Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Rezensentin aus BW

Bewertungen

Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 29.09.2020
Glücksritter
Kleeberg, Michael

Glücksritter


ausgezeichnet

„Glücksritter“ ist so vieles gleichzeitig:

Eine ambivalente Vater-Sohn-Beziehung, geprägt von Konflikten und zärtlicher Verbundenheit.
Die Lebensgeschichte eines Vaters.
Eine Familiengeschichte.
Eine Geschichtsreise durch das 20. Jahrhundert und ein Zeitdokument einschneidender historischer Geschehnisse.
Eine Reise zu sich selbst.

Um mit sich selbst ins Reine zu kommen, ist es unumgänglich, seine Geschichte zu kennen und deren Lücken, so gut es geht, zu füllen. Das hat Michael Kleeberg hier getan.

Schonungslos ehrlich und radikal offen erzählt er von der Rekonstruktion seiner Biographie und Familiengeschichte.

Aber nun kurz zum Inhalt:
Sein Vater ist verstorben und plötzlich wird ein unschönes Ereignis zum Ausgangspunkt für Reflexionen und Recherche des Sohnes.
Es ist ein Ereignis, das so selten nicht ist: Trickbetrüger überlisteten einen 80-Jährigen, der auf diese Weise seinen letzten Groschen loswurde.

Der Erzähler erfährt, dass sein Vater in ärmlichen und primitiven, fast asozialen Verhältnissen in den heruntergekommenen Vierteln Frankfurts aufgewachsen ist.
Er musste sich als Jugendlicher mutterseelenallein durchkämpfen, behaupten und emporarbeiten und wurde zu einem arglosen, selbstgefälligen, risikobereiten und hitzigen Einzelgänger mit Idealen, die deutlich von seinem Aufwachsen in der NS-Diktatur geprägt waren.
Ehrgeiz und Streben nach Geld und Ansehen sowie die Tendenz, Erreichtes zu zerstören und das Los, so manches wieder zu verlieren oder auch mal durchs Raster zu fallen charakterisieren seinen Vater und ein äußerst schwieriges und zwiespältiges Verhältnis charakterisiert seine Beziehung zu ihm, dem Sohn.
Dass sich der Sohn immer wieder dabei ertappt, Ähnlichkeiten mit dem Vater zu haben, wirft in ihm die Frage auf, wie sehr er von ihm durchdrungen und geprägt wurde... wie sehr er er selbst und unabhängig ist.

Es ist äußerst interessant, dieser Geschichte zu folgen und in sich hineinzuhorchen, wie sie wirkt und was sie mit einem macht.
Es ist so einfach, zu urteilen und zu bewerten, aber das Leben formt den Menschen und so Einiges wird durch interessiertes Zuhören oder lesen nachvollziehbar, wodurch man nicht selten milder gestimmt wird.
Michael Kleeberg hat sich neugierig, ausgiebig, detailliert, kritisch und fair mit seinem verstorbenen Vater auseinandergesetzt ... ich würde fast sagen, er konnte durch diese intensive Beschäftigung seinen inneren Frieden mit ihm und sich selbst machen.

Ich empfehle diesen Roman, der unterhaltsam, interessant, berührend, witzig und fesselnd ist und meinen Horizont erweitert hat sehr gerne weiter!

Bewertung vom 29.09.2020
Das Haus in der Claremont Street
Carolsfeld, Wiebke von

Das Haus in der Claremont Street


ausgezeichnet

Was der 9-jährige Tom ertragen muss ist unfassbar!
Sein gewalttätiger Vater erschlägt seine Mutter Mona und erschießt sich dann selbst.
Tom verfällt daraufhin in einen inneren Rückzug und in ein schockiertes, von Schuldgefühlen erfülltes Schweigen.
Sonya, die älteste Schwester seiner Mutter, und deren Ehemann Alex nehmen Tom gern bei sich auf.
Sie sind seit Jahren ungewollt kinderlos.
Allerdings haben sie sich das Zusammenleben anders vorgestellt, als es jetzt, mit einem 9-jährigen traumatisierten Bettnässer, ist.
Aufgrund der Überforderung wird Tom weitergereicht.
Sonyas jüngere Schwester Rose springt ein und von da an lebt Tom bei Rose, ihrem 14- jährigen Sohn und ihrem Bruder Will, Toms Onkel, in der Claremont Street in Toronto.
Da erwartet ihn ein bisher nicht bekanntes, chaotisches Leben, in dem er sich etwas wohler fühlt.
Aber es bleibt schwierig und unbeständig.
Es wird spannend, wie es mit Tom und den Geschwistern seiner Mutter, die konflikthaft miteinander verwoben sind und sich selbst auch Vorwürfe wegen dem Tod ihrer Schwester Mona machen, weitergeht.

Die Autorin hat eine bewegende, erschütternde, schockierende Familiengeschichte zu Papier gebracht.
Ich wurde sofort in das Geschehen hineingezogen und hatte sowohl Charaktere als auch Handlungsorte bildhaft und szenisch vor Augen.
Bei allem Tragischen ist es schön, zu lesen, dass eine zerstrittene Familie genau dadurch wieder zusammenwachsen kann. Außerdem sorgen einige wohl dosierte Portionen Humor für guten Ausgleich.
Es überwiegen am Ende das Gefühl und die Zuversicht, dass man selbst aus dem Schlimmsten das Beste machen kann.

Ich möchte den feinfühlig aber nie kitschig geschriebenen 368-seitigen Debutroman der Deutsch-Kanadierin Wiebke von Carolsfeld sehr gerne weiterempfehlen.
Es ist ein Roman, der aus der Masse hervorsticht und nachhallt.

Bewertung vom 25.09.2020
Veggie kann auch anders
Weber, Anne-Katrin

Veggie kann auch anders


ausgezeichnet

Über 75 inspirierende vegetarische Gerichte finden sich in dieser abwechslungsreichen Rezeptesammlung.

Originelle Salatkreationen, mal etwas andere Suppen, innovative, moderne und schnell zu kochende Köstlichkeiten, aber auch aufwändige, spezielle und besondere Gerichte versammeln sich in diesem Kochbuch.

Die verschiedenen Gewürze, interessanten Zutaten und oft besonderen Zubereitungsarten lassen aufregende und spannende Geschmackserlebnisse aufkommen.

Und das Gute daran: Viele Rezepte sind gar nicht so aufwändig und relativ simpel nachzukochen und in einem gut sortierten Supermarkt lassen sich die Zutaten meist problemlos besorgen.
Und wenn man Lust und Zeit hat, kann man sich ja mal an die zeitintensiveren Rezepte heranwagen und was man nicht nebenan oder gegenüber bekommt, bestellt man eben bei einem online Großhandel.

Die Fotos sind durchweg ansprechend und appetitanregend und machen Lust aufs Kochen… und Genießen.

Zwischendurch sind immer wieder Tipps, Anregungen und Informationen eingestreut, die hilfreich und wertvoll sind.
Man bekommt Anregungen, wie langweilige Gerichte aufgepeppt werden können und erfährt viel Wissenswertes.

Einige Top-Rezepte habe ich schon gefunden. Inzwischen bezeichne ich sie gut und gerne als Lieblingsrezepte.

Äußerst lecker ist der Spaghetti-Zucchini-Salat mit Cashew-Sprinkel.

Mal was ganz anderes und gleichzeitig köstlich sind der Rosenkohlsalat mit Nussdressing und die gerösteten Rote Beete mit Dukkah.

Die Rucola-Feta-Suppe schmeckt köstlich und der Wirsingeintopf mit Safrancreme ist ein herbstliches Highlight.

Das I-Tüpfelchen ist das Zitat von Oscar Wilde zu Beginn:
„Ich habe einen ganz einfachen Geschmack:
Ich bin immer mit dem Besten zufrieden.“

In diesem Sinne:
Viel Spaß und Guten Appetit mit „Veggie kann auch anders.“

Bewertung vom 25.09.2020
Komm in meine Küche!
Khorschied, Aveen;Birinci, Mehmet Ismail

Komm in meine Küche!


ausgezeichnet

Was für eine tolle und originelle Idee!
Eine Sammlung von Lieblingsrezepten aus vielen unterschiedlichen Nationen, die in einem Ort zu finden sind:
Puchheim - und dazu noch kurze und aussagekräftige Portraits derjenigen Menschen, die uns Lesern diese, ihre Lieblingsspeisen verraten haben.

„Komm in meine Küche“ ist eine kulinarische und literarische Perle aus leckeren Speisen und interessanten persönlichen Geschichten.

Spannend sind schon die ersten Seiten, auf denen erklärt wird, wie dieses Kochbuch, ein Mosaik aus verschiedenen kulturellen und kulinarischen Spezialitäten, entstand.
Wunderbare Idee. Tolles Projekt. Das ist Völkerverständigung, so wird eine Basis für Gemeinsamkeit und Zusammenleben gelegt. Verständnis füreinander und Neugierde aufeinander durch kulinarische Genüsse.
Klasse!

Die Schnappschüsse der Menschen, die ihre Rezepte zur Verfügung gestellt haben, stellen eine gewisse Nähe her und machen neugierig und die appetitanregenden Fotos der Speisen machen Lust aufs Kochen…und Genießen.

Ich habe schon einige Rezepte ausprobiert, die ich jetzt gut und gerne Lieblingsrezepte nennen möchte.

Die Falafel mit Sesamsoße von Mohammad Maruan Saef aus Damaskus sind köstlich und von den Empanadas Argentinas von Monica Nickisch aus Argentinien waren meine Gäste begeistert.

Mein persönlicher Favorit sind die gefüllten Weinblätter, Sarma, von Arzu Kaya aus der Türkei.

Ich könnte diese Liste noch ziemlich lang fortführen, was ich aber nicht tue.
Stattdessen empfehle ich dieses außergewöhnliche und besondere Kochbuch aus ganzem Herzen.

Ich habe schon einige Rezepte ausprobiert und freue mich sehr darauf, auch noch die anderen reizvollen Gerichte nachzukochen und zu genießen.

Bewertung vom 25.09.2020
Sila's Orientküche
Sahin, Sila

Sila's Orientküche


ausgezeichnet

Traditionell und innovativ!

Ich bin begeistert von dem Kochbuch, das über 60 Rezepte vereint.

Schon die ersten Seiten gefallen mir. Die deutsch-türkische Schauspielerin Sila Sahin beschreibt, was sich in einem gut sortierten Vorratsschrank befinden sollte und geht dabei auch auf die entscheidenden Gewürze näher ein.

Wie sie im folgenden das Buch gliedert ist interessant und originell.
Da gibt es Rezepte ihrer Mutter, Rezepte für arbeitende Mütter und Rezepte die man für seine Liebsten oder auch für seinen Liebsten zubereitet. Dann gibt es besonders gesunde Rezepte und schließlich „süße Sünden“.

Die Fotos der schlicht, originell und kunstvoll angerichteten Speisen sind ansprechend und machen Appetit.
Schon beim Durchblättern bekommt man Lust aufs Kochen ... und Genießen.

Die Autorin geizt nicht mit interessanten und hilfreichen Tipps, Informationen und Anregungen sowie netten und privaten Anekdoten.

Einige Top-Rezepte habe ich schon gefunden und wiederum einige davon möchte ich hier kurz erwähnen:
Da ist natürlich zuallererst Gözleme, ein Rezept ihrer Mutter. Wie sehr liebe ich es, auf dem Berliner Markt am Maybachufer diese türkische Spezialität zu verzehren. Und jetzt kann ich es endlich alleine zubereiten und es schmeckt nicht nur mir, sondern meiner ganzen Familie vorzüglich.

Und dann Sarma. Eine Köstlichkeit, die zwar eine gewisse Fertigkeit erfordert und Zeit in Anspruch nimmt, aber mit ein bisschen Übung habe ich es dann doch hingekriegt. Und es schmeckt lecker!

Weitere Spezialitäten wie Börek musste ich natürlich unbedingt ausprobieren. Und ich war begeistert von dem Ergebnis.

Aber auch das Hähnchenfleisch mit Kichererbsen, der Gemüse-Linsen-Topf und die überbackenen Garnelen sind vorzüglich.

Ich freue mich schon aufs Zubereiten der anderen Gerichte (es sind kaum welche dabei, die mich nicht reizen) und kann die Rezeptsammlung mit dem sympathischen und persönlichen Vorwort der Autorin überzeugt weiterempfehlen.

Bewertung vom 25.09.2020
Was uns verbindet
Gowda, Shilpi Somaya

Was uns verbindet


ausgezeichnet

In dem Cover kann man sich verlieren. Gleichzeitig zeigt und verbirgt es etwas. Man sieht Figuren und dass ein Junge seiner große Schwester oder Mama etwas zeigen will.
Er zieht an ihren Arm, scheint aufgeregt und neugierig zu sein.
Der Vordergrund wirkt lebendig.
Er birgt Spannung und Ungeduld.

Im Hintergrund sind Personen, die das ruhige Meer betrachten.
Das Meer, das zwar ruhig aussehen, aber sehr gefährlich sein kann und unbezähmbar ist.

Die Menschen sind nur Schattenfiguren. Man kann ihr Verhalten erkennen - stilles Beobachten, ein sich Sträuben und ein ungeduldiges hinter sich her Ziehen - , aber ihre Mimik und damit das, was sie denken und fühlen, ist verborgen.

Es ist ein geheimnisvolles und aussagekräftiges Titelbild, das neugierig macht.
Sind diese Menschen im Vordergrund und Hintergrund miteinander verbunden?
Wenn ja, dann auf welche Weise? Welche Geschichte steckt hinter diesen Menschen?

Wir lernen den vordergründig gewöhnlichen und unspektakulären Alltag einer Familie mit multikulturellem Hintergrund kennen.
Es ist die Familie Oleander.
Es sind die Eltern Jaya und Keith sowie deren beiden Kinder Karina und Prem.

Hinter den Kulissen zeigt sich ein furchtbares Ereignis:
der Tod des jüngsten Familienmitglieds Prem.

Dieser Verlust ist für den Rest der Familie eine einschneidende und dramatische Zäsur, die alles durcheinander wirbelt.
Ein Schicksalsschlag, der zerstörerische Macht hat.

Gowda erzählt davon, wie sich die restlichen Familienmitglieder zunächst voneinander entfernen, schließlich schrittweise vom Leid lösen und auf eine hoffnungsvolle Zukunft hin bewegen, in der sie sich aufgrund eines neuen Unglücks wieder begegnen.

Es sind individuelle Wege und es ist gleichzeitig ein gemeinsamer Weg. Wege, die anstrengend sind und viel Kraft erfordern.
Es geht dabei natürlich um den individuell unterschiedlichen Umgang mit Verlust, Trauer und Schuldgefühlen, aber auch um die bedingungslose Akzeptanz von Tatsachen und Entwicklungen sowie um Toleranz.

Der Fokus wird abwechselnd auf die verschiedenen Protagonisten gerichtet, wodurch wir die Figuren gut kennenlernen. Es entsteht ein authentisches, lebendiges und vielschichtiges Bild von ihnen.

Die Perspektivenwechsel und die Zeitsprünge sorgen für ein kurzweiliges und abwechslungsreiches Leseerlebnis. Die flüssige und feinfühlige Schreibweise und die einfache Sprache machen „Was uns verbindet“ zu einem unterhaltsamen Roman, durch dessen Seiten man gespannt fliegt, nachdem man ins Buch hineingefunden hat.

Ich empfehle ihn gern weiter.

Bewertung vom 23.09.2020
Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
Ferrante, Elena

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen


ausgezeichnet

Nachdem ich bereits die neapolitanische Saga mit Genuss verschlungen habe, war klar, dass ich „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ lesen „muss“.
Und ich wurde nicht enttäuscht! Schon die Vorfreude auf die erneute Reise nach Neapel, jetzt ins Neapel der 1990-er Jahre, war es wert, zu dem Buch zu greifen.

Erstaunlich, aber durchaus nachvollziehbar, was eine Bemerkung und eine Tante alles auslösen und bewirken können!

Giovanna wächst wohlbehütet in einer gesitteten und kultivierten Familie der Mittelschicht auf.
Mit 13 Jahren hört sie ihren Vater sagen, dass sie hässlich sei und ihrer Tante Vittoria immer ähnlicher werde.
Ihr Selbstbild gerät ins Wanken.

Schockiert und neugierig beschließt sie, die bis dato von der Familie verleugnete Tante kennenzulernen.
Das Mädchen ist gleichermaßen fasziniert und verstört von ihrer schillernden, leidenschaftlichen und schamlosen Tante und von dem ihr bis dahin völlig unbekannten und schlüpfrigen, vulgären, dreckigen und ungebildeten Neapel.

Ihre Kindheit endet, die heile Welt bricht zusammen und die Augen werden ihr geöffnet, denn nach und nach stößt sie auf Geheimnisse, Ungereimtheiten, Halbwahrheiten und Lügen.

Giovanna fängt an zu zweifeln, zu hinterfragen, zu spionieren und ... zu lügen, zu demütigen und zu manipulieren.
Sie wird erwachsen.

Dass ihr geliebter Vater, den sie bis dahin als zuverlässig und ehrlich erlebt hat, seine Herkunft aus niedrigem sozialem Milieu verleugnet (hat), hinterlässt sie sprachlos und dass ihre Mutter eine Affäre mit einem Freund der Familie hat, schockiert sie.
Zu entdecken, dass die Erwachsenen sowohl die Wahrheit, als auch ihre Mitmenschen manipulieren und belügen, verstört sie zutiefst.
Ihre bisher so heile und geordnete Welt droht einzustürzen.
Das tadellose Fundament bekommt Risse.
Die makellose Fassade beginnt zu bröckeln und ihr Urvertrauen in die Eltern wird erschüttert.

Es ist spannend und unterhaltsam, Giovanna auf ihrem Weg durch die Pubertät zu begleiten, ihr Innenleben kennenzulernen und ihre Reise ins Erwachsenenleben zu verfolgen.

Die Autorin beobachtet genau und seziert bis ins kleinste Detail. Was sie dabei entdeckt, beschreibt sie prägnant und unfassbar bildhaft.

Die Charaktere werden in all ihrer Vielschichtigkeit, Komplexität und Zerrissenheit gezeigt. Sie haben Ecken und Kanten und wirken dadurch authentisch und lebendig.
Die Atmosphäre der jeweiligen Szenen wird von Elena Ferrante derart spürbar vermittelt, dass ich nur den Hut ziehen kann.
Es ist faszinierend, wie Ferrante es schafft, tiefe und stimmige Einblicke in die Seele einer Pubertierenden zu gewähren.
Ist es Erinnerung?
Ist es Empathie?
Egal... es ist einfach grandios!

Elena Ferrante schreibt gewohnt feinfühlig, berührend, eindrucksvoll und realistisch, aber - ebenfalls gewohnt-, niemals kitschig, rührselig, platt oder klischeehaft.

Das Werk ist kurzweilig, hallt nach und stößt Gedanken an.
Ist unsere erwachsene Welt tatsächlich so schräg, unehrlich und verlogen?
Sehen uns unsere Kinder tatsächlich so, wie Giovanna das erlebt?
Das wäre entsetzlich und man müsste sich schämen.

Ich möchte den beeindruckenden Roman, gleichermaßen Familiengeschichte wie Milieustudie, der ums Erwachsenwerden, um Einsamkeit, um Neuorientierung und noch vieles mehr geht, ohne wenn und aber empfehlen.
Er hat mir äußerst vergnügliche Lesestunden beschert.

Bewertung vom 23.09.2020
Hamster im hinteren Stromgebiet / Alle Toten fliegen hoch Bd.5
Meyerhoff, Joachim

Hamster im hinteren Stromgebiet / Alle Toten fliegen hoch Bd.5


ausgezeichnet

Eine Vollbremsung im Leben.

Ich habe bereits die vier Vorgänger seiner autobiographischen Romanfolge gelesen und deshalb war es keine Frage: „Hamster im hinteren Stromgebiet“ musste gelesen werden.
Und ich wurde nicht enttäuscht!

In diesem Roman erzählt der Schauspieler von der einschneidenden existenziellen Erfahrung, die er mit erst 51 Jahren aufgrund eines Schlaganfalls, den er augenzwinkernd, verharmlosend und verniedlichend „Schlagerl“ nennt, macht.
Er verarbeite diesen furchtbaren Schicksalsschlag, der ihn ohne Vorwarnung aus dem Leben reißt, indem er darüber schreibt

Zunächst warten wir zusammen mit Joachim Meyerhoff und seiner Familie auf den Krankenwagen. Die Wartezeit überbrücken wir, indem wir detailliert über seine Empfindungen und von manchen Erinnerungen und Geschichten lesen.
Dann endlich kommt der Krankenwagen.
Dann endlich kommen wir mit Joachim Meyerhoff in der Stroke-Unit in Wien an.

Mit gewohnt treffenden und humorvollen Formulierungen und gewohnt erfrischend, leicht und lebendig erzählt Meyerhoff nun von der schweren und bedrohlichen Zeit auf der Intensivstation und von seinem Kampf gegen die Ängste.

Die chronologisch geschilderten konkreten und äußeren Geschehnisse rund um Erkrankung und Klinik und Ernsthaftigkeit und Schwere werden dabei von seinem assoziativen Gedankenstrom unterbrochen, den er willentlich einleitet, um seine Ängste in Schach zu halten.

So erfahren wir z. B. von einer Reise mit seinem Bruder nach Norwegen, von einem Tripp durch den Senegal oder von einem Zoobesuch mit seinem jüngsten Sohn.

Es ist schlicht unfassbar und brillant, wie er ein solch einschneidendes und lebensbedrohliches Erlebnis auf eine derart leichte und humorvolle Weise, die den Ernst der Lage nie verkennt, zu erzählen vermag.
Das ist große Kunst.
Gleichzeitig ist es natürlich kein Geheimnis, dass Humor eine bedeutsame und hilfreiche Strategie zur Verarbeitung schwieriger Geschehnisse ist.
Diese Strategie beherrscht Joachim Meyerhoff par excellence.

Er ist ein begnadeter Erzähler, der mit seinem einzigartigen Schreibstil, mit seinem unnachahmlichen Erzählton, mit großartigen Metaphern und mit schonungsloser Ehrlichkeit aus einer persönlichen drastischen Situation das Beste macht und sich nicht unterkriegen lässt.

Ich empfehle diesen bewegenden, dramatischen, amüsanten und unterhaltsamen Roman aus ganzem Herzen!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.09.2020
Die zitternde Welt
Paar, Tanja

Die zitternde Welt


ausgezeichnet

Wie originell ist dieses Cover!?!
Ein auf dem Kopf stehender Baum, der Früchte trägt ... vor einem feuerroten Himmel.

Meine Assoziationen dazu waren:
Etwas Altes vergeht.
Fruchtbarkeit.
Etwas Neues entsteht.
Bedrohung und Gefahr.
Bereits das Cover machte mich extrem neugierig.

Die hochschwangere, wagemutige, wissbegierige und lebensfrohe Maria begibt sich 1896 auf den Weg von Österreich nach Anatolien, um dort ihren Freund Wilhelm, einen Eisenbahningenieur, zu finden, der sich dorthin begeben hat, um beim Aufbau der Bagdadbahn, die Konya mit Bagdad verbinden soll, zu helfen.

Sie schaffen sich gemeinsam ein zu Hause, bekommen drei Kinder, deren Muttersprache türkisch und nicht deutsch sein wird, und heiraten, nachdem sie recht lange in wilder Ehe gelebt haben.
Die Welt ist in Ordnung.
Das Leben fühlt sich leicht und lebenswert an.
Dass ihr viertes Kind, Traudl, nicht überlebt, müssen und können sie letztlich verkraften.

Die lebenshungrige, akkurate und zuverlässige Maria, die in ihrer Wahlheimat tief verwurzelt ist, gibt dem Alltag Struktur und ihrer Familie Halt.
Sie ist eine eigensinnige und fortschrittlich denkende Frau, die sich weder Konventionen noch dem Willen ihres Mannes unterwirft. Konflikte und Diskussionen sind vorprogrammiert, aber das Paar, die Familie meistert alle Schwierigkeiten gut.

Dann kommt der erste Weltkrieg!
Plötzlich werden Herkunft, Geburtsort und politische Grenzen bedeutsam.
Hans und Erich sollen schließlich, da im wehrpflichtigen Alter und im osmanischen Reich geboren, auch für selbiges kämpfen.
Die Welt gerät aus den Fugen.
Das Leben der Familie wird unruhig. Alles gerät ins Wanken.
Der Boden beginnt zu zittern.
Alles verdreht sich.
Alles steht Kopf.
Nachvollziehbarer Weise wollen die Eltern verhindern, dass ihre Kinder in den Kampf ziehen müssen.
Es gelingt Ihnen.
Der Preis: die Familie wird zerrissen. Die Wege der Familienangehörigen trennen sich und sie entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen.

Am Ende, nach einigen Schicksalsschlägen, stehen wir nicht mehr einer wagemutigen, wissbegierigen und lebensfrohen jungen Maria, sondern einer verbitterten, verhärmten und boshaften alten Frau gegenüber, deren Familie in alle Winde verstreut bzw. tot ist und die einsehen muss, dass trotz Beharrlichkeit nicht alle Pläne und Wünsche umgesetzt werden können.
Wo sind Kampfgeist, Lebenshunger und Lebensfreude geblieben?

Wie es dazu kam und was alles dazwischen passiert ist, erzählt Tanja Paar auf packende, anschauliche nachvollziehbare Art und Weise.
Durch den fesselnden Plot, die lebendigen Dialoge, amüsanten Diskussionen und interessanten geschichtlichen Hintergründe, gelingt es der Autorin scheinbar mühelos, aus diesem Roman einen Pageturner zu machen.

Sie beschreibt die Charaktere in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit. Sie haben Ecken und Kanten, wodurch sie authentisch erscheinen.

Durch Paars bildhafte Sprache kann man sich die Szenerie lebhaft vorstellen. Man hat den Eindruck, Maria auf ihrer Reise zu begleiten und am Alltag der Familie in der Türkei teilzuhaben.

Wenige eingestreute Briefe sorgen wie ein I-Tüpfelchen für noch mehr Abwechslung, weil sie den bisherigen Lauf der Dinge unterbrechen.

Und ein weiteres I-Tüpfelchen ist die Karte am Ende des Buches, auf der man den Weg Marias von Österreich nach Anatolien nachvollziehen kann.

Die Geschichte und das Schicksal dieser Familie wird unaufgeregt, eindrucksvoll und lebensnah erzählt. Trotz des ruhigen Tons der Lektüre liegt eine gewisse Spannung in ihr.

Es macht Spaß, in die orientalische Welt einzutauchen und das Leben der Protagonisten zu begleiten.
Darüber hinaus war es für mich sehr interessant, etwas über die Bagdadbahn zu erfahren, von der ich bis dato nichts wusste.

Ich empfehle diesen außerordentlich schön gestalteten, inhaltlich packenden, eindringlich erzählten und kurzweiligen Roman, der von eine Familie handelt, die Umwälzungen ertragen und Kriege aush

Bewertung vom 18.09.2020
Sterben im Sommer
Bánk, Zsuzsa

Sterben im Sommer


ausgezeichnet

Es geht um Krankheit, Sterben und Tod, es geht ums Loslassen.
Es geht um die Akzeptanz des Verlusts und um das Gefühl der Ohnmacht.
„Sterben im Sommer“ ist aber auch eine Familiengeschichte.

Eindringlich und einfühlsam, wehmütig, zärtlich und dankbar erzählt Zsuzsa Bánk vom Leben und Sterben ihres betagten Vaters und auch von der Zeit danach, dem Trauerjahr.
„Sterben im Sommer“ ist ein sehr emotionaler Roman, der jedoch zu keinem Zeitpunkt kitschig oder rührselig wird.

Im Januar 2018 erfährt die Familie von der Rückkehr des Krebses, was sie nicht davon abhält, sondern geradezu bestärkt, den Sommer wieder in Ungarn am Plattensee zu verbringen.

1956 sind ihre Eltern aus politischen Gründen aus dem Land geflüchtet, das bis zuletzt Sehnsuchtsort geblieben ist.
In der alten Heimat angekommen, sitzt der Vater im Sommer 2018 lesend unter den Akazien oder er schwimmt im Balaton.
Seine Schmerzen versucht er vor den Seinen zu verbergen.
Aber der Aufenthalt wird schließlich von seiner fortschreitenden Erkrankung überschattet, er bekommt Fieber, er muss operiert werden, der Rettungshubschrauber wird gerufen und zuletzt geht es im Drei-Länder-Eck zwischen Slowakei, Österreich und Ungarn von Arzt zu Arzt, von Krankenhaus zu Krankenhaus.
Schließlich: Frankfurt am Main.
Dann: Der Sieg des Krebses.

Das Buch ist gleichermaßen berührend, herzerwärmend und poetisch, wie traurig, persönlich und authentisch.

Die Autorin verarbeitet ihre Trauer literarisch und verdaut damit gleichzeitig auch ihre Wut auf all das Bürokratische, das erledigt werden muss, obwohl Trauer, Angst und Hilflosigkeit die Angehörigen in so einem Ausnahmezustand lähmen.

Obwohl es ein trauriges Buch ist, ist es auch ein Buch, das Mut macht und von Zuversicht und Hoffnung handelt.
Es ist schwere, aber gut verdauliche Kost!
Die Autorin schreibt darüber, dass der Tod eines geliebten Menschen zwar Lücken hinterlässt, dass man aber auch Kraft schöpfen kann aus Erinnerungen, Erlebnissen und Ritualen.

Ein absolut lesenswertes Buch!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.