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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 25.09.2021
Adas Raum
Otoo, Sharon Dodua

Adas Raum


ausgezeichnet

"Jedes Mal, wenn Ada ihren Körper von sich selbst trennte, war es desaströs. Jedes Mal. Und nicht nur für sie... Und ihre Zersplitterung sprengte ein Loch in die Würde all ihrer Folterer"

Meine Begeisterung für die poetische und klare Sprache, die wechselnden Erzählinstanzen und den Aufbau kann ich kaum in Worte fassen. Der Roman ist dicht, voll, komplex, so dass es schwer ist, sich zu begrenzen und ihm gerecht zu werden. Ich wünsche diesem Text eine tiefgreifende Rezeption, lohnt es sich doch sehr.

Vieles ist nicht auserzählt. Wir als Leser:innen sind aufgefordert, die Verbindungen zu suchen, die Auslassungen zu füllen, die Geschichten und uns selbst in unserer Rezeption der Geschichte(n) zu reflektieren.

Adas Raum wird zusammengehalten durch Schleifen, Schleifen der Überzeitlichkeit, der Unendlichkeit und ja, auch durch Gott. Der Weltgeist, der unterschiedliche Gestalten annimmt und ein Fruchtbarkeitsarmband, das von einer Person zur anderen wandert, halten die vier Adas zusammen.

Die ersten drei Adas werden begleitet und beschützt vom Weltgeist in Gestalt eines Besens, eines Türklopfers und eines Raumes. Doch alle drei Adas sterben vorzeitig, gewaltvoll durch die Hand von Weißen Männern. Ada eins lebt im 15. Jahrhundert in Westafrika, dem Teil, den wir heute Ghana nennen. Sie trauert um ihr Baby, wird von portugiesischen Kolonialisatoren gefangengenommen und stirbt. Die Londoner Mathematikerin Ada Lovelace ist Ada zwei. Sie lebt eigenständig, hat Liebhaber und lebt trotzdem gefangen. Ihr Leben nimmt ein gewaltvolles Ende. Ada drei im KZ und ihr Körper wird benutzt. Bei dem Versuch, sich zu befreien stirbt auch diese Ada.

Mit der vierten Gestalt von Ada sind wir im gegenwärtigen Berlin. Ada ist Schwarz, in Ghana aufgewachsen wie Ada eins, studiert Informatik in der Tradition von Ada zwei, und den direkten Bezug zu Ada drei erfahren wir im Verlauf. Ada trägt das lang ersehnte Kind aus, das die anderen nicht bekamen. Der Weltgeist beschützt sie als Pass und kann sie nicht schützen. Bezüge zur Geschichte, den anderen Adas und ihren Weggefärt:innen sowie Peinigern führen wie Perlen zu ihr, sie beginnt zu verstehen, sich zu verschwestern und sich zu ermächtigen.

Bewertung vom 25.09.2021
Wer wir sind
Gorelik, Lena

Wer wir sind


sehr gut

Mit Wer Wir Sind setzt Lena Gorelik ihren Eltern ein Denkmal. Der Sound des autobiographischen Romans ist persönlich, intim, ernst, mitunter schwelgend, nostalgisch, wehmütig.

Wer Wir Sind verläuft nicht rein chronologisch, eher asoziativ. Es wirkt, als würde die heutige Lena - Mama, Schriftstellerin - in ihren alten Tagebüchern, Fotos und Gegenständen wühlen, sich erinnern und diese Erinnerung mit ihrer heutigen versöhnlicheren Sicht anreichern.

Ihr früheres Ich hat sich alleine gefühlt, unverstanden, orientierungslos. Immer mehr hat sie sich geschämt für ihre Eltern, noch später rebelliert, provoziert, sich distanziert. Um keine Streberin und Außenseiterin zu sein, hat sie sich angestrengt, schlechte Noten zu schreiben, aber sie war, wer sie war.

In ihrem heutigen Ich löst sich die Scham und Wut auf in einem warmen Gefühl von Nähe und Respekt dafür, was ihre Eltern alles geleistet haben. Heute stellt sie sich der Frage, wie es wohl für ihre Eltern gewesen sein muss, Sankt Petersburg in den 90ern zu erleben, die unsichere Stimmung und Angst unter der jüdischen Bevölkerung. Wie es sich angefühlt haben muss in einem Wohnheim. Wie schwer es gewesen sein muss, zurück gewiesen zu werden bei dem Versuch, an den eigenen akademischen Beruf anzuknüpfen, schließlich in einer Fabrik zu landen und als Reinigungskraft "meine Perle" genannt zu werden. Wie schmerzhaft es gewesen sein muss, die Mutter und die eigenen Kinder leiden zu sehen, aber nicht den Weg weisen zu können und es auszuhalten, wie die Rollen sich vertauschen.

Lena sinniert nicht nur über ihre Eltern sondern auch über die Sprache. Sie streut in den Text immer wieder russische Worte, schreibt sie in kyrillisch auf, erklärt sie einmal und setzt auf die Lernfähigkeit der Leser:innen. Nun, meine eher schlecht als rechten Kyrillischkenntnisse reichen, es zu lesen. Ich vermute aber, dass es auch ohne gut funktioniert, sie wiederzuerkennen und ein kleines bisschen selbst zu erleben, wie es ist, sich eine ganz neue Schrift und Sprache anzueignen. Außerdem ist es ein schönes Stilmittel, fast gegenständlich wirkt die Schrift, wie eines der wenigen Dinge, die sie als Erinnerungsstücke behalten konnte.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.09.2021
Pappel. Die Geschichte eines Herumtreibers
Markovic, Dalibor

Pappel. Die Geschichte eines Herumtreibers


ausgezeichnet

Märchenhaft beginnt Pappel, das Debüt des Poetry Slammers Dalibor Marković.

Am selben Tag, an dem Franz Kafka das Licht der Welt erblickt, rutscht in einem Wald der Samen einer Pappel in eine fruchtbare Erdspalte. Er keimt, sprießt und verwandelt sich in einen Baummenschen. Nahezu alterlos wird Pappel durch die bewegten Jahrzehnte zwischen 1883 und der Jetztzeit stolpern.

Pappel ist ein Handlungsgetriebener, heiterer und intensiver Roman mit surrealen Momenten. Der Sound ist übermütig, charmant-naiv, abenteuerlich, philosophieren-leichtfüßig. Er passt sich den Geschehnissen und dem jeweiligen Zeitgeist an.

Pappel überfällt eine Kutsche, die Kutsche von Kafka. Er erbeutet den Roman Die Verwandlung und eine Papprolle, in der die einzige Sprachaufnahme des zurückgezogenen Schriftstellers steckt.

Pappel geht in die Stadt, verkauft Groschenromane, wird Drogenkurrier und Kartenabreißer im Kino. An der Umgebung und am sich verändernden Tonfall der Erzählung merken wir, wie die Zeit vorbeirast, während Pappel in unterschiedliche Rollen schlüpft. 1924 stirbt Kafka, eine Randnotiz, 1933 begegnet er Kafkas Verlobter Felice Bauer auf der Flucht nach Amerika vor den Nazis. Pappel ist gleich zweimal auf dem Schiff, in Gestalt des weltgewandten Konrad von Pappel Oberdeck und des schwatzenden Hilfsmatrosen Konrad Unterdeck. Die Sprachaufnahme von Kafka ist immer da, auch wenn er sie nicht immer hat.

Forwind, Pappel findet sich wieder im Nachkriegsdeutschland, hereingeraten in eine terroristische Vereinigung, die sich rund um die charismatische Liane bildet. Forwind die Zeit rast immer mehr, Pappel taucht unter, führt ein langweiliges Leben, hat eine Phase als reicher Lebemann, als Obdachloser auch, stets seinen Kafkaschatz hütend. Doch ein junger Mann ist ihm auf den Fersen, ein pensionierter Polizist und die Witwe eines der Opfer der Anschläge.