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LichtundSchatten

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Insgesamt 254 Bewertungen
Bewertung vom 12.04.2023
Steve Jobs
Isaacson, Walter

Steve Jobs


ausgezeichnet

Lange vor seiner Erkrankung lebte Jobs so, als würde er ewig arbeiten und wäre doch morgen tot. Ein Spannungsfeld, das er in seiner berühmten Standford Rede auf den Punkt brachte: "Mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich bald sterbe, ist das wichtigste Hilfsmittel, um weitreichende Entscheidungen zu treffen. Fast alles - alle Erwartungen von außen, jegliche Art von Stolz, alle Angst vor Peinlichkeit oder Versagen - das alles fällt im Angesicht des Todes einfach ab. Nur das, was wirklich zählt, bleibt. Sich daran zu erinnern, dass man eines Tages sterben wird, ist in meinen Augen der beste Weg, um nicht zu denken, man hätte etwas zu verlieren. Man ist bereits nackt. Es gibt keinen Grund, nicht dem Ruf des Herzens zu folgen."

Mich haben Apple Produkte von Anfang an begleitet, nur kurzzeitig habe ich einen Rechner des anderen Systems besessen. Apple Rechner waren von Anfang an vor allem dort besonders gut, wo es kompliziert zuging: im Design- und Grafikbereich. Nicht, weil sie zeitgeistig waren, wurden Apple Produkte nachgefragt, sondern sie reduzierten unnötigen Aufwand dramatisch, sie waren schlicht menschlicher, stärker vom Anwender her gedacht. Dies wird heute unterschätzt, Apple war nie ein ausschließliches Designprodukt, diese Facette kam erst mit iPod, iPhone und iPad hinzu. Basis des Ganzen war jedoch KISS: keep it simple and stupid.

"Lasst das, was Euer Herz sagt, nicht durch den Lärm der anderen übertönen." Cholerik und Wutausbrüche gehörten für Jobs zum Alltag, wenige ließ er neben sich bzw. seiner Begeisterung bestehen, und doch schuf er ein Arbeitsklima, in dem jeder das Gefühl hatte, ein Pirat zu sein - und eben nicht die Navy. Er forderte Querdenker und liebte die Reibung mit ihnen. Er positionierte seinen Mac 1984 gegen eine ganze Computer-Industrie, deren unterdrückerische Auswirkungen er mit seinen Produkten konterkarieren wollte. "The computer for the rest of us."

Besonders interessant der Abschnitt, in dem der Design-Wille von Steve Jobs erklärt wird bzw. die Hintergründe für seine Vorbilder in diesem Bereich. Es wird klar, dass er sich vom Bauhaus-Stil und allen Facetten einer rundum einfachen, emotionalen Idee beeinflussen ließ. Porsche, VW oder Mercedes, der japanische Zen-Buddhismus sind Leitbilder ebenso wie Braun (snow white ist ein Projekt Codewort in Anspielung an den Schneewitchensarg von Braun) und am Ende fährt er in den Scharzwald, um Hartmut Esslinger von frogdesign anzuheuern und nach Kalifornien zu holen. Seine Entwürfe werden stilprägend für Apple getreu dem Motto "Form follows emotion". Dieser Abschnitt hat mich tief berührt, waren doch alle Zielsetzungen von Steve Jobs mehr oder weniger jene Gefühle, die ich bei der Bedienung des Mac bis heute emfpinde. Kein Detail ist Jobs unwichtig, die Schriftenentwicklung, die Icons, die Oberfläche, selbst die Verpackung - alles steuert und entwickelt er mit, ein Meister der Finesse in allen Bereichen. Selbst Platinen müssen bei ihm schön sein, alles strahlt aus, die Gesamtpersönlichkeit eines Produkte vermittelt sich für den Bauch von außen und innen. Ein Apple ist ein Kunstwerk, das Jobs z.B. mit Eingravierungen der Beteiligten im Inneren von Rechnern zelebriert, ohne dass dies jemals ein Anwender sehen würde.

Diese Biografie beschreibt viele Facetten, die ich aus vielen anderen Biografien schon kannte - und darüber hinaus fügt sie in einer schonungslosen Offenheit (plus viele weitere, mir unbekannte Anekdoten und Erklärungen) hinzu, die bei einem Mann wie Jobs notwendig ist. Jeder kann sich so selbst ein Bild von ihm machen, einem Menschen, der stärker im Jetzt gelebt hat als andere und durch den nahenden Tod (ab 2004) getrieben war, noch schnellere, mutigere Entscheidungen zu treffen. Ab dieser Zeit redet der Autor Walter Isaacson mit Jobs und baut diese Gespräche als Hauptleidfaden in sein Buch ein. Nichts wird glorifiziert oder heldenhaft vernebelt, es sind (auch schmerzhafte) Tatsachen enthalten, die jeder individuell interpretieren kann.

Meine Schlussfolgerung ist klar. Jobs kämpfte ein Leben lang gegen die Kränkung an, verstoßen worden zu sein. Je größer er diesen Aspekt empfand, umso gewaltiger wurde seine Resilienz, sein Widerstand dagegen. Daraus bezog er seine wachsende, unbeugsame Kraft, die ansteckend begeisternd war (vor allem für mich als Anwender), die aber von jetzt auf gleich umkippen konnte in diabolische Wut und den hitzigen Kampf mit anderen. Wer je im kreativen Bereich der Ideenfindungen gearbeitet hat, weiß, dass gute Ideen gerne viele Väter haben und Beschuldigungen kursieren, jener oder jene habe Ideen gestohlen. Mein Eindruck bei Jobs: es war ihm egal, woher Ideen kamen, er sog sie auf wie ein Schwamm, immer mit dem Ziel, endlich originär geliebt zu werden (selbstverständlich liebten ihn seine Stiefeltern, aber das war ihm nicht genug). Diese Suche nach dem eigenen Kern, der Bestimmung, die Ratifizierung der Vorsehung, dies war der Antrieb für seine Produkte.

Bewertung vom 12.04.2023
Handorakel und Kunst der Weltklugheit
Gracián, Baltasar

Handorakel und Kunst der Weltklugheit


ausgezeichnet

Wie überlebt man in einer Despotie, wie macht man sich nützlich und unscheinbar?

Gracian hat mit diesem Manifest der Opportunisten ein zeitloses Werk geschaffen, das auch heute noch in anderen Despotien (Politik, Unternehmen, Organisationen) Gültigkeit hat. Dabei muss man Gracian zugestehen, dass in Herrscherhäusern bei einem Fehlverhalten eben nicht nur die Entlassung drohte, sondern der eigene Kopf rollen konnte.

Sich vor den unberechenbaren Fallstricken der Herrscher zu hüten, zu überleben, dafür sind diese Ratschläge Gold wert.

Unter Punkt 7 finden wir den Hinweis: Sich vor dem Siege über Vorgesetzte hüten.

Sie mögen wohl, dass man ihnen hilft, jedoch nicht, dass man sie übertrifft: der ihnen erteilte Rat sehe daher mehr aus wie eine Erinnerung an das was sie vergaßen, als wie ein ihnen aufgestecktes Licht zu dem, was sie nicht finden konnten.

Kann man es besser ausdrücken? Es gilt übrigens auch umgekehrt. Möchte man ein Team wirklich motivieren, so infliltriere man eine eigene Idee portiönchenweise so lange, bis alle glauben, sie hätten diese Idee selbst entwickelt.

Jeder, der seinen Chef wirklich wenig mag, sollte die Gedanken von Gracian auflesen. Sie haben auch heute noch Gültigkeit bzw. können durchaus auf bessere, entspanntere Wege bringen.

Bewertung vom 11.04.2023
Kein Besonderer
Dringenberg, Bodo

Kein Besonderer


ausgezeichnet

Ein ganz normales Leben vor 100 Jahren: ein Junge wächst mit seiner Mutter, einer Dienstmagd auf, die von ihrem Liebhaber, einem Bauern, unterstützt wird. Beide schlängeln sich irgendwie durchs Leben. Die Mutter meint ihrem kleinen Heinrich gegenüber, es sei in jedem Fall ein besseres Dasein als in dem Zwangsregime eines Mannes gehorchen zu müssen.

Sie hält streng Ordnung in der kleinen Wohnung und sucht immer nach Möglichkeiten, ihrem Kind Schutz und Heimat zu sein. "Für ihren Sohn wollte sie unbedingt eine schulische Erziehung ohne harte Hand, daher entschied sie sich, Heinrich in diese neue, bekenntnisfreie Schule zu schicken."

Ihm gefiel, dass Jungen und Mädchen gemeinsam in einem Raum unterrichtet wurden. Dabei hörte er diesen Satz der Lehrer häufiger: "Schwärmer begründen eine Religion, die Dummköpfe nehmen sie an, Betrüger führen sie fort." Dies hätte ein gewisser Voltaire vor 200 Jahren geschrieben, und das sei nach wie vor gültig.

Lernen in dieser Schule war an die Umgebung und konkrete Probleme geknüpft, die Lehrer bemühten sich, freundschaftlich mit den Kindern umzugehen, sie als Partner zu sehen. Heinrich ist klug, aber eher zurückhaltend, seiner Mutter erzähle er alles, in der Schule melde er sich nur, wenn er gefragt werde.

Er lernt schwimmen, arbeitet nebenbei als Austräger, muss dann aber in einen anderen Teil Hannovers umziehen. Wir begleiten ihn, fast unspektakulär, aber liebe- und verständnisvoll. Eine ganz normale Jugend in schwierigen Zeiten, sie entwickelt sich hin zum Dritten Reich und seinen Verstrickungen.

Der Roman vermittelt alltägliche Sorgen und Wissenswertes, z.B. über die Gute Stube, die für wohlhabendere Familien notwendig wurde. Ein Raum, heute das Wohnzimmer, der abgeschlossen blieb und nur für besondere Festtage bzw. Besuche vorbehalten war.

Heinrichs Mutter setzt aber durch, dass dieser Raum nach ihrer Heirat mit einem Gärtner auch von Heinrich benutzt werden konnte. Hier aber ruhte sich sonntags der Ehemann aus, um das Geschirr-Geklapper der Küche nicht hören zu müssen.

Heinrich geht mit seinem Stiefvater auch in die ev. Kirche und hört vom Opfer Jesu und dem Opfer, das jeder für das Vaterland notfalls zu bringen hätte. Die Indoktrination nahm alle Hürden und Organisationen, sie infiltrierte alle Bereiche des Lebens.

Heinrich und seine Mutter, später kommt der Stiefvater dazu. ziehen mehrfach in und um Hannover um, er genießt das Schwimmen in Flüssen und Seen und findet seine Zufriedenheit in der Ruhe und beim Melken von Kühen. Eine Kunst gewissermaßen, die gekonnte Behandlung eines anderen Lebewesens. Dabei kommen ihm seine mathematischen Fähigkeiten und die Erinnerungsfähigkeit zugute, er ist etwas eigenbrötlerisch, aber zufrieden mit sich selbst.

„Menschen wie Maschinen“ - so charakterisiert seine Mutter eine neue, marschierende, idealistische Bewegung für Volk und Vaterland. Für Heinrich verheißt das nichts Gutes, befremdet wendet er sich ab von den Liedern und dem endlosen Marschieren der neuen Bewegung. Seine Kammer beim Stall und die Arbeit mit den Kühnen ist ihm genug.

Von Heini, seinem alten Spitznamen, wird er zum Hein als Anerkennung seiner hervorragenden Leistungen beim Melken, schließlich, Heinrich, der Musterknabe. Nicht allen gefällt das, er müsse mehr aus sich herausgehen, nicht so stumm sein. Ein Mitknecht steckt ihm: „Wenn Du fast nichts sagst, denken die, dass Du dich für was Besseres hältst.“

Schließlich landet er beim RAB, dem Reichsarbeitsdienst und das Unheil nimmt seinen Lauf. Obwohl man weiß, wie die Geschichte ausgeht, liest sich das Buch als ein spannender Bericht eines normalen, ruhigen, zufriedenen Lebens, das schließlich durch eine hanebüchene Ideologie zerstört wird.

So still und ruhig wie der Protagonist und doch so eindringlich wie selten, dieser Roman ist mit seiner gekonnten, leisen Erzählweise etwas ganz Besonderes. Die Zeit aus den 20er und 30er Jahren steht vor dem Leser, sie erhebt sich unheilvoll auf ein Leben, das nichts mit dem ganzen Brimborium zu tun haben wollte.

Bewertung vom 09.04.2023
Kiefer-Yoga
Reindl, Julia

Kiefer-Yoga


ausgezeichnet

Zähneknirschen und Kieferverspannungen sind heute für viele zu großen Problemen geworden, echte Zivilisationskrankheiten. Letzten Endes ist dies auch das Ergebnis eines zu stressigen Arbeitens und Lebens. Zu viel prasselt auf uns ein und der Körper beginnt, Missverhältnisse z.B. nachts (durch Zähneknirschen) abzuarbeiten.

Julia Reindl nähert sich dem gesamten Bereich ganzheitlich und erklärt die vielfältigen Wirkungen und Querverbindungen des Kiefers.

Ihre Vorgaben und Erklärungen für ein Training bzw. das Yoga zur Verbesserung von Fehlstellungen sind wirklich gut und eingängig erläutert, man ist sofort dabei und hat Lust, mitzumachen.

Es ist nicht zu viel, nicht zu wenig, genau jener Weg, der einem erlaubt, die Dinge tatsächlich schnell und dauerhaft anzuwenden, also einfach in den Alltag zu integrieren.

Bewertung vom 09.04.2023
Mehr Demokratie wagen
Frey, Bruno S.;Zimmer, Oliver

Mehr Demokratie wagen


ausgezeichnet

Demokratien sollten stärker mit partizipativen Elementen angereichert werden, vor allem durch die Instrumente Dezentralisierung und Referendum. Die Autoren plädieren für eine stärkere Kontrolle von Parlament und Regierung durch die Bürger und führen ihre Argumente anhand von 3 Bereichen aus:

1. Politische Entscheidungsfindung (heute zu stark in den Händen von Berufspolitikern)
2. Ort der Demokratie (vor allem dort, wo konkrete Lebenswelten betroffen sind)
3. Emotionale und funktionale Aspekte der Demokratie (Identität und Zugehörigkeit)

Die EU, aber auch Deutschland sind heute keine Beispiele lebendiger Demokratien mehr, sie agieren in einer Art und Weise, die Wolfang Schäuble zum Ausdruck brachte, der den deutschen Bürgern keine direkte Mitbestimmung wie z.B. in der Schweiz zutraut.

"Je geringer die Distanz zwischen Demokratie und der bürgerlichen Erfahrungs- und Lebenswelt, desto näher kommt sie dem Ideal des demokratischen Self-government."

Wer hinter die heute so schnell angedachten, autoritären, zentral gesteuerten Staatsverständnisse blicken will und eine Lösung sucht, findet mit diesem Buch die richtigen Anregungen.

Bewertung vom 09.04.2023
Rüpel und Rebell
Schlaffer, Hannelore

Rüpel und Rebell


ausgezeichnet

Rüpel, die rebellisch denken und Rebellen, die sich rüpelhaft benehmen. Dieses Buch handelt von Figuren, die mit ihrem Denken angriffslustig und mit ihrem Benehmen anstößig sein woll(t)en.

"Der Intellektuelle entwirft sich selbst und zeigt dies in Wort und Haltung." Die Absicht des Intellektuellen sei es, zu prüfen und nicht zu handeln, sein höchstes Ziel Menschenkenntnis.

Er ist nie auf Wort und Stil festzulegen, einer, der vom Außen ins Innere des allzu Sicheren dringt. Von Diderot bis Richard David Precht, Hannelore Schlaffer vermittelt vielfältige, spannende Kennzeichen der Intellektuellen, die heute aber einen schweren Stand haben: "Der unangepasste Sonderling verblasst in einer Gesellschaft, in der alle den unangepassten Sonderling spielen."

Vermutlich lieben es die vermeintlichen Intellektuellen heute, ihre Ranglistenplätze bei Cicero einzusehen, zwischen all dem Interview- und Talkshow-Podcast-Stress.

Jan Böhmermann und Margot Kässmann rangieren dort auf den 30er Plätzen und Peter Sloterdijk sitzt einsam dem Ganzen vor, immerhin hat er sich noch rüpelhaftes Benehmen geleistet (Verlassen einer Talksendung).

Wer diese Leute auflistet und einreiht, grenzt sie aus und der Querdenker heute scheint als aufgehender Stern des wahren Intellektuellen.

Bewertung vom 09.04.2023
Ich bedaure nichts
Reimann, Brigitte

Ich bedaure nichts


ausgezeichnet

Der Umschlag gefällt mir nicht weniger als der Inhalt. Ein ehrliches Tagebuch ohne Wichtigkeitsabsicht.

Der Griff in das sozialistische Elend. Ein ganz normales kreatives Leben in der DDR breitet sich aus, durchfurcht von Hoffnung, Verzweiflung, Liebe, Hoffnung, Schreiben, Hass.

"Ich warte immer, bis Entscheidungen sich mir aufdrängen."

Tagebücher sind so schrecklich banal und irre echt. Man kann aber durchaus Satzperlen fischen: "Irgendwas muss geschehen, damit ich wieder aktiv werde und nicht mehr so schlaftrunken bin vor Glück und Geborgenheit."

Öde DDR Langeweile, Frauenzweifel und Eroberungen, das pralle, seichte, gelangweilte Da-Sein in gedehnter Langeweile und großartigen Erfolgen.

Ideologie und Leben, Sozialismus und Realität, man fühlt sich hin und her gerissen, panische Angstgefühle jagen Erfolge und die Flucht aus der Wirklichkeit macht weite Sätze.

Ein reales, bitteres Stückchen DDR aus dem Inneren einer Schriftstellerin formuliert. Sozialismus in all seinen Schattierungen vermittelt fast immer kindliches, lebensfernes Streben. Allzumenschliches hinter den hehren, moralischen Zielen.

Bewertung vom 09.04.2023
Das Schloss der Schriftsteller
Neumahr, Uwe

Das Schloss der Schriftsteller


ausgezeichnet

Spannende Schilderung der Literaten und Journalisten bzw. ihrer Berichte/Interpretationen der Nürnberger Prozesse. Im klirrenden Zerspringen des 1000-jährigen Reiches beginnt der kalte Krieg und Literaten/Journalisten sind eitel wie immer.

Auch Richter haben Ängste oder Konkurrenten, Liebeleien, und Göring wird - rauschgiftbefreit und abgemagert - zu einem intellektuellen Gegenspieler der Anklage.

Ein Tenor der Sieger: "Das nationalsozialistische Übel lauere noch immer hinter der schönen deutschen Landschaft."

Besonders in Erinnerung blieben mir Erika Mann und die Journalistin Gellhorn, ehem. Frau von Hemingway, die beim Betrachten einer soeben erschossenen Wachmannschaft (Dachau) Freude empfindet.

Diese Männer waren kurz zuvor gezwungen worden, dort Dienst zu tun. "Gellhorn ist in Bestform, wenn sie wütend ist oder Mitleid hat", schrieb Hemingway. Sie hatte lebenslang einen großen Abscheu vor allem Deutschen und hielt sie für unheilbar. Jetzt sind sie durch Konsum und Verfettung ruhig gestellt, wehe aber, sie werden wieder losgelassen, skizziert sie ihre Angst.

Bewertung vom 07.04.2023
Zeit meines Lebens
Schlaffer, Hannelore

Zeit meines Lebens


ausgezeichnet

„Wer oft in die Oper geht, kommt nach Hause und will singen. Wer viel liest, will bald auch schreiben.“ Mit diesen Einstiegs-Sätzen war ich dabei, die Gedanken von Hannelore Schlaffer auflesen und weiter spinnen zu wollen.

Sie beschreibt im ersten Essay, wie ihre Lust am Schreiben entstand. Als 6-Jährige genoss sie 1945 die erste Klasse und war traurig, als die Weihnachtsferien anfingen. Aber bald ging es weiter und sie liebte die weiße, schnell fließende Schrift auf der Schiefertafel, noch heute trägt sie gerne schwarz-weiss und die Buchstaben entwickelten sich bei ihr so zu Worten, Sätzen, Gedanken, Ideen. Von der Kreide über die Schreibmaschine zum Laptop, sie lernte auch blind zu tippen und skizziert die so entstehende Kunst des schnellen Korrigierens, des fast lautlosen Formulierens mit der ganz einfachen, 10-fingrigen Doppelhand.

Die zweite Momentaufnahme ihres Lebens geht über das Lesen. Wer seinen Kindern schon mal vorgelesen hat, weiß es. Das Unglaubliche, Furchterregende muss passieren, um die Erzählung so einzurichten, dass alles schnellstens aufgelöst und der Gerechtigkeit zugeführt wird. Die kleine Hanne entkommt ihren drangsalierenden Brüdern immer mit einem Buch und schließlich gewinnt sie Vater und Lieblingsbruder für Karl May, ein lebenslang bleibendes Erlebnis, wie bei mir auch. Bildung aber war das nicht, sie wusste aus den Erzählungen des Karl May nichts über das aktuelle Amerika. „Bildung, die sich in Büchern auskennt, dient mehr dem emotionalen und intellektuellen Training, weniger der Wissensvermittlung.“

Niemand redete als Jugendliche über Bücher, außer im Pflicht-Deutsch-Unterricht. Sie leidet und flieht ins Theater, ihre abgeschottete, einsame Welt. Umgeben von Brüdern, die aggressiv nicht lesen, ich kann mir vorstellen, was in ihr vorging. Erst an der Uni konnte sie ernsthaft über Bücher reden, jenseits simpler Plauderei. "Gleich nach der Lust, Bücher zu besitzen, kommt das Vergnügen, über sie zu reden." (Charles Nodier) Sie kehrt immer wieder zurück in die Einsamkeit des Lesens, aber auch die Unterhaltung mit jenen langen Briefen, die Bücher ja im Grunde sind. Sie selbst schrieb in der Jugend abartig gute Briefe, eines ihrer Kennzeichen.

Dass man Bücher beim Schreiben nicht um sich haben will, um nicht gestört zu werden, wäre mir zuviel. In jedem Fall aber interessant, es zu begreifen und durchaus nachvollziehen zu können. Umgebende Bücher vermitteln mir eine Art Wohngefühl, ein Gemeinschaftserlebnis mit vielen Denkern, die jene schwierigste Leistung vollbracht haben, die es (für mich) gibt: ein ganzes Buch zu durchdenken, es zu schreiben, verwerfen, korrigieren und letzten Endes so stehen zu lassen, wie der eigene Gedankengang es in jenem Moment erforderte.

Kurzum, ich habe begonnen, sehr schnell, mich mit Hannelore Schlaffer zu unterhalten, sie gleichsam zu befragen, ihr zu widersprechen und doch jene Gleichklänge zu erleben, die alle Leser von Karl May aufweisen: Verständnis für Schicksale und Einsamkeiten, die auch Karl May erlebt hat. Seine Lebensgeschichte ist eine der spannendsten überhaupt, der unglaublichsten.

Wunderschön, die Beschreibung einer Bibliothek: „Die Bibliothek ist kein Ort, sondern ein Zustand, in dem nicht nur der Geist, sondern auch der Körper fast schwerelos wird.“ Man ist allein und doch zusammen, „man versinkt ins Buch und fühlt dennoch ein Außen.“ 2020 eröffnet die neue Württembergische Landesbibliothek in Stuttgart, Hannelore Schlaffer beschreibt den Leseplatz dort, den Gemeinschaftsraum als eine Vereinzelung hinter einem Bullauge, für das Lesen keinesfalls ein Ort sein kann. Man fragt sich automatisch, was Architekten denken, die Interieurs entwickeln fernab von Bedürfnissen der Leser.

Suche ich nach dem Konzept dieser Bibliothek, an die jeder Verlag/Autor auch die sog. Pflichtexemplare schicken muss, finde ich schnell im Netz ein Papier: „Wissen teilen – Konzept für die Württembergische Landesbibliothek 2020-2025.“

Kurz gesagt soll alles Digitale weiter vorangetrieben werden, vom Leser und dem Ort des Lesens in einem Gemeinschaftsraum liest man in diesem Papier eigentlich nichts. Der Leser schrumpft sozusagen in das überall reproduzierbare Verhältnis Auge-ComputerScreen zusammen, natürlich kann er in diesem Zusammenhang auch Texte hören, gar sehen. Die Umgebung wird mithin ausgeblendet, sie kann überall stattfinden, und auch vor Ort gibt man einem Gemeinschafts-Lese-Erlebnis wie von Hannelore Schlaffer so schön beschrieben, keine Aufmerksamkeit mehr. In jedem Fall werde ich diese Bibliothek in nächster Zeit besuchen.

Bücher sind nichts als längere Briefe. Die Gedanken von Hannelore Schlaffer haben mich bestens unterhalten, sie versteht es meisterhaft, über Lesen und Schreiben nachzudenken und hat mich als Bücherliebhaber wirklich berührt. Ein ungewöhnliches, wunderschönes Buch, das den weiten Horizont seiner Urheberin in 13 Essays auffächert.

Bewertung vom 06.04.2023
Pünktlich wie die deutsche Bahn?
König, Johann-Günther

Pünktlich wie die deutsche Bahn?


ausgezeichnet

Johann-Günther König gelingt mit diesem Buch ein spannender, weit verzweigter Wurf, um Interesse für eine Fortbewegungsart zu entwicklen, die in naher Zukunft eher noch an Bedeutung gewinnen wird. Ich selbst bin in der Nähe eines Dampflokschuppens aufgewachsen und kann die morgendlichen Anheiz-Geräusche noch gut (fast romantisch) erinnern.

Die Geschichte der Eisenbahn in Deutschland startete in Nürnberg, die Bahn oder der Fahrweg nach Fürth wurde 1835 mit Eisenschwellen & Schienen belegt und konnte so den Wagons eine feste Spur geben. 1798 hatte bereits in England ein Erfinder die Hochdruckdampfmaschine entwickelt, mit der Autos fuhren, aber stärker wurde zunächst die Dampflokomotive nachgefragt, die zum ersten Mal 1804 auf einer Hüttenwerksbahn in Südwales fuhr und fünf Waggons mit einer Last von zehn Tonnen über eine Strecke von rund 15 km zog.

Im Jahr 1830 eröffnete dann die erste öffentliche Bahn zwischen Manchester und Liverpool – von den 30 Kutschen, die bis dahin diese Strecke befuhren, stellten 29 unmittelbar danach ihren Betrieb ein. Früher reisten täglich 500 Personen auf dieser Strecke, kurz danach waren es per Bahn schon 1600 Menschen täglich.

Friedrich List, ein deutscher Wirtschaftstheoretiker, der nach USA ausgewandert war, kam zurück und gilt als einer der Begründer der deutschen Eisenbahnen. Sein Traum von einer Trasse zwischen Leipzig und Dresden ging 1839 in Erfüllung. 150 km Eisenbahnschienen verkürzten die Reisezeit von 21 auf damals unglaubliche 3 Stunden. Es folgte die Strecke Potsdam-Berlin, die Spurweite richtete sich nach englischen Vorgaben und ist uns mit 1,435 m bis heute erhalten geblieben.

Die Vision von Friedrich List über die Segnungen des neuen Verkehrsmittels liest sich wie eine Menschheits-Verbrüderung in Toleranz und gegenseitigem Respekt. Wie wollte man noch Kriege anzetteln, wenn sich alle kennen? Eisenbahnen sah er als eigentliche Volkswohlstands- und Bildungsmaschinen.

Mit der parallel einsetzenden Dampfkraft-Schifffahrt wurde der Industrialisierung und auch dem Tourismus der Turbo zugeschaltet, Johann-Günther König lässt den Leser unmittelbar teilhaben und nachempfinden, wie eine beschleunigte Gesellschaft Fahrt aufnahm. Die Geschwindigkeit multiplizierte sich um das Zehnfache. Pferde und Kutschen bzw. die Post wurden aber im 19. Jahrhundert weiterhin, sogar vermehrt benötigt, vor allem in jenen Gebieten, wo es noch keine Bahnstrecke gab. Alle profitierten also von den Neuerungen.

Zu Beginn gab es in Deutschland nur private Bahnen und Länderbahnen, eine verwirrende Vielfalt von Tarifen und Regelungen entwickelte sich, insgesamt 4 Klassen inkl. einem nach oben offenen Wagon konnte man buchen.

In der Schweiz wurde die Bahn schon 1898 nach einer Volksabstimmung verstaatlicht, das Deutsche Reich brauchte einen verlorenen Weltkrieg, um hier nachzuziehen. Aber sowohl die Weimarer Republik, das Dritte Reich und auch die BRD gewährten dem Autoverkehr die Vorfahrt. Die Eisenbahn diente in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem dazu, die gigantischen Reparationszahlungen der Siegermächte zu bedienen. In der DDR fuhr man auf Verschleiß und ließ die Infrastruktur verkommen.

Dass die neue DB AG es nicht leicht hat, ist klar. Wir lesen in diesem Buch von den Schwierigkeiten und fahren in der Zeit zurück und mit einem besseren Verständnis für die Schiene in die Zukunft. Ich mag dieses Buch als eine geschickte Verquickung zwischen Wissen, Geschichte und Geschichten, dabei kommen auch die Bahnhofsbuchhandlungen zu Wort, ein Bereich, den ich in allen Bahnhöfen immer als erstes ansteuere. Leider dominieren heute auch hier die Ketten, in den 80ern gab es noch individuelle, ganz persönliche Anbieter. So einen besuchte ich in Frankfurt am Main oft und nahm mir kurz vor der Abfahrt irgendein Buch und kaufte es. So z.B. „Unfug des Lebens und des Sterbens“ von Prentice Mulford.

2008 druckte die Deutsche Bahn AG das letzte Kursbuch, das mit 2800 dünnen Seiten fast zwei Kilo wog. Wann immer ich heute nach einem Kursbuch von Enzensberger suche, taucht auch eines der Bahn auf, als Rarität. Wie werden heute die elektronischen Fahrpläne entwickelt? „6,2 Mio Fahrgäste fahren täglich auf 75.000 Verkehrswegen, in einem 33.300 km langen Streckennetz mit 24.220 Zügen (2018). Hinzu kommen noch 4000 Güterzüge auf den gleichen Schienen. Ein Fahrplan für die Deutsche Bahn und 400 Bus- und Eisenbahnunternehmen ist eine hochkomplexe Sache.“

Tatsächlich gab es früher Züge, bei denen Verspätungen hoch erwünscht waren, z.B. beim Orient Express. Heute blendet das gleichmäßige Rattern auf den Schienen die Sorgen der Welt ebenso aus und wer es schafft, die vorbeifliegende Landschaft zu genießen, gönnt sich Meditation pur, ganz wie zu Beginn des Bahnfahrens.

Den umfangreichen Literaturhinweisen habe ich dieses Buch entnommen und lese es demnächst: „Der Teufel steckt im ICE. Die abgefahrensten Erlebnisse einer Zugbegleiterin, von Juliane Zimmermann.