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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Gold
Cleave, Chris

Gold


gut

Im Jahr der Olympischen Spiele in London sind die Bahnradsprinterinnen Kate und Zoe 32 Jahre alt. Die beiden Frauen kennen sich seit dem Tag, an dem sie als Jugendliche für den Radsport entdeckt wurden. Trainiert werden sie noch immer von Tom, der sich vom Erfolg seiner Mädchen eine zweite Chance im Leben erhofft. Nur eine Bahnradsprinterin kann für Großbritannien zu den Wettkämpfen antreten. Für Kate wie für Zoe wäre London die letzte Chance auf eine Medaille. Zoe hat bereits vier Goldmedaillen gewonnen; Kate scheint auf die Rolle der ewigen Zweiten abonniert zu sein. Die Sportlerinnen sind miteinander befreundet, doch das war nicht immer so. Grund ist der Dritte im Bunde, Kates Mann Jack, auch er wurde damals von Tom als talentierter Rennradler entdeckt. Heute sind Jack und Kate miteinander verheiratet und erziehen eine Tochter. Kate war schon als Kind für den harten Sport zu mitfühlend und zu wenig rücksichtslos. Offenbar hat sie sich bisher klaglos mit der Rolle der verzichtenden Mutter abgefunden. Immer wenn Jack ein wichtiges Rennen fuhr und immer wenn Zoe wieder eine Medaille erkämpfte, kümmerte Kate sich zu Hause in England um die kleine Sophie. Wer als Teilnehmerin zu den Spielen in London gemeldet wird, soll ein Auswahlrennen zwischen Zoe und Kate entscheiden. Doch dieses Mal treten nicht nur die ehrgeizige Sportlerin Zoe und die fürsorgliche Freundin Kate gegeneinander an. Das entscheidende Rennen wird von der Angst um Sophie überschattet, die an Leukämie erkrankt ist. In Rückblenden erfahren wir u. a. von Tom die Geschichte der ungewöhnlichen Dreierbeziehung der drei Sportler.

Sophies Krankheit hält die Familie Argall im Klammergriff. Typisch für schwer erkrankte Kinder versucht Sophie Schmerzen und Übelkeit zu verharmlosen, um ihre Eltern nicht damit zu belasten. Sie hat herausgefunden, dass Eltern sich weniger sorgen, wenn ihr Kind möglichst frech wirkt. Die Erwachsenen halten ein Kind dann für weniger leidend. Sophie taucht auf der Flucht vor ihrer Angst vor dem Tod im Skywalker-Kostüm in die Welt von Star Wars ab. Die Symbolik der Flucht eines Kindes in eine Fantasiewelt hat Chris Cleave schon in Little Bee genutzt. In "Gold" finde ich den Handlungsstrang der fernen Fantasiewelten zu breit ausgewalzt; denn seinetwegen verzichtet der Autor auf eine differenziertere Darstellung Sophies.

Chris Cleave beleuchtet das Thema Leistungssport aus ungewöhnlicher Perspektive. Der Sport dominiert die Beziehung zwischen Ehepartnern, das Training muss mit dem Elternsein vereinbart werden, Sportler werden von Öffentlichkeit und Presse als Besitz betrachtet. Sehr plastisch in der Figur des vom Sport gesundheitlich gezeichneten Tom stellt sich die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt, aus dem Sport auszusteigen. Muss ein Sportler zwangsläufig als Trainer seinem gewohnten "Stall" verbunden bleiben oder gäbe es auch eine andere Perspektive? Der Wettstreit zwischen Kate und Zoe kommt leider nicht ohne Klischees aus. Hier Zoe als aggressive Skandalnudel, die außer ihrem Sport keine Leidenschaften kennt; dort die sich aufopfernde Mutter, die die Trainingszeiten an den Rand eines Lebens mit einem krebskranken Kind pressen muss. Auch mit vielschichtigeren Konkurrentinnen hätte diese Geschichte funktioniert. Chris Cleaves Verknüpfung von Leistungssport, Elternsein und schwerer Krankheit hat mich aufgrund der einseitigen Darstellung der drei entscheidenden Figuren weniger begeistert als die Plotidee zunächst hoffen ließ. Trotz einiger humorvoller Dialoge, die größtenteils von Jack ausgehen, finde ich das Buch sprachlich nur durchschnittlich.

Bewertung vom 04.01.2017
Ameisengesellschaften
Werber, Niels

Ameisengesellschaften


ausgezeichnet

Flik, die Ameise aus "Das große Krabbeln" fehlte in den 90ern des letzten Jahrtausends in kaum einem Kinderzimmer. Die Großeltern dieser kleinen Ameisen-Fans wuchsen noch mit der Moral der Fabeln Aesops oder Lafontaines auf. Afrikanische Kinder lauschten Märchen mit Abenteuern des listigen Spinnenmännchen Kwaku Anansi. Der erzieherische Einfluss der winzigen achtbeinigen Gliederfüßer ist beachtlich. Die Symbolik der Filmbilder der Gegenwart schätzt Werber als hochpolitisch ein, da Autor oder Regisseur steuern, mit welcher Figur die Zuschauer(masse) sympathisieren wird. Jede Tierart kann als Aggressor oder Verteidiger dargestellt werden, als tugendhaft oder faul, um das Urteil der Zuschauer zu steuern.

Als Literaturwissenschaftler befasst sich Niels Werber mit der Verameisung des städtischen Lebens von Massengesellschaften in Belletristik und Fachliteratur. Der Ameisenstaat als prägnantes Symbol steht für die Polis wie für die anonyme Masse. Die Organisation staatenbildender Insekten kann man als Vorgänger republikanischer Staatsformen sehen. Den Bewohnern eines Ameisenhügels wird von Wissenschaftlern kollektive Intelligenz und die Fähigkeit zur Spezialisierung zugeschrieben, Ameisen gelten als altruistisch, erfolgreich und flexibel. Die Beobachtung und Erforschung eines Insektenstaats sei stets Selbstbeobachtung und lenke den Blick auf die menschliche Kultur, so Werber. Die Organisation eines Ameisenvolkes lässt sich als Abbild von Armeen, Sklavenhaltung, gewaltigen Verkehrsströmen, von optimierten Lagersystemen und durchgeplanter Transportlogistik nutzen. Kein Wunder, dass auch Völkerrechtler, Faschismusforscher und Sozialpsychologen die Verbindung von Ort und Ordnung in Insektensaaten für ihre Untersuchungen heranziehen.

Rückblickend ist es vermutlich kein Zufall, dass Stephenson "Leiningens Kampf mit den Ameisen" im Jahr 1937 veröffentlichte. Stapeltons SF-Roman "Last and First Men" (1930) nimmt laut Werber mit seiner schwarmintelligenten Netzwerkgesellschaft den Diskurs um die Schwarmintelligenz um Jahrzehnte vorweg und bildet nicht nur Bekanntes ab, sondern schafft eine eigene Gesellschaft.

Werber zeigt die Menschenbilder verschiedener Epochen und geht dafür bis zu den Massendarstellungen von Ernst Jünger, Aldous Huxley und Alfred Döblin zurück. Huxley stammte aus einer Familie von Zoologen und Evolutionstheoretikern, sein Bruder Julian Huxley ist laut Werber als Souffleur für die Werke seines Bruders zu betrachten. Auch auf Kiplings und Conrads Romane blickt Werber. Im gegenwärtigen Jahrtausend liefert der Ameisenhügel noch immer Stoff für Romane. Werber stellt am Beispiel des "Ameisenroman: Raff Codys Abenteuer" (Anthill, 2010) des Ameisenforschers Edward Osborne Wilson fest, dass in diesem Fall Belletristik ein größeres Publikum erreiche und wirkungsvoller sei als ein Fachaufsatz. Wilson hätte mit Anthill als Werk fiktionaler Ethnografie die evolutionstheoretische Kontroverse Dawkins versus Wilson mit literarischen Mitteln entschieden. Zwar befasst sich Werber mit Fragestellungen, denen Wissenschaftler am Thema Schwarm nachgehen, das Interesse an Schwarmintelligenz sollte jedoch nicht der einzige Grund sein, zu seinem literaturwissenschaftlichen Buch zu greifen.

Für mich war die Lektüre des mit zahlreichen Literaturverweisen versehenen Buches Anregung, mich wieder mit einigen Klassikern zu beschäftigen. Leser, die an Literaturwissenschaft ebenso wie an Naturwissenschaften interessiert sind, können sich von Niels Werbers interdisziplinärer Arbeit zum Wiederlesen ausgewählter Romane anregen lassen, die Völker als "Masse" darstellen.

Bewertung vom 04.01.2017
Die zehn dümmsten Fehler kluger Leute
Freeman, Arthur; DeWolf, Rose

Die zehn dümmsten Fehler kluger Leute


ausgezeichnet

In 14 Kapiteln, einem Test zur Selbsteinschätzung und einer Tabelle der wirkungsvollsten Techniken will der Therapeut Arthur Freeman mit den Mitteln der Verhaltenstherapie beliebte Denkfallen endgültig aus dem Leben seiner Leser tilgen. Freemans Liste von Fehlinterpretationen umfasst keine Fehler im Wortsinn, wie der Titel zunächst vermuten lässt, sondern Fehleinschätzungen und hartnäckige negative Grundeinstellungen. Freeman entlarvt die Neigung zu negativen Erklärungsmustern und stellt Menschen vor, die stets das Schlimmste annehmen oder erwarten, andere könnten ihre Gedanken lesen. Zu seiner Negativ-Liste gehören ebenso die hartnäckige Fehleinschätzung der Motive anderer Menschen, das Generalisieren und Übertreiben, die leichtfertige eigene Überschätzung als Glückspilz, den Umgang mit Kritik, den aus der Kindheit übernommenen Zwang, sich ständig mit anderen zu vergleichen, Perfektionismus und Selbstvorwürfe oder die Abneigung, klar Ja oder Nein zu sagen. Die Murphy-Persönlichkeit, die überzeugt ist, dass alles schief geht, was schief gehen kann, zeigt der Autor in all ihren Facetten. Wer eine oder mehrere der aufgelisteten Fehleinschätzungen kombiniere, verstärke ihre negative Wirkung, meint Freeman.

Mit zahlreichen Anekdoten illustriert der Autor lieb gewonnene negative Einschätzungen, beschreibt die persönliche Brille, durch die jeder von uns seine Mitmenschen beurteilt, und stellt mentale Werkzeuge zur Veränderung der eigenen Wahrnehmung vor. "Die 10 dümmsten Fehler kluger Leute" kann eingefahrene Denk- und Argumentationsweisen aufdecken; um alternative Verhaltensweisen einzuüben, wird die Lektüre des Buches allein nicht ausreichen.

Bewertung vom 04.01.2017
Paralans Kinder (eBook, ePUB)
Gerlach, Katharina

Paralans Kinder (eBook, ePUB)


gut

Vera Staven ist übel gelaunt. Als bisher einzige Frau tritt sie Galaktipol bei, dem Polizeidienst des Eisplaneten Paralan. Wenn der Boss "seine Männer" heranpfeift, hat auch Vera zu springen. Am Verhalten ihrer neuen Kollegen ihr gegenüber hat Vera sofort allerlei auszusetzen. Vera findet sich in einer doppelten Außenseiterrolle, als einzige Frau bei Galaktipol und als ungeliebte Terranerin unter Mitarbeitern diverser anderer Kulturen. Warum Vera als Polizistin vergleichsweise empfindlich reagiert, bleibt offen.

Außer Spielsucht und dem suchtartigen Konsum bestimmter Algen gibt es auf Paralan eine hohe Selbstmordrate. Die menschlichen Siedlungen sind ins Eis gebaut und durch Tunnel und Aufzüge miteinander verbunden. Ungewöhliche Lebewesen mit Tentakeln, Rüsseln und Flügeln kommen in der eisigen Welt offenbar gut zurecht.

Auf Paralan leben insgesamt nur ein paar Tausend Bewohner, darunter die dem Leben im Eis optimal angepasste Spezies der Schneebären. Schneebärenkinder haben ein Fell und schlüpfen aus Eiern. Zwischen der Schneebärenpopulation und der Spezies Mensch kommt es regelmäßig zu interkulturellen Verstimmungen, weil Menschen die körperlich kleinen Schneebären traditionell herablassend behandeln. Gemeinsam mit ihrem Schneebären-Kollegen Joloran und weiteren Spezialisten soll Vera den Fall von gleich 15 entführten weiblichen Schneebären-Jungtieren aufklären. Joloran wollte auf keinen Fall mit einem Terraner zusammenarbeiten. Doch immerhin hält er nun Vera als Frau für empathisch genug, mit ihm die Fahndung nach den kleinen Fellkugeln voranzutreiben. Der beunruhigende Entführungsfall führt Jorolan und Vera schon bald auf den Planeten Terra.

Das Szenario eines Eisplaneten und seiner Bewohner finde ich insgesamt schlüssig und gut ausgearbeitet; die Entwicklung des Plots und die Auflösung des interplanetaren Falls hat mir zum Ende weniger zugesagt. Veras und Jolorans inneren Monologen kann man als Leser sehr anschaulich folgen. Ansprechend wirkte auf mich auch der Perspektivwechsel, der Jorolans Sicht auf den ihm unbekannten Planeten Terra schildert. Vera als Figur fand ich interessant, aber mit ihrem Problem in der Männerwelt Galaktipol auch sehr anstrengend. Weitere Figuren tragen zwar vielversprechende Namen, bleiben in der insgesamt recht kurzen Geschichte jedoch leider nur Randgestalten.

Bewertung vom 04.01.2017
Sommer in Maine
Sullivan, J. Courtney

Sommer in Maine


gut

Alice Kelleher räumt aus dem Ferienhaus der Familie, was sich im Laufe von sechzig Sommern angesammelt hat. Die Patriarchin einer streng katholischen irisch-stämmigen Familie ist mit über achtzig Jahren eine der letzten Vertreterinnen ihrer Generation. Das Grundstück an der Küste von Maine erlangte Alices Mann kurz nach dem Krieg durch einen glücklichen Zufall. Inzwischen ist es Millionen wert. Daniel Kelleher stammt aus einer großen Familie, so dass in der ersten Zeit ihrer Ehe an manchen Wochenenden die Verwandtschaft mit bis zu vierzig Nichten und Neffen bei ihnen herum wimmelt.

Inzwischen ist das Haus zum Anlass und Symbol endloser Familienstreitigkeiten geworden. Familientreffen, die früher einmal spontan und aufrichtig verabredet wurden, sind einer strengen Einteilung der Sommerauffenthalte gewichen. Der Sohn Pat teilt sich und seinen beiden Schwestern einen der Sommermonate zu, kümmert sich um die Instandhaltung der beiden Ferienhäuser und setzt selbstverständlich voraus, dass er den Besitz einmal erben wird. Sich um die allmählich sonderbar werdende Alice zu kümmern, wird zunehmend als Last empfunden. Die Älteste, Kathleen, lebt tausende Kilometer entfernt in Kalifornien und hat sich seit Jahren nicht mehr in Maine blicken lassen. Die Geschwister scheinen sich aus dem Weg zu gehen. Die Absprachen, wer in diesem Sommer wann nach Maine fahren wird, verdecken nur notdürftig die Unversöhnlichkeit zwischen Großmutter, Kindern und Enkeln. Doch Alice hat ohne Wissen ihrer Kinder eigene Pläne gemacht.

Besonders Alices Tochter Kathleen hat in ihrer Kindheit unter einer Mutter gelitten, die ursprünglich keine Kinder wollte und ihren Lebensentwurf den Wünschen der katholischen Kirche und anderer Menschen unterordnete. Der Wunsch, anders als die eigene Mutter leben zu wollen, wird in Alices Umgebung als sündhaft angesehen. Der Druck auf die Töchter, sich zwischen Mutterschaft und einem Leben als Nonne entscheiden zu müssen, wurde über Alice an Kathleen weitergegeben. Kathleens Tochter Maggie schlingert bisher kaum anders als ihre Mutter durchs Leben; eine andere Enkelin weicht dem irisch-katholischen Dogma sogar bis nach Afrika aus. Sprachlosigkeit, Konfliktscheu, Schuldgefühle und Alkoholismus prägen den Umgang bei den Kellehers. Wichtiges wurde stets verdrängt, wie Alices Schuldgefühl in Zusammenhang mit dem Tod ihrer Schwester. Als nach und nach Alices Familie in Maine eintrifft, droht die Demontage des für Außenstehende sorgsam inszenierten Bildes einer großen glücklichen Familie. Offenbar hat nur noch Maggie die Chance ihre Kindheitserinnerungen als Kraftquelle zu nutzen; für die übrigen Frauen ihrer Familie scheint der Zug abgefahren zu sein.

Die Situation des Abschieds vom Ferienhaus als Lebensmittelpunkt einer Großfamilie bietet sich für einen Familienroman geradezu an. Die Starrheit der Kelleher-Frauen und ihre Unfähigkeit sich weiter zu entwickeln machte den Roman für mich zu einer Enttäuschung. Auf hunderten von Seiten wird kleinkarierter Familientratsch ausgebreitet. J. Courtney Sullivan nennt in ihrem hochgelobten Roman zwar Orte an der Küste von Maine, doch gelingt es ihr nicht, die Atmosphäre der Region zu vermitteln, die Leser sich unter dem Romantitel "Sommer in Maine" versprechen könnten.

Bewertung vom 04.01.2017
Pflanzenschutz
Vietmeier, Andreas; Klug, Marianne

Pflanzenschutz


ausgezeichnet

Den Begriff Pflanzenschutz denfiniert dieser handliche Ratgeber als das Wohlergehen einer Pflanze von der Standort- und Sortenwahl, über Bodenproben zum Erkennen von Nährstoffmangel, Schutz vor Hitze, Trockenheit und Kälte bis zum fachgerechten Schnitt. Da die Probleme von Obstbäumen, Laubbäumen, Nadelbäumen, Sträuchern, Rosen und Rasenflächen im Mittelpunkt stehen, richtet sich das Buch an Gartenbesitzer. Ein relativ kurzes Kapitel behandelt Schildläuse, Spinnmilben u. ä. Kümmernisse von Zimmer- oder Kübelpflanzen. Die angekündigte Soforthilfe konzentriert sich auf mechanische Verfahren (Absammlen, Rückschnitt und Vernichtung befallener Pflanzenteile), biologische (Aussetzen von Nützlingen) und biotechnische Methoden (Leimfallen). Hinweise zu Pflanzenschutzmitteln bleiben sehr allgemein und beschränken sich auf allgemeine Schutz- und Sicherheitshinweise.

Die systematische Ordnung nach Pflanzenarten spiegelt sich in Vietmeier/Klugs Pflanzenschutz-Kompendium durch einen übersichtlichen, optisch anprechenden Farbcode am oberen Seitenrand, der wie eine Reihe von Registerkarten wirkt. Auf jeder Doppelseite werden mit vier bis sechs Fotos von sehr guter Qualität Schädlinge und Pflanzenkrankheiten vorgestellt, so dass das Problem der betroffenen Pflanze mit einem Blick zuzuordnen ist. Beim Thema Schnecken haben die Autoren außer Bierfallen und Schneckenzäunen nichts Neues zu vermelden. Erfahrene Gartenbesitzer erkennen am Beispiel Schneckenbekämpfung, dass der Schwerpunkt des Buches auf der anschaulichen Beschreibung des Problems und ersten ökologisch unbedenklichen Maßnahmen liegt.

Ein übersichtlich gegliedertes und mit Register erschlossenes, optisch ansprechendes Buch für Gartenbesitzer/Gartenbenutzer als Einstieg ins Thema Pflanzenschutz.

Bewertung vom 04.01.2017
Kind aller Völker
Toer, Pramoedya Ananta

Kind aller Völker


ausgezeichnet

Ausgelöst durch die Begegnung mit der indonesischen Zweitfamilie des niederländischen Plantagenbesitzers Mellema sieht der junge Indonesier Minke das Verhältnis zwischen den Kolonialherren und der einheimischen Bevölkerung zunehmend kritisch. Mellemas Konkubine und zugleich Minkes Schwiegermutter muss hinnehmen, dass der Vater ihrer Kinder kein Testament hinterlassen hat und so der leibliche Sohn aus den Niederlanden 2/3 des umfangreichen Besitzes erben wird. Mellema hatte offenbar für den Lebensunterhalt seiner indonesischen Geliebten und seiner Kinder nicht vorgesorgt und die Frage verdrängt, ob sein ältester Sohn für die Nachfolge als Plantagenverwalter überhaupt qualifiziert ist. Die "Nyai" Sanikew ist nicht nur aufgrund der rassistischen Gesetze der Konolnialmacht und der individuellen Bosheit einzelner Personen in ihre aussichtslose Situation geraten, sondern ebenso durch Mellemas Konfliktscheu. Der beispielhafte Konflikt um ein Erbe und einen Nachfolger im elterlichen Betrieb ist in jeder Kultur und in jeder Epoche denkbar. Aufgrund der Allgemeingültigkeit der Situaton der nicht anerkannten "Witwe" bleibt der Spannungsbogen im zweiten von vier Bänden gespannt, während Minke eine interessante Entwicklung vom verwöhnten Sohn zum Querdenker vollzieht.
Minke stammt aus einer mächtigen einheimischen Familie. Für seinen Lebensunterhalt und seine Bequemlichkeit war immer gesorgt, bisher hat er nie über die Lebensbedingungen der einfachen Javaner nachgedacht oder darüber, wer den Wohlstand seines Vaters erarbeitet hat. Durch persönliche Betroffenheit und die richtigen Fragen, die ihm gestellt werden, beginnt Minke nun über die Grenzen seiner Insel hinauszudenken. Die erste Querdenkerin, mit der der junge Mann in Kontakt geriet, war seine Lehrerin für niederländische Literatur, es folgten seine Schwiegermutter als außergewöhnlich geschickte Geschäftsfrau und schließlich der Kontakt zum Journalismus. Wie Minke durch kritisches Nachhaken seines alten Freundes reflektiert, welchen Interessen eine Zeitung dient und welchen Interessen Minke selbst dient, je nachdem ob er niederländisch oder malaiisch publiziert, fand ich überaus spannend zu verfolgen.

Pramoedya Ananta Toers Absicht, mit seiner Buchreihe ein politisches Lehrstück vorzulegen, ist nicht zu übersehen. Minke trifft im für die Handlung entscheidenden Moment stets den zu seinem aktuellen politischen und sozialen Bewusstsein passenden Informanten. Die vielen Figuren aus diversen Kulturen und ihre Schicksale machen die spürbare pädagogische Absicht jedoch erträglich.

Bewertung vom 04.01.2017
Träume Digitaler Schläfer (eBook, ePUB)
Kümmel, Anja

Träume Digitaler Schläfer (eBook, ePUB)


sehr gut

In einem dystopischen Szenario nach einem jahrzehntelangen Weltkrieg ist die Welt in ein ausbeutendes Nord- und ein unterdrücktes Südnetz geteilt. Getrennt voneinander sind ein wohlhabender Bereich und eine Slumwelt ohne Infrastruktur. Irgendwo gibt es noch ein intaktes Ökosystem, in das Urlaubsreisen möglich sind. Das männliche und weibliche Geschlecht wurden in diesem kybernetischen Kommunismus abgeschafft. Geschlecht ist zu einem veralteten Begriff auf nicht mehr genutzten Speichermedien geworden. Alle Wesen sind "Es", Fremde werden als "das Fremde" bezeichnet. Die Fortpflanzung liegt nicht mehr in der Hand der Neutren; sie findet automatisiert im Labor statt. Die Notwendigkeit durch Chromosomen-Ausstattung und äußere Geschlechtsmerkmale einem Geschlecht zuzuordnen zu sein entfällt in dieser Gesellschaft, die Zugehörigkeit zu XX oder XY muss sogar zur eigenen Sicherheit verborgen werden. Sex findet direkt im Hypothalamus statt. Interessant, dass es offenbar ein dominierendes Geschlecht gibt, von dem viele Vertreter erwünscht sind, und ein zahlenmäßig schwächeres Geschlecht, obwohl der letzte Krieg verdeutlichte, wie ein Ungleichgewicht der Geschlechter zu Aufständen führt. Fraglich ist, ob die Bewohner dieses Szenarios noch Lebewesen oder durch ihre implantierten digitalen Schnittstellen bereits zum Cyborg geworden sind. Die gesellschaftliche Entwicklung geht steil abwärts, weil ehemals vorhandene Technologien - und die sie beherrschen - den Krieg nicht überlebt haben. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass das Beherrschen der Fortpflanzungs-Technologie durch wenige Experten diesen Niedergang weiter forcieren wird.

Als Gedanke anregend, beim Lesen jedoch sehr anstrengend, fand ich Anja Kümmels geschlechtsneutrale Figuren in der dystopischen Rahmenhandlung. Immer wieder habe ich mich dabei ertappt, Hinweise auf das Geschlecht einer Person zu suchen und die Figuren als weiblich oder männlich zu denken. Ashur und Elf träumen sich aus einem Leben im Untergrund in die Sicherheit einer virtuellen Welt, (die auch dem Leser Rückhalt im Vertrauten gibt,) in der die Figuren ganz selbstverständlich dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind, ohne dass beide selbst die Rückentwicklung in ein "Sie" im historischen Szenario wahrnehmen können. Ihre virtuelle Zeitreise führt Ashur ins Kastilien zur Zeit der Hexenverfolgung (wo "es" zu Adina und weiter zu Ana Luz wird) und Elf nach Paris während der Besetzung durch Nazideutschland (wo "es" die Rolle einer Amerikanerin einnimmt auf der Suche nach Schauplätzen vergangener Epochen). Die Verlagerung der Fortpflanzung ins Labor und das Ende der uns vertrauten Geschlechtsrollen fand ich gleichermaßen faszinierend wie anstrengend. Die Zeitreise zu Ereignissen, von denen ein Szenario unsere Eltern oder Großeltern vor 70 Jahren noch selbst erlebt haben, erzählt Anja Kümmel souverän und mit Gefühl für die jeweilige Atmosphäre. Die in Paris spielenden Passagen wirken wie ein Rückzug in vertrautes Refugium, selbst das im Krieg besetzte Paris wirkt vertrauter als die dystopische Rahmenhandlung. "Träume digitaler Schläfer" empfinde ich als mutiges Buch, dem eine Unterstützung durch einen Publikumsverlag zu wünschen ist.

Bewertung vom 04.01.2017
Nacht ist der Tag
Stamm, Peter

Nacht ist der Tag


ausgezeichnet

Matthias hatte Alkohol getrunken, bevor er den Unfall verursachte, der ihn das Leben kosten sollte. Seine Frau Gillian überlebt und erwacht schwer verletzt in einer fremden Umgebung, die durch den Rufknopf für die Krankenschwester begrenzt ist. Gillian muss aus den Satz- und Informationsfetzen um sie herum erst wieder eine Wirklichkeit zusammensetzen. Sie hat Schmerzen und als Folge ihrer Bewusstlosigkeit verwirrende Gedanken. Das Ausmaß ihrer Verletzungen und Matthias Tod erfasst sie zunächst noch nicht. Am Krankenbett wird deutlich, dass Gillian ein sehr schwieriges, kühles Verhältnis zu ihrer Mutter hat und dass im Leben beider Frauen die nach außen gezeigte Fassade zentrale Bedeutung hatte. Gillians Mutter war Stewardess, Gillian arbeitete zuletzt als Moderatorin einer Talkshow. Übergangslos wechselt die Geschichte in die Vergangenheit, als Gillian Kontakt zu einem Künstler suchte, der Frauen nackt malte und fotografierte. Die Beziehung zu Hubert könnte man als Auslöser der Ehekrise zwischen Gillian und Matthias sehen und damit als ursächlich für den tödlichen Unfall. Nach einem Zeitsprung von mehreren Jahren treffen wir Hubert wieder, inzwischen Ehemann, Vater und mitten in einer Schaffenskrise. Weil Hubert als Referent eines Sommerkurses und Artist in Residence in einen Ferienort im Gebirge eingeladen wird, kommt es zu einem Wiedersehen mit Gillian, die dort inzwischen arbeitet und im Ferienhaus ihrer Eltern lebt. Vermutlich als einziger Kontakt in Gillians Leben sah Hubert seit ihrer ersten Begegnung in einer Talkshow hinter Gillians Fassade. Nun ist es an Gillian, in Huberts Krise aufrichtig ihm gegenüber zu sein. Ob Gillian selbst eine vergleichbare Unterstützung erfahren hat, bleibt ungeklärt.

Peter Stamms Hauptfiguren haben mich zunächst wenig interessiert, solange ihre Zugehörigkeit zum Kultur-Establishment im Mittelpunkt stand. Stamms Technik des nüchternen Reduzierens auf das unbedingt Nötige überspringt Gillians Entwicklung aus der persönlichen und beruflichen Krise und lässt nach dem entschiedenen Schnitt den Maler und sein Modell in einem völlig anderen Licht erscheinen. Der entscheidende Abschnitt des Buches fand in meinem Kopf statt. Als Fan von Peter Stamms Kurzgeschichten finde ich seinen kargen Stil in der Wirkung immer wieder verblüffend, wenn seine "schlanken" Texte lange nachklingen.