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Benutzername: 
Christian1977
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Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 02.04.2021
Kronsnest
Knöppler, Florian

Kronsnest


ausgezeichnet

Das holsteinische Dorf Kronsnest in den 1920er-Jahren: Hier lebt der 15-jährige Hannes mit seinen Eltern auf einem Hof. Die Landarbeit ist hart, der Vater gewalttätig - und dann gibt es auch noch Mara, Tochter aus einem besseren Hause, die Hannes den Kopf verdreht. Wie geht ein empfindsamer Jugendlicher mit seinen Gefühlen um, wenn um ihn herum die Welt langsam aber sicher auf dem Kopf steht? Wenn ihm vor dem Erwachsenwerden schon die ganz großen Themen wie Liebe, Freundschaft und Tod streifen? Darüber und über noch viel mehr erzählt Florian Knöppler in seinem großartigen Debütroman "Kronsnest".

Als bekennender Freund von Entwicklungs- bzw. Coming-of-Age-Romanen möchte ich behaupten, dass ich in den letzten Jahren sehr viele Bücher aus diesem Bereich gelesen habe. Doch kaum eines konnte mich von vorn bis hinten so begeistern, wie es Knöppler mit "Kronsnest" geschafft hat.

Da ist zunächst einmal die große Empathie, die der Autor seinem Protagonisten Hannes entgegenbringt. Tatsächlich gibt es in diesem fast 450 Seiten schweren Werk nicht eine einzige Szene, die ohne ihn auskommt. Durchaus riskant, wenn beispielsweise eine Hauptfigur nicht die Erwartungen des Lesers erfüllt oder ihn gar langweilt. Nicht so in "Kronsnest": Das Vertrauen, das Knöppler Hannes entgegenbringt, ist mehr als gerechtfertigt. Von Beginn an spürte ich eine große Verbundenheit zu ihm. Er ist ein Junge, dem durchaus viel zugemutet wird. Er macht Fehler, auch schwere, wie sie ein Jugendlicher in seinem Alter eben macht. Und dennoch konnte ich Hannes sofort in mein Herz schließen. Auf seinem Weg zum Erwachsenen überwindet er zahlreiche Fallstricke und zeigt dabei einen fast schon unermüdlichen Kampfgeist. Der Tod eines ihm nahestehenden Menschen, unerwiderte Liebe und der beste Freund drauf und dran, ein Nationalsozialist zu werden? Hannes gibt nicht auf und geht seinen Weg.

Ein weiteres großes Plus von "Kronsnest" ist der eindringliche und einnehmende Schreibstil Florian Knöpplers. Vielleicht ist es von Vorteil, wenn man auch aus Norddeutschland kommt und eine Vorstellung hat von der Elbmarsch und ihrer für viele Menschen vielleicht unwirtlich wirkenden Rauheit. Ich konnte jedenfalls nahezu komplett abtauchen in dieser Landschaft, weil Knöppler es schafft, die Natur in all ihrer Schönheit zu erkennen und zu beschreiben. Dazu gehört auch die Empathie, die nicht nur Hannes, sondern auch der Autor den zahlreichen Tieren des Romans entgegenbringt.

Die Dialoge sind authentisch und klug. In Hannes' Verhältnis zu Mara, das immer zwischen Liebe und Faszination schwankt und zu dem später auch ein bewegender Briefwechsel gehört, erinnert "Kronsnest" in seiner Einzigartigkeit sogar an große Klassiker der Empfindsamkeit oder des Sturms und Drangs. So wundert sich nicht nur Hannes auf S. 361 über seinen Brief: "Wie von einem anderen, wie aus einem Roman, war der erste Gedanke", sondern auch ich blieb erstaunt darüber zurück, dass ein Roman der Gegenwart noch solche Worte findet.

Und auch wenn Hannes im Großen und Ganzen unpolitisch ist, gehen die politischen Wandel der Zeit nicht an ihm und an Kronsnest vorbei. Die aufbegehrende Landvolkbewegung in Schleswig-Holstein, der wachsende Antisemitismus - all dies sind Themen, von denen Hannes direkt betroffen ist, denn sein bester Freund Thies entwickelt sich in eine besorgniserregende Richtung.

Fazit: Mit "Kronsnest" hat Florian Knöppler einen atemberaubend-schönen Roman geschrieben, der trotz der durchweg ernsten Themen eine große Wärme und Intensität ausstrahlt, der man sich nicht entziehen kann. Schon jetzt gehört das Buch zu meinen absoluten Lieblingsbüchern und damit zu den Büchern, die ich immer wieder lesen möchte. Ein Muss, nicht nur für Freunde von Entwicklungsromanen, sondern auch für LeserInnen, die dem Charme der norddeutschen Landschaft erliegen möchten. Unvergesslich.

Bewertung vom 27.03.2021
Die Welt neu beginnen
Hesse, Helge

Die Welt neu beginnen


sehr gut

Was haben George Washington, Johann Wolfgang von Goethe, James Cook und Marie Antoinette gemeinsam? Sie alle prägten die Zeit des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts. Und sie sind ProtagonistInnen des neu bei Reclam erschienenen Sachbuchs "Die Welt neu beginnen: Leben in Zeiten des Aufbruchs 1775 - 1799" von Helge Hesse.

Hesse zeigt in einem unterhaltsamen Ritt durch dieses bewegte und bewegende Vierteljahrhundert die bahnbrechenden Ereignisse und Erfindungen auf, die die moderne Welt, wie wir sie kennen, bis in die Gegenwart hinein prägen. Vom Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg über die Erfindung der Dampfmaschine und die Vorboten der Industrialisierung bis zum Ende der Französischen Revolution: Helge Hesse richtet den Blick auf das große Ganze. Dabei erweist er sich als begnadeter Erzähler - egal ob es um politische, kulturelle oder gesellschaftliche Themen geht.

Sechs Jahre hat Hesse für "Die Welt neu beginnen" recherchiert - ein Aufwand, den man als Leser spürt, denn der Autor zeigt sich fast schon selbst als "Universalgenie", wie er einige seiner wichtigsten Figuren im Buch nennt. Besonders gelungen ist dabei, wenn sich die Lebensläufe von Menschen kreuzen, die man so nicht erwartet hätte, oder wenn sich Hesses Blick auf Personen richtet, über die ich noch nicht so viel wusste. Zentral ist beispielsweise der Lebenslauf Georg Forsters, deutscher Weltreisender und späterer Revolutionär, dem in "Die Welt neu beginnen" bestimmt mindestens genauso viele Episoden gewidmet werden wie einem George Washington.

Überhaupt sind es diese kurzen Episoden, die anekdotenreich dafür sorgen, dass man fast das Gefühl hat, einen Roman zu lesen und aus dem Sachbuch eine über weite Strecken abwechslungsreiche und mitreißende Erzählung machen. Und auch die Bezüge zur Aktualität werden vor allem dann deutlich, wenn es um die Entwicklung eines Impfstoffs gegen die Pocken geht - damals wie heute ein Wettlauf gegen die Zeit.

Der vermeintliche Vorteil der Abwechslung entpuppte sich für mich im letzten Viertel des Buches jedoch auch als ein Nachteil: In meinen Augen ist das "Personenverzeichnis" schlicht ein wenig zu umfangreich geworden. Das sieht man schon zu Beginn des Buches, wenn Hesse "Einige Personen der Handlung" aufführt und dabei sage und schreibe 54 Namen nennt. Hier wäre es vorteilhafter gewesen, sich auf weniger Personen zu konzentrieren. Denn je länger das Buch andauerte, stellte sich bei mir eine gewisse Überfrachtung an Informationen und Menschen ein. Und auch wenn Hesses Werk ein populärwissenschaftliches Sachbuch ist, wäre die ein oder andere Quelle bei Zitaten wünschenswert gewesen.

Insgesamt ist "Die Welt neu beginnen" aber ein informatives und unterhaltsames Buch, das eine breite Leserschaft ansprechen wird. Denn egal ob Marie Antoinette, Mozart oder Schiller - wohl jeder wird in ihm Menschen finden, die ihn besonders interessieren.

Bewertung vom 22.03.2021
Inseln
Francis, Gavin

Inseln


ausgezeichnet

"Wir alle sind Insulaner" - mit diesem bemerkenswerten Satz endet "Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht" von Gavin Francis. Nicht minder bemerkenswert ist dieses Buch, erschienen bei Dumont, denn "Inseln" lässt sich kaum klassifizieren. Es ist kein Sachbuch im eigentlichen Sinne, es besteht nicht nur aus Reiseberichten, es sind auch keine reinen Essays - sondern die eigentümliche und empathische Mischung aus allem. Die thematische Basis sind allein die Inseln - vornehmlich die kleinen, nordeuropäischen.

Francis untersucht in seinem Buch die Bedeutung von Isolation und Verbundenheit, fragt mal philosophisch, welcher Mensch wieviel Isolation überhaupt benötigt. Andererseits zitiert er aus anderen Sachbüchern, auch aus Romanen und berichtet immer wieder von Reisen und Aufenthalten auf Inseln, die für ihn eine besondere Bedeutung haben.

Dabei spürt man vor allem die große Empathie des Autoren - zur Natur, zu den Inseln - aber auch zum Menschen. Francis schreibt nicht nur, er arbeitet auch als Mediziner und spürt dort zwangsläufig eine große Verbundenheit zu den Mitmenschen.

Seine Reisen zu den Inseln sind dabei jedoch keine Flucht vor dem Menschen, vielmehr ist es die Liebe zu den oftmals wenig berührten Landfleckchen und zu ihrer Vegetation. Am häufigsten landet der Autor dabei auf der Isle of May - verständlich, denn diese Insel begleitet ihn seit seiner Kindheit. Vom gegenüberliegenden Festland beobachtete er bereits als Kind beim Campen den altehrwürdigen Leuchtturm - die Basis seiner Inselliebe oder sogar Inselsehnsucht wurde in diesen frühen Tagen gelegt.

Wenn Francis das Meer und sein Rauschen beschreibt, die diversesten Vögel beobachtet oder die Besonderheiten der Inseln aufzeigt, möchte man als Leser teilhaben an dieser Welt. Menschen, die immer mal wieder das Bedürfnis nach Isolation verspüren, dürften sich durch die fast körperliche Atmosphäre in "Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht" besonders angesprochen fühlen. Hinzu kommt ein starker Bezug zur Aktualität. Als Francis mit dem Schreiben dieses Buches begann, konnte er noch nicht ahnen, welche Bedeutung der Begriff "Isolation" in den Folgejahren bekommen sollte. Umso lohnenswerter scheint es in diesen Tagen, sich nicht nur mit der Isolation an sich auseinanderzusetzen, sondern auch die Vor- und Nachteile dieser einmal zu überdenken. "Inseln" ist dafür die gelungene und warmherzige Einladung.

Zu erwähnen sei auch die auffällige Schönheit des Buches. Die goldumrandete Stevenson-Schatzinsel auf dem Cover, die dezent-eleganten Farbtöne, vor allem aber auch die historischen und aktuellen Kartenausschnitte, die das ganze Buch wie ein goldener Faden durchziehen - all das macht aus "Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht" ein wunderbar abgestimmtes und absolut lesens- und staunenswertes Gesamtpaket.

Fazit: Mit "Inseln" hat Gavin Francis ein bemerkenswertes Buch zum richtigen Zeitpunkt herausgebracht. Die klugen Essays, empathischen Reiseberichte und liebevoll ausgewählten literarischen Zitate regen zum Träumen und Nachdenken an. Ein lesenswertes Gesamtkunstwerk für alle, die die Inseln und das Meer lieben - und sich vielleicht selbst manchmal wie ein Insulaner oder gar eine Insel fühlen.

Bewertung vom 20.03.2021
Dunkelnacht
Boie, Kirsten

Dunkelnacht


ausgezeichnet

Penzberg, April 1945: Während die Amerikaner schon vor der Tür stehen, bereitet sich die bayerische Kleinstadt auf den Frieden vor. Der alte Bürgermeister holt sich sein Amt zurück, das er schon vor Beginn der NS-Diktatur innehatte. Die Stadt widersetzt sich den Plänen der Nationalsozialisten, infrastrukturelle Besonderheiten wie das Bergwerk zu zerstören. Doch es sind nicht die amerikanischen Soldaten, die die Stadt zuerst erreichen, sondern die Wehrmacht auf ihrem Weg in die Alpen...

Kirsten Boie hat mit "Dunkelnacht" eine sprachlich wie inhaltlich brillante Novelle verfasst, der es gelingt, auf gerade einmal knapp 130 Seiten eine so intensive und berührende Atmosphäre zu erschaffen, wie ich sie lange nicht mehr in einem Jugendbuch verspürt habe.

Sie vermischt historische Fakten wie eben die "Mordnacht von Penzberg", von der ich zuvor noch nie etwas gehört hatte, mit dem Schicksal zweier Jugendlicher, die in den Unwirklichkeiten des Zweiten Weltkrieges eine zarte erste Liebe erleben. Schorsch und Marie, so die Namen der ProtagonistInnen, sind dabei trotz der Kürze des Textes so authentisch wie berührend gezeichnet. Gleich von Beginn an gelang es mir, ein hohes Identifikationspotenzial mit den beiden aufzubauen. Während eine erste Liebe in vielen Lebenssituationen aufregend und überfordernd erscheint, wirkt sie in "Dunkelnacht" nahezu unmöglich. Zu viele Faktoren stören das Verhältnis der Figuren: die unterschiedlichen politischen Ansichten der Eltern, das ständige Leben zwischen Krieg und Frieden - und dann gibt es ja auch noch Gustl, an dem Marie auch Interesse hatte und den es seinerseits zum Werwolf Oberbayern gezogen hat, einer Art Untergrundorganisation des Terrors.

Sehr besonders ist die Stimme des auktorialen Erzählers, der der Novelle etwas Filmisches verleiht, nicht nur, weil die ProtagonistInnen vor jedem Abschnitt namentlich erwähnt werden. Vielmehr ist es die Mischung aus kurzen, lakonischen Sätzen, die dennoch ihre Wirkung alles andere als verfehlen, und der unglaublichen Dynamik des Textes, einen so bedeutenden Tag in so wenigen Worten verdichten und intensivieren zu können. Während der Erzähler anfangs noch so wirkt, als könne er den Lauf der Geschichte beeinflussen ("Ja, lasst uns den Vollmond wählen, in der folgenden Nacht können wir ihn brauchen., S. 8), wird nach und nach deutlich, dass es kein Entrinnen gibt, vor dem Grauen, welches buchstäblich vor der Tür steht. Fast schon resignierend heißt es auf S. 67: "Aber ich greife ja vor. Die Morde müssen doch zuerst noch geschehen."

Diese Perspektive und der Ton des Erzählers haben in mir mehr als nur einmal für Gänsehaut gesorgt. Durch die zusätzliche Wahl des erzählerischen Präsens erzeugt die Novelle zudem eine wahnsinnig intensive Unmittelbarkeit. Ich hatte das Gefühl, ein Teil von Penzberg zu sein und fand "Dunkelnacht" dadurch ungemein eindringlich und wirklich spannend.

Im informativen Nachwort und dem Anhang wird die Autorin auch der jugendlichen Zielgruppe gerecht, die noch nichts vom Werwolf oder von Gauleitern gehört hat. Um nicht zu vergessen, wie grausam die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die Terrordiktatur der Nationalsozialisten war, bietet es sich förmlich an, "Dunkelnacht" zu einer Art Pflichtlektüre im Deutschunterricht zu machen. Insbesondere in Penzberg und Umgebung, aber auch auf den gesamten deutschsprachigen Raum bezogen.

Fazit: Mit "Dunkelnacht" beweist Kirsten Boie auf so berührende wie geniale Weise, was für eine großartige Erzählerin sie ist. Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein so kurzes Buch dermaßen bewegen und mitreißen kann. Das liegt einerseits an den wunderbar herausgearbeiteten Figuren und deren Ängsten und Hoffnungen, aber vor allem an der melancholischen Grundstimmung, die der Erzähler mit seinen lakonischen Sätzen erzeugt. Unbedingt lesenswert für alle jugendlichen und erwachsenen LeserInnen.

6 von 9 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.03.2021
Reigen Reloaded
Rieger, Barbara

Reigen Reloaded


sehr gut

Als der Wiener Dramatiker Arthur Schnitzler 1920 in Berlin seinen "Reigen" uraufführen ließ, entfachte er damit einen der größten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts. Mehr als 60 Jahre lang wurde das Stück sogar verboten.

Mehr als 100 Jahre später hat sich die österreichische Autorin Barbara Rieger des Reigens angenommen und gemeinsam mit zehn weiteren AutorInnen den "Reigen Reloaded" herausgebracht, der jetzt bei Kremayr & Scheriau erschienen ist. Die Vorgabe bestand wie beim Original darin, einen Reigen aus zehn unterschiedlichen Szenen zu konzipieren, die auf verschiedene Arten Moral und Sexualität beinhalten - allerdings in Prosaform. Eine der beiden Figuren aus jeder Szene taucht dabei im darauffolgenden Kapitel wieder auf.

Zunächst einmal sticht die ausgesprochen gelungene Aufmachung des Bandes ins Auge. In lila-schwarzem Leinen und einer Typografie, die sofort auffällt und den Leser in die 1920er-Jahre zurückkatapultiert, besticht "Reigen Reloaded" durch eine ungemeine Eleganz, die durch den in Zartrosa abgegrenzten Originaltext komplettiert wird.

Eingeleitet wird der neue "Reigen" durch ein Vorwort von Daniela Strigl, bei dem es sich meiner Meinung nach anbietet, es sowohl vor, als auch nach der Lektüre des Buches zu lesen. Es führt den Leser informativ in die Thematik hinein, genauere Bezüge daraus erfasst man allerdings erst, wenn man den neuen und den Ur-"Reigen" gelesen hat.

Während sich die erste Szene zwischen der 14-jährigen Leonie und dem etwa 40-jährigen Schulhausmeister noch virtuell und angelehnt an Schnitzler als Drama abspielt, sind die folgenden neun Texte in ihrer Form freier und präsentieren sich mal als innerer Monolog, als Dialog mit Perspektivwechsel oder ein auktorialer Erzähler nimmt den Leser an die Hand - und die Begegnungen der Figuren sind real.

Dabei gelingt es den österreichischen AutorInnen in den meisten Fällen sehr gut, dem Ur-"Reigen" ein Denkmal zu setzen und darüber hinaus mit eigenen, modernen Interpretationen zu punkten. Der immer wieder durchscheinende, in Teilen recht böse Humor in Verbindung mit dem Drama der Sexualität hat mir dabei vor allem im Mittelteil außerordentlich gut gefallen. Insbesondere die Beiträge von Michael Stavaric, Angela Lehner und Martin Peichl schaffen es sowohl inhaltlich, als auch literarisch, dass aus "Reigen Reloaded" mehr als eine Hommage an Arthur Schnitzler wird - und bildeten somit für mich eine Art Herzstück des Bandes. Das stakkato-artig-lyrische "Kardamom" von Petra Ganglbauer bietet zudem ein außergewöhnliches und gelungenes Finale, das den "Reigen Reloaded" in unruhigen, aber aufregenden Gewässern nach Haus geleitet.

Nicht ganz so spannend fand ich es, wenn sich die Texte der AutorInnen in Inhalt und Form ein wenig zu sehr ähnelten, wie es gerade im ersten Drittel des "Reigen Reloaded" noch manchmal der Fall ist. Vergleicht man zudem den Ur-"Reigen" mit dem neuen Werk, kommt man zum Ergebnis, dass die neue Fassung - unter Berücksichtigung des Moralverständnisses damals und heute - doch verhältnismäßig brav ausgefallen ist. Liebe und Sexualität ist heutzutage dann doch mehr als normativ-heterosexuelle Beziehungen und um auch nur ansatzweise die Aufregung des Urtextes erreichen zu können, wäre hier vielleicht ein wenig mehr Risiko gefragt gewesen. Der Sexchat mit der Schülerin ist gleich zu Beginn der größte Aufreger.

Insgesamt ist "Reigen Reloaded" aber ein gelungenes Experiment, das zum Nachdenken über Moral und Sexualität anregt und dabei über weite Strecken sehr gut unterhält. Der Abdruck des Originaltextes ist dabei ein Gewinn, denn so ermöglicht das Buch dem Leser einerseits eigene Einblicke in Schnitzlers Text und andererseits kann er sich als Forscher betätigen und Referenzen und Unterschiede zwischen damals und heute selbst herausfinden. "Reigen Reloaded" ist somit mehr als eine lesenswerte Hommage an Arthur Schnitzler, die auch einmal mehr die Kreativität der österreichischen Literaturszene beweist.

Bewertung vom 18.03.2021
Theresienstädter Requiem
Bor, Josef

Theresienstädter Requiem


ausgezeichnet

Theresienstadt im Sommer 1944: Während sich die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg unaufhaltsam nähert, warten und hoffen die Gefangenen im Ghetto auf ihre Befreiung. Unter ihnen befindet sich der Dirigent Rafael Schächter.

Die Novelle "Theresienstädter Requiem" von Josef Bor erzählt voller Empathie und Wut von den auf einer wahren Geschichte beruhenden Plänen Schächters, gegen alle Widrigkeiten das Requiem von Giuseppe Verdi vor der SS in Theresienstadt aufzuführen.

Das Ghetto Theresienstadt war für mich als Jugendlicher die erste körperliche Begegnung mit dem Nationalsozialismus, als ich während eines Schüleraustauschs mit einer Prager Schule gemeinsam mit meinen MitschülerInnen Mitte der 90er-Jahre die Gedenkstätte besuchte. Es war für mich ein einschneidendes Erlebnis, die Gefängniszellen in der "Kleinen Festung" zu besichtigen, das grausame "Arbeit macht frei" zu lesen und später die zynischen Filmausschnitte der "Dokumentation" zu sehen. Der Besuch in Theresienstadt legte somit den Grundstein für mein gesteigertes Interesse an dieser furchtbarsten Zeit der Menschheitsgeschichte.

Umso gespannter war ich auf die Novelle, die jetzt vom Reclam Verlag eine angemessene Würdigung in Form einer eleganten, in hellblauem Leinen geprägten Neuübersetzung erhält. Autor Josef Bor wurde 1942 selbst nach Theresienstadt deportiert und verarbeitet in kraftvoll-verzweifelten Worten nicht nur den Tod seines Freundes Rafael Schächter, sondern auch die spätere Ermordung seiner ganzen Familie im KZ Auschwitz. Erstmals 1963 veröffentlicht, beweist die Neuauflage, dass es auch heutzutage wichtiger denn je ist, die Vergangenheit nicht zu vergessen. Denn es sind gerade die immer weniger werdenden Zeitzeugen, die es in authentischer Weise schaffen, vom Grauen dieser Epoche berichten zu können.

In vielen Sätzen spürt man die Verzweiflung Bors, die Wut auf die Nationalsozialisten, die nicht als schnöde Rachegedanken präsentiert werden, sondern auf einem tiefen Gerechtigkeitsbewusstsein gründen. Ich litt mit Rafael Schächter auf seiner Suche nach SängerInnen, die nach Deportationen nach Auschwitz immer wieder von vorn beginnen musste. Ich bewunderte ihn für seine Ausdauer, sein Festhalten an den Plänen, Verdis Requiem trotz aller Widrigkeiten aufführen zu wollen. Und trotz aller Trauer und Todesangst blitzen auch immer wieder ein wenig Hoffnung und Kraft auf - die Kraft der Musik, die Hoffnung auf Befreiung.

Ihren Höhepunkt erreicht die Novelle dann auch im bewegenden Finale, in dem sich nicht nur die SängerInnen ihre Wut von der Seele singen, sondern auch Josef Bor in einen literarischen Rausch gerät, der mich bewegt und fassungslos zurückließ.

Aufgewertet wird die Reclam-Ausgabe des "Theresienstädter Requiems" durch ein in meinen Augen unverzichtbares Nachwort des Historikers Wolfgang Benz. Benz zeigt die historischen Fakten auf, erklärt, was bei Bor reine Fiktion ist, ohne die Empathie für den Autor und sein Werk zu verlieren.

Fazit: Mit der Neuübersetzung des "Theresienstädter Requiems" hat der Reclam Verlag einen wichtigen Beitrag gegen die Vergessenskultur veröffentlicht und gleichzeitig dem 1979 verstorbenen Josef Bor ein würdiges und empathisches Denkmal gebaut.

Bewertung vom 17.03.2021
Der letzte Satz
Seethaler, Robert

Der letzte Satz


gut

Auf der Überfahrt von den Vereinigten Staaten nach Europa lässt der sterbenskranke Gustav Mahler, Dirigent und Komponist, Stationen seines Lebens Revue passieren. Während der Künstler sich seinem Tod immer stärker nähert, ist es ausgerechnet ein Schiffsjunge, der ihn auf dieser letzten Reise einen gewissen Halt gibt...

Ausgerechnet ein Schiffsjunge? Natürlich stehen dem Leser nicht nur Bilder aus Thomas Manns "Tod in Venedig", sondern auch die dazugehörigen Szenen der kongenialen Visconti-Verfilmung vor Augen: Tadzio in seinem Matrosen-Kostüm. Und obwohl die berührenden Dialoge zwischen dem Halbwüchsigen und Mahler mit Abstand die stärksten Szenen in Robert Seethalers "Der letzte Satz" sind, erreicht der Roman nicht einmal ansatzweise die melancholische Wucht, die mich beim erstmaligen Lesen von Manns Novelle über den Künstler Gustav von Aschenbach überwältigte.

Mit gerade einmal 128 Seiten ähnelt "Der letzte Satz" dann tatsächlich auch mehr einer Novelle als einem Roman, was mich im Grunde nicht gestört hätte, wenn der Inhalt denn insgesamt ergiebiger gewesen wäre. Problematisch ist einerseits, dass Mahler selbst in Zeiten relativer Gesundheit als permanenter Nörgler und Zweifler präsentiert wird. Einen glücklichen Moment erlebt dieser eigentlich nur beim einmaligen Schwimmen mit seiner früh verstorbenen kleinen Tochter Maria. Ansonsten zeugen die Rückblenden vom großen Leid des genialen Komponisten. Egal, in welcher Stadt er sich gerade befindet, welchen Auftrag er erfüllen muss - nichts scheint ihm zu gefallen, seinen Ansprüchen gerecht zu werden. Das kann man sicherlich so schreiben, doch dafür hätten in meinen Augen die sprachlich berührenden Momente stärker sein müssen.

Diese gibt es dann tatsächlich auf Mahlers letzter großer Überfahrt zu bewundern. Während der Dirigent sich auf seinen Tod vorbereitet, sind es die naiv-philosophischen Gegenreden des Schiffsjungen, die ihm das Leben erträglicher machen und die auch bei mir immer wieder eine Gänsehaut erzeugten. Hier zeigt sich, dass viel mehr emotionale Tiefe möglich gewesen wäre.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die große Stärke Mahlers - die Musik - praktisch überhaupt nicht vorkommt. Die Figur Mahler wischt die Frage des Schiffsjungen wie eine lästige Fliege weg: "Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald Musik sich beschreiben lässt, ist sie schlecht." Dass Seethaler es sich hier ein bisschen zu einfach macht und nicht einmal versucht, eine literarische und emotionale Bindung zu den wunderbaren Kompositionen aufzubauen, sie neu erstrahlen zu lassen, halte ich schlichtweg für bedauerlich.

Und so ist "Der letzte Satz" dann auch ein eher unbefriedigender Roman für mich gewesen, der lediglich in Ansätzen andeutet, welch großes, sprachliches Werk hier hätte entstehen können. Schade.

Bewertung vom 15.03.2021
Hundert Augen
Schweblin, Samanta

Hundert Augen


ausgezeichnet

Es kostet 279 Dollar, sieht aus wie ein Plüschtier auf Rädern und hinter seinen Augen versteckt sich eine Kamera. Sein Name: Kentuki. Ein Kentuki kann ein Panda sein, eine Krähe, ein Drache, ein Kaninchen oder eine Eule. Doch egal, welches Tier man auswählt - dahinter steckt immer ein Mensch. Ein Mensch, der ein Haus weiter wohnen kann oder am anderen Ende der Welt. Abhängig ist das Kentuki von seinem "Herrn", sprich von demjenigen, der es käuflich erworben hat. Oder ist es genau andersherum?

Samanta Schweblin erzählt in ihrem Roman "Hundert Augen" von einer Gesellschaft voller Einsamkeit, Schmerz und Wut - und das ungemein beeindruckend. Was auf den ersten Blick wie eine Dystopie wirkt, ist in Wahrheit gar keine. Zwar können wir (noch) keine Kentukis kaufen, doch ansonsten sind es Menschen von heute, die diesen Roman prägen. In der immer stärker digitalisierten Welt, in der wir heute leben, wirkt es gar nicht so unwahrscheinlich, dass man beim nächsten Besuch eines Verwandten ein kleines Stofftier auf Rädern bei ihm entdeckt.

Die Kentukis aus dem Roman sind mehr als stille Beobachter. Sie wollen ihrer Einsamkeit entkommen, indem sie am Leben eines völlig fremden Menschen teilnehmen wie Emilia aus Lima, deren Sohn wegen der Arbeit nach Hongkong gezogen ist. Sie sehnen sich nach Freiheit und nach Schnee und wollen den Tod der Mutter vergessen lassen wie der kleine Marvin, der auf Antigua lebt. Manchmal müssen sie eingreifen, um ein Verbrechen zu verhindern wie Grigor aus Kroatien, der sogar mit Kentuki-Schauplätzen handelt.

Schweblin hat ihren Roman als Episodenroman konstruiert, wobei fünf Figuren im Mittelpunkt stehen, die entweder Kentuki spielen oder sich selbst ein Kentuki angeschafft haben. Zwischendurch setzt sie immer wieder einzelne Blitzlichter von Kentuki-Geschichten, die nur einmal auftauchen, den fünf Haupterzählungen aber einen facettenreichen Unterbau liefern.

"Hundert Augen" ist dabei so klug wie unterhaltsam, ein Roman, der zum Lachen und Weinen anregt - manchmal sogar gleichzeitig. Tieftraurige Episoden wie der Suizid eines Kentukis, der ohne seinen verstorbenen "Herrn" nicht mehr weiterspielen will, bleiben dabei ebenso lange im Gedächtnis wie die auf den ersten Blick äußerst skurril wirkende Episode um Alina, die Freundin eines Künstlers, die ihre eigene Unsichtbarkeit nicht mehr aushält und ihre Wut komplett am Kentuki auslässt - mit gravierenden Folgen.

Samanta Schweblin hält den LeserInnen dabei gekonnt den Spiegel vor. Hätten wir nicht auch Lust, einem solchen kleinen Kameraden ein Zuhause zu geben? Oder machen wir das vielleicht sogar schon, indem wir uns mit Geräten unterhalten, die Frauennamen tragen und auf alles eine Antwort wissen? Oder andersherum: Wie weit würden wir eigentlich gehen, wenn wir plötzlich die Möglichkeit hätten, einen fremden Menschen nahezu rund um die Uhr zu beobachten - wobei: Haben wir diese Möglichkeit nicht in diversen Fernsehformaten schon?

Fazit: Mit "Hundert Augen" ist Samanta Schweblin ein bewegender und mitreißender Gesellschaftsroman gelungen, der die großen Fragen nach Moral, Liebe und Menschlichkeit stellt, ohne mit dem erhobenen Zeigefinger die Antworten zu geben. Ein lange nachwirkendes Ereignis.

Bewertung vom 12.03.2021
Abels Auferstehung / Paul Stainer Bd.2
Ziebula, Thomas

Abels Auferstehung / Paul Stainer Bd.2


sehr gut

Leipzig, 1920: Inspektor Paul Stainer, der die Ermordung seiner Frau Edith noch nicht verwunden hat, und sich darüber in den Alkohol flüchtet, wird in das Hotel "Fürst Bismarck" gerufen: Ein junger Künstler wurde in seinem Zimmer erstochen. Sternberg, so der Name des Toten, musste sich kurz zuvor noch in einem Fecht-Duell unter Burschenschaftlern beweisen. Finden Stainer und sein Assistent Junghans die Lösung in den Kreisen dieser Männer? Doch während die beiden noch ermitteln, hat sich der Mörder schon ein weiteres Opfer gesucht...

"Abels Auferstehung" ist der zweite Band von Thomas Ziebulas "Stainer"-Reihe, wobei ich den ersten Teil nicht kenne und somit nichts zu qualitativen Unterschieden sagen kann. Der Roman beginnt mit einem furiosen, fast rauschhaften Prolog, den ich als ungemein mitreißend und berührend empfunden habe, ohne überhaupt etwas über die beteiligten Personen zu wissen. Für mich war das schon zu Beginn des Buchs der absolute Höhepunkt, der mich staunend und bewegt zurückließ. Ein ähnliches Niveau erreicht der Krimi in sogenannten "Geständnissen", die sich in die drei Teile des Romans schieben. Hier erklärt der Mörder seine Taten zum Teil so philosophisch, dass ich sogar für ihn eine gewisse Empathie entwickeln konnte. Großartig und gewagt geschrieben!

Auch die Figurenzeichnung halte ich für insgesamt sehr gelungen. Sowohl die Ermittler, als auch viele der Nebenfiguren wurden mit ihren Stärken und Schwächen gut herausgearbeitet. Bei Stainer spürt man die permanente Zerrissenheit, sein jüngerer Kollege bildet mit ihm ein fast kongeniales Duo. Während Stainer aufgrund seiner Kriegsneurose immer mal wieder Gesichter und Dinge vergisst, springt Junghans für ihn in die Bresche und ist dabei fast so etwas wie ein Leipziger Watson. Meine Lieblingsfigur ist allerdings der Schauspieler Rainer Delius, der sich René nennen lässt - ein hinreißender Dandy, so charmant wie schmierig. Nie können sich die Figuren sicher sein, ob man ihm trauen kann. Ein wunderbar ambivalenter Charakter.

Mut beweist Thomas Ziebula auch im Umgang mit seinen Figuren - und lässt kurzerhand eine der ProtagonistInnen einfach mal umbringen, obwohl der Roman noch nicht einmal die Hälfte erreicht hat. Überraschend und gelungen.

Nach und nach führt er im Laufe des Romans drei zunächst lose Handlungsstränge immer stärker zusammen. Dabei fand ich den Strang um die Nachtclub-Besitzerin Rosa ein wenig schwächer als die beiden anderen, da ich mit der Figur nicht so warm wurde und die Handlung hier deutlich dialoglastiger war.

Gelungen fand ich auch die Einbettung der Handlung in den historischen Kontext. Ob es um den sozialen Stand der Frauen geht, die politischen Unruhen oder ganz einfach um die Atmosphäre in Leipzig zwischen Gaslaternen und dem so wunderbaren Begriff "Kraftdroschke" - hier schafft Ziebula das passende Fundament seiner Kriminalgeschichte.

Dieser selbst geht im letzten Drittel leider ein wenig die Luft aus. Mir war spätestens nach ungefähr 300 Seiten klar, wie der Hase läuft und es nervte mich ein wenig, die ansonsten so gut arbeitenden Kriminalbeamten hier doch ziemlich naiv zu Werke gehen zu lassen. Zudem nehmen gegen Ende die Dialoge noch einmal zu und es kommt zu einer mehrseitigen Verfolgungsjagd, die ich ehrlich gesagt ein wenig schneller las, da mich solche Action-Szenen in der Regel gar nicht ansprechen. Außerdem sollte Thomas Ziebula seinen LeserInnen zutrauen, die Fakten des vorher Gelesenen zu behalten, um immer mal wieder auftauchende Redundanzen zu vermeiden.

Das ist allerdings Kritik auf hohem Niveau, denn insgesamt handelt es sich bei "Abels Auferstehung" um einen atmosphärischen und unterhaltsamen Historien-Krimi, dem mit den schönen Straßenbahn-Schienen auf dem Cover und der historischen Karte Leipzigs von 1920 im Innenteil ein würdiger Rahmen geschaffen wurde. Hinzu kommt der kluge Titel des Romans, der über mehrere biblische Ecken gedacht, so Einiges andeutet, ohne zu viel zu verraten.

Bewertung vom 06.03.2021
Femina erecta
Kjaerstad, Jan

Femina erecta


ausgezeichnet

Wir befinden uns im Jahr Y-1040. Mehr als 1.000 Jahre nach dem Zusammenbruch jeglicher Zivilisation im 22. Jahrhundert - dem Punkt Y - machen sich drei chinesische Wissenschaftlerinnen auf, die Geschichte des alten Europa zu erzählen. Im Fokus: Norwegen, denn die Wurzeln der in der Chinesischen Föderation herrschenden Long-Dynastie liegen ganz im Norden des untergegangenen Kontinents.

Im Mittelpunkt des Interesses steht Rita Bohre, eine jener Urahninnen, und deren Familie. Rita ist Paläontologin und alleinerziehende Mutter dreier Kinder. Und je länger die Aufzeichnungen der Wissenschaftlerinnen andauern, umso deutlicher setzt sich ein Bild dieser vielfältigen Familie zusammen - ein Bild, das vor vielfältigen, bunten Geschichten, vor berührenden Schicksalen und vor Erfolgen und Tragödien nur so strotzt...

Es ist ein mutiger und überraschender Erzählansatz, den Jan Kjaerstad in seinem neuesten Roman "Femina Erecta", erschienen im Septime Verlag, gewählt hat. Und er landet damit einen Volltreffer. Was man zunächst als dystopische Spielerei abtun könnte, als eine Erzählstruktur, deren Notwendigkeit sich nicht gleich auf den ersten Blick erschließt, ermöglicht dem Autoren in Wahrheit viel mehr. Mit dem Abstand von rund 2.000 Jahren zur Gegenwart kann er nicht nur einen fiktiven Zeigefinger erheben und vor dem Abgrund warnen, auf den sich die Menschheit zubewegt, wenn sich die ökologischen und ökonomischen Gegebenheiten nicht ändern sollten. Nein, Kjaerstad kann auch zu seinen Figuren eine zeitliche Distanz wahren, denn ansonsten drohte leicht eine emotionale Überwältigung.

In fast 830 Seiten entsteht so ein Familienepos, das gleichzeitig Bildungs- und Historienroman ist und das äußerst geschickt Fiktion und Realität miteinander verwebt. So trifft Rita Bohre auf Fridtjof Nansen, Ritas Enkel "Blue Norwegian" lernt mal eben Joni Mitchell kennen. Immer wieder tauchen Fakten aus Norwegens Politik, Kunst, Kultur und Natur auf, und Kjaerstad spielt mit ihnen und mit den Erwartungen der LeserInnen. Mehr als einmal ertappte ich mich dabei, Informationen zu bestimmten Charakteren herauszusuchen, da ich mir nicht immer sicher war, wer nun fiktiv ist und wer wirklich existierte.

Die Sprache ist gewaltig, emotional und bisweilen mit feinsinnigem Humor angereichert. Jan Kjaerstad zeigt einerseits nämlich die Schönheit seines Landes auf - sowohl in der Natur, als auch in der Kultur - scheut sich aber auch nicht vor deutlicher Kritik an seinen Landsleuten, insbesondere den Männern. Denn "Femina Erecta", so übrigens der Titel des von Rita Bohre geplanten Buches, ist zutiefst feministisch und drückt den Respekt des Autoren vor den Frauen bewegend aus.

Und auch dass diese emanzipatorischen Frauen selbst noch Nachholbedarf in Fragen der Gleichberechtigung haben, fällt in diesem Roman nicht unter den Tisch. Ausgedrückt in der Figur "Dagny", der treuen Haushälterin Ritas, die im kompletten Roman wohl nur einen Satz sagen darf und ansonsten ausschließlich assistiert und das Essen reicht.

Marcus Bohre, eine Nebenfigur, der ein außerordentlich bewegendes Kapitel gewidmet ist, sagt in diesem Roman: "Ich habe ein neues Beurteilungskriterium gefunden, das sich alle Literaturinteressierten hinter die Ohren schreiben sollten: Welche Erzählung, welcher Roman spendet am meisten Trost?" Und tatsächlich ist "Femina Erecta" ein hoffnungsvoller und trostspendender Roman, ein Lichtblick an Menschlichkeit, ein kluges und liebenswertes Buch. Für mich hat der Roman das Potenzial zu einem Klassiker der Literatur, den man auch in 20 oder 50 Jahren noch lesen kann und der immer wieder neue Aspekte bietet - vielleicht ja auch den Menschen im Jahr Y-1040. Ein Meisterwerk!