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cosmea
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Witten
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Ich lese seit vielen Jahren sehr viel, vor allem Gegenwartsliteratur, aber auch Krimis und Thriller. Als Hobbyrezensentin äußere ich mich gern zu den gelesenen Büchern und gebe meine Tipps an Freunde und Bekannte weiter.

Bewertungen

Insgesamt 307 Bewertungen
Bewertung vom 20.03.2021
Das Flüstern der Bienen
Segovia, Sofía

Das Flüstern der Bienen


ausgezeichnet

Hör auf die Bienen!
In ihrem Roman „Das Flüstern der Bienen" erzählt Sofía Segovia über mehrere Generationen die Geschichte der Familie Morales in der kleinen mexikanischen Stadt Linares. Das Ehepaar Beatriz und Francisco Morales besitzt ausgedehnte Ländereien, hat aber trotzdem kein unbeschwertes, sorgloses Leben. Der Vater von Beatriz wurde als angeblicher Verräter ermordet, die spanische Grippe dezimiert im Jahr 1918 die Bevölkerung drastisch, es herrscht Krieg, und den Großgrundbesitzern wird immer wieder von Soldaten ein Teil der Ernte weggenommen, Frauen werden verschleppt und junge Männer zwangsrekrutiert. Durch Revolution und Agrarreform droht außerdem die völlige Enteignung. In diesen unsicheren Zeiten findet die alte Amme Nana Reja eines Tages einen ausgesetzten Säugling mit entstelltem Gesicht. Beatriz und Francisco nehmen den kleinen Simonopio auf und lieben ihn wie ihr eigenes Kind. Der Junge ist kein normales Kind, sondern hat ein besonderes Verhältnis zu Bienen. Ein Bienenschwarm ist ständig in seiner Nähe und beschützt ihn. Die Bienen lehren ihn alles, was er weiß. Simonopio ist ein Seher, erkennt zukünftige Ereignisse im voraus und beschützt seine Familie, vor allem den kleinen Francisco, der geboren wird, als seine Schwestern Carmen und Consuelo schon erwachsene Frauen sind. Segovias Roman erzählt zugleich die Geschichte einer Familie und einer Epoche, jedoch nicht chronologisch, sondern mit vielen Zeitsprüngen und immer wieder wechselnder Perspektive. Eine wichtige Stimme ist dabei Ich-Erzähler Francisco, der u.a. als alter Mann Dinge berichtet, über die er sein ganzes Leben lang geschwiegen hat. Bis zum Ende des Romans hat so der Leser einen Informationsvorsprung vor den Figuren der Geschichte.
Der Roman besticht durch seine poetische Sprache und entfaltet eine ganz eigene Magie auch durch die Einbeziehung übersinnlicher Elemente, vor allem aber durch die Figur des Simonopio, Franciscos "Bruder". Der bezaubernde Roman ist dem magischen Realismus in der Tradition seines berühmtesten Vertreters - Nobelpreisträger Gabriel García Marquez - zuzurechnen. Ein wunderbares Buch, das man so schnell nicht vergisst.

Bewertung vom 20.03.2021
Die dritte Frau
Fleischhauer, Wolfram

Die dritte Frau


sehr gut

Fakten und Fiktion
In Wolfram Fleischhauers neuem Roman "Die dritte Frau" befindet sich ein Autor in einer Lebenskrise. Er hat eine Scheidung hinter sich, finanzielle Probleme und keine Ideen für ein neues Buch. Mit Hilfe seiner Agentin Moran hält er sich durch Übersetzungsaufträge finanziell über Wasser. Sie ermutigt ihn nicht, einen weiteren historischen Roman zu schreiben, da dieses Genre zur Zeit nicht gefragt ist. Der Autor hat dennoch den Plan, sein Buch "Die Purpurlinie" fortzuschreiben, da er mit der unvollständigen Auflösung nicht mehr zufrieden ist. Damals ging es um ein rätselhaftes Gemälde im Louvre, das zwei Frauen zeigt - Gabrielle d´Estrées und Henriette d´Entragues, die beide Geliebte des französischen Königs Henri IV waren und hofften, Königin zu werden. Stattdessen heiratete er Maria aus dem Hause Medici und fiel einem Mordkomplott zum Opfer.
Der namenlose Autor und Ich-Erzähler reagiert mit mehreren Jahren Verspätung auf den sehr kritischen Brief des Franzosen Charles Balzac, der ihn damals nach Frankreich eingeladen hatte, um ihm mit Hilfe von alten Dokumenten all seine Irrtümer und Fehleinschätzungen aufzuzeigen. Der Autor erhält Antwort von Camille Balzac, einer Nachfahrin der Entragues, die den Nachlass des inzwischen verstorbenen Onkels verwaltet.
Der Autor trifft die rätselhafte Frau, die ihn anzieht und doch immer wieder zurückstößt. Sie macht ihm alte Dokumente und verschlüsselte Berichte von Spionen der Medici zugänglich, durch die die damaligen Ereignisse in einem neuen Licht erscheinen, vor allem, was Henriette betrifft, deren Geschichte noch nicht erzählt wurde. Der Autor wird jedoch immer misstrauischer, weil Camille ihn manipuliert und die ganze Zeit ihre eigene Agenda verfolgt.
Fleischhauer erzählt eine spannende und sehr interessante Geschichte über ein berühmtes Gemälde, eine äußerst turbulente Zeit voller Intrigen und Morde zu Beginn des 17. Jahrhunderts, aber auch über den Prozess des Schreibens eines Romans selbst. Raffiniert ist die Verbindung des real existierenden Autors Fleischhauer mit seinem Roman "Die Purpurlinie" mit der fiktiven Figur des Autors im vorliegenden Roman. Was ist hier Wahrheit und was Fiktion? Ein autobiografisches Buch ist dies jedenfalls nicht. So viel steht fest.
Mir hat „Die dritte Frau" sehr gut gefallen. Ich empfehle es gern weiter.

Bewertung vom 16.03.2021
Montecrypto
Hillenbrand, Tom

Montecrypto


gut

Finanzwelt am Abgrund
Der Start-up-Unternehmer Gregory Hollister hat ein vermutlich riesiges Vermögen in der Kryptowährung Bitcoin angelegt, als er eines Tages bei einem Flugzeugabsturz stirbt. Seine Halbschwester beauftragt den Privatdetektiv Ed Dante mit der Suche nach dem digitalen Vermögen. Es beginnt eine Schnitzeljagd mit immer neuen Hinweisen, an der sich bald nicht nur die Bloggerin Mercy Mondego, sondern Tausende von Internetnutzern, Geheimdienste und allerlei zwielichtige Gestalten beteiligen. Dante hat zwar als ehemaliger Banker Erfahrungen im Finanzwesen, aber kennt sich mit digitalen Währungen nicht besonders aus. So ist er oft auf Mercys Unterstützung angewiesen. Er weiß, dass sein Auftrag nicht ungefährlich ist und jeder seiner Schritte beobachtet wird. Er kommt viel herum, fliegt in die Schweiz, nach New York, zurück nach Kalifornien und schließlich nach Mexiko, wo ihn und den Leser die Auflösung aller Rätsel erwartet, und schließlich kommt alles anders, als man dachte. Der finale Showdown verdeutlicht auch dem Laien, wie nah wir einer weltweiten Bankenkrise und dem Zusammenbruch der Weltwirtschaft jederzeit sind. Hillenbrand hat einen ungewöhnlichen Roman über ein nicht gerade gängiges Thema geschrieben, der eigentlich Kenntnisse über Finanzmärkte, Kryptowährungen und das hier übliche spezielle Vokabular voraussetzt. Auch sonst ist dieser Roman sprachlich besonders. Mir gefällt der Humor, aber nicht die teilweise recht derbe Wortwahl des Autors. Auch ist der dem Genre des Thrillers zugewiesene Roman nicht durchgängig spannend. Mich überzeugt er nicht völlig.

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Bewertung vom 07.03.2021
Hard Land
Wells, Benedict

Hard Land


sehr gut

Der Sommer, der alles veränderte
Der lang erwartete neue Roman von Benedict Wells spielt Mitte der 80er Jahre in einer Kleinstadt in Missouri. Im Mittelpunkt steht der 15jährige Sam. Er ist ein Außenseiter, schüchtern, nicht selbstbewusst und für seine Altersgenossen das ideale Opfer. Er wird nicht nur in der Schule gemobbt, sondern auch von seinen Cousins gequält, weshalb er sich in den Sommerferien von seinen Eltern nicht dorthin schicken lassen will. Stattdessen nimmt er einen Job im örtlichen Kino an, wo er zwei etwas ältere Jungen und Kirstie, die Tochter des Kinobesitzers kennenlernt. Er verliebt sich in das Mädchen und findet endlich Freunde. Es ist eine wundervolle Erfahrung für ihn, aber nicht alles ist positiv. Die Familie trifft ein Schicksalsschlag, und Sam erlebt Verlust und Trauer.
Der Roman erzählt eine Geschichte vom Erwachsenwerden mit allen Schwierigkeiten und Schmerzen. Dabei zeigt der Autor familiäre Probleme, die eine Generation zurückreichen und das distanzierte Verhältnis des Vaters zu seinem Sohn erklären. Er beschreibt außerdem anschaulich den wirtschaftlichen Niedergang der Stadt, in der niemand mehr Arbeit findet und Geschäfte, Restaurant und Kino schließen. Zugleich ist er eine Hommage an die Literatur, die Filme und die Musik der 80er Jahre.
Mir hat das neue Buch von Wells gut gefallen. Ich bin und bleibe ein großer Fan des Autors.

Bewertung vom 07.03.2021
Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
Schröder, Alena

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid


sehr gut

Mütter und Töchter
In Alena Schröders Debütroman „Junge Frau, am Fenster stehend. Abendlicht, blaues Kleid“ geht es um vier Generationen von Frauen einer Familie. Die Geschichte umspannt ein Jahrhundert, beginnend mit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Urgroßmutter Senta wird schwanger und heiratet den Kriegsheld Ulrich. Die Ehe ist jedoch nicht glücklich. Senta lässt ihre Tochter Evelyn bei ihrem Mann zurück, der die Dreijährige von seiner Schwester Trude aufziehen lässt. Senta folgt ihrer Freundin Lotte nach Berlin und heiratet später Julius, den Sohn eines jüdischen Kunsthändlers. Aus dieser Ehe stammt die Tochter Silvia, die früh an Krebs stirbt. Deren Tochter Hannah, eine 27jährige Doktorandin in der Erzählgegenwart, kümmert sich um ihre 94jährige Großmutter Evelyn, die in einem Altersheim im Berliner Westen auf den Tod wartet. Durch einen Brief an die Großmutter erfährt Hannah, dass Evelyn und sie Erben eines von den Nazis gestohlenen Vermögens sind, wenn die geraubten Kunstwerke denn gefunden und restituiert werden. Hannah fragt ihren Doktorvater um Rat, der den Kontakt zu einem jungen Wissenschaftler mit umfangreichen Kenntnissen über die Nazizeit vermittelt. Hannah wusste nichts über Verbindungen zu der angeheirateten jüdischen Verwandtschaft. Ihre Großmutter hat ihr Leben lang über die Familiengeschichte geschwiegen und verweigert auch jetzt zunächst jede Auskunft. Hannah beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen, steckt doch ihr Leben in einer Sackgasse fest. Sie kommt mit ihrer Doktorarbeit nicht weiter und hat eine aussichtslose Affaire mit ihrem verheirateten Doktorvater. Sie braucht dringend neue Ziele, überhaupt eine Orientierung in ihrem Leben.
Die Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte wird nicht chronologisch erzählt, sondern wechselt zwischen den Zeitebenen und den Personengruppen. Dabei geht es nicht nur um Judenverfolgung und Raubkunst, sondern auch um das schwierige Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern, Schuld und Verantwortung, all das Ungesagte, das zwischen den Mitgliedern einer Familie steht. Es ist ein anspruchsvoller, faszinierender Roman, in dem die Autorin die eigene Geschichte aufarbeitet und keine scheinbar naheliegende, simple Auflösung wählt. Ein sehr empfehlenswertes Buch.

Bewertung vom 13.02.2021
Sprich mit mir
Boyle, T. C.

Sprich mit mir


ausgezeichnet

Ein Schimpanse mit Familienanschluss
In „Sprich mit mir“, T.C. Boyles neuem Roman, leitet der junge Wissenschaftler Guy Schermerhorn ein Forschungsprojekt, in dem festgestellt werden soll, über welche Fähigkeiten zur Interaktion mit Menschen Schimpansen verfügen. Immerhin ist ihr Erbgut fast identisch mit dem des Menschen. Wie weit gehen die Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier tatsächlich? Zur Klärung dieser Frage hat ihm sein Chef Prof. Moncrief einen jungen Schimpansen zur Verfügung gestellt, den Schemerhorn mit einem Team aufzieht, zu dem anfangs auch seine Ehefrau gehört, bis die Ehe zerbricht, weil das Projekt für Guy wichtiger ist als alles andere. Er hat den Schimpansen namens Sam in einer vielbeachteten Fernsehsendung vorgestellt. Auf seine Anzeige hin bewirbt sich die junge Aimee, die Sam unbedingt kennenlernen will. Aimee und Sam mögen sich auf Anhieb, und das ist der Beginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit, wobei die Zuneigung zwischen den Beiden ständig wächst. Sam hat die Gebärdensprache gelernt, kann auf Fragen antworten und Wünsche äußern. Das Prinzip der Fremdpflege funktioniert so gut, dass der Schimpanse gar nicht weiß, dass er ein Tier ist.
Doch dann werden eines Tages die Fördermittel für das Projekt gestrichen, und Moncrief verlangt Sam zurück. Das ist der Anfang vom Ende. Moncrief sperrt Sam auf seiner Schimpansenfarm in einen stinkenden kleinen Käfig. Sam wird immer wieder mit dem Stachel und mit Elektroschocks misshandelt, weil er ungehorsam ist. Das Leid des von seinen geliebten Menschen getrennten Tiers ist für den Leser schwer zu ertragen.
In mancher Hinsicht erinnert mich Boyles Roman an „Die fabelhaften Schwestern der Familie Cooke“, in dem ebenfalls die ethischen Implikationen eine Rolle spielen. Hat der Mensch das Recht, Tiere zu Forschungszwecken zu missbrauchen und sie - wenn sie entbehrlich oder nicht mehr profitabel sind - an die biomedizinische Forschung zu verkaufen, wo an ihnen grausame Experimente vorgenommen, sie sogar getötet werden? Auch Boyle ist ein berührender Roman gelungen, der den Leser nachdenklich macht. Ein sehr empfehlenswertes Buch.

Bewertung vom 31.01.2021
Das Verschwinden der Erde
Phillips, Julia

Das Verschwinden der Erde


ausgezeichnet

Verlust und Trauer
Julia Phillips Roman „Das Verschwinden der Erde“ hat mit der Halbinsel Kamtschatka im äußersten Osten von Russland einen ungewöhnlichen Schauplatz. Dort verschwinden eines Tages die Schwestern Aljona,11 und Sofija Golosowski, 8, als sie unbeaufsichtigt am Strand spazieren gehen. Eine Frau, die ihren Hund ausführt, sieht, wie zwei Mädchen in ein schwarzes, glänzendes Auto steigen. Ihre Aussage ist zu unpräzise, um einen Verdächtigen zu identifizieren. Die Polizei ermittelt eine Weile, kommt aber dann zu dem Schluss, dass die Mädchen ertrunken sein müssen. Drei Jahre zuvor ist schon einmal ein Mädchen aus einer indigenen Bevölkerungsgruppe im Norden verschwunden. Bei der 18jährigen Lilja Solodikow ermittelt die Polizei nicht wirklich, sondern geht davon aus, dass der Teenager sein Elternhaus freiwillig verlassen hat, um anderswo zu leben.
Im Roman geht es über einen Zeitraum von 11 Monaten immer wieder um eine andere Personengruppe, die direkt oder indirekt von dem Verschwinden der beiden Schwestern betroffen ist. Stets wird aus weiblicher Perspektive erzählt. Es sind Frauen, die unter Benachteiligung oder männlicher Dominanz leiden, die sich eingesperrt fühlen oder das Gefühl haben, dass ihr Leben an ihnen vorbeizieht. Einige werden von ihren Partnern verlassen oder verlieren, was sie am meisten lieben.
Phillips Roman ist kein Thriller, kein Whodunit, in dem es vorrangig um die Aufklärung eines Verbrechens geht. Es ist eher eine Aneinanderreihung von Einzelschicksalen in Kurzgeschichten, wobei die Verbindung zwischen ihnen zunehmend deutlicher wird. Natürlich fragt sich der Leser die ganze Zeit, ob am Ende die Aufklärung der Mädchenschicksale steht. Entscheidend für die Qualität des Romans ist dies jedoch nicht, zumal auch andere Themen behandelt werden, wie zum Beispiel Frauenfeindlichkeit und Rassismus.
Phillips Roman ist interessant und innovativ, aber nicht leicht zu lesen. Trotz der umfangreichen Namensliste und der Landkarte von Kamtschatka fällt die Orientierung schwer. Dennoch lohnt sich die Lektüre, wenn man sich erst einmal auf die Geschichte eingelassen hat.

Bewertung vom 24.01.2021
Vati
Helfer, Monika

Vati


ausgezeichnet

Auf eine bösartige Weise ist alles gut geworden
Mit „Vati“ setzt Monika Helfer ihre autofiktionale Familiengeschichte fort. Während in „Die Bagage“ der Schwerpunkt auf der Generation der Großeltern mit der schönen Maria und dem gut aussehenden Josef und ihren zahlreichen Kindern liegt, erzählt die Autorin in ihrem neuen Roman vor allem aus dem Leben ihrer Eltern Grete und Josef und dem Leben von Monika und ihren Geschwistern. Die Familie ist noch immer bettelarm und lebt in einfachen Verhältnissen, in der Zeit, als Josef Verwalter des Kriegsopfererholungsheims auf der Tschengla hoch oben auf dem Berg war, wenigstens nicht auf engstem Raum. Monika und ihre Geschwister Gretel, Renate und Richard verlieren früh die Mutter und werden von den Tanten Kathe und Irma aufgezogen. Zahlreiche Schicksalsschläge treffen die Familie auch in dieser Generation, die zuvor schon als die Bagage von den Dörflern ausgegrenzt und verachtet wurde. Angesichts der schwierigen Verhältnisse ist es bemerkenswert, dass zumindest Monika Helfer ihren Lebenstraum verwirklicht hat, ihren Namen auf Buchrücken zu sehen.
Auch Helfers neuer Roman ist hochinteressant und berührend, weil sie sich auf diese Weise dem geliebten Vater, mit dem sie die Liebe zu Büchern teilt, annähert. Ihr Vater hat nie viel von sich preisgegeben. Sie versucht, seinem Wesen und seinen Geheimnissen mit Hilfe ihrer Erinnerungen und durch Gespräche mit ihren Verwandten auf die Spur zu kommen. Genau wie „Die Bagage“ ist auch „Vati“ ein sehr lohnender Roman, der durch die Einbeziehung des österreichischen Dialekts besonders authentisch wirkt. Ich empfehle das Buch ohne Einschränkung.

Bewertung vom 24.01.2021
Leichenblume / Heloise Kaldan Bd.1
Hancock, Anne Mette

Leichenblume / Heloise Kaldan Bd.1


ausgezeichnet

Warum wurde Christoffer Mossing ermordet?
In Anne Mette Hancocks Thriller „Leichenblume“ nimmt die verurteilte Mörderin Anna Kiel brieflichen Kontakt zu der Investigativjournalistin Heloise Kaldan auf. Ihre Briefe zeigen, dass sie erstaunlich viele private Dinge über die Journalistin weiß. Kaldan hat sich gerade durch einen Artikel, in dem sie im blinden Vertrauen auf ihren Informanten ein erfolgreiches Textilunternehmen an den Pranger stellt, ins berufliche Abseits manövriert. Die Journalistin und der Informant sind in eine Falle gegangen. Wider Erwarten behält Kaldan ihren Job und recherchiert im Fall Anna Kiel, weil sie hofft, sich durch eine sensationelle Erstveröffentlichung zu rehabilitieren. Eines Tages wird die Journalistin in ihrer Wohnung überfallen und überlebt nur, weil ihr Freund Martin Duvall den Täter überwältigt. Dieser scheint aus dem Umfeld des schwerreichen Johannes Mossing zu kommen, dessen Sohn Christoffer einige Jahre zuvor ermordet wurde. Mossing beschäftigt tüchtige Anwälte, die ihn bisher vor einer Anklage wegen dubioser Machenschaften bewahren konnten. Inspektor Erik Schäfer ermittelt schon seit Jahren gegen ihn, konnte ihm aber nie etwas beweisen. Aus dieser Ausgangslage entwickelt sich eine Zusammenarbeit zwischen Schäfer und Kaldan, die die Polizei nach dem Mordanschlag über Anna Kiels Kontaktaufnahme informiert hat.
Hancock entwickelt eine komplizierte Geschichte, in der der Leser lange nicht weiß, wie Anna Kiels Geschichte mit den aktuellen Ereignissen zusammenhängt. „Leichenblume“ ist ein spannender Roman über ein schweres Verbrechen, aber auch über Rache, Verzeihen und Gerechtigkeit mit sorgfältiger Charakterzeichnung und interessanten Schauplätzen in Dänemark und Frankreich. Ein empfehlenswertes Buch.

Bewertung vom 28.12.2020
Miss Bensons Reise
Joyce, Rachel

Miss Bensons Reise


sehr gut

Manchmal gibt es eine zweite Chance
Rachel Joyces neuer Roman “Miss Bensons Reise“ (Originaltitel: “Miss Benson´s Beetle“) erzählt die Geschichte einer unwahrscheinlichen Reise. Die Geschichte beginnt im Kriegsjahr 1914, als Margery Bensons Vater der 10jährigen Tochter Bilder von Tieren zeigt, die es vielleicht nicht gibt, darunter die Abbildung des Goldenen Käfers von Neukaledonien. Das Mädchen wird diesen Tag nie vergessen, denn er steht für das Ende ihrer Kindheit. Der Vater erhält die Nachricht vom Tod seiner vier Söhne in Belgien und erschießt sich. Die Mutter nimmt fortan nicht mehr aktiv am Leben teil. Margery wächst bei zwei verknöcherten alten Tanten auf. Eine freudlose Kindheit geht in eine ebensolche Jugend über, und sie vergisst für lange Zeit alle Träume. Der Hauptteil der Geschichte spielt in den 50er Jahren. Margery arbeitet seit 20 Jahren im ungeliebten Beruf einer Hauswirtschaftslehrerin. Als sie eines Tages von ihren Schülerinnen mit einer wenig schmeichelhaften Zeichnung gedemütigt wird, wirft sie alles hin und bereitet in aller Eile die Expedition nach Neukaledonien vor, um den legendären Käfer zu suchen. Per Anzeige sucht sie eine Assistentin und muss am Ende mit der am wenigsten geeigneten Enid Pretty vorlieb nehmen, die sie erst am Bahnhof trifft. Die beiden Frauen könnten gegensätzlicher nicht sein, haben aber eins gemeinsam: beide werden von den Mitmenschen kein bisschen respektiert, sondern ausgegrenzt, Margery als unattraktive alte Jungfer, Enid als sexsüchtiges Flittchen. Es zeigt sich jedoch schon bald, dass sie sich hervorragend ergänzen und gegenseitig helfen können. Enid kümmert sich um praktische Probleme und sorgt für die seekranke Margery. Später tauschen sie die Rollen, und Margery steht Enid bei. Sie verändern und entwickeln sich, und so wird die Reise vor allem für Margery auch eine innere Reise, bei der sie ungeahnte Stärken in sich entdeckt und begreift, dass man nicht von vornherein aufgeben darf, sondern die Verwirklichung seiner Wünsche und Träume aktiv in Angriff nehmen muss. Während der lange Zeit nicht von Erfolg gekrönten Expedition gibt es immer wieder Hindernisse und Gefahren, die überwunden werden müssen, als Kontrast dazu aber auch zahlreiche komische Episoden. Die sind auch nötig, denn das Unternehmen wird gefährdet durch einen Stalker in der Person des abgewiesenen Bewerbers Mr. Mundic. Er ist ein schwer traumatisierter Kriegsteilnehmer, der nur knapp die Gefangenschaft in Burma überlebt hat. Mundic neigt zu Halluzinationen und Ausbrüchen von unkontrollierbarer Gewalt – eine Gefahr für sich und andere. An seiner Person veranschaulicht Joyce die Spätfolgen des Krieges, die immer wieder in der Beschreibung des kargen Lebens im Nachkriegsengland mit Armut und Lebensmittelrationierung deutlich werden.
Am Ende ist nicht alles gut, aber der Ausblick in die 80er Jahre zeigt, dass es Hoffnung gibt. Mir hat der Roman gut gefallen - wegen des Porträts einer tiefen Frauenfreundschaft, aber auch wegen seiner märchenhaften Züge. Was passiert, ist nicht immer realistisch oder wahrscheinlich, aber es ist eine interessante, gut lesbare Geschichte mit sehr ungewöhnlichen Protagonisten.