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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 30.09.2021
Die Anomalie
Le Tellier, Hervé

Die Anomalie


ausgezeichnet

Narrative Spielwiese

Hervé le Tellier, ein in Deutschland weitgehend unbekannter französischer Schriftsteller, hat mit seinem Roman «Die Anomalie» den Prix Goncour 2020 gewonnen, sein bisher größter Erfolg. Der studierte Mathematiker ist Präsident des Autorenkreises ‹Oulipo›, der ‹Werkstatt für Potentielle Literatur›, deren Mitglieder sich zu geistreichen literarischen Spielen bekennen. Dieses zum Genre des psychologischen Romans zählende, raffinierte Werk ist ein virtuoses Gedanken-Experiment, das ein Jahr voraus in eine nahe Zukunft weist, in der die Gewissheiten dieser Welt in einer listigen Versuchs-Anordnung total auf den Kopf gestellt werden.

Im März landet eine Boeing 787 der Air France, Flug 006 Paris/New York, die in ein schlimmes Unwetter geraten ist und leicht beschädigt wurde, mit 243 verschreckten Passagieren an Bord wohlbehalten auf dem JFK-Airport. Im Juni gleichen Jahres wird Flug 006 von Abfangjägern eskortiert auf einen US-Militärflugplatz umgeleitet. Wie sich herausstellt ist es die gleiche Maschine mit den exakt gleichen Beschädigungen und genau den gleichen Personen an Bord wie vor drei Monaten. In der Quarantäne auf dem Luftwaffen-Stützpunkt beginnt eine hektische Untersuchung all dieser seltsamen Details, in die alle relevanten Institutionen des Staates und Koryphäen aus den entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen weltweit einbezogen sind. Eiligst werden auch alle Passagiere des März-Fluges auf den von Geheimdienstlern wimmelnden Stützpunkt gebracht und dort unter psychologischer Betreuung mit ihrem duplizierten Ich konfrontiert. Als alle wissenschaftlichen Erklärungsversuche dieser «Anomalie» kläglich scheitern, ruft der Präsident die Führer sämtlicher Weltreligionen zu einer Konferenz im Weißen Haus zusammen, auch das ohne irgendein Ergebnis.

Hervé le Tellier entwickelt seine Geschichte von der simulierten Wirklichkeit mit Hilfe eines illustren Figuren-Ensembles. Zu dem gehören ein Auftragskiller, ein schwuler afrikanischer Pop-Sänger, ein Architekt samt seiner Geliebten, eine farbige Anwältin, ferner ein Schriftsteller, der an einem Roman mit dem Titel «L’Anomalie» schreibt, und andere mehr. Jeder von ihnen hat so seine Probleme, nun aber ergeben sich aus der Tatsache, dass sie urplötzlich gleich zweimal existieren, ein Fülle von aberwitzigen Komplikationen. Der Auftragskiller löst sein Problem, indem er sein Zweit-Ich kidnappt, kaltblütig umbringt und trickreich entsorgt. Schwieriger wird es mit einem Kind, das nach der ersten Landung zu Welt gekommen ist und im Juni auf einmal zwei identische Mütter hat. Auch den depressiven Schriftsteller plagt das Problem, dass sein März-Ich den Roman L’Anomalie geschrieben und sich danach umgebracht hat, sein Juni-Ich den eigenen Roman also gar nicht kennt.

Es liegt auf der Hand, dass derart abstruse Ideen von einer verrückt gewordenen Welt reichlich Stoff bieten für vielerlei kontemplative Exkursionen, die in einem intellektuellen Feldversuch in rascher Folge auf den Leser einstürmen. Man sollte bei dieser den Lachmuskel strapazierenden Satire deshalb stets auch den experimentellen Ansatz und die kontemplativen Leerstellen dahinter im Auge behalten. Mit viel schwarzem Humor werden hier die kopflosen, unsinnigen Reaktionen der wissenschaftlichen und politischen Akteure angesichts der duplizierten Realität durch den Kakao gezogen. Zur Verdeutlichung der Schwindel erregenden Komplexität dieser narrativen Spielwiese werden ergänzend diverse literarische Bezüge mit herangezogen. Als Moralphilosoph eines neu angebrochenen, digitalen Zeitalters lässt Hervé le Tellier seine Romanfigur bei der Vorstellung des neuen Buches auf die Frage, was sich für uns durch eine simulierte Realität denn ändern würde, erklären: «Nichts». Der Mensch wäre blind allem gegenüber, was beweisen würde, dass er sich täuscht, aber genau das sei nun mal zutiefst menschlich. Ein grandioser Roman, von dessen literarischem Kaliber aktuelle deutsche Preisträger weit entfernt sind!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.09.2021
Blaue Frau
Strubel, Antje Rávik

Blaue Frau


ausgezeichnet

MeToo

Acht Jahre lang hat Antje Ravik Strubel an ihrem neuen Roman mit der Titel «Blaue Frau» gearbeitet, wie sie im Nachwort schreibt, und das hat sich offensichtlich gelohnt, denn er wurde jüngst in die Shortlist für den Deutschen Buchpreis aufgenommen. Man darf spekulieren, was dafür ausschlaggebend war, die hochaktuelle Thematik oder das variationsreiche Roman-Konstrukt, welches «aufwühlend in einem großen Spannungsbogen» von einer Gewalterfahrung und ihren fatalen Folgen berichtet, wie die Jury zu ihrer Entscheidung verlauten ließ.

Adina, letzter Teenager in einem zunehmend entvölkerten Dorf im tschechischen Riesengebirge, verlässt 2006 nach dem Schulabschluss ihre Heimat, um in Berlin einen Intensiv-Sprachkurs zu absolvieren und anschließend dort ein Studium der Geowissenschaften aufzunehmen. Sie trifft auf eine Fotografin aus der Boheme, der sie Modell sitzt und der es gelingt, in den Fotos ihr zweites, männliches Ich, «den letzten Mohikaner», ans Licht zu holen. Sie hatte dieses Pseudonym für ‹Rio›, ihren bevorzugten Chatroom im Internet, ausgewählt, ein Symbol für ihr aussterbendes Dorf und ihre bedrückende Verlorenheit in der Fremde. Die lesbische Fotografin ist es dann auch, die ihr eine Praktikanten-Stelle in einem neuen Kulturzentrum auf einem Landgut in der Uckermark vermittelt. Dort wird sie von einem europäischen Kulturpolitiker, der zu Gesprächen über Fördergelder eingeladen ist, brutal vergewaltigt. In Panik flieht sie und landet nach einer abenteuerlichen Odyssee schließlich in Helsinki. Als Illegale arbeitet sie dort in einem Hotel, wo sie Leonides, einen estnischen EU-Abgeordneten und hochangesehenen Professor, kennen lernt, der sich vornehmlich der Menschenrechts-Thematik widmet. Als Adina anderthalb Jahre später auf einem Empfang, zu dem sie Leonides begleitet, ihren Peiniger wiedersieht, flüchtet sie Hals über Kopf und versteckt sich in einer eiligst angemieteten, möblierten Wohnung. Niemand weiß, wo sie abgeblieben ist, bis sie sich einer Aktivistin für Frauenrechte anvertraut, die ihr helfen soll, ihren Peiniger vor Gericht zu bringen.

«Blaue Frau» ist ein ambitionierter Roman nicht nur über Gewalt an Frauen und den dornenreichen Weg aus dem inneren Exil, in das sich seine Heldin geflüchtet hat, er widmet sich auch engagiert den politischen Abgründen Europas, dem unwürdigen Gezerre der Mitgliedsstaaten um Subventionen und kulturelle Fördertöpfe. Wobei die Ost/West-Differenzen ebenso eine Rolle spielen wie die unterschiedliche Stadt/Land-Lebensweise oder die DDR-Vergangenheit, die in der Person des skrupellosen Kulturzentrum-Gründers, einem ehemaligen NVA-Offizier mit nützlichen Seilschaften, exemplarisch zum Ausdruck kommt. Stilistisch ist der Roman durch seine kunstvoll ineinander verflochtenen Handlungs-Stränge geprägt, ferner durch eine immer wieder eingestreute, atmosphärisch stimmige und zum Geschehen passende Beschreibung der Natur, sei es im Riesengebirge, in der Uckermark oder in Finnland. Auch das quirlige Berlin ist mit seinem Flair und dessen Wirkung auf das tschechische ‹Landei› wunderbar treffend beschrieben.

Mit erstaunlichem Einfühlungs-Vermögen wird das Innere der Protagonistin tief ausgelotet, werden minutiös ihre Wahrnehmungen in der fremden Umgebung beschrieben. Andererseits belässt die Autorin das seelisch Verletzte ihrer Heldin in einer diffusen Ungewissheit, indem sie ihr beispielsweise, neben dem Kraft symbolisierenden ‹Mohikaner›, mit Adina, Nina und Sala drei mental nicht immer deckungsgleiche Namen gibt. Dazu trägt aber auch die titelgebende «Blaue Frau» selbst mit bei, eine der Protagonistin in kurzen Auftritten erscheinende, mystische Figur, die mit der Autorin identisch zu sein scheint und im Prozess des Schreibens die poetologische Linie vorgibt. Mit dieser Methode hält sie den Leser salopp gesagt bis zuletzt ‹bei der Stange› und bietet ihm reichlich Raum für eigene Interpretationen. Eine literarisch hochstehende Lektüre wartet hier auf anspruchsvolle Leser!

9 von 9 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.09.2021
Identitti
Sanyal, Mithu

Identitti


weniger gut

Zeitbezug als USP

Mithu Sanyal hat sich von realen Vorbildern zu ihrem Roman «Identitti» inspirieren lassen, er befasst sich mit dem Thema menschliches Selbstverständnis aus Sicht von Farbigen in einer von Weißen dominierten Gesellschaft. Das im Hier und Jetzt angesiedelte Debüt der einer polnisch/indischen Ehe in Düsseldorf entstammenden Autorin verarbeitet den nicht gerade alltäglichen Stoff einer gefälschten rassistischen Zugehörigkeit. Dominante Figur ihres Plots ist eine eloquente Professorin für postkoloniale Theorie, die sich nach einem Studium in Indien unter dem Namen Saraswati durch Anpassung ihres Aussehens als Inderin ausgegeben hat, um ihre Berufung auf diesen besonderen Lehrstuhl zu erwirken.

Erzählt wird dieser Roman mit dem albernen Titel aus der Sicht der Studentin Nivedita, die als Alter Ego der Autorin ebenfalls polnisch/indische Eltern hat. Sie beschäftigt sich unter dem Pseudonym «Identitti» in ihrem Blog und auf anderen Plattformen kritisch mit Rassismus und Sexismus, was nun auch den komischen Titel erklärt. Der Roman ist nicht nur örtlich, sondern auch sprachlich und intellektuell im universitären Milieu angesiedelt und erzählt dezidiert aus der Nerd-Perspektive. Deren Neusprech erfordert, ebenso wie die Einbeziehung von Social-Media, bei «älteren Semestern» unter den Lesern erhöhte Konzentration, will man all die Anspielungen aus der ‹Internet-Community› denn auch wirklich verstehen. Die Aufdeckung der falschen Identität jener gefeierten, omipräsenten Professorin löst einen Riesenskandal aus. Sie hatte sich als PoC ausgegeben, als Person of Colour, heißt in Wahrheit aber Sarah Vera Thielmann, stammt aus Karlsruhe und hat eindeutig urdeutsche Eltern. Im Netz geht ein Shitstorm über Saraswati los, die sich listig nach der hinduistischen Göttin der Weisheit benannt hatte. Die Alma Mater entlässt sie mit Schimpf und Schande, nur ihre Studentin Nivedita hält tapfer zu ihr.

Mit diesem Roman zum Thema ethnische Zugehörigkeit werden in erfrischender Selbstironie allerlei hochtrabende Erkenntnisse über die vermeintliche Identität des Menschen widerlegt. Gleich bei Niveditas erstem Besuch eines Seminars von Saraswati beginnt die Star-Professorin mit dem Satz: «Okay, erst mal alle Weißen raus.» Und fährt, nachdem die ‹Weißen› den Saal verlassen haben, mit der als Einstieg in die Diskussionen genialen Frage fort: «Warum seid ihr geblieben?» Äußerst engagiert handelt Mithu Sanyal ihr Thema scharfsinnig in allen möglichen Facetten ab, die überwiegend in oft scharfzüngiger Dialogform vorgetragen werden. Ihre Formulierungen sind geschliffen, geistreich und mit einer nicht zu übersehenden, angesichts der Thematik wohltuenden Prise Ironie gewürzt. Sehr klar offengelegt wird dabei die Kluft zwischen gemutmaßter und tatsächlicher Identität, die exemplarisch in der ambivalenten Figur der Professorin verdeutlicht wird. Neben den ‹Trancerace›-Identitäten erhalten in diesem Campus-Roman aber auch die nicht weniger komplizierten ‹Transgender›-Identitäten einen breiten Raum.

Ein Stilmittel der Autorin sind die imaginären Gespräche ihrer Heldin mit Kali, einer furchteinflößenden indischen Göttin, die sie auch in ihrem Blog veröffentlicht. Mit ihren auf die Spitze getriebenen Reflexionen hat sie einen originellen Roman vorgelegt, der durch die permanenten Wiederholungen der immergleichen theorielastigen Gedanken auf Dauer allerdings immer langweiliger wird, weil nichts wirklich Interessantes mehr geschieht. Abgesehen von den Passagen zum eigentlichen Thema ist die begleitende, den eigentlichen Plot bildende Prosa wenig überzeugend, oft sogar holprig oder ganz misslungen. Man darf vermuten, dass die Wahl dieses Romans in die Shortlist des diesjährigen Frankfurter Buchpreises allein die aktuelle Zeitbezogenheit honoriert hat, ökonomisch bewertet also, als schnöde USP! Nicht berücksichtigt ist die literarische Qualität, um die es letztendlich immer gehen muss, soll ein erzählerisches Werk als preiswürdige Kunst gelten!

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.09.2021
Shuggie Bain
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


gut

Deprimierende Milieustudie

Der in Glasgow geborene, seit zwanzig Jahren in New York lebende Modedesigner Douglas Stuart hat mit seinem ersten Roman «Shuggie Bain» im vergangenen Jahr der britischen Booker Prize gewonnen. Das seiner alleinerziehenden Mutter gewidmete, stark autobiografisch geprägte Buch des homosexuellen Autors spielt in seiner Geburtsstadt zur Zeit des Thatcherismus. Auch seine Mutter war verarmt und starb an den Folgen des Alkoholismus, und last not least ist die Titelfigur ebenfalls queer.

Mit viel Einfühlungsvermögen wird in diesem Roman eine tragische Geschichte aus einer Zeit der Massen-Arbeitslosigkeit erzählt. Deren Ursache waren in den achtziger Jahren die radikalen Reformen der Eisernen Lady, die zu sozial nur unzureichend abgesicherten Schließungen von Kohlezechen und Stahlwerken führten und viele Familien in ein bodenloses Elend stürzten. Die geschiedene Agnes, Mutter zweier Kinder, heiratet den Taxifahrer ‹Big Shug› Bain und bekommt mit ihm ein drittes Kind, das alle nur Shuggie nennen. Die schöne Frau, von den Männern bewundert und begehrt, von den Frauen, wen wundert’s, beneidet und angefeindet, bewahrt in all dem Elend ihren Stolz, sie ist immer topp gepflegt, gut gekleidet und sorgt für ihre Kinder. Man wohnt zusammen mit ihren Eltern zu siebt in einer kleinen Arbeiterwohnung. Bis der virile Shug, der gleich mehrere Geliebte hat, für seine Familie eine eigene Wohnung in einer armseligen Vorstadt-Siedlung findet. Er lässt sie dort dann aber allein und kommt nur gelegentlich mal vorbei. Dieser narrativen Exposition folgt die meist aus der Perspektive des anfangs etwa sechsjährigen Shuggie erzählte Geschichte von Agnes. Deren Selbstbewusstsein kippt allmählich in eine quälende Agonie um. Sie wird ein Opfer der bedrückenden äußeren Umstände, verfällt nach und nach immer mehr dem Alkohol, kommt in eine Entziehungs-Anstalt und schafft es dann tatsächlich, auch mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker, ein ganzes Jahr lang ‹trocken› zu bleiben. Ein neuer Verehrer erscheint zunächst als der rettende Engel, der sich rührend um sie bemüht, dann aber den verhängnisvollen Fehler begeht, Agnes bei einem ersten, feierlichen Restaurant-Besuch zu einen ‹ganz kleinen Schlückchen› Wein zu überreden, - aus dem Schluck wird ein ganzes Glas. Der verhängnisvolle Teufelskreis beginnt, wie zu erwarten, aufs Neue. Als emphatischer Leser ist man schockiert, aber «Shuggie Bain» ist halt kein Kuschelroman!

Die stilistisch im sozialen Realismus erzählte Geschichte verzichtet auf Ausschmückungen, in geradezu asketischer Weise werden nüchtern und detailgenau die damaligen Lebensumstände beschrieben. Gleichwohl gelingt es dem Autor, den Leser empathisch für seine in diesem tristen Umfeld agierenden Figuren einzunehmen. Er schildert sie als unrettbar in Ihrem Milieu gefangene, depressive Menschen und eröffnet den Desillusionierten kaum eine Perspektive zu sozialem Aufstieg. Andererseits zeigt er aber auch brutal realistisch die aus der Chancenlosigkeit erwachsende, abschreckende Bösartigkeit, die sich da zuweilen Bahn bricht. Gehässige Intrigen, Vergewaltigungen am laufenden Band, Gewaltexzesse, die Quälereien, denen der weibische Titelheld permanent ausgesetzt ist, geben dem Geschehen im Roman seine bedrückende erzählerische Grundierung.

Das Problem dieses Romans ist der Widerspruch zwischen dem deprimierenden, manchmal ins Groteske abdriftenden Milieu des Plots und den brillanten sprachlichen Bildern, in denen so locker davon berichtet wird. Nicht wenig überzogen ist leider auch die Rolle des kindlichen Helden als selbstloser Retter der immer tiefer im Suff versinkenden Mutter. Zu loben ist die Übersetzung des gelegentlichen Proletarier-Jargons in ein adäquates, leicht lesbares Deutsch. «Ich wollte mit dem Buch erreichen, dass die Leser nicht nur sehen, wie furchtbar Armut ist, sondern auch, mit welcher Würde sich arme Menschen durchs Leben bewegen» hat der Autor erklärt. Und das ist ihm fürwahr gelungen.

Bewertung vom 20.09.2021
Was fehlt dir
Nunez, Sigrid

Was fehlt dir


gut

Vom Ende aller Dinge

Nach ihrem Überraschungs-Erfolg mit «Der Freund» hat Sigrid Nunez nun einen Roman unter dem banal klingenden Titel «Was fehlt dir» vorgelegt, der im Original mit «What Are You Going Through» seine Thematik weitaus besser beschreibt. Es geht um das emphatische Einfühlen in das Schicksal anderer Menschen und die Frage, inwieweit das eigene Leben davon betroffen ist. Die New Yorker Schriftstellerin geht dieser Frage eher in essayistischer Form nach denn in erzählerischer, erst nach der Hälfte des Buches beginnt der eigentliche Plot um das schwierige Thema selbstbestimmtes Sterben.

Eine der Autorin ähnelnde Schriftstellerin (sic) soll ihre unheilbar an Krebs erkrankte beste Freundin beim geplanten Suizid begleiten, und auch in dieser Figur ist unschwer Susan Sontag zu erkennen, die Mutter von David Rieff, dem Exfreund der Autorin. Die namenlose Ich-Erzählerin hat sich über Airbnb bei einer Witwe eingemietet, um ihre in der Nähe im Krankenhaus liegende Freundin jederzeit besuchen und ihr beistehen zu können. Das Buch beginnt mit dem Satz «Ich machte mich auf den Weg, um mir den Vortrag eines Mannes anzuhören». In apokalyptischen Bildern sagt ein bekannter Professor da den längst unabwendbar gewordenen Untergang der Menschheit voraus als Folge der sich häufenden globalen Krisen. Mit diesem Einstieg spiegelt Sigrid Nunez den menschlichen Tod am bevorstehenden, selbst verschuldeten Ende der Zivilisation und weist darauf hin, was es bedeutet, gerade jetzt zu leben. Der Vortragende ist, erfährt man erst im Nachhinein, der Ex-Mann der Erzählerin. In ihm, den sie lange nicht gesehen hat, findet sie nun plötzlich einen kompetenten Gesprächspartner für die schwierigen Fragen, mit denen sie sich in ihrer bedrückenden Rolle als Sterbebegleiterin auseinander setzen muss. Ein weiterer Themenbereich dieses Buches ist die Frage, wie sich denn überhaupt darüber schreiben lässt, woran Menschen leiden, was der Tod für sie bedeutet, wie sie mit seiner Unabwendbarkeit umgehen.

Um dieses Themenspektrum herum entwickelt die Autorin in vielen anekdotischen Abschweifungen und Anspielungen aus Film und Literatur ihre literarische Tour d’Horizon ums Sterben und um die Frage, wie Mitgefühl die Sicht auf unser Leben verändern kann. Wobei das Altwerden hier im Roman vor allem ein Problem der Frauen ist. Sei es, dass sie vom Schlankheits-Wahn betroffen sind, ein passender Mann nicht zu finden ist, eine Paranoia zur absoluten Vereinsamung führt. In einer Anekdote erkennt eine krebskranke Frau, dass ihr ungeliebter Mann angesichts ihres nahen Todes immer führsorglicher wird und geradezu auflebt, nun regelrecht glücklich erscheint. Und sarkastisch wird die Geschichte eines Mannes und einer Frau kommentiert, die im Fahrstuhl stecken bleiben und nach der glücklichen Befreiung spontan beschließen, zu heiraten. Aber einem «Sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage» setzt Nunez trocken ein «Well, no» entgegen, so simpel ist das Leben halt doch nicht.

Eine «allertraurigste Geschichte» folgt der anderen, und mit Ford Madox Ford ist hier auch schon einer der vielen intertextuellen Verweis genannt, Faulkner, Sontag, Kafka, Bachmann und andere ergänzen diese literarischen Bezüge und werden teilweise ausführlich zitiert. Und es wimmelt von Aphorismen: «Eine Jugend, die belastet ist von dem Wissen, wie traurig und schmerzhaft Altern ist, würde ich überhaupt nicht Jugend nennen», lässt Nunez ihre Erzählerin sagen. In einer einfachen Sprache werden da, zuweilen recht amüsant, viele kluge Gedanken ausgebreitet, so wenn sie an einer Stelle fragt: «Und ist das nicht das Schöne am Lesen, dass es dich von dir selbst ablenkt». Auch Walter Benjamin kommt am Ende zu Wort: «Der Leser fühlt sich vom Roman angezogen in der Hoffnung, dass er sein zitterndes Leben mit einem Tod wärmen kann, über den er liest». Da scheint was dran zu sein, wird man sich nach der Lektüre dieses klugen Buches sagen, ob man es nun als Roman gelesen hat oder als Essay.

Bewertung vom 17.09.2021
Die Finkler-Frage
Jacobson, Howard

Die Finkler-Frage


gut

Unterhaltsame Groteske

Er hat lange drauf warten müssen, als einer der ältesten wurde der damals 68jährige britische Schriftsteller Howard Jacobson 2010 mit dem Booker Prize geehrt für seinen Roman «Die Finkler-Frage». Die Jury charakterisierte ihn als «Klug, witzig, und auf eine ganz besondere Art auch sehr traurig und melancholisch. Wie ein Lachen im Dunkeln!» Der vor allem von US-amerikanischen Autoren wie Saul Bellow und Philip Roth repräsentierte jüdische Roman fand so erstmals ein ebenbürtiges britisches Pendant, wobei Jacobson dazu angemerkt hat, er sei «lieber die jüdische Jane Austen als der britische Philip Roth».

Trauriger Held des Romans ist Julian Treslove, ein Losertyp, der in London bei der BBC gefeuert wurde und sein Geld nun als Filmstar-Double auf privaten Feiern verdient, engagiert als besonderer Gag. Der Fünfzigjährige ist Vater zweier Söhne, zu denen er kaum Kontakt hat, beide Mütter haben ihn noch während der Schwangerschaft verlassen. Es beginnt mit einer Essenseinladung bei seinem alten Freund Libor Sevcik, der die Schoa überlebt hat, dritter im Bunde ist Samuel Finkler, ein Gefährte aus Kindertagen, Autor von populär-philosophischen Sachbüchern, für Julian der Inbegriff des erfolgreichen Juden. Weshalb er für Jude nur noch den Begriff ‹Finkler› benutzt, was auch den Buchtitel erklärt, er bedeutet ‹Judenfrage›. Auf dem nächtlichen Heimweg wird Julian überfallen und ausgeraubt, und zwar von einer Frau, die ihn nur verächtlich mit «Du Jude» angezischt hat. Offen beneidet er die beiden kritisch-jüdischen Intellektuellen um ihre Identität, auch er möchte dem auserwählten Volk angehören, obwohl sie selbst ihr Jüdischsein sogar verachten, sich in typisch jüdischem Selbsthass üben. Nach dem Überfall treibt Julian, der ja nun auch zum Opfer gewordene Möchtegern-Jude, seine Obsession auf die Spitze. Er beschäftigt sich mit dem Hebräischen und verliebt sich in Hepzibah Weizenbaum, eine Jüdin, die gerade dabei ist, in London ein anglo-jüdisches Museum ins Leben zu rufen.

Es wird viel diskutiert in diesem Roman, in dessen Plot hingegen sich herzlich wenig ereignet. Mit nicht enden wollenden Dialogen der als Charaktere liebevoll und überzeugend geschilderten Freunde und der teilweise skurrilen Nebenfiguren wird die Thematik des Judentums unserer Zeit in all ihren Aspekten gründlich und kritisch hinterfragt. Dabei gewinnt man nebenbei tiefe Einblicke in das Seelenleben der Figuren, während sie unentwegt ihre Dispute über den permanenten Alltags-Antisemitismus und die Missetaten des Staates Israel an den Palästinensern wortreich ausfechten. Dass dies bei einem britischen Autor mit einer gehörigen Portion schwarzen Humors angereichert ist, tut der Ernsthaftigkeit der Thematik keinen Abbruch. Auf Julians Begeisterung für das Judentum hält ihm der skeptische Freund vor: «Demnächst trägst du noch Schläfenlocken und sagst mir, dass du dich freiwillig zur israelischen Armee gemeldet hast, um Kampfjets gegen die Hamas zu fliegen».

Sprachlich auf hohem Niveau, werden hier Klischees und Vorurteile über das Jüdischsein lakonisch hinterfragt, ohne dass darunter der Unterhaltungswert des Romans leidet. Als Nebeneffekt lernt man zudem eine Fülle von Begriffen aus dem Jiddischen kennen und amüsiert sich über Wortbildungen wie ASCHandjiddn als Name für eine judenkritische Initiative. Damit ist verächtlich eine auf der Opferrolle gründende jüdische Identität gemeint, A Schand Jiddn! Und dass Jiddn auch Machos sind, wird deutlich, als eine Frau mit beachtlicher Oberweite bei einer Party aufkreuzt: «Hätten Jane Austens Heldinnen solche Brüste gehabt, hätten sie sich nie besorgt zu fragen brauchen, ob sie einen Ehemann abbekämen». Der Sex nimmt breiten Raum ein, ausgiebig wird hier beispielsweise ernsthaft erörtert, in wieweit denn die Beschneidung jüdischer Männer ihre sexuelle Empfindungsfähigkeit beeinträchtigt. Eine breit ausgewalzte, unterhaltsame und melancholische Groteske über jüdische Männer und das heutige Judentu

Bewertung vom 14.09.2021
Wiesbacher Sinfonie
Bohlander-Sahner, Katja

Wiesbacher Sinfonie


gut

Neue Facetten

Auch in ihrem jüngsten Buch «Wiesbacher Sinfonie» sind die Liebe und ihre Irrungen und Wirrungen wieder das Thema von Katia Bohlander-Sahner. Als literarische Gattung eine Erzählung in kürzerer Form, die nach der Goetheschen Definition vom unerhörten Ereignis der Novelle entspricht, also klar strukturiert eine signifikante, einmalige Abweichung von der Normalität thematisiert. Es geht um die zerstörerische Liebe zwischen zwei familiär gebundenen Menschen, was als Thema ja so neu nicht ist. Gelingt es der Autorin, diesem in jeder Hinsicht bis zum Überdruss abgearbeiteten Genre neue Facetten abzugewinnen?

Den thematischen Sätzen einer Sinfonie entsprechenden wird hier in vier Abschnitten eine Geschichte von zwei Ehepaaren erzählt, die sich beide nach langjährigen Ehen in einer Phase befinden, die man nur noch als Alltagsroutine bezeichnen kann. In der kaum noch eine schwache Glut erkennbar ist von dem, was einst große Liebe war. Man hat sich an ein Zusammenleben gewöhnt, in dem es kein erotisches Prickeln mehr gibt, das Bett ist eigentlich nur noch Schlafstatt und ganz selten auch mal Ort sexueller Begegnung. Die Geschichte beginnt damit, dass der Lehrer Klemens von der Schriftstellerin Paula gebeten wird, ihre Manuskripte zu lesen und zu beurteilen. Er fühlt sich geehrt und trifft sich mit ihr zu einem ersten Gespräch. Und wie das so ist im Leben, finden die Zwei Gefallen aneinander. Als er kurz darauf im Rahmen eines Schüleraustausch-Programms mit der Klasse nach Italien aufbricht, merkt Paula, dass sie regelrecht ‹liebeskrank› geworden ist. Sie reist ihm mit der Ausrede, zum Schreiben dringend eine Auszeit vom Alltagsstress zu brauchen, kurz entschlossen hinterher. Natürlich sprengt nun der erste Sex zwischen ihnen alle Dimensionen, sie verleben einige rauschhafte Nächte. Bis Klemens plötzlich auf der Strasse mit einem Schlaganfall zusammenbricht. Seine Frau Minka eilt nach Italien und stellt überrascht fest, dass die Schriftstellerin auch vor Ort ist und den im Koma liegenden Klemens am Krankenbett besuchen will.

Peinlich, peinlich, aber es hilft ja nichts, die Frauen reden schließlich ein offenes Wort miteinander, und Minka bleibt dabei überraschend ruhig. In einer selbstkritischen Rückblende erinnert sie sich nämlich an ihre sadomasochistische Eskapade vor einigen Jahren mit einem charismatischen Psychologen, dem sie vom ersten Augenkontakt an rettungslos verfallen war. Als er ihr nach mehr als einem Jahr wilder Ausschweifungen ankündigt, dass er bald heiraten werde, nimmt sie das relativ gelassen hin. Denn auch ihr ist ja klar, dass ihre perverse Beziehung nicht ewig dauern oder gar in eine Ehe münden kann, dass Sadomaso also auf längere Sicht nicht tragfähig sein würde als Lebensgrundlage. Ziemlich überraschend gelingt es der Autorin dieser ebenso verzwickten wie tragischen Geschichte, ein für alle versöhnliches Ende zu finden. Welches, das wird in einer spoilerfreien Rezension wie dieser hier natürlich nicht ausgeplaudert. Denn genau in diesem unerwarteten Ende liegt die Stärke dieser Novelle!

Zunächst aber ist sie mit ihrem vorhersehbaren Geschehen eher enttäuschend und bleibt auch nicht kitschfrei, es werden viele abgenutzte Klischees bedient. Im Stil eines typischen Pageturners wird vorwärts drängend in kurzen, einfachen Sätzen erzählt, die in vielen ebenfalls kurzen Kapiteln straff strukturiert sind und deren Überschriften mit ihrer voraus weisenden Funktion noch zusätzlich dem Lesefluss Vortrieb geben. Dem Trend der Zeit folgend wird auch hier der ökonomischen Maxime ‹sex sells› gehuldigt, Minkas Rückblende im «Dritten Satz» wird mit einem Hinweis auf den trivialen Erotik-Dreiteiler «Shades of Grey» eingeleitet. Was hier Liebe genannt wird, das ist nicht nur im perversen Teil der Story purer Sex, auch die heftige Liaison zwischen Klemens und Paula sprengt alle ihre sexuellen Erwartungen. Aber auch das sind natürlich keine jener neuen Facetten, von denen eingangs die Rede war!

Bewertung vom 13.09.2021
Die Eroberung Amerikas
Franzobel

Die Eroberung Amerikas


weniger gut

Mit Klamauk zur Aufklärung

In seinem neuen Roman «Die Eroberung Amerikas» erzählt der Schriftsteller Franzobel um einen historischen Kern herum eine Geschichte, deren ungeheuerliche Grausamkeiten er mit reichlich Humor serviert, um sie ertragbar zu machen. Es geht um die erfolglose Expedition des spanischen Eroberers Hernando de Soto durch das heutige Florida, in deren Verlauf er den Mississippi entdeckt hat, wo er 1542 starb. An seiner Figur, hat der österreichische Autor erklärt, «kulminiert die ganze Geschichte der spanischen Konquista», de Soto verkörpere triumphalen Erfolg und klägliches Scheitern in einer Figur.

Er habe versucht, möglichst wahrhaftig zu erzählen, hat Franzobel geäußert. «Es ging dann aber für mich nur über den Humor. Sowohl ich als auch der Leser – wir brauchen den Humor, damit wir nicht nach zwanzig Seiten sagen: Diese Geschichte ist so fürchterlich – man mag das zwar verstehen, aber man mag sich das nicht antun». Und so beginnt der Roman auch gleich im ersten der vielen Kapitel mit einer kuriosen Rahmengeschichte. Die New Yorker Rechtsanwalts-Kanzlei Trutz Finkelstein & Partner reicht am Bezirksgericht eine Klage ein auf Rückgabe der Vereinigten Staaten von Amerika an die indigene Bevölkerung, - einschließlich Hawaii und Alaska. «Doch bevor wir auf diesen Brief zurückkommen, machen wir einen Sprung durch Raum und Zeit und begeben uns zur Ursache dieses abstrusen Ansinnens» heißt es weiter im Buch. Mehr als 500 Romanseiten später verkündet im letzten Kapitel der Supreme Court nach viereinhalbjähriger Prozessdauer, dass Amerika wieder an die Indianer zurückfalle und die Rückgabe bis Ende des Jahres zu erfolgen habe, eine Berufung sei nicht möglich. Ersatzweise müssten sich die USA verpflichten, vier Dekaden lang die aktuell bei 650 Billionen Dollar liegenden Militärausgaben «ausschließlich für Umwelt- und Sozialprogramme zu verwenden, um das seit fünfhundert Jahren kaputtgemachte Land wieder in Ordnung zu bringen».

Auf den fünfhundert Seiten dazwischen berichtet Franzobel über die von Kaiser Karl V. ausgeschickte, 700 Mann starke Expedition, die das mythische Eldorado finden soll. Dabei hat er sorgsam recherchierte Details in seine ebenso farbenfrohe wie grauenhafte Geschichte eingebettet. Sie ist nur durch Humor erträglich, und deshalb hat er eine illustre Schar von fiktiven Figuren, eine schräger als die andere, darin versammelt. In einer an Dantes «Inferno» erinnernden Hölle aus Blut, Schmerzen, Siechtum, Tod, Willkür und Verrat erleben die Eroberer groteske Situationen. Was wir da lesen ist in epischer Breite geschilderter Horror, in dem auch die Inquisition ihre unheilvolle Rolle spielt, die katholische Kirche läuft zur Hochform auf dabei. Zu den Lesefrüchten gehören eine Menge von en passant gesammelten Erkenntnissen über die damalige Seefahrt und die enormen logistischen Anforderungen eines solchen überseeischen Raubzugs, über die indigene Bevölkerung und ihre Sitten natürlich, über das damalige medizinische Wissen und anderes mehr.

Für seine tragikomische Groteske verwendet der Autor eine für ihn spezifische, zeitlich auf das Heute ausgeweitete, burleske Erzählweise, die er mit Anekdoten, schrägen Vergleichen und Witzen anreichert. Dabei greift er beispielsweise auf heutige Film-Schauspieler zurück bei seinen Figuren-Beschreibungen, es wird sogar karikaturhaft geschwäbelt im Expeditionstross. Sein auktorialer Erzähler sitze im 21ten Jahrhundert, er bevorzuge diese Innenperspektive und könne sich dann immer drauf beziehen. Als Metapher auf die Menschheits-Geschichte verfolge sein Roman einen aufklärerischen Zweck. Hier wird also im Sinne Walter Benjamins «die Geschichte gegen den Strich» gebürstet. So wohltuend der allenthalben waltende Sarkasmus das Ungeheuerliche zu relativieren vermag, so störend werden dann aber auf Dauer auch die vielen Kalauer, sie wirken sprachlich oft wie an den Haaren herbeigezogen. Bei aller lobenswerten Fabulierlust letztendlich also entschieden zu viel Klam

Bewertung vom 10.09.2021
Mein Lieblingstier heißt Winter
Schmalz, Ferdinand

Mein Lieblingstier heißt Winter


gut

Morbide Philosophie-Groteske

Es ist sein erster, dieser Roman, «Mein Lieblingstier heißt Winter». Schreibt sonst Theaterstücke, der Ferdinand Schmalz da, Dramatiker aus Österreich. Hat den Bachmannpreis gewonnen 2017, mit dem Kern seiner Geschichte, in Kleinschrift natürlich. Das bleibt ihm erspart, dem Leser heute, immerhin! Ist ein ziemlich schräger Roman draus geworden inzwischen, nominiert für den Frankfurter Buchpreis. Ob preisverdächtig, kann man schwer nur voraussagen, massentauglich wohl kaum, der Sprache wegen. Obwohl, nicht schwer zu lesen, gewöhnt man dran ziemlich schnell sich. Kann man ja gleich ausprobieren hier!

Ein Triceratops wird am Anfang da, im verlassenen Saurierpark, sauber geschrubbt. Soll wieder eröffnet werden, der Park. Die Firma Schimmelteufel hat den Auftrag, reinigt alles, Saurier und Tatorte. Der Schlicht wiederum, Verkaufsfahrer für Tiefkühlkost, bekommt ein makabres Angebot. Von dem Schauer, krebskranker Stammkunde, immer Rehragout 14tägig. Will sich in die Tiefkühltruhe legen, Suizid begehen drinnen. Er, Schlicht, soll die Leiche in den Wald verbringen dann, die Nachkommen zu schonen, absolut diskret, wird auch gut bezahlt dafür. Ist aber leer, die Truhe dann, nicht wie vereinbart, muss also die Leiche er suchen, der Schlicht. Und trifft dabei auf allerlei komische Leute. Auf den Ingenieur zuerst. Der hat sich, verbarrikadiert hat der sich regelrecht, Selbstschuss-Anlage, die Fenster zugemauert. Trifft auch auf die Tatortreinigerin Schimmelteufel. Und auf den Ministerialrat, hohes Tier, einflussreich, nur dass er Weihnachts-Schmuck sammelt, von den Nazis allerdings. Sehr merkwürdig das, ist doch erpressbar geworden dadurch. Und sie schließt sich an, dem Schlicht, bei der Suche, Schauers Tochter, die Astrid, muss doch Gewissheit haben.

Allesamt eine eng ineinander verstrickte Gesellschaft das, sumpfig, in Schmutz und Blut sich suhlend. Ein kleines Ensemble morbider Figuren, Sinnbild für ein vor sich hingammelndes Österreich, die Todessehnsucht zuhause dort. Also Nestbeschmutzung, literarisch ja typisch dorten, häufig zumindest. Es ist das alles, diese Geschichte vom Tod, ziemlicher Nonsens, aber lustig. Alle stecken unter einer Decke, wie er bald merkt, der mit dem treffenden Namen, der Schlicht, der Eismann also. Und halten zusammen da in ihrem Selbstmordclub, selbstbestimmtes Sterben als Zweck. Macht dann aber doch nicht jeder mit, hält sich einfach nicht dran, kommen nämlich schon mal Frauen dazwischen. Wie die Astrid, als Sadomaso-Gespielin von dem Ministerialrat, mit dem Codewort «Rehragout» für den Not-Ausstieg. Hat sich’s halt anders überlegt deshalb, der Suizit-Kandidat, macht ja doch richtig Spaß, so was. Trifft die Putzteufel auch, der Schlicht, dieses skrupellose Weib, Erpressung war bei der im Spiel sogar. Und der Tiefkühl-Fahrer dann landet im Sarg, zuletzt, lebendig begraben. Nicht ein Nervenkitzel nur, sondern eine verhängnisvolle Verwechslung, beinahe tot schon. Und der Anatom kommt auch noch ins Spiel jetzt, da im Seziersaal drinnen, mit dem scheintoten Schlicht obendrauf auf dem metallenen Arbeitstisch.

Trotz aller Theatralik darin, bei dem Autor kaum verwunderlich, ist dieser aberwitzige Plot vom Leben und Sterben, ist er tatsächlich doch ziemlich dialogarm geraten. Stilistisch wird eine eigentümliche Kunstsprache benutzt dabei, die zunächst abschreckend wirkt auf nichtsahnende Leser dann. Hat man ja so nicht so oft. Erzählt wird äußerst metaphernreich, allerdings auch recht eintönig mit der Zeit, ermüdend, ohne sprachliche Variationen darin. Eine dem Dialekt nahe Kunstsprache ist das, eine verquere Syntax nutzend, invertierte Satzstellungen vor allem. Häufige Wort-Wiederholungen und dem Subjekt vorangestellte Pronomen benutzt der Schmalz hier. Einem dem Mündlichen nahe kommenden Rhythmus folgend, verwendet er seine ureigene Diktion. Und die wirkt doch arg holzschnitt-artig, mit einer morbiden Komik obendrein, als Philosophie-Groteske unterhaltsam, mehr aber nicht

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Bewertung vom 10.09.2021
Die nicht sterben
Grigorcea, Dana

Die nicht sterben


gut

Nichts für schwache Nerven

«Die nicht sterben» ist ein Roman der rumänisch-schweizerischen Schriftstellerin Dana Grigorcea, der vom Genre her verschiedenste Zuordnungen erlaubt. Er ist einerseits eine Melange aus post-kommunistischem Gesellschafts-Roman und politischem Schauermärchen, andererseits aber auch ein Geschichts-, Künstler- und Fantasy-Roman. Das für den diesjährigen Frankfurter Buchpreis nominierte Werk der literarisch vielseitigen Autorin wurde im Feuilleton als neuartige literarische Gattung durchweg positiv besprochen, die Aufnahme beim Lesepublikum ist bisher eher verhalten, aber das könnte sich im weiteren Prozess der Preisvergabe schnell ändern.

Wie schon im Titel anklingt, geht es um die Geister der Vergangenheit, die Untoten, zu denen als nationaler rumänischer Mythos auch Vlad Dracula gehört, der Pfähler. Eine Figur der Legende, die Bram Stocker in seinem 1897 veröffentlichten Vampir-Roman entscheidend geprägt hat. Mit dem Anfangssatz «Ich kann nicht umhin, diese Geschichte zu erzählen, zumal ich sie aus nächster Nähe erlebt habe» wird eine namenlos bleibende Ich-Erzählerin etabliert, die nach ihrem Kunststudium in Paris ihre Großtante in einer Kleinstadt Transsylvaniens am Fuß der Karpaten besucht. Weil sie seinen zweifelhaften Ruhm nicht zusätzlich befördern wolle, will sie den Ort nur B. nennen, auch «weil die Geschichte sinnbildlich ist für unsere walachische Moral». Die Geschichte ist in der Jetztzeit angesiedelt, die nach der Jagdgöttin benannte Villa Diana war während ihrer Jugend ständiges Ziel ihrer Ferienaufenthalte, ist ihr aber inzwischen fremd geworden. Sie hat ein inniges Verhältnis zu ihrer jugendlichen Großtante Margot, die sie früher Mamargot nannte und deren großbürgerliches Haus immer voller illustrer Gäste war.

Die Erzählung wird dramatisch, als in der nahe gelegenen Familiengruft das Grab Draculas identifiziert wird, weil eine grauenhaft geschändete Leiche darauf abgelegt war. Mit dem schrecklichen Fürsten wird wieder die blutrünstige Vergangenheit heraufbeschworen, die Heldin beginnt spontan, seine Geschichte zu erzählen. Dabei ist für sie die erstarrte rumänische Gesellschaft von heute mit dem grausamen Schreckensreich von Dracula schicksalhaft verbunden, sie sieht ihn in einer Linie mit dem kommunistischen Diktator Ceaușescu. Im Interview hat die Autorin erklärt, dass der Dracula-Mythos im Buch für die Sehnsucht der Menschen nach einer starken Hand stehe. Als Beispiel hat sie Vladimir Putin genannt, es gehe letztendlich um den sozialen Vampirismus. Und im Roman sei die Malerei Beleg für den als Fanal wirkenden, zentralen Satz «nichts kann uns brechen». Kunst sei nun mal kontemplativ ein starkes Bollwerk gegen äußere Zumutungen. Und wie ihre malende Protagonistin, so erweist sich auch die Autorin als eine äußerst genaue Beobachterin. Sie vermag Bilder sehr stimmig zu beschreiben, seien es gegenständliche von der grandiosen Landschaft oder abstrakte wie der desaströse Zustand, in dem sich das von Korruption gebeutelte Rumänien heute immer noch befindet. Und natürlich werden auch die knallhart servierten Schauergeschichten wirkungsvoll geschildert, wobei deren Realistik starke Nerven erfordert.

Als die Ich-Erzählerin irgendwann seltsame Veränderungen im Haus bemerkt, der Plattenspieler plötzlich von selbst Musik abspielt, gewinnt der magische Realismus als Erzählstil endgültig die Oberhand. Die Heldin kommt in Kontakt mit dem ersten Untoten, erhebt sich in die Lüfte und beschreibt schließlich den Horror aus der Vogelperspektive. Die mit poetischer Kraft erzählte Geschichte von den vergangenen und gegenwärtigen Dämonen, die den Leser durch direkte Ansprache eng mit einbezieht, ist ebenso bizarr wie konfus. Sie ist der kreative Versuch, die Misere des Heute aus den Verbrechen der Vergangenheit herzuleiten und damit die Apathie einer ganzen Nation zu erklären. Dass Kriterien wie Political Correctness dabei nicht maßgeblich sind, liegt bei einem Fantasy-Roman auf der Hand.