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Havers
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Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 15.05.2022
Ocean State
O'nan, Stewart

Ocean State


ausgezeichnet

Rhode Island, der titelgebende „Ocean State“ in New England, kleinster Bundesstaat der USA. An der Küste die Luxusvillen der Superreichen, in den Kleinstädten Häuser, an denen die Farbe abblättert, die Blumen verwelkt sind, das Gras hüfthoch in den Vorgärten steht und die ausrangierten Hummerfallen vor sich hin rosten.

Es sind diese Gegensätze, die gesellschaftlichen Verwerfungen, für die Stewart O’Nan ein Auge hat und sie in fast allen seiner Romane zum zugrunde liegenden Thema macht. So auch in seinem neuen Roman, der uns schon mit dem ersten Satz mitten hinein in die Story katapultiert: „Als ich im achten Schuljahr war, half meine Schwester dabei, ein anderes Mädchen zu töten.“

2009, Ashaway, ein heruntergekommenes Haus nahe der stillgelegten Mühle. Neuer Wohnort der Olivieras. Carol, die alleinerziehende Mutter, arbeitet als Hilfspflegerin in einem Altenheim und lebt mit ihren Teenagertöchtern Angel und Marie in einem heruntergekommenen Haus draußen bei der alten Fabrik. Was ihre Männerbekanntschaften angeht, ist sie nicht sonderlich wählerisch, jeder einzelne stellt sich als Fehlgriff heraus. Auch wenn sie ihnen kein gutes Vorbild ist, liebt sie doch ihre Mädchen und sorgt für sie, würde ihnen gerne mehr bieten. Marie, die dreizehnjährige Erzählerin, fühlt sich als die Außenseiterin der Familie. Zu pummelig, zu unbeholfen, zu unbeliebt. Ganz anders Angel, ihre große Schwester, die sie vergöttert und die all das ist, was sie gern wäre. Groß, hübsch, beliebt und selbstbewusst. Angel wiederum macht sich keine Illusionen über ihre Zukunft. Zu schlecht sind ihre Startbedingungen, da bleibt nach dem Schulabschluss nur ein schlechtbezahlter Job, Mann und Kind. Kein Platz für Träume, ausgeschlossen ein gemeinsames Leben mit ihrem High School Sweetheart, dem Jungen aus reichem Hause, der das College besuchen, eine passende Frau finden und Angel vergessen wird. Myles, der sie bereits jetzt schon mit Birdy betrügt, die einen ähnlichen familiären Hintergrund wie Angel hat und alles daran setzt, Myles für sich zu gewinnen, womit die Tragödie ihren Lauf nimmt und nicht mehr aufzuhalten ist.

Mit feinem Gespür für die Lebenssituation der vier Frauen erzählt O’Nan eine Geschichte von großen Erwartungen, enttäuschter Hoffnung, falschen Entscheidungen und der Gewissheit, dass auch in Amerika nicht jede Frau ihres Glückes Schmied ist. Einzig Myles bleibt blass, ist nur ein verwöhnter Schnösel.

Es sind die beiden alternierenden Erzählstränge, die das Geschehene so eindringlich wirken lassen. Das Wissen um ein Leben ohne Perspektive, aus dem es kein Entkommen gibt, man nichts zu verlieren hat und deshalb alles riskieren kann. Eine Handlung, die wie der Blick auf einen Zug wirkt, der in hohem Tempo ungebremst auf ein Hindernis zurast, weil eine Weiche falsch gestellt wurde.

Bewertung vom 12.05.2022
Der Mann aus dem Schatten / Rekke & Vargas Bd.1
Lagercrantz, David

Der Mann aus dem Schatten / Rekke & Vargas Bd.1


weniger gut

Lagercrantz hat auf Bitten der Erben Stieg Larssons Millenium Trilogie fortgeschrieben, und das hat er auch ganz ordentlich gemacht. Kein Wunder, waren sowohl die Charaktere als auch die grundlegende Handlungsrichtung von Larsson bereits weitgehend angelegt. Ein Grundgerüst, an dem er sich entlang hangeln konnte.

Allerdings trugen diese Vorschusslorbeeren nur dazu bei, dass meine Erwartungen enttäuscht wurden. Warum?

In "Der Mann aus dem Schatten" hingegen musste er sich allein auf seine eigenen Fähigkeiten verlassen, und bei denen hakt es leider an allen Ecken und Enden. Das Personal wirkt hölzern, auch wenn er versucht, es mit einigen Alleinstellungsmerkmalen aufzupeppen, die Story ist unausgegoren, nimmt kaum Fahrt auf und animiert durch unnötiges Füllmaterial in keinster Weise zum zügigen Weiterlesen. Im Gegenteil. Bei mir hat sie viele Male für Augenrollen und die Frage nach dem Was-soll-denn-das gesorgt.

Kein Autor, dessen Werk ich weiterverfolgen werde.

Bewertung vom 10.05.2022
Der gute Samariter / Olivia Rönning & Tom Stilton Bd.7
Börjlind, Cilla;Börjlind, Rolf

Der gute Samariter / Olivia Rönning & Tom Stilton Bd.7


gut

„Der gute Samariter“ ist Band 7 der Reihe, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die beiden Autoren diesmal über das Ziel hinausgeschossen sind. Zwar könnte dann die Konzentration auf das Schicksal der Hauptfigur/en dann eine Weile helfen, aber das ist mir in diesem Genre zu dürftig, denn das reicht in der Regel nicht, um mein Interesse aufrecht zu halten. Vor allem dann, wenn keine neuen Impulse gegeben werden.

Drei unterschiedliche Ebenen bestimmen die Story, die jeweils den bekannten Protagonisten zuzuschlagen sind. Ausgangspunkt ist die Entführung von Olivia Rönning (Nr. 1) und die Suche nach ihr. Und hier greift Tom Stilton (Nr. 2) in die Handlung ein, der die selbstgewählte Isolation in Zeiten der Pandemie aufgibt und sich dem Suchteam anschließt. Es gibt zwar einen Hinweis auf den Ort, aber die Suche wird erschwert durch den Brand des Hauses, in dem Olivia gefangen gehalten wurde, denn in den Trümmern findet man eine verkohlte Leiche. Olivia taucht wieder auf, aber wer hat das Feuer gelegt und warum? Mette (Nr. 3), die Ex-Chefin, ist gelangweilt und freut sich, als man ihr eine neue Aufgabe anbietet. Sie soll als Sicherheitskoordinatorin für die Impfstofflieferungen tätig werden. Allerdings hat sie nicht damit gerechnet, dass es jemanden gibt, der ein Interesse an der Sabotierung der Transporte hat.

Man sieht es schon, die Pandemie ist ein wiederkehrendes Thema dieses Krimis und überlagert leider streckenweise die durchaus klug und spannend angelegten und souverän verschränkten Handlungsebenen über Gebühr. Wer die Vorgänger gelesen hat, weiß, dass in dieser Reihe immer wieder zeitgenössische Probleme angesprochen werden. Das habe ich in der Vergangenheit durchaus honoriert. Aber nach den beiden zurückliegenden Corona-Jahren hält sich meine Bereitschaft, davon auch noch in Krimis zu lesen, sehr im Rahmen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.05.2022
Real Easy
Rutkoski, Marie

Real Easy


weniger gut

Wenn man dem Klappentext Glauben schenkt, hat die Autorin in einem früheren Leben selbst an der Stange getanzt. Das merkt man diesem Thriller deutlich an, denn sie legt wesentlich mehr Wert auf die Schilderungen des Berufsalltags der Tänzerinnen als auf den Plot, der die Bezeichnung Thriller verdient hätte. Die multiperspektivische Erzählweise tut das übrige dazu, denn dadurch zerfasert die Handlung. Die Schilderungen des Arbeitsalltags der Frauen wiederholen sich, man muss nicht zum zigsten Mal wissen, wie wichtig die richtigen Schuhe und das passende Make Up sind, damit am Ende des Abends genug Netto vom Brutto übrig bleibt. Dazu hier eine Rivalität, da Gedanken über unangenehme Kunden, ja, so wird es in diesem Milieu wohl zugehen. Die Einzelschicksale sind nur mäßig interessant und gewähren Eindrücke in Lebenssituationen, die auch nicht weiter überraschen. Tja, und die Frage nach dem Täter? Die konnte ich bereits nach knapp 50 Seiten beantworten.

Bewertung vom 05.05.2022
Die Silberkammer in der Chancery Lane / Peter Grant Bd.9
Aaronovitch, Ben

Die Silberkammer in der Chancery Lane / Peter Grant Bd.9


ausgezeichnet

Will man sich detailliert über die Geschichte Londons informieren, gibt es drei Möglichkeiten, die ich allesamt nachdrücklich empfehlen kann. Erstens: Vor Ort bietet sich das informative und sehr gut kuratierte Museum of London an. Zweitens: Peter Ackroyds brillantes Buch „London – Die Biographie. Und dann gibt es noch die dritte Möglichkeit für all diejenigen, die Historisches am liebsten verpackt in einer spannenden Story lesen. Denen empfehle ich die Rivers-of-London Romane von Ben Aaronovitch, in der man gemeinsam mit Peter Grant, Bobby bei der Metropolitan Police, tief in die Geschichte der englischen Metropole eintauchen kann. In „Die Silberkammer in der Chancery Lane“, dem aktuellen Band dieser Urban-Fantasy-Reihe, wird der Radius sogar erweitert, denn Peter muss im Zuge der Ermittlungen nicht nur in den englischen Norden reisen, sondern kommt auch in Kontakt mit Ereignissen, die bis ins Mittelalter und zu Oliver Cromwell zurückreichen.

Die unterirdischen „London Silver Vaults“ beherbergen die größte Silbersammlung der Welt. 1885 ursprünglich als Tresorräume für Privatleute konzipiert, wurden die sicheren Räumlichkeiten im Lauf der Jahre zunehmend von Silberhändlern genutzt und sind mittlerweile quasi eine Shopping Mall für Silberwaren. Als von dort ein versuchter Raubüberfall mit Todesfolge gemeldet wird, der eindeutig übernatürliche Züge zeigt, wird das Team von Thomas Nightingale, Inspektor und letzter Zauberer Englands, sein Protégé Peter Grant, der mittlerweile auch als Ausbilder tätig ist, die Praktikantin Danni Wickford und DS Sahra Guleed zum Tatort gerufen. Nicht nur, dass der Tote ein riesiges Loch in der Brust hat, bei der Autopsie findet Dr. Walid in dessen Körper einen Metallzylinder mit einer Vestigia-Signatur. Mit dieser Art Magie können weder Nightingale noch Grant etwas anfangen. Erst die Befragung der Ex-Frau des Ermordeten weist die Richtung, aber noch ist nicht allen Beteiligten klar, worum es letztlich geht. Vor allem rechnet niemand damit, dass dieser Ring noch weitere Todesopfer fordern wird.

Aaronovitch verbindet in dieser Reihe die Merkmale des klassischen Polizeiromans mit jeder Menge Fantasyelementen, verortet dies an realen Locations, webt interessante Hintergrundinformationen ein und garniert das alles mit einer unterhaltsamen Prise englischen Humors, die an Monty Python erinnert. So muss Urban Fantasy sein: Spannung, Fantasy, Historie und Witz, eine absolut gelungene Mischung, die immer wieder eine höchst vergnügliche Lektüre garantiert. To be continued…ich freue mich darauf.

P.S. Das Gendern in der Übersetzung hätte man sich schenken können.

Bewertung vom 04.05.2022
Der Morgenstern / Der Morgenstern-Zyklus Bd.1
Knausgard, Karl Ove

Der Morgenstern / Der Morgenstern-Zyklus Bd.1


sehr gut

Ausufernde persönliche Nabelschauen sind so überhaupt nicht mein Fall, weshalb ich um das autobiografische Werk des Norwegers Karl Ove Knausgård bisher einen großen Bogen gemacht habe. Aber nun hat er mit „Der Morgenstern“, wiederum Auftakt eines mehrbändigen Zyklus‘, einen fiktionalen Roman abgeliefert, der allein schon durch die Ausgangssituation absolut passend für unsere Gegenwart scheint, die von Ungewissheit und Zweifeln geprägt ist.

Mit dieser Ungewissheit müssen sich auch seine Protagonisten an diesen Tagen im August auseinandersetzen, als am Himmel eine noch nie gesehene Erscheinung auftaucht, für die es keine Erklärung gibt. Nur ein Stern oder die Ankündigung einer Katastrophe? Es herrscht Uneinigkeit bei den neun Menschen, aus deren Sicht wir dieses Ereignis betrachten. Die eine Fraktion erklärt es naturwissenschaftlich rational, die andere tendiert zu einer spirituellen Erklärung, sieht darin ein Omen, das auf das Ende der Welt hinweist und begreift es als Aufforderung, das eigene Dasein zu hinterfragen. Dass Seltsames geschieht, sieht man zuerst am unnatürlichen Verhalten der Tiere. Krebse verlassen ihr natürliches Habitat und spazieren durch den Wald, Elche nähern sich den Menschen, Marienkäfer verdunkeln den Himmel, der Gesang der schwarzen Vögel klingt anders als sonst. Über allem hängt eine graue Endzeitstimmung.

Zwei Tage, neun Perspektiven, minutiös geschildert. Vier Frauen, fünf Männer, die allesamt in schwierigen Lebensumständen feststecken und ihre Situation reflektieren, Fragen nach dem Sinn des Lebens stellen, über die Allgegenwart des Todes sinnieren. Aber er beschreibt nicht nur deren Gedankengänge minutiös, sondern auch deren Alltagsleben mir etwas zu Detail verliebt im Angesicht der (eventuell) drohenden Katastrophe. Über die Bedeutung des Morgensterns lässt er sowohl die Protagonisten als auch die Leser im Unklaren. Es gibt keine Gewissheiten mehr, alles ist in der Schwebe, aber dennoch ist Weitermachen angesagt. Auch in Zeiten, in denen Klimaveränderung, Pandemie oder Krieg gravierende Auswirkungen auf den Alltag haben.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.05.2022
Der Verdächtige / Lacy Stoltz Bd.2
Grisham, John

Der Verdächtige / Lacy Stoltz Bd.2


sehr gut

„Der Verdächtige“ ist kein typischer Thriller aus dem Justizmilieu, wie wir es von John Grisham gewohnt sind, aber dennoch fehlt es ihm nicht an Spannung. Es gibt zwar keine Gerichtsverhandlung, und der Täter sowie das Motiv sind von Anfang an bekannt, aber dieser Kampf David gegen Goliath, in dem die Möglichkeiten so ungleich verteilt sind, entwickelt in der zweiten Hälfte eine ganz eigene Dynamik. Auf der einen Seite Lacy, die Mittdreißigerin, desillusionierte Vertreterin einer Behörde, deren Etat beständig gekürzt wird. Auf der anderen Seite der arrivierte Richter, clever und praktisch unangreifbar, mit schier unerschöpflichen Ressourcen, der mit ihr Katz und Maus spielt. Allerdings betritt Bannick erst in der zweiten Hälfte die Bühne, und bis dahin zieht sich die Handlung für meine Begriffe etwas zu sehr in die Länge. Dann aber treiben die Perspektivenwechsel das Tempo voran und es geht Schlag auf Schlag dem Finale zu.

Der Autor zeigt in seinen Romanen immer wieder die Schwachstellen des amerikanischen Rechtssystems auf, und häufig sind diese in den verkrusteten und verfilzten Strukturen begründet. Zusätzlich gibt es aber auch noch den menschlichen Faktor in Form der Repräsentanten, die sich des Fehlverhaltens schuldig machen. Um diese Fälle kümmern sich in den einzelnen Staaten Rechtsaufsichtsbehörden, die Boards of Judicial Conduct, die Beschwerden gegen Richter*innen unter die Lupe nehmen. Meist geht es dabei um standeswidriges Verhalten, um Bestechlichkeit, Voreingenommenheit, Drogen oder Alkoholismus, was dazu führt, dass sie unfähig sind, ihre richterlichen Aufgaben korrekt zu erfüllen.

Noch kurz zum Inhalt: Lacy Stoltz, die wir bereits aus „Bestechung“ kennen, arbeitet für das BJC in Florida, als sie einen mysteriösen Anruf erhält. Die College-Professorin Jeri Crosby bittet sie um ein Treffen, in dessen Verlauf sie den amtierenden Richter Ross Bannick des Mordes an ihrem Vater beschuldigt. Und wie ihre zwanzigjährige Recherche ergeben hat, scheint er nicht das einzige Opfer Bannicks zu sein, denn es gibt noch weitere Todesopfer. Allen gemeinsam ist die Mordmethode und der Kontakt zu dem Richter aus Pensacola, der offenbar Geld, Macht und Einfluss so geschickt einsetzt, dass man ihm nichts beweisen kann. Trotz anfänglicher Skepsis lässt sich Lacy überzeugen und übernimmt den Fall. Die Uhr tickt, denn Bannick hat seinen Rachefeldzug noch längst nicht beendet…

Bewertung vom 28.04.2022
Der Koch, der zu Möhren und Sternen sprach
Mattera, Julia

Der Koch, der zu Möhren und Sternen sprach


gut

Er ist schon etwas seltsam, dieser Robert, der gemeinsam mit seiner Schwester Elsa eine Ferme Auberge im Elsass betreibt, dieser Genussregion, die wir Süddeutschen in kurzer Zeit erreichen. Tag für Tag steht er am Herd und bereitet mit den Zutaten, die er mit Liebe und gutem Zureden (ja, er spricht mit seinem Gemüse) in seinem geliebten Garten herangezogen hat, die leckersten Gerichte zu. Feinschmecker aus aller Welt kommen zu ihm, lassen sich von seinen kulinarischen Künsten verzaubern. Aber er gehört nicht zu den eitlen Köchen, wie wir sie tagtäglich im TV präsentiert bekommen. Nein, er ist mürrisch und verschlossen, hat mit Menschen nichts am Hut und lebt nur auf, wenn er in sich in der Natur bewegt. Der Garten, die Tiere und die Küche, mehr braucht er nicht, um glücklich und zufrieden zu sein.

Als ein neuer Gast eintrifft, ändert sich das. Die quirlige, lebensfrohe Engländerin Maggie zieht ihn an, verursacht ihm Herzklopfen, denn in ihr erkennt er eine Seelenverwandte. Und ganz allmählich bröckelt die Mauer, die er all die Jahre um sein Herz und seine Gefühle gebaut hat, und macht sie durchlässig, auch für die Menschen in seiner nächsten Umgebung.

Puh, das hört sich jetzt ziemlich kitschig und vorhersehbar an, oder? Ist es auch. Was allerdings entschädigt, ist die poetische Sprache, die sorgsam gesetzten Wörter, die die Geschichte ohne übertriebene Gefühlsduselei daherkommen lassen. Ja, der Protagonist ist speziell, und ja, wir kennen aus vielen Filmen diese Persönlichkeiten, bei denen es nur den einen Anstoß braucht, um eine Veränderung in Gang zu setzen, sich selbst zu hinterfragen.

Wovon der Roman getragen ist, ist die tiefe Liebe der Autorin zu ihrer Heimat, dem Elsass (sie lebt in Richwiller), die aus jeder Zeile spricht. Ein schmales Buch für eine kleine Auszeit, und eine entspannende Stippvisite bei unseren französischen Nachbarn.

Bewertung vom 27.04.2022
Die Sammlerin der verlorenen Wörter
Williams, Pip

Die Sammlerin der verlorenen Wörter


ausgezeichnet

„Wörter definieren uns, sie erklären uns, und manchmal dienen sie auch dazu, uns zu kontrollieren oder zu isolieren.“ (S. 505)

Kein Internet, keine Wikipedia, deshalb waren während Schulzeit und Studium das Oxford Dictionary neben Duden und Brockhaus meine ständigen Begleiter. Gedanken darüber, wie die Wörter und Definitonen in die Nachschlagewerke gekommen sind, habe ich mir aber nie gemacht. Diese Leerstelle, zumindest im Hinblick auf das englische Wörterbuch, füllt die Sozialwissenschaftlerin Pip Williams mit ihrem ersten Roman „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“, in dem sie dessen Entstehung aus der Sicht von Esme Nicoll begleitet.

Esme ist die Tochter eines alleinerziehenden Lexikographen, der als Mitarbeiter von Sir James Murray an der Erstellung der ersten Ausgabe des ersten Oxford English Dictionary mitarbeitet. Der Vater ist einer von vielen Helfern, sammelt und katalogisiert die auf Zetteln eingesandten Worte samt Definitonen. Interessanterweise wird aber nicht jedes dieser Worte wichtig genug, um einen Platz im OED zu finden. Das merkt auch Esme ziemlich schnell, die ihren Vater bei seiner Arbeit begleitet und ihm die vom Tisch heruntergefallenen Einsendungen reicht. Auf einem dieser Zettel steht „Bonemaid“ (= Magd, im weitesten Sinn), ein Wort, das sie ihr Leben lang begleiten wird und Antrieb für all ihre Bemühungen ist, hat ihr Vater diesen Zettel doch umgehend entsorgt.

Und so fängt sie an, diese ausrangierten Begriffe zu sammeln und stellt fest, dass sie alle eine Gemeinsamkeit haben. Bei ihnen geht es ausnahmslos um Erfahrungen und Dinge des täglichen Lebens der Frauen und der einfachen Bevölkerung. In ihr reift der Plan, aus diesen „verlorenen“ Worten ihr eigenes Wörtbuch zu schaffen, damit auch diese Menschen gehört werden. Aber dafür muss sie zuerst einmal den Universitätskosmos verlassen und in deren Welt eintauchen.

Die zeitliche Einordnung ist immens wichtig für diesen Roman, der 1887 beginnt und weit bis ins zwanzigste Jahrhundert hineinreicht. Das Viktorianische Zeitalter neigt sich dem Ende zu, die Industrialisierung nimmt Fahrt auf, es ist eine Zeit des Wandels, die ganz allmählich gesellschaftliche Veränderungen einläutet. Die bestehenden Klassenunterschiede werden thematisiert, die Rolle der Frauen hinterfragt, die Suffragetten fordern das Wahlrecht und gehen auf die Barrikaden und der Erste Weltkrieg steht vor der Tür. All dies wird aus Esmes Sicht beschrieben und festigt sie in ihrer Meinung, dass es die Sprache der Männer ist, die die Gegenwart regiert, Geschichte schreibt, die Stimmen der Frauen außen vor bleiben.

Ein berührender, und ja, auch ein feministischer Roman über die Macht der Sprache, der Anstösse gibt und zum Nachdenken anregt.

Bewertung vom 26.04.2022
Die Knochenleser
Ross, Jacob

Die Knochenleser


gut

Andere Länder, andere Sitten: Die Personaldecke der Polizei von Camaho, einer karibischen Insel in der Nähe von Trinidad, ist dünn. Es fehlen Polizisten. Der trinkfeste DC Chilman hat seine eigene Methode, um neue Mitarbeiter zu akquirieren. Man kennt sich auf der Insel, also geht er einfach auf die Straße und sucht sich einfach so seine neue Truppe zusammen. Seine Wahl fällt unter anderem auf „Digger“ Digson, dessen Mutter vor vielen Jahren bei einer Demonstration unter ungeklärten Umständen verschwunden ist. Digger ist ein uneheliches Kind, der Sohn des Polizeipräsidenten, hat aber keinen Kontakt zu ihm. Chilman glaubt, dass er besondere Fähigkeiten hat. Zum einen kann er einmal gehörte Stimmen der Person zuordnen, zum anderen vermutet er einen Knochenleser in ihm. Und er hat eine Geschichte. Weiß, dass Digger von dem Verschwinden seiner Mutter umgetrieben wird und bietet ihm so auch die Chance herauszufinden, was mit ihr passiert ist. Der andere Aktivposten ist Chilmans schräge Tochter, Miss Stanislaus, die er Digger aufs Auge drückt, alle anderen Teammitglieder bleiben relativ blass.

Diggers Fähigkeiten als Knochenleser können nur bedingt überzeugen. Da ist der Krimileser aus diversen Forensik-Krimis wesentlich Besseres gewohnt. Und wenn der Handlungsort in der Karibik liegt, erwartet man doch auch die entsprechenden Landschaftsbeschreibungen, oder? Auch hier Fehlanzeige. Leider. Thematisch innovativ? Eine Gesellschaft, in der die Männer sich nehmen, wonach ihnen ist, die Frauen kaum in der Lage sind, sich dagegen zu wehren. Das Einzige, was ihnen bleibt, ist die Gemeinschaft untereinander, aus der heraus sie dann agieren, wenn der Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Nun ja…wenig Neues unter der karibischen Sonne.

Der absolute Schwachpunkt des Buches ist allerdings die wenig gelungene Übersetzung, weshalb ich mir auch das Original angeschaut habe. Das Patois funktioniert im Englischen sehr gut, aber bei der Übersetzung ins Deutsche, die sich überwiegend darauf beschränkt, lediglich den letzten Buchstaben der Worte wegzulassen, wirkt das nur gewollt, aber nicht gekonnt.

2017 wurde der Krimi mit dem Jhalak Prize for Book of the Year by a Writer of Colour ausgezeichnet und ist der Auftaktband einer Trilogie. Allerdings werde ich sie nicht weiterverfolgen.