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Insgesamt 577 Bewertungen
Bewertung vom 18.05.2008
Die Möwe
Tschechow, Anton Pawlowitsch

Die Möwe


ausgezeichnet

Chechov entdeckte in seinen Stücken, die auf deutschen Bühnen häufig mit russsicher Schwermut übergossen werden, Komödien. Bei aller Lethargie, bei allem Festhalten an Bewährten, bei aller Sehnsucht, schonungsloser Zeichnung entpuppen sich auch in der Möwe die Figuren, als Menschen, deren Schwächen einem ein Lächeln abringen. Die schreckliche Langeweile, die Leere versüßen sie sich, indem sie sich gegenseitig sticheln, um sich selbst aufzuwerten. Im Mittelpunkt steht ein Theaterstück, das am Abend aufgeführt werden soll. Ausgerechnet vom Sohn einer Schauspielerin geschrieben. Dass das nicht gut gehen kann, liegt auf der Hand. Chechov versammelt in den Personen Nina, Treplev, Trigorin und der Mutter Arkadina eine Handvoll Künstler, die am Ende oder am Anfang ihrer Laufbahn stehen, denen der Erfolg keine Genugtuung gibt. Ihr Leben erscheint merkwürdig zelebriert, erhöht, von der Aufmerksamkeit anderer abhängig. Allesamt werden sie enttäuscht werden, weil ihre hochgesteckten Ziele ob in der Kunst oder in der Liebe nicht zu erfüllen sind. Chechov entwirft den Mikrokosmos eines Künstelerlebens, die Randexistenzen, Schwärmer, Neider, Naiven, Liebenden, wie Versteinerten. Er begeht jedoch nicht den Fehler einer Abrechnung, sondern beschreibt mit viel Charme und Zuneigungen das Scheitern. Der Tod am Ende ist keine Läuterung, er wird hingenommen. Im übertragenen Sinn heißt das wohl, dass sich der Tod, das Sterben in seinen Figuren breitmacht, und dass er ständig nach deren Leben greift. Wie ließe sich das besser ertragen als mit einem Lächeln.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 18.05.2008
Kalter Himmel
Moore, Brian

Kalter Himmel


sehr gut

Nicht das einzige Mal, dass in Brian Moores Romanwelt das Jenseits zu Wort kommt. Im Standgeburtstag taucht plötzlich die verstorbene Familie auf, in der Viktorianischen Sammlung ein ganzer Jahrmarkt. In Kalter Himmel wird Marie Davenport von ihrem bei einem Unfall verunglückten, im Krankenhaus verstorbenen Ehemann heimgesucht, was sie nicht nur veranlasst, ihr neues Leben mit einem anderen Mann zu vertagen, sie begibt sich sogar auf die Suche nach ihrem Ehemann und bemüht sich verzweifelt, andere davon zu überzeugen, dass dies kein Hirngespinst ist. Dass bei dem plötzlichen Tod eines Nahestehenden, Selbstvorwürfe überhand nehmen können, man ihm nicht mehr all das sagen kann, was man ihm noch sagen wollte, Seitensprünge oder vorgesehene Trennungen sich mit einmal wie ein Verrat anfühlen, soll vorkommen. Eine spannende Geschichte um den Tod eines Ehemanns mit den erdrückenden Zweifel, dem aufkommenden Gefühl von Schuld und den Fragen nach dem Glauben zu verstricken, gelingt nur einem Schriftsteller, dessen Werk sich immer wieder mit diesem Thema auseinandergesetzt hat. Brian Moore gehört zu den wenigen Schriftstellern, die den Übergang zwischen den Welten so geschmeidig zu beschreiben vermögen, dass einen das Konstrukt dahinter nicht stört, weil man an dem Menschen interessiert ist, dem all das geschieht. Zwischendurch weiß man wirklich nicht, ist Davenport noch am Leben und treibt sein teuflisches Spiel mit seiner Ehefrau oder wird sie wahnsinnig. Besser kann man kaum unterhalten werden.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 18.05.2008
Fräulein Julie
Strindberg, August

Fräulein Julie


ausgezeichnet

Rache an sich selbst zu nehmen, ist ein schlechter Ratgeber, wenn man sitzen gelassen wurde. So wird Fräulein Julie, die es wegen einer gescheiterten Verlobung in die Arme ihres Untergebenen Jeans treibt, Opfer ihres Ausbruchs. Bei dem Stück könnte es sich um ein Sozialdrama handeln. Nicht selten empfinden Leser den schonungslosen Blick Strindbergs als eine Auseinandersetzung zwischen oben unten, zwischen Gutsbesitzertochter und Lakai. Jean erscheint unter dem Licht als gewieft, als ein Mann, der sich weit vorwagt und seine Niederlage, die Angst seine Arbeit wegen Julies Moment der Schwäche zu verlieren, zu übertünchen versteht. Strindbergs spätere quälende Auseinandersetzung mit der Suche nach dem Ich, den Mysterien findet in Fräulein Julie erste Wurzeln. Eine Frau erniedrigt sich unter ihrem Stand und sieht sich in einem Ringen zwischen Mann und Frau versetzt, bemüht sich ihre Herablassung, Überlegenheit zu behalten, um sich nicht ganz dem Selbstekel zu überantworten. Dabei ist der Blick auf Jean und der Magd Christine von romantischer Verklärung. Die Magd ist träge, der Lakai besserwisserisch, kraftmeierisch. Auch wenn Jean Fräulein Julie das Rasiermesser in die Hand drückt, scheinbar der Überlegene ist, wird er weiter am Ende der Leiter ausharren. Im Gegensatz zu den komplexeren Stücken nach Damaskus, Totentanz erscheint Strindbergs Welt in diesem Stück homogen, einfach gestrickt. Doch sind die psychologischen Verwerfungen seiner Figuren abgründig genug, um eine spannende Handlung zu entwerfen. Wäre es zu der vorgesehenen Verlobung gekommen, wären die Grundfesten dieser Welt wohl kaum ins Wanken gekommen.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 17.05.2008
Hitze
Rothmann, Ralf

Hitze


sehr gut

Der Autor verläßt mit diesem Roman sein vertrautes Terrain. Er kehrt dem Ruhrgebiet den Rücken und findet seinen Helden in einer Großküche in Berlin-Kreuzberg. Den Blick für skurile Figuren verliert Rothmann nicht. Simon DeLoo ist Hilfskoch, erscheint nach einem Schicksalsschlag gestrandet zu sein und sich beim Nachleben zuzuschauen. Erst eine Stadtstreicherin reißt ihn aus seinem eigenartigen Phlegma. Er kümmert sich um sie. Doch was als selbstauferlegte Therapie beginnt, er sich in der Rolle des Retters gefällt, trifft auf wenig Gegenliebe. Lucilla ist plötzlich verschwunden. Sie hat bei DeLoo soviel Eindruck hinterlassen, dass er ihr hinterher reist. Scheinbar nur um die Dinge zu klären, eigentlich auf der Suche nach dem, was er freiwillig aufgegeben hat. Zwei Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen auf der Flucht sind, begegnen sich in diesem Roman, legen eine weiter Reise zurück, um wieder an den Ausgangspunkt zurückzukehren. Eine in sich runde Geschichte, der leider der Charme früherer Romane Rothmanns abgeht. Trotzdem vermag dieser Schriftsteller zu schreiben, und es lohnt sich, selbst diese etwas schwächere Geschichte zu lesen.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 17.05.2008
Die Verwandlung
Kafka, Franz

Die Verwandlung


ausgezeichnet

Die Verwandlung ist sicher Kafkas radikalste, direkteste Erzählung, verlangt geradezu nach Deutung, was sie zur idealen Schullektüre macht. Sie bietet nicht die Grundlage für Horrorphantasien, wie Therapeutenerkenntnisse, mit ihr spinnt der Autor sein Thema der Einsamkeit fort, die einen Menschen sich in sich verpuppen läßt. Die Psychologie besitzt dafür die passenden Begriffe. Kafkas Verdienst ist es, uns in Samsas Welt hineinzuziehen. Wie stehen ihm nicht gleichgültig gegenüber, auch wenn die Realität mehr und mehr verschwimmt, hinterläßt sie Ängste, Beklemmung, sucht man verzweifelt nach einem Ausgang, der sich nicht auftut. Was eine Familie sich selbst anzutun vermag, findet hier zwischen vier Wänden statt. Es muss nicht immer ein plötzlich über einen hereinbrechender Prozess sein, kein Schloss, dem man sich verzweifelt zu nähern versucht, es ist das so genannte eigene Fleisch und Blut, dass einen erschaudern läßt. Kafka besaß die Sprache, um die Erzählung nicht in eine banale Horrorgeschichte abgleiten zu lassen. Trotz einiger Schwächen in der Überzeichnung vergisst man Gregor Samsa so leicht nicht. Er könnte nebenan an wohnen. Oder noch näher.
Polar aus Aachen

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.05.2008
Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel
Schiller, Friedrich

Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel


ausgezeichnet

Deutsche Klassik ist oft ein hartes Brot. Wen das nicht stört, bekommt immerhin einen Eindruck von einem glanzvollen Bürgerlichen Trauerspiel, das nicht umsonst im Kanon deutscher Theaterstücke seinen festen Platz hat. Die Liebe zwischen Ferdinand und Louise ist gleichzeitig ein Sittenbild seiner Zeit. Der Standesunterschied, etwas, was man heutzutage kaum noch thematisiert, treibt die Handlung voran. Was den Adel einst ausgemacht hat, für das findet Schiller treffende Bilder. Auch für jene Randfiguren, die sich in deren Schatten, Einfluß und ein Auskommen sicherten. Die Intrige, ihre Beherrschung gehörte in den Kern dieser Gesellschaft, deren Mechanismen Schiller gnadenlos bloßgelegt. Und hinter allem künden sich bereits die Stürme an, die das Land verändern werden.
Polar aus Aachen

7 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.05.2008
Die Blechtrommel
Grass, Günter

Die Blechtrommel


ausgezeichnet

Kaum ein Roman der Nachkriegszeit ist ins deutsche Bewusstsein so eingesickert wie die Blechtrommel. Oskar, der Freche, der Unerschütterliche, der Neugierige, der, der sich ungebten einmischt. Und doch ein Kind. Wegen ihm hat der Autor den Nobelpreis bekommen. Sein Blick auf die Welt war neu, einzigartig, naiv dem Schrecken gegenüber. In ihm schafft Grass das, was in manchen seiner anderen Romane nicht gelungen erscheint: Er fängt seine Zeit ein, bürdet ihr eine politische Wertung auf und gleitet nicht ins Besserwisserische, ins Belehrende ab. Heimat schimmert zwischen den Sätzen hindurch. Nicht der Begriff, den Nazideutschland mißbraucht hat. Jener Ort, an dem Grass verwurzelt ist, dem er diesen großartigen Roman verdankt. Die Familie Matzerath führt uns alle an der Hand durch die Wirren der Jahrzehnte. Dass die im Roman auftauchenden Fünfziger Jahre Oskar Matzeraths dabei kaum den Leser im Gedächtnis haften, liegt an dem überzeugenden Entwurf Danzigs, dessen Alltag Grass nicht nur durch den Mythos eines Jungen einfängt, der nicht wachsen will. Danzigs kleine Leute zeichnet er so liebevoll nach, dass sie einem vertraut zu sein scheinen. Gleichzeitig beschreibt Grass eine Welt, die es nicht mehr gibt. Sie ist mit dem Terror untergegangen. Die Personen und Handlung sind frei erfunden, steht im Buch. Wie nahe an der Wirklichkeit muss Grass sich herangetraut haben, um das versichern zu müssen. Die leichte Poesie, die spielerische Eleganz bleibt einzigartig. Oskar ist zur literarischen Figur geworden, hat Nachfolger in der Weltliteratur gefunden. Mit ihm rückte ein Außenseiter in die Mitte und hat mit weit aufgerissenen Augen die Welt, den Schrecken, die bleiernen Fünfziger betrachtet.
Polar aus Aachen

4 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.05.2008
Mephisto
Mann, Klaus

Mephisto


ausgezeichnet

Roman einer Karriere lautet der Untertitel, und es ist viel über die Figur des Gustaf Gründgens im Aufstieg des Schauspielers Höfgen geschrieben worden. Dabei stellt der Roman über die biographische Randnotiz hinaus die entscheidenden Fragen, wie das Leben Bestand hatte, der berufliche Aufstieg im Nazideutschland, die Anpassung im gleichgeschalteten Dritten Reich vonstatten ging. Es fällt leicht Höfgen, in dessen Name sich der Begriff Höfling spiegelt, ohne Vorbehalt zu verdammen. Doch Klaus Mann macht es trotz aller Abrechnung seinen Lesern nicht einfach. Hat Höfgen nicht auch Menschen zu retten versucht, indem er sie seinem Theater als unabkömmlich bezeichnete? Hat er nicht gleichzeitig viele Freunde fallen lassen? Anders als viele Immigranten blieb er vor Ort, katzbuckelte, weil er es seiner Kunst schuldig zu sein glaubte. Es fällt den Nachgeborenen leicht, Urteile zu fällen. Es gehört Mut, Rückgrat, Einsicht in das Unabänderliche dazu, um ein Zeichen zu setzen, seinem Land den Rücken zu kehren. Höfgen ist feige. Niemand weiß das besser als er selbst. Trotz seiner unterschwelligen Abrechnung mit Gründgens hat Klaus Mann sich bemüht, sich in sein Leben hineinzuversetzen. Dabei kommt nicht nur Schwarz-Weiß raus, sondern sehr viel grau, das unter Theaterschminke verschwindet. Ich bin doch nur ein Schauspieler, sagt Höfgen an einer Stelle. Ähnliche Sätze lauten: Ich habe nur einen Befehl ausgeführt, meine Pflicht getan, von all dem nichts gewusst, uns hat ja keiner was gesagt. Und alles gipfelt in dem Satz: Was hätte ich den tun sollen? Um ihn dreht sich der Roman. Klaus Mann beschreibt furios, die Verführung, die Angst, die Ohnmacht, den Genuss, sich im Schatten der Macht einzurichten, und weist akribisch nach, wie sehr man wegsehen muss, um das durchzuhalten. Ein sehr deutsches Buch. Die Gefühle überhitzen sich in Ideen, sie finden nicht die Kraft zum Widerstand.
Polar aus Aachen

5 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.05.2008
Felicias Reise
Trevor, William

Felicias Reise


sehr gut

William Trevor gelingt in diesem Roman etwas, wofür Schriftstellerkollegen größeren Aufwand betreiben müssen: eine tragische Geschichte so zu erzählen, dass ihre Abgründe ohne Vorbereitung über einen herfallen. Eine junge, katholische Irin ist schwanger und reist dem Vater ihres Kindes nach England hinterher. Schon zu Anfang des Romans scheint sie, hilflos und trotzdem vom Schicksal beschützt zu sein. In der Verzweiflung findet sie den Mut, die Dinge nicht so hinzunehmen. Als Leser steht man ihr sofort bei, will nicht, dass ihr etwas geschieht. Sie soll dafür belohnt werden, dass sie sich aufmacht, sich nicht stoisch abfindet. Dann taucht Mr. Hilditch auf. Jener geheimnisvolle, hilfsbereite Mittvierziger, dem der Leser sofort misstraut. Er erinnert an die Männer, die kleinen Kindern eine Tüte Süßigkeiten hinhalten und vor denen man sie zu warnen versucht. Dabei trifft man mit seinen Verdächtigungen nicht selten den Falschen. Trevor hält das alles in der Schwebe, zieht uns durch ein Gefühlsbad von Vertrauen und Vorsicht. Mr. Hilditch muß doch etwas im Schilde führen? Warum taucht er dauernd auf? Was will er? Wie Trevor die beiden Menschen nah beieinander stranden läßt, ihre Wege sich kreuzen, wie er den Zeitsprung einsetzt, den der Leser füllen muss, um herauszufinden, was geschehen sein könnte, macht William Trevor zu einem der herausragenden irischen Erzähler. Er schafft es allein durch seinen Stil, dass man Anteil nimmt, das Buch nicht aus der Hand legt.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 11.05.2008
Lichtjahre
Salter, James

Lichtjahre


ausgezeichnet

Eine perfekte Ehe, gibt es das überhaupt? Dem Anschein nach in Nedra und Viris Leben schon. Eigentlich müssten sie sich keine Sorgen machen. Sie besitzen Geld, einen wunderbaren Ort, an dem sie leben, Kinder, Freunde. Sie haben es geschafft. Dies ist zumeist der Boden, in den Schriftsteller ihre Wurzeln schlagen, Risse aufweisen, sei die Lüge auch noch so fein, sie ans Licht bringen. Seitensprünge beleben dabei das Familienleben, das sich umso leichter aushalten und aufrecht erhalten läßt, je unbeschwerter die Stunden sind, die man außerhalb dieser Ehe verbringt. Doch ist es in Salters Roman nicht eine Hälfte, die die andere betrügt, hier nehmen sich beide die Freiheit, nach Verlorenem zu suchen. Nach dem, was sie einmal ausgemacht hat. Nedra und Viri suchen das Abseits auf, um ihren Alltag zusammen zu halten. Was Stil sein kann, wie ein Schriftsteller allein durch seine Sprache eine altbekannte Geschichte neu erzählt, läßt sich bei James Salter nachschlagen. Literatur bewegt sich in ihren Meisterwerken nahe an den Menschen heran, findet Sätze für sie, die Empfindungen nachspüren. Sei es, dass man an deren Ende auf die Leere, auf die Verzweiflung, auf uneingestandene Liebe trifft. Es ist die Atmosphäre, die in diesem leisen Buch betört, die Kargheit, die sich durch die Jahreszeiten zieht. Und am Ende glaubt der Mann, dass er zu allem bereit ist, dass die Zukunft ruhig kommen mag. Er fühlt sich bereit, mag er sich auch von der Liebhaberin getrennt haben, mag auch die nächste Versuchung auf ihn warten.
Polar aus Aachen

5 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.