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Ingrid von buchsichten.de
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Erkelenz

Bewertungen

Insgesamt 324 Bewertungen
Bewertung vom 15.03.2022
Wilderer
Kaiser-Mühlecker, Reinhard

Wilderer


ausgezeichnet

Der Titel des Romans „Wilderer“ von Reinhard Kaiser-Mühlecker ist teilweise metaphorisch zu sehen. In der Geschichte wildern Hunde. Es ist schwierig, bei ihnen den einmal erwachten Trieb im Weiteren zu unterdrücken. Wildernde Otter und Graureiher machen der Hauptfigur das Leben schwer. Thema ist aber auch das sogenannte Wildern bei fremden Frauen als Betrug in der Ehe.

Der Protagonist Jakob Fischer lebt auf einem Hof, der nach dem Tod des Großvaters seiner Großmutter gehört. Permanent ist das Rauschen der Fahrzeuge zu hören, die über die Autobahnbrücke fahren, die sich über das Tal in der Nähe des Hofs spannt. Das Gehöft liegt in einer eher beschaulichen Gegend im Westen Oberösterreichs. Das Bild auf dem Cover von Grace Helmer fasst passend die Stimmung auf, die ich beim Lesen empfand.

Über die Kindheit von Jakob und seiner Familie hat der Autor bereits den Roman „Fremde Seele, dunkler Wald“ verfasst, den ich nicht gelesen habe. Ich konnte der Erzählung aber problemlos folgen. Jakob ist inzwischen ein junger Mann, der seit Jahren den Hof in eigener Verantwortung führt, weil sein Vater daran kein Interesse zeigt. Seine Großmutter ist zu krank, um das Haus zu verlassen. Die Rolle der Mutter bleibt blass, sie agiert im Hintergrund und führt den Haushalt. Nebenher arbeitet Jakob als Schulwart, um sich etwas dazu zu verdienen, denn die Landwirtschaft trägt sich nicht mehr. Die Umsetzung einiger seiner Ideen und auch solche vom Vater scheiterten bisher.

Dann lernt er bei einer Auftragsarbeit die Künstlerin Katja kennen, die mit ihm trotz oder gerade wegen seiner spröden Art Kontakt hält aus dem sich bald mehr entwickelt. Als Katja sich ihm für kurze Zeit als Praktikantin anbietet, stellt sich heraus, dass sie auf ihre ganz eigene Weise frischen Wind auf den Hof bringt. Josef springt über seinen beruflichen Schatten und lässt sich darauf ein, was Katja ihm vorschlägt.

Jakob ist es gewöhnt, eingefahrenen Wege zu gehen, bei denen sich zeigt, dass sie nicht zukunftsträchtig sind. Doch er weiß, dass er ein guter und ausdauernder Arbeiter ist. Er leistet denen die fragen, gerne einen Gefallen, auf ihn kann man sich verlassen. Lob erwartet er keins dafür. Von Beginn an ist der Misston zwischen ihm und seinem Vater zu spüren. Jakob ist mit wenig zufrieden. Ein Kasten Bier unter dem Bett und klassische Musik über Kopfhörer bei der Arbeit verschönern ihm den Tag. Mit Katja an seiner Seite muss er seinen Alltag neugestalten. Schon einmal hat er eine Beziehung geführt. Daraus resultiert ein beständiges Misstrauen, die es ihm erschwert sich auf eine neue Partnerin einzulassen.

Das Gefühl, ausgenutzt zu werden, verlässt ihn nie. Es gibt Momente, in denen er sich hilflos fühlt und sich aus seiner Resignation heraus eine solch große Wut entsteht, die dann gegenüber Lebewesen zum Ausdruck kommt. Diese Zeiten bilden einen zentralen Punkt im Roman. Die Folgen seines Zorns führen Jakob gedanklich im Kreis, denn sie führen ihn wieder zu seiner Machtlosigkeit zurück.

Die Geschichte thematisiert den Alltag in der Landwirtschaft mit seinen verschiedensten Möglichkeiten, Erträge zu erwirtschaften unter den vorgegebenen staatlichen Bedingungen und der Nachfrage des Verbrauchers. Man spürt dem Roman an, dass der Autor sich in diesem Metier auskennt, denn seine Schilderungen wirken lebendig und authentisch. An Jakob werden immer wieder neue Herausforderungen herangetragen, er ist nie ohne Arbeit, die er meist gelassen erledigt. Intensiv vermittelt der Autor das Hadern Jakobs mit dem Schicksal und der damit verbundenen inneren Auseinandersetzung. Hier und dort deutet er an, dass die Geschichte in Zeiten von Corona spielt.

Reinhard Kaiser-Mühlecker beschreibt in seinem Roman „Wilderer“ das Leben auf einem Hof am Rand einer Kleinstadt, der von dem jungen, wortkargen Landwirt Jakob geführt wird. Die eigenen Erfahrungen des Autors lassen die Geschichte real wirken. Im Mittelpunkt stehen die Chancen und Möglichkeiten, aber auch die damit verbund

Bewertung vom 15.03.2022
Kangal
Schentke, Anna Yeliz

Kangal


ausgezeichnet

In ihrem Roman „Kangal“ schreibt Anna Yeliz Schentke über die junge Türkin Dilek, die sich in ihrer Heimat nicht sicher fühlt und daher den Kontakt zu ihrer in Deutschland lebenden Cousine Ayla wieder aufleben lassen möchte. In den Sozialen Medien hat sich Dilek den Namen „Kangal1210“ gegeben. In der Bezeichnung kombiniert sie eine türkische Hunderasse, die sogar gegen Wölfe kämpft, mit dem Geburtstag einer ihrer Großmütter. Aus dem Begriff ist ihre wahre Identität nicht zu erkennen.

Vor Jahren war Dilek so entschlossen und beherzt wie die Kangallar und hat im Rahmen einer nationalen Online-Aktion protestierender Frauen ein Foto gepostet, ihr Gesicht ist darauf nicht zu sehen. Bisher lebte Dilek mit ihrem Lebensgefährten Tekin in Istanbul. Eine neue Bleibe findet sie in einer kleinen Wohnung mit Balkon in Frankfurt am Main. Ob sie hier auf ihrem Platz im Leben angekommen ist, konnte ich als Leserin im Laufe der Erzählung erfahren.

Der Putschversuch im Jahr 2016 hat das Leben von Dilek und ihren Freunden verändert. Jede kritische Äußerung kann in Bezug auf die Gesellschaft interpretiert zu Schwierigkeiten führen, wie es in Dileks Freundeskreis bereits geschehen ist. Vertrauen wird essentiell.

Gerne denkt Dilek an die gemeinsamen Sommer in der Heimat mit Ayla zurück, die eine Tochter ihrer nach Deutschland ausgewanderten Tante mütterlicherseits ist. Die Kommunikation miteinander ist abgebrochen, daher ist Ayla überrascht als ihre Cousine sich bei ihr meldet. Währenddessen macht Tekin sich in Istanbul auf die Suche nach seiner Freundin. Er versucht die Gründe für Dileks Handlung zu begreifen.

Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive von Dilek, Ayla und Tekin im Wechsel erzählt. Die Autorin nutzt eine am Wesentlichen orientierte Sprache. Ihre Figuren werden vorstellbar, sind authentisch und dennoch bleibt genügend Spielraum dafür, dass die Lesenden sich ein eigenes Bild von ihnen im Kopf gestalten können. Sie vermittelt deren Widerstreit der Gefühle, deren Liebe, deren Angst und deren Wut und doch blieben mir die Protagonisten auf gewisse Weise fern, denn sie stehen stellvertretend für all Jene, die ein ähnliches Leben führen hier wie dort.

Dilek hat bereits geahnt, dass ihre Heimat als sicheres Reiseland angesehen ist. In Deutschland fühlt sie sich in Vermutung bestätigt. Die Autorin nutzt auf der siebten Seite ihres Romans ein Zitat des Auswärtigen Amts, um Dileks Zaudern zu unterlegen und verbindet damit Fiktion mit Realität. Anhand ihrer Figur Ayla verdeutlicht sie den Zwiespalt derjenigen, die sich ihre Meinung dazu durch Hörensagen bilden. Ayla ist sich unsicher, an welchen Faktoren sie festmachen soll, die Wahrheit zu erkennen. Die Frage, ob familiäre Bande stärker sind als aktuelle Freundschaft steht im Raum.

Anna Yeliz Schentke beschäftigt sich in ihrem Roman „Kangal“ mit dem, was Heimat ausmacht. Es kann problematisch sein, dort die Person sein zu wollen, die man sein möchte und dabei seine freie Meinung zu äußern. Die Autorin verweist in diesem Zusammenhang auf die heutigen grenzenlosen Möglichkeiten die Jeden zu einem gläsernen Menschen machen können. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Bewertung vom 15.03.2022
Das verschlossene Zimmer
Givney, Rachel

Das verschlossene Zimmer


sehr gut

Der Roman „Das verschlossene Zimmer“ der Australierin Rachel Givney spielt im polnischen Krakau in der Zeit von Februar bis September 1939 mit einem Rückblick auf Ereignisse aus den 1920er Jahren. Die Autorin erzählt darin die Geschichte der 17-jährigen Marie Karska und ihrem Vater, dem Chirurgen Dominik Karski. Marie hat wenige Erinnerungen an ihre Mutter, die die Familie verlassen hat als sie noch ein Kleinkind war. Aber sie vermutet, dass ihr Vater Hinweise auf sie in seinem ständig verschlossenen Schlafzimmer aufbewahrt.

Marie steht kurz vor ihrem Schulabschluss. Ihr großer Wunsch ist es, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und Medizin zu studieren. Bisher hat Dominik nie auf die Fragen Maries nach ihrer Mutter geantwortet. Von einem Bekannten bekommt sie einen Tipp, wie sie die verschlossene Tür aufbrechen kann. Ihr ist bewusst, dass sie damit das Vertrauen ihres Vaters verliert, wenn er sie dabei erwischt.

Der Roman beginnt mit der spannenden Szene, in der Marie versucht, ins Schlafzimmer zu gelangen. Dabei macht sie eine wichtige Entdeckung. Doch im Folgenden fokussiert die Erzählung auf die aktuellen Ereignisse im Leben der beiden Protagonisten. Rachel Givney schildert dabei den chirurgischen Alltag von Dominik, sein Verhalten zu einem neuen Kollegen und seine Aussicht auf Beförderung, während Marie sich verliebt.

Inzwischen ziehen am Horizont die dunklen Wolken des Zweiten Weltkriegs auf. Marie ist sich auf eine arglose Weise nicht der Gefahr für die jüdische Bevölkerung bewusst mit der sie durch den erneuten Kontakt mit ihrem früheren Nachbarssohn in Verbindung kommt. Ihr Verhalten nahm ich in einigen Fällen als nicht glaubwürdig wahr, was unabhängig ist von der Auflösung des großen Familiengeheimnissen rund um ihre Mutter zum Ende des Romans. Eventuell kann man ihre Unbedarftheit darauf zurückführen, dass ihr Vater zwar abends nach der Arbeit das Essen kocht, aber ansonsten viele Dinge unausgesprochen bleiben zwischen ihm und seiner Tochter. Sie führen ein Leben nebeneinanderher. Dominik engagiert sich in der Gemeinde, aber in der Gesellschaft kommt er lediglich seinen Verpflichtungen nach und zeigt kein Interesse an weiteren Kontakten.

Der Schreibstil der Autorin ist angenehm zu lesen. Im Mittelteil kommt es durch einige Geschichten, die nicht von Belang sind zu kleinen Längen. Man sollte aber unbedingt bis zum Ende lesen. Immer wieder erschienen mir einige Handlungen von Dominik und Marie rätselhaft. Manche fand ich, wie oben bereits erwähnt, unrealistisch, aber einige mehr hatten damit zu tun, dass entsprechend eines Satzes aus dem Roman, die Menschen nur das sahen, was sie sehen wollten. So erging es mir auch als Leserin, die ihre eigenen Vorstellungen von Marie und Dominik in ihrem jeweiligen Umfeld beim Lesen entwickelte. Das Thema „Krieg“ verblasst zunächst im Hintergrund und kehrt dann in einer anderen, für mich unerwarteten Form zurück.

Der Roman „Das verschlossene Zimmer“ von Rachel Givney enthält ein großes Familiengeheimnis, das am Beginn aufgeworfen wird und am Ende eine überraschende Aufdeckung findet. Die Autorin stellt die beiden Figuren Marie und ihren Vater Dominik in den Mittelpunkt, wobei sich Ungereimtheiten in deren Verhältnis zueinander ergeben, die aber für mich nicht ganz schlüssig durch die Lösung der Suche nach Maries Mutter geklärt werden. Insgesamt fühlte ich mich gut durch den Roman unterhalten und empfehle ihn gerne weiter.

Bewertung vom 09.03.2022
Querbeet ins Glück
Kirsch, Lisa

Querbeet ins Glück


ausgezeichnet

„Querbeet ins Glück“ ist der erste Roman unter dem Pseudonym Lisa Kirsch einer bekannten Autorin, die in Berlin lebt, wo auch der Roman spielt. Titel und Cover verweisen darauf, dass die Protagonistin im Laufe der Geschichte ihre Leidenschaft fürs Gärtnern entdeckt. Die Herzchen wirken romantisch und vermitteln schon beim in die Hand nehmen des Buchs gute Laune.
Madita Wunderlich, kurz Maddie genannt, ist 32 Jahre alt und gerade nach Berlin-Neukölln gezogen, weil sie in der Bundeshauptstadt endlich eine Hauptrolle als Musicaldarstellerin erhalten hat. Das hat sie sich in den vorigen Jahren hart erarbeitet. Sie eine eifrige Schreiberin von Listen, beispielsweise hält sie jeden Abend fest, was den Tag schön gemacht hat.
Als ihre Vermieterin und gleichzeitig Wohnungsnachbarin auf der Treppe schwer stürzt übernimmt Maddie von ihr die Arbeit in einem Gemeinschaftsgarten. Anfangs ist sie skeptisch, ob ihr neben den Proben für die Premiere genug Zeit für die neue Aufgabe bleibt. Angeleitet von dem charmanten Moritz, kurz Mo gerufen, und seinem siebenjährigen Sohn Elias, der lieber Elvis heißt, fühlt sie sich zunehmend nützlich im Garten und verbringt immer mehr Zeit dort. Aber dann kommt es nicht nur zu Spannungen bei den Arbeiten mit dem Ensemble, sondern auch zu existenziellen Sorgen in der Kleingartensiedlung.
Maddie hat das Gemüt der freundlichen Frau von nebenan. Sie sorgt immer wieder für Verwunderung, wenn sie neuen Bekanntschaften von ihrem ungewöhnlichen Beruf erzählt. Konsequent hat sie auf eine Hauptrolle hingearbeitet und dazu viel Zeit aufgewendet. Daran ist ihre letzte Beziehung gescheitert. Als sie Mo kennenlernt und sich gefühlsmäßig mehr daraus zu entwickeln scheint, bleibt sie betont auf Abstand. Auch Mo hat seine Gründe dafür, sich nicht eilfertig auf eine Beziehung mit ihr einzulassen.
Die Geschichte wird von Maddie in der Ich-Perspektive geschildert. Lisa Kirsch ist eine authentische Darstellung der inneren Auseinandersetzung und Verarbeitung der eigenen Zweifel von Maddie über ihre Liebe zum Job und der neuen Neigung zum Gärtnern und zu Mo gelungen. Die Autorin lässt viel Wärme einfließen in der Beschreibung der verschiedenen Aufgaben, die es über die Wochen hinweg in der Gartensiedlung zu erledigen gibt. Liebevoll angereichert hat sie die Erzählung mit einigem staunenswertem und nützlichem Wissen, auch über die Aufzucht der besonderen Hühner in der Anlage.
Obwohl der Roman locker und leicht erzählt ist, bekommt er Tiefgang durch die kontroverse Diskussion verschiedener Probleme von Maddie, Mo und den Gemeinschaftsgärtnern. Lisa Kirsch stellt verschiedenen Ansichten zu bestimmten Themen dar, indem sie geschickt Nebenfiguren einbaut, die eine weitere Meinung vertreten, was das Lesen abwechslungsreicher gestaltet.
Lisa Kirsch nahm mich in ihrem Roman „Querbeet ins Glück“ als Leserin über die Höhen und Tiefen im Leben der Protagonistin Maddie mit. Sie zeigt, wie Zusammenarbeit im gemeinsamen Tun funktionieren kann. Es gelingt ihr schwelende Konflikte auf eine realistische Art zu lösen. Der angenehme Schreibstil ist wohltuend und das Gärtnern hat Aufforderungscharakter. Sehr gerne empfehle ich das Buch weiter.

Bewertung vom 02.03.2022
Eine kurze Liste meiner Probleme (Mutter nicht mitgezählt)
Steinfeld, Mimi

Eine kurze Liste meiner Probleme (Mutter nicht mitgezählt)


sehr gut

Cressida Catterberg, kurz Cressi genannt, ist die Protagonistin und Ich-Erzählerin im Roman „Eine kurze Liste meiner Probleme (Mutter nicht eingerechnet) von Beate Teresa Hanika, die hier erstmalig unter dem offenen Pseudonym Mimi Steinfeld schreibt. Allerdings scheint die Liste von Cressi im Zeitablauf immer länger zu werden. Die Farben der Umschlaggestaltung lassen auf einen heiteren Liebesroman schließen. Das ist die Geschichte auch, aber auf eine eher überdrehte Weise.

Cressi ist kein Kind von Traurigkeit in Bezug auf sexuelle Beziehungen. Einen festen Partner hat sie derzeit nicht. Ihr Therapeut hat ihr empfohlen, enthaltsamer zu sein. Ihre Mutter hat schon oft gesagt, dass sie bald sterben wird, doch jetzt ist es tatsächlich soweit. Zuletzt bekennt sie gegenüber ihren drei Töchtern, dass jede von ihnen einen anderen Vater hat. Cressis drei Tanten bestehen darauf, ihrer Schwester ein Begräbnis zukommen zu lassen, dass der Verstorbenen gefallen hätte. Außerdem wird Cressi von den Hinterbliebenen damit beauftragt, dass langjährig leerstehende Gebäude, in dem ihre Mutter ein Bistro betrieben hat, zu verkaufen.

Der Schreibstil der Autorin ist durchgehend witzig gemeint. Sie arbeitet sehr viel mit dem Stilmittel der Übertreibung. Häufig ist am Ende einer Szene Cressi oder jemand aus ihrer Verwandtschaft am Rande der Verzweiflung. Nicht nur die Protagonistin, sondern auch ihre Tanten und Schwestern haben Charakterzüge mit denen die anderen nicht gut zurechtkommen. Das führt zu etlichen Problemen im Miteinander, meist zur Erheiterung der Leserschaft. Der Tod der Mutter und die darauffolgende Organisation des eigenwilligen Begräbnisses zeugt von Galgenhumor. Der lustige Ton des Romans spricht bestimmt nicht Jeden an, so wie sich häufig beim Spaß die Geister scheiden.

Die Autorin hat zu den unterschiedlichsten Themen im Leben der Protagonistin amüsante Einfälle beispielsweise, wenn Cressi mit ihrer Schwester die Rolle tauscht oder der Hund ihrer Mutter zu ihrem ständigen Begleiter wird. Cresse fühlt sich ihrer Familie gegenüber verpflichtet und bringt nicht die Stärke mit, sich gegen deren Anliegen aufzulehnen, so dass bei ihr kaum eine charakterliche Entwicklung zu sehen ist. In Sachen Partnerschaft ist ihr das Glück zum Ende hin denn doch noch zugeneigt.

Mimi Steinfeld schreibt in einem eigenwilligen Stil. Ihre Figuren reagieren oft überspitzt, wodurch sich belustigende Szenen entwickeln und einen speziellen Humor treffen. Mich hat die Geschichte unterhalten und ich fühlte mich von ihr für einige Stunden vom Alltag abgelenkt.

Bewertung vom 01.03.2022
Das Mädchen mit dem Drachen
Colombani, Laëtitia

Das Mädchen mit dem Drachen


ausgezeichnet

Das Mädchen mit dem Drachen im gleichnamigen Roman der Französin Laetitia Colombani ist die in Indien lebende Lalita, die ich bereits im ersten Buch der Autorin „Der Zopf“ an der Seite ihrer Mutter Smita kennengelernt habe. Die beiden gehören zu den Dalit, den Unberührbaren, der untersten Gruppe in der indischen Gesellschaft. Smita war es eine Herzangelegenheit, dass ihre Tochter es einmal besser haben sollte und sie nicht wie sie selbst den Schmutz anderer täglich aufsammeln muss, um zu überleben. Nun war ich gespannt, ob ihr Wunsch in Erfüllung gegangen ist.

Lalita ist nach dem Tod ihrer Mutter von einem Verwandten aufgenommen worden, der mit seiner Frau ein Fischrestaurant für die Einheimischen am Strand im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu betreibt. Eines Tages sieht das Mädchen beim Spiel mit dem aus Papier selbst gebastelten Gegenstand wie die Protagonistin Léna beim Schwimmen im Meer versinkt und macht eine Gruppe junger Mädchen, die sich die „Rote Brigade“ nennen, und ihre Anführerin Preeti auf die Ertrinkende aufmerksam. Sie wird von ihnen gerettet.

Léna kommt aus Nantes. Sie hat zwanzig Jahre lang als Lehrerin gearbeitet, möchte aber in Indien Abstand gewinnen von einer persönlichen Tragödie. Die Begegnung mit Lalita und der Roten Brigade ist für Léna Augen öffnend für die sozialen Umstände in der indischen Gesellschaft. Sie beschließt vor Ort eine Schule zu gründen. Dabei muss sie viele ungeahnte Schwierigkeiten überwinden.

Von Beginn an lässt Laetita Colombani keine Zweifel aufkommen, dass Léna mit einem schwerwiegenden Ereignis in der Vergangenheit zu kämpfen hat. Das, was sie erlebt hat, wird im Laufe des Lesens mit immer mehr Details aufgedeckt. Léna durchlebt in Folge dessen gefühlmäßig Höhen und Tiefen, denn sie hat das Geschehen noch nicht vollständig verarbeitet. Bereits die ersten Begegnungen mit Preeti, die ihr mehr vom Leben der Dalit erzählt, berühren sie tief und lösen in ihr den Wunsch aus, aktiv zu helfen. Endlich tritt wieder eine Aufgabe in ihr Leben, durch die es ihr gelingt, ihren psychischen Schmerz zu verdrängen. Voller Energie beginnt sie mit den Planungen für einen Unterricht der Kinder und ist erstaunt und betrübt über die Widerstände von unerwarteter Seite.

Es ist erschreckend, dass in unserer heutigen Zeit das Kastensystem in Indien von den Einheimischen immer noch gelebt wird und ihm eine so große Bedeutung zukommt. Oft ist das Verhalten gegen die Gesetze des Landes. Die Verwandten von Lalita haben sogar ihre Namen geändert, damit sie daran nicht sofort der unteren Kaste zugeordnet werden können. Es ist eine fiktive Erzählung, aber Laetitia Colombani hat sich vor Ort ein eigenes Bild der Umstände machen können und vermittelt dadurch ein Stück der Realität. Eindrücklich geht sie auch auf die Tatsache ein, dass es noch schwieriger ist, nicht nur zu den Dalit zu zählen, sondern noch dazu weiblich zu sein. Der Zugang zu Bildung ist für Mädchen viel zu häufig unmöglich.

Die Autorin zeigt auch, dass es eine Herkulesaufgabe ist, sich allein oder mit Wenigen gesellschaftliche Änderungen herbeiführen zu wollen. Aber andererseits wird sich nichts verändern, wenn niemand die Initiative ergreift. Léna und Preeti zeigen Entschlossenheit, Durchhaltungsvermögen und Mut. Dabei hat Preeti einen inneren Kampf gegen ihre erstarrten Überzeugungen, die aus Erfahrung entstanden sind, auszufechten. Es bleibt Hoffnung, dass neben einigen Rückschlägen auch Fortschritte erkennbar sind.

Mit ihrem Roman „Das Mädchen mit dem Drachen“ schaffte Laetitia Colombani es erneut, mich als Leserin zu berühren. Ihre Schilderungen der Lebensgeschichten einiger Dalit in Indien klangen für mich authentisch. Die Autorin zeigt mit ihren couragierten Protagonistinnen, dass auch das Engagement einzelner gesellschaftlich etwas bewirken kann. Die Geschichte stimmt nachdenklich und hallt nach. Sehr gerne empfehle ich das Buch weiter.

Bewertung vom 23.02.2022
Die Macht der Worte / Die Buchhändlerin Bd.2
Thorn, Ines

Die Macht der Worte / Die Buchhändlerin Bd.2


sehr gut

Der Roman „Die Buchhändlerin – Die Macht der Worte“ von Ines Thorn ist der zweite Band der Serie rund um die Buchhändlerin Christa, die in Frankfurt am Main lebt. Nachdem ich die Protagonistin im ersten Band bis 1949 begleitete, beginnt die Fortsetzung im Jahr 1951. Christa arbeitet weiterhin als Buchhändlerin. Zusätzlich hat sie nach Abschluss ihres Germanistikstudium damit begonnen, ihre Doktorarbeit zu schreiben.

Das Leben hat es nicht immer gut mit ihrer Familie gemeint, aber Christa war hilfsbereit und hat häufig ihre eigenen Wünsche hintenangestellt. Die Ehe, die sie eingegangen ist, war ein gutes Arrangement., doch sie ist immer noch in den Lyriker Jago verliebt, dem sie nach mehreren Jahren wieder begegnet. Aber die Beziehung ist belastet durch die Vergangenheit von Jagos Vater. Durch ihn wird sie weiterhin mit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs konfrontiert. Sie vermeidet den Kontakt, möchte damit gleichzeitig aber auch Jago nicht brüskieren. Währenddessen kehrt der leibliche Vater ihres adoptierten Sohns Heinz aus der Kriegsgefangenschaft zurück und erhebt Ansprüche auf seinen Nachwuchs.

Es ist für Christa keine leichte Zeit bis 1968, dem Jahr in dem der Roman endet. Zwischenzeitlich ergeben sich mögliche Freiräume für sie, in denen sie endlich ihren eigenen Wünschen folgen könnte, doch dann werden ihr wieder aus ihrem Umfeld heraus andere Aufgaben angetragen. Von ihrer Mutter wurde sie auf eine spätere Heirat und den damit verbundenen Pflichten als Ehefrau vorbereitet. Christa hat sich gegen diese Rollenzuordnung aufgelehnt. Jetzt fechtet sie einen inneren Kampf mit sich. Einerseits möchte sie den Anforderungen als Hausfrau und Mutter entsprechen, andererseits wünscht sie sich, ihren Beruf auszuüben und zu promovieren. Es ist allgemein schwierig, sich in einer immer noch von Männern dominierten Gesellschaft zu behaupten.

Nach einem Beginn, der fließend an den ersten Teil anschließt und für Christa manche Überraschung bereithält, gelegentlich unangenehm, aber auch mal schön, ließ das mich ansprechende Geschehen im mittleren Teil etwas nach. Statt selbstbewusst ihren Weg zu gehen, lässt die Protagonistin von ihren Zielen ab. Dadurch konnte ich ihr Handeln teils nicht mehr nachvollziehen. Nachdem sie dann allerdings ihrem Herzen folgt, wird die Geschichte wieder facettenreicher.

Durch die Freundin von Heinz erfährt sie die Einstellung einer neuen Generation, die aktiv ihre Meinungen zum Ausdruck bringt beispielsweise in den Studentenunruhen der 1968er. Durch die Auseinandersetzung mit den ungewohnten Ansichten wird Christa deutlich, was sie im Leben nicht verwirklicht hat. Aber noch ist es nicht zu spät für sie, einen Teil ihrer Träume umzusetzen.

Auch diesmal spielt die Geschichte vor dem Hintergrund der Literaturlandschaft. Über die Jahre hinweg bindet Ines Thorn wichtige Entwicklungen auf dem Buchmarkt mit ein. Ein Thema, das breiten Raum einnimmt, bilden antiquarische Bücher über deren Chancen und Risiken beim Handel ich auf diese Weise mehr erfahren konnte. Aber auch weitere kulturelle Begebenheiten lässt die Autorin einfließen genauso wie Ereignisse politischer Art.

Mit dem Roman „Die Buchhändlerin – Die Macht der Worte“ zeigt Ines Thorn, welche Bedeutung dem geschriebenen und gesprochenen Wort in Deutschland in den 1950ern und 1960er Jahren zukam. Ihre Protagonistin Christa durchläuft dabei verschiedene Phasen der Selbstfindung, die sich an den Konventionen der Zeit orientieren. Die Autorin ummantelt ihre Geschichte mit wichtigen gesellschaftsrelevanten Themen. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Bewertung vom 23.02.2022
Zukunftsmusik
Poladjan, Katerina

Zukunftsmusik


ausgezeichnet

Der Roman „Zukunftsmusik“ von Katerina Poladjan spielt am 11.März 1985 in der Sowjetunion, in einer Stadt östlich von Moskau, die über eine Klinik, ein Museum für Natur- und Völkerkunde, eine Fabrik zur Glühbirnenproduktion, eine technische Fakultät sowie ein geheimes Institut verfügt. Am Vortag ist der Staats- und Parteichefs Tschernenko verstorben, daher läuft im Radio Trauermusik. Die Autorin nimmt in ihrer Geschichte eine Kommunalka in den Fokus, in der das Staatsereignis kaum wahrgenommen wird. Aber ohne dass es jemand von den Mitbewohnern ahnt, bricht an diesem Tag eine politisch bedeutende neue Zeit an, von dessen Auswirkungen alle betroffen sein werden.

In einer der Mietparteien der Kommunalwohnung leben vier Generationen auf kleinem Raum zusammen. Warwara ist Mitte 60 und wurde nach dem plötzlichen Tod ihres Ehemanns von ihrer Tochter Maria in die häusliche Gemeinschaft aufgenommen. Sie arbeitet immer noch aushilfsweise als Hebamme in der städtischen Klinik. Maria ist 45 Jahre alt, lebt getrennt und arbeitet als Museumswärterin. Ihre 20-jährige Tochter Jalka gehört ebenfalls zum Haushalt und ist seit einiger Zeit selbst Mutter. Um zum Haushaltsbudget beizutragen, arbeitet Jalka Schichten in der Fabrik. An eben jenem 11. März 1985 möchte sie mit einem Küchenkonzert in der Kommunalka etwas Neues wagen, doch die Umstände sprechen eher gegen die Durchführung.

In dem Mikrokosmos der Wohngemeinschaft haben die meisten sich längst mit den Gegebenheiten abgefunden. Die vom Staat genehmigte Wohnfläche für jeden ist klein, aber man arrangiert sich. Das Gemeinwohl steht über dem des Einzelnen. In der Küche bleibt man nicht lange allein und in den Töpfen und Schränken der anderen lässt sich gern was Gutes finden. Dennoch hat sich jeder auf seine Weise einen Rückzugsort geschaffen. Auch wenn es nicht zu einem eigenen Bereich in der Wohnung reicht, kann man beim Träumen die ganze Welt bereisen und die Person sein, wer immer man sein möchte. Fantasien sind nicht zu reglementieren und nicht strafbar. Janka wünscht sich beispielsweise, mit einem selbstverfassten Lied berühmt zu werden und damit endlich die Tristesse ihres bisherigen Alltags hinter sich zu lassen.

Katerina Poladjan hat ihre Figuren liebevoll mit Eigenarten versehen, die dafür sorgen, der Geschichte einen heiteren Ton zu verleihen. Auch wenn vieles in einem abgesteckten staatlichen Rahmen stattzufinden hat, sorgen Gefühle weckende zwischenmenschliche Kommunikation und unvorhergesehene Ereignisse für Abwechslung im Leben der Bewohner der Kommunalka. Liebe, Wut, Trauer und Hoffnung sind nicht zu vermeiden und vor allem die Älteren wissen, dass es trotz manchem Sturm immer weitergeht und jeder Tag neue Herausforderungen mit sich bringt.

In ihrem Roman „Zukunftsmusik“ erzählt Katja Poladjan von einem Tag Mitte der 1980er im Leben einer Familie mit vier Generationen von Frauen, die auf engem Raum zusammenleben. Keine von ihnen ahnt, dass an diesem Tag eine politische Wende beginnt, alte Krusten aufgebrochen und neue Werte gesetzt werden, die zu unendlich weiteren Träumen von Chancen führen. Die Geschichte entbehrt nicht einem amüsanten Unterton durch die kleinen Marotten der Figuren. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

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Bewertung vom 22.02.2022
The Maid / Regency Grand Hotel Bd.1
Prose, Nita

The Maid / Regency Grand Hotel Bd.1


sehr gut

Molly Gray ist 25 Jahre alt und lebt in London, wo sie im Regency Grand Hotel zum Dienstpersonal gehört. Als Protagonistin und Ich-Erzählerin im Roman „The Maid“ von Nita Prose sucht sie entsprechend des Untertitels „Ein Zimmermädchen ermittelt“ nach dem Mörder oder der Mörderin eines Hotelgasts, nachdem sie selbst verdächtigt wird, die Tat begangen zu haben.

Im quirligen Hotel ist Molly gerne ein Teil des Reinigungspersonals. Sie liebt es, in ihrer sauberen Uniform die ihr zugewiesenen Zimmer einwandfrei zu reinigen. Eigentlich hätte sie sich gerne weitergebildet, aber weil ihr Vertrauen missbraucht wurde, verfügt sie nicht mehr über das dafür benötigte Geld. Eines Tages findet sie einen gutbetuchten Gast, der mit seiner Frau sehr oft ein Zimmer im Hotel mietet, tot auf. Obwohl es danach aussieht, dass er eines natürlichen Todes gestorben ist, beginnt die Kriminalpolizei mit Ermittlungen und bald ist Molly nicht nur Zeugin, sondern steht unter Mordanklage. Da hilft es ihr nur, dass sie auf alle ihr zu Verfügung stehenden Mittel zurückgreift, um ihre Schuldlosigkeit zu beweisen und den wahren Täter zu finden.

Molly wurde von ihrer Großmutter aufgezogen, an ihre Eltern kann sie sich nicht erinnern. Ihre Oma hat zwar nicht im Hotel gearbeitet, aber ebenfalls einen großen Haushalt geführt. Viele ihrer Ratschläge lässt Molly in ihre Arbeit einfließen. Ich kannte einige der Sinnsprüche, sie erinnerten mich an früher als sie noch häufiger zur Anwendung kamen. Bereits zu Beginn verdeutlicht Nita Prose, dass ihre Protagonistin einmalig ist, so wie jeder Mensch, sich aber durch ihr besonderes Verhalten von vielen anderen abhebt.

Bei ihrer Arbeit stellt Molly hohe Ansprüche an sich selbst und weiß, dass sie bei ihren Erledigungen sehr gut ist. Ihre Sprache wirkt aufgesetzt, was auf ihre wenigen sozialen Kontakte und den ständigen Umgang mit ihrer Großmutter zurückzuführen ist. Es fällt Molly schwer, Gesichtsausdrücke zu deuten und Ironie zu erkennen. Es gelingt ihr aber zunehmend, ihr Verhalten bewusst anzupassen, denn sie mag es, unauffällig zu sein. Ihr bescheidener Lohn, aufgewertet durch Trinkgelder, reicht ihr zum Leben aus, denn sie stellt keine hohen Ansprüche. Bei ihren Überlegungen darüber, wie der Hotelgast gestorben ist, erfährt sie mehr Zuwendung aus ihrem Umfeld als sie je geahnt hätte. Sie war mir sympathisch und ich hoffte für sie, dass es ihr möglich sein wird, ihre Unschuld zu beweisen.

Nach einem ruhigen Einstieg gelingt es Nita Prose im Roman „The Maid“ dank einiger unerwarteter Wendungen mit der Zeit Spannung aufzubauen, die dann durch eine überraschende Entwicklung im letzten Drittel nochmal gesteigert wird. Aufgrund der einzigartigen Protagonistin, die durch ihre Charaktereigenschaften die Herzen der Lesenden gewinnt, ist die Geschichte äußerst unterhaltsam. Daher empfehle ich sie gerne weiter.

Bewertung vom 21.02.2022
Das gekaufte Leben
Sommer, Tobias

Das gekaufte Leben


ausgezeichnet

Der Roman „Das gekaufte Leben“ von Tobias Sommer beschäftigt den Lesenden mit der Frage, ob es möglich ist, sich nicht nur das Haus einer anderen Person zu kaufen, sondern auch deren Arbeitsstelle anzutreten und deren Platz unter Freunden und im Vereinsgeschehen einzunehmen. Sein Protagonist Clemens Freitag ist Mitte 30, lebt in Berlin und hat bisher wenig Erfolg im Leben gehabt. Seine Eltern sind vor zwanzig Jahren verstorben. Ihr Erbe hat er bisher nicht angetastet. Als auf einer Verkaufsplattform der ihm völlig unbekannte Götz Dammwald sein Leben anbietet, ergreift er die Möglichkeit und ersteigert es sich. Es steht ihm nichts im Weg, das ihn aufhalten könnte, innerhalb weniger Tage in einem kleinen Ort im Osten Deutschlands in das Leben des Anbieters zu schlüpfen.

Freitag ist selbst überrascht wie gut und schnell er sich in seine neue Umgebung einlebt. Von allen Seiten wird er herzlich aufgenommen und erfährt fast nur Gutes über Dammwald, was ihn zum Grübeln über die Tatsache führt, dass dieser sein Leben im Ort aufgegeben hat. Es warfen sich dadurch einige Fragen auf: Welche Faktoren müssen gegeben sein, damit man gerne dort lebt, wo man sich niedergelassen hat. Was führt dazu, dass man woanders wohnen möchte oder sogar wer anders sein will?

Immer tiefer lässt der Autor seine Hauptfigur in das soziale Gefüge des Orts eindringen. Mit jeder Situation nimmt Freitag mehr von den Stimmungen auf, dadurch dass er auf Hinweisen in den Gesprächen mit seinen Mitmenschen achtet. Er beginnt diese auf veschiedene Weise auszulegen. Langsam erhält die glatte Oberfläche des gesellschaftlichen Zusammenhalts erste Risse. Es kommt zu einigen schauerlichen Situationen, die Tobias Sommer authentisch vorstellbar beschreibt.

Während er noch an dem Augenscheinlichen zweifelt und durch gewisse Begebenheiten aufgewühlt nach dem Grund für den Verkauf durch Dammwald sucht, wird Freitag von den guten Zusprüchen aus seinem Umfeld auf eine lange vermisste emotionale Höhe gehoben. Ich fand es interessant zu verfolgen, welche Gefühle bei ihm die Oberhand gewinnen und ob er im übernommenen Leben sich dauerhaft zurechtfindet, denn in den letzten Jahren hat Freitag es nicht geschafft über seinen Schatten zu springen. Immer noch bemitleidet er sich selbst aufgrund des frühen Verlusts seiner Eltern, was ihn bisher auf gewisse Weise ausgebremst hat. Unterschwellig spürte ich eine subtil aufgebaute Spannung.

Tobias Sommers Roman „Das gekaufte Leben“ basiert auf einer Idee auf, die nicht nur real denkbar ist, sondern die von ihm auch so schon zur Kenntnis genommen wurde. Der Autor bezieht etwaige Probleme und Chancen in seine Erzählung mit ein. Dank seiner Fähigkeit, sich in seinen Protagonisten Clemens Freitag hineinzuversetzen und dessen Gefühle nachvollziehbar zu beschreiben wurde die Geschichte für mich glaubhaft. Gerne empfehle ich das Buch weiter.