wie die Verehrung der Ahnen vor einem kleinen Hausaltar. Der Schmerz wird bei Yui und Takeshi nicht verschwinden, doch sie lernen nach und nach die Erinnerungen mit schönen Augenblicken in der Gegenwart zu verbinden, in der sie geliebt und gebraucht werden.

Bewertung vom 17.03.2021
Die Glücklichen
Beyer, Susanne

Die Glücklichen


ausgezeichnet

Die Frauen, die Susanne Beyer in ihrem Buch vorstellt, könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie hat sowohl mit Prominenten wie Siri Hustvedt, Birgit Fischer, Christiane Paul oder Katarina Barley als auch mit weniger bekannten Persönlichkeiten gesprochen. Eines haben sie gemeinsam: Sie sind um die Fünfzig und genießen diese Lebensphase statt ihrer Jugend nachzutrauern – die Autorin selbst mit eingeschlossen.

Warum das so ist, erläutert Susanne Beyer auf sehr gelungene Weise: In jedem Kurzporträt stellt sie ein bestimmtes Thema in den Vordergrund, zum Beispiel Körper, Leistung, Mutterschaft, Stil oder Sinnlichkeit. Entsprechend vielfältig sind die Lebensgeschichten, in die wir eintauchen, und auch sehr persönlich.

Häufig erlebten die Frauen einen U-förmigen Lebenslauf und erkämpften sich nach schweren Schicksalsschlägen, Krisen oder Demütigungen ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben. Dabei beeindruckte mich vor allem, dass sie nicht die Erfolgsrezepte der Männer kopierten, sondern ihren eigenen Weg gingen, so wie Claudia Schiffer, die die Gesetze der Modeindustrie für sich nutzte oder Antje von Dewitz, die das Familienunternehmen nach ihren eigenen Vorstellungen umgestaltete.

Obwohl es nur Schlaglichter sind, schafft es die Autorin, das Besondere an den oftmals unkonventionellen Lebensentwürfen herauszustellen, welche Rolle die Herkunft dabei spielte, welche Vorbilder die Frauen hatten, was ihr Antrieb war und welche Lehren sie aus ihren Erfahrungen gezogen haben. Sie weitet den Blick auf die einzelnen Themen, indem sie auch Sichtweisen und Erkenntnisse aus der Soziologie, Politik, Medizin und Philosophie einfließen lässt.

Ich lese sehr gern Frauenbiografien und habe schon eine beträchtliche Sammlung. Dieses Buch, das mir anhand verschiedenster Berufswelten und bewegender Schicksale das Lebensgefühl einer neuen Frauengeneration vermittelt, wird einen besonderen Platz in meinem Regal finden.

Bewertung vom 05.03.2021
Dinosaurier auf anderen Planeten
McLaughlin, Danielle

Dinosaurier auf anderen Planeten


sehr gut

So befremdlich wie der Titel sind auch die Erzählungen in diesem Band. Befremdlich ist vor allem das Verhalten der Figuren. Gleich in der ersten Geschichte bringt die Schülerin Becky ihre Mutter auf die Palme, in dem sie sich zu Hause ihre Füße abbindet. Es handelt sich um eine Hausaufgabe, bei der sie nachfühlen soll, welche Qualen Chinesinnen einst durchlitten haben, um einem Schönheitsideal zu entsprechen. In einer anderen Erzählung sammelt der neunjährige Finn mit Hilfe eines aufgespannten Tennisnetzes tote Vögel. Für ihn sind es die Vorboten der Apokalypse.

Während die Kinder voller Experimentierfreude und Überzeugung auf ihre ganz eigene Art und Weise die Welt um sich herum erkunden und versuchen, sie zu begreifen, scheint bei den Erwachsenen der Zug längst abgefahren zu sein. Es sind durchgehend tragische Figuren, denen sowohl ihre Kinder als auch Partner entgleiten und die sich mühsam durch den Alltag quälen. Das gilt sowohl für Cahill, der mit seiner psychisch gestörten Frau und seiner fordernden Chefin völlig überfordert ist, als auch für Kate, die in der titelgebenden Geschichte von seinem Enkel ferngehalten wird.

Danielle McLaughlin legt schonungslos familiäre Abgründe offen und legt uns ziemlich schwere Kost vor. Faszinierend ist, wie nah beinander Schönheit und Grausamkeit in ihren Beschreibungen liegen und welche eindringlichen Bilder sie in unserer Vorstellung erzeugt.

Bewertung vom 21.02.2021
Die Mitternachtsbibliothek (1 MP3-CD)
Haig, Matt

Die Mitternachtsbibliothek (1 MP3-CD)


sehr gut

Das Schöne an Büchern ist, dass man in verschiedenste Rollen schlüpfen und mehr als nur sein eigenes Leben leben kann. Doch was wäre, wenn man tatsächlich mehrere Lebensvarianten ausprobieren könnte? So wie Nora Seeds, Heldin dieses Romans.

Nora hat ihre zahlreichen Enttäuschungen und Niederlagen so satt, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen will. Nach einer Tabletten-Überdosis findet sie sich in einer riesigen Bibliothek wieder, einem Ort zwischen Leben und Tod. Das Besondere an dieser Mitternachtsbibliothek: Jedes Buch enthält ein Leben, das Nora hätte leben können. Nun hat sie die einmalige Chance, sich aus all den Möglichkeiten ihr perfektes Leben auszusuchen und Versäumtes wieder gutzumachen.

Ich ließ mich gern von Noras Wahl überraschen und begleitete sie von einer Option zur nächsten. Mal ist sie Gletscherforscherin, mal Olympiasiegerin, mal ein Rockstar. Was sehr verlockend klingt, entpuppt sich allerdings als gar nicht so erfüllend, zumal Nora jedes Mal in eine völlig neue Situation hineingeworfen wird und sich erstmal orientieren muss. Hinzu kommt, dass sie an jedem Leben etwas auszusetzen hat, so dass mir ihre Nörgelei und Unzufriedenheit manchmal auf die Nerven ging.

Matt Haig vermittelt uns wieder einmal viele philosophische Weisheiten und Theorien aus der Quantenphysik – vor allem die wichtige Botschaft, dass man das Potenzial, das uns jeder einzelne Lebensentwurf bietet, erkennen und nutzen sollte, statt sich von Fehlentscheidungen oder Rückschlägen herunterziehen zu lassen. Ich mag seine Gedankenexperimente, doch in diesem Roman fand ich sie nicht ganz so stark umgesetzt wie in seinen vergangenen Werken.

Bewertung vom 17.02.2021
Sprich mit mir
Boyle, T. C.

Sprich mit mir


ausgezeichnet

Nicht nur Haustierbesitzer werden sich sicher schon einmal die Frage gestellt haben: Was wäre, wenn ich mich mit einem Tier unterhalten könnte? In diesem Werk von T.C. Boyle liegt die Vorstellung gar nicht so fern.

Die Geschichte dreht sich um Sam, einem zweieinhalbjährigen Schimpansen, der im Haushalt des Sprachforschers Guy Schermerhorn aufwächst und die Gebärdensprache erlernt. Als die Studentin Aimee eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft bei ihm antritt, ist sie ganz hin und weg von dem klugen Schimpansen, der am liebsten Cheeseburger und Pizza isst und in Magazinen schmökert. Die tiefe Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit und schon bald werden die beiden unzertrennlich.

Die Illusion, dass Sam dauerhaft in einer häuslichen Gemeinschaft leben könnte, wird jäh zerstört, als Guys Chef Moncrief wegen fehlender finanzieller Mittel das Forschungsprojekt für gescheitert erklärt und Sam für Tierversuche verkaufen will. Die Handlung eskaliert, denn jede Figur verfolgt nun fieberhaft ihre eigenen Interessen.

Das Ganze wird dadurch verstärkt, dass T.C. Boyle das Geschehen aus wechselnden Perspektiven erzählt, sogar aus der Sicht des Schimpansen. Der Sprecher Florian Lukas meistert den extremen Wechsel zwischen Sams zaghafter und verängstigter Stimme und Moncriefs arroganten und wutentbrannten Tonfall exzellent.

Die Geschichte ist nicht nur spannend, sehr emotional und humorvoll erzählt, sondern regt auch zum Nachdenken an, welche Gemeinsamkeiten wir Menschen mit Tieren teilen und warum wir unsere Überlegenheit und egozentrische Rolle als so selbstverständlich hinnehmen.

Bewertung vom 09.02.2021
Aber es wird regnen
Lispector, Clarice

Aber es wird regnen


ausgezeichnet

In Clarice Lispectors Erzählungen begegnen wir Frauen unterschiedlichsten Alters. Das Alter spielt eine zentrale Rolle in ihren Prosaminiaturen, ebenso das Begehren, das schon in jungen Jahren geweckt wird.

In „Heimliches Glück“ ist für ein junges Mädchen ein ganz bestimmtes Buch das Objekt der Begierde. In „Reste vom Karneval“ fiebert eine Achtjährige einer Karnevalsfeier entgegen, auf der sie ein eigens für sie genähtes Rosenkostüm tragen möchte. Die Leichtigkeit, Zärtlichkeit und Intensität, die von den Texten ausgeht, zogen mich sofort in den Bann. In diesen einfachen Geschichten, die für mich zu den Highlights der Sammlung zählen, deutet die Autorin bereits alle Facetten menschlicher Tragik an, die das Mädchen vermutlich noch erleben wird.

Im zweiten Teil driften die Erzählungen ins Metaphysische, wenn sich zum Beispiel die Beobachtung einer Heuschrecke zu philosophischen Gedanken über das Universum ausweitet. Bei manchen Figuren hat man den Eindruck, sie wollten ihre Umgebung mit Leib und Seele vereinnahmen, sei es ein Tier, das Meer oder einen begehrenswerten Mann.

So unterschiedlich die 44 Geschichten auch sind, bekam ich einen guten Einblick in die Themen, die Clarice Lispector offenbar besonders beschäftigten: Soziale Unterschiede, Liebessehnsüchte und Ängste vor dem Altern und der Einsamkeit. Wie spielerisch und experimentell die brasilianische Schriftstellerin, die letztes Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, mit der Sprache umgeht und sowohl den Zauber als auch die Entzauberung des Alltags auf eine sehr eigenwillige Art in Worte fasst, ist einzigartig.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.02.2021
Neandertal
Cameron, Claire

Neandertal


ausgezeichnet

Als Kind war ich einige Male im Neanderthal Museum bei Mettmann. Seitdem hatte ich wenig Berührungspunkte mit der Frühgeschichte der Menschheit, bis ich diesen Roman entdeckte.

Die Geschichte spielt auf zwei Zeitebenen. In der Gegenwart arbeitet die schwangere Archäologin Rose an einer Ausgrabungsstätte in Vallon-Pont-D‘Arc fieberhaft daran, Neandertal-Artefakte freizulegen und ist überzeugt, dass die Fähigkeiten dieser Spezies bisher unterschätzt wurden. Eines Tages stößt sie auf einen sensationellen Fund, der möglicherweise ihre These belegt. In einem parallelen Handlungsstrang entführt uns die kanadische Autorin in die Steinzeit, in der eine junge Neandertalerin von ihrer Familie verstoßen wird und völlig allein auf sich gestellt ist.

Der besondere Reiz liegt in der Gegenüberstellung der beiden so unterschiedlichen Welten: auf der einen Seite der Alltag vor 40.000 Jahren, in der die letzte Sippe der Neandertaler instinktgetrieben um das nackte Überleben und den Fortbestand ihrer Familie kämpfte; auf der anderen Seite die beruflichen und privaten Probleme, mit denen Rose tagtäglich zu kämpfen hat. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten, die die Autorin geschickt herausstellt, wie das Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Wärme, Geborgenheit und die Willenskraft in Ausnahmesituationen.

Claire Cameron schildert das Schicksal der beiden Frauen in fesselnden Bildern und mit raffinierter Dramaturgie. Sie ist so nah an den Figuren, dass ich glaubte, die Todesängste und Schmerzen der Heldinnen am eigenen Leib zu spüren. Sie regt auch dazu an, über unsere Herkunft und die Stellung der Frau in unserer Gesellschaft nachzudenken. Den nächsten Besuch des Neanderthal Museums werde ich sicher mit anderen Augen erleben.

Bewertung vom 24.01.2021
Was der Fluss erzählt (MP3-Download)
Setterfield, Diane

Was der Fluss erzählt (MP3-Download)


sehr gut

Man kann die Bewohner von Radcot gut verstehen. Sie lieben Geschichten, sitzen jeden Abend im Wirtshaus Swan am Ufer der Themse in der Höhe von Oxford und erzählen sich Mythen und Sagen.

Eines Abends geschieht etwas, das reichlich Stoff für eine neue Legende bietet: Ein schwer verletzter Mann mit einem leblosen, aber unversehrten kleinen Mädchen im Arm stolpert ins Gasthaus und bricht zusammen. Zu welchen Theorien und Spekulationen dies führt, zählt für mich zu den stärksten Momenten der Erzählung. Jeder versucht, mit seinem Wissen den Vorfall zu erklären, Lücken zu füllen und sich einen Reim darauf zu machen, um das Ganze in eigener Manier weiterzuerzählen.

Der Vorfall ruft nach und nach neue Figuren auf den Plan: die Krankenschwester Rita, die das Mädchen untersucht und feststellt, dass es zum Erstaunen aller lebt; das Ehepaar Vaughn, das seit zwei Jahren seine Tochter vermisst; Robert Armstrong, der sich auf die Suche nach seinem Sohn und seiner Schwiegertochter macht. Ihre Vorgeschichten werden sehr ausführlich erzählt, was im mittleren Teil zu Längen führt.

Lässt man sich jedoch auf die langsam mäandernden Erzählstränge ein, kommt man in den Genuss einer wendungsreichen und atmosphärisch dichten Geschichte, besonders in der Hörbuchversion. Zu verdanken ist das vor allem der hervorragenden Sprecherin Simone Kabst, die jede Tonlage trifft, ob kindlich, entsetzt oder boshaft. Nicht nur die unterschiedlichen Charaktere, auch der Fluss mit all seinem Tücken und Geheimnissen wird durch die elegante Prosa von Diane Setterfield zum Leben erweckt. Besonderen Reiz gewinnt der Roman dadurch, dass seit einiger Zeit Storyteller-Communities zum Beispiel auf den schottischen Orkney-Inseln die Tradition des mündlichen Erzählens wieder aufleben lassen.

Bewertung vom 16.12.2020
What's for tea? Englisch, wie es nicht im Schulbuch steht
Hunt, Claudia

What's for tea? Englisch, wie es nicht im Schulbuch steht


ausgezeichnet

In einer Zeit, in der man weder reisen noch unbeschwert Freunde treffen kann, kommt dieses Buch gerade recht. Cornelia Hunt nimmt uns mit auf eine vergnügliche Reise durch England und den britischen Alltag.

Die Tour beginnt in „Fryer’s Delight“, ihrem Lieblings-Fish-&-Chips-Laden in London und idealen Umfeld, um uns die englische Küche näherzubringen. Weiter geht’s in verschiedene Cafés und Pubs, wo sie uns Wissenswertes und Kurioses über englische Biersorten, die Herkunft des Tees oder das Königshaus erzählt. Ich war gespannt auf jede neue Verabredung, bei der sie uns eine Sehenswürdigkeit vorstellt oder einen Geheimtipp verrät.

Sie spricht uns dabei nicht nur direkt an, sondern führt auch imaginäre Gespräche mit uns, gemischt in Deutsch und Englisch. So lernen wir nebenbei im jeweiligen Kontext eine Reihe von umgangssprachlichen Wörtern, Sätzen und Redewendungen wie „Snug as a bug in a rug“, die man im Lehrbuch oft nicht findet. Da jedes Kapitel mit einem kurzen Test endet, las ich automatisch jeden Absatz sehr aufmerksam, damit mir kein Detail entging.

Die Lektüre ist nicht nur lehrreich, sondern auch kurzweilig und abwechslungsreich, zumal die Autorin immer wieder mit neuen Überraschungen wie Rätsel, Zungenbrechern und typischen Verwechslungswörtern aufwartet. Selten habe ich eine so unterhaltsame Mischung aus Stadt- und Sprachführer gespickt mit Anekdoten und Insidertipps gelesen. Ein ähnliches Buch würde ich mir auch für andere Fremdsprachen wünschen!

Bewertung vom 08.12.2020
Winter / Jahreszeitenquartett Bd.2
Smith, Ali

Winter / Jahreszeitenquartett Bd.2


sehr gut

Bei den Büchern von Ali Smith muss man auf allerhand gefasst sein. Sicher ist, dass es keine gewöhnliche Lektüre wird, so auch bei ihrem jüngsten Werk „Winter“, dem zweiten Teil ihres Jahreszeitenquartetts. Schon bei der Inhaltsangabe tue ich mich schwer, weil es keine stringente Handlung gibt, sondern vielmehr ein Ineinanderfließen von Momentaufnahmen.

Der Roman beginnt mit einem düsteren Szenario, in dem fast alles tot ist: die Romantik, die Poesie, die Kultur, die Demokratie ... Im Mittelpunkt des Geschehens steht Sophia, die in einem alten Haus in Cornwall lebt und Dinge sieht, die andere nicht sehen, zum Beispiel einen schwebenden Kopf, der sie durch das Haus begleitet. Sie hat über Weihnachten ihren Sohn Arthur und dessen Freundin Charlotte eingeladen. Da Arthur sich von seiner Freundin getrennt hat, bringt er stattdessen eine Studentin mit, die er an einer Bushaltestelle aufgegabelt hat und sich als Charlotte ausgeben soll. Als dann noch Sophies Schwester Iris dazu stößt, hängt der Haussegen völlig schief. Iris war schon immer das Gegenteil von Sophie: eine Rebellin und Weltverbesserin. Weihnachtliche Stimmung kommt kaum auf, doch die Zänkeleien und die Art und Weise, wie jeder auf seine Sicht der Welt beharrt, hat doch viel Ähnlichkeit damit, wie das „Fest der Familie“ häufig abläuft.

Allzu zartbesaitet darf man nicht sein: Sophias gehässige Kommentare gepaart mit teils schockierenden Bildern brachten mich ziemlich aus der Fassung. Umso überraschender sind dann die zarten Momente der Versöhnung, die hin und wieder aufblitzen. Ali Smith präsentiert uns, wie zu erwarten war, keine klassische Familiengeschichte, sondern eine experimentelle, literarische Spielerei mit Erzählperspektiven, Zeitebenen, Worten, Wahrheit und Lüge, in der sowohl aktuelle politische Themen als auch literarische Größen wie Dickens und Shakespeare ihren Platz finden.