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cosmea
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Witten
Über mich: 
Ich lese seit vielen Jahren sehr viel, vor allem Gegenwartsliteratur, aber auch Krimis und Thriller. Als Hobbyrezensentin äußere ich mich gern zu den gelesenen Büchern und gebe meine Tipps an Freunde und Bekannte weiter.

Bewertungen

Insgesamt 307 Bewertungen
Bewertung vom 06.12.2020
Die Farbe von Glück
Bagus, Clara Maria

Die Farbe von Glück


weniger gut

Der Frühling kommt immer zurück
In Clara Maria Bagus´ Roman "Die Farbe von Glück“ geht es um drei Familien, deren Schicksale unauflöslich miteinander verbunden sind. Es beginnt mit dem 6jährigen Antoine, der von seiner Mutter Marlene plötzlich und ohne Erklärung verlassen wird. Die Krankenschwester Charlotte nimmt ihn auf und bietet ihm ein liebevolles Zuhause. Zwei Jahre später zwingt der Richter Jules Charlotte, sein scheinbar dem Tod geweihtes Neugeborenes gegen ein gesundes Baby einzutauschen, damit seine Frau nicht ihr viertes Baby verliert und daran zerbricht. Charlotte gehorcht, weil sie ihren Ziehsohn nicht verlieren will. Jules wird für die nächsten 20 Jahre täglich Schuld und Reue empfinden, und auch Charlotte leidet unter der erzwungenen Tat. Die Autorin erzählt die Lebensgeschichte der Betroffenen, die einander begegnen und weitere weitreichende Entscheidungen treffen.
Leider ist die Handlung völlig unrealistisch, ohne genaueren Bezug zu Raum und Zeit. Sie wird stattdessen von vielen, wenig plausiblen Zufällen bestimmt. Die wichtigste Botschaft des Romans kann ich dabei durchaus noch akzeptieren: Man darf sich nicht mit dem falschen Leben abfinden. Es ist nie zu spät für einen Neuanfang, denn der nächste Frühling kommt bestimmt. Am Ende wird (fast) alles gut. Teilweise ist mir das zu melodramatisch und mich stört die Vielzahl von Lebensweisheiten, die ständig präsentiert werden, immer wieder und wieder ausformuliert. Teilweise ist die Sprache poetisch, vor allem wenn es um Licht und Farben, Landschaften und Vegetation geht. Es stören mich aber dennoch die häufige Aneinanderreihung von unzähligen Fragen und die Tatsache, dass die Autorin Deutsch schreibt, als hätte sie es als Fremdsprache gelernt. Zahllose Formulierungen und Satzkonstruktionen gibt es so nicht.
Insgesamt bin ich von dem Roman enttäuscht.

Bewertung vom 22.11.2020
Ohne Schuld / Polizistin Kate Linville Bd.3
Link, Charlotte

Ohne Schuld / Polizistin Kate Linville Bd.3


gut

Keine Tat bleibt ungesühnt
In “Ohne Schuld“, dem neuen Krimi um Detective Sergeant Kate Linville, schießt ein Unbekannter in einem Zug auf eine junge Frau. Zufällig befindet sich die Polizistin im Zug und kann die Frau in Sicherheit bringen. Wenig später wird eine andere Frau schwer verletzt, als sie mit dem Fahrrad in einen über den Weg gespannten Draht gerät. Auch auf diese Frau wird geschossen, aber sie wird nicht getroffen. Die Schüsse stammen aus derselben Waffe. Die Polizei steht vor einem Rätsel, weil es keinerlei Überschneidungen im Leben der beiden Frauen gibt. Kate ermittelt mit Hilfe ihres suspendierten Chefs Caleb Hale und gerät dabei selbst in Lebensgefahr. Es wird ein langer Weg bis zur Lösung der beiden Fälle. Kate wird sich wegen ihres eigenmächtigen Handelns verantworten müssen. Ihre Zukunft ist am Ende genauso ungewiss wie die von Caleb Hale.
Es fängt interessant und spannend an und liest sich zunächst hervorragend. Gegen Ende lässt die Spannung jedoch erheblich nach, weil der Leser da längst Täter und Motiv kennt. Der letzte Teil hat deutliche Längen. Mich stört auch das halboffene Ende, das auf die geplante Fortsetzung der Reihe um Kate Linville hindeutet. Insgesamt bin ich ein wenig enttäuscht.

Bewertung vom 17.10.2020
Ada
Berkel, Christian

Ada


sehr gut

Aufwachsen im großen Schweigen
Mit „Ada“ schreibt Christian Berkel die in “Der Apfelbaum“ begonnene Geschichte seiner Familie fort. Die 9jährige Ada kehrt mit ihrer Mutter Sala aus Argentinien zurück und begegnet zum ersten Mal ihrem Vater Otto und einem mysteriösen Mann namens Hannes, den ihre Mutter ebenfalls zu lieben scheint. Ihre Eltern leben nach der zehnjährigen Trennung wieder zusammen, und Ada bekommt noch einen kleinen Bruder. Ada leidet während ihrer Kindheit und Jugend unter dem Schweigen der Eltern. Weder berichtet Sala von Flucht, Verrat und Lageraufenthalt in den Pyrenäen, noch Otto über seine Kriegserlebnisse und seine Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft. Ada weiß vor allem nichts über ihre jüdische Herkunft und das Schicksal der vorausgegangenen Generationen jüdischer Verwandter. Erst als erwachsene Frau erfährt sie, dass sie und ihre Mutter nicht immer katholisch waren. Zeit ihres Lebens ist Ada auf der Suche nach ihrer Identität und erhält keine Antwort auf die Frage, wer wirklich ihr Vater ist – Otto oder Hannes. Sie sagt sich für viele Jahre von ihrer Familie los und versucht, sich beruflich und privat neu zu orientieren.
Der Leser verfolgt Adas Geschichte vor dem Hintergrund zeitgenössischer Themen. Da kommen Mauerbau und -fall ebenso zur Sprache wie die Studentenunruhen Ende der 60er Jahre, das Leben in Kommunen, Drogenkonsum, die Rolling Stones, Woodstock. Ada wird fast Zeugin der Erschießung von Benno Ohnesorg und Opfer eines brutalen Polizeieinsatzes. Diese realen Zutaten runden Adas Geschichte ab, die dennoch im Wesentlichen Fiktion bleibt.
Ich habe diesen zweiten Roman aus Berkels Feder gern gelesen, war dennoch nicht ganz so beeindruckt wie nach dem ersten. Eine Empfehlung ist dieses gut geschriebene Buch dennoch wert.

Bewertung vom 17.10.2020
Die Topeka Schule
Lerner, Ben

Die Topeka Schule


sehr gut

Eine Jugend in Topeka, Kansas
Im Mittelpunkt von Ben Lerners Roman “Die Topeka Schule“ steht eine Familie in Topeka, Kansas im ländlichen Mittleren Westen. Der Roman spielt in den 90er Jahren. 1997 steht der 17jährige Adam Gordon steht kurz vor dem Highschool-Abschluss. Er nimmt sehr erfolgreich an Debattierwettbewerben teil und bereitet sich – unterstützt von Trainern – auf den nationalen Wettkampf vor. Seine Eltern Jonathan und Jane sind beide Psychotherapeuten und arbeiten in einer Foundation genannten psychiatrischen Klinik. Jane leidet unter frühen unverarbeiteten traumatischen Erfahrungen, und sie haben Probleme in ihrer Ehe. Jane veröffentlicht ein hochgelobtes feministisches Buch und wird daraufhin in anonymen Anrufen, Nachrichten und auf der Straße aufs übelste beleidigt und bedroht. Ihre Freundin Sima, die zugleich ihr Supervisor ist, verkraftet Janes Ruhm nicht. Die Freundschaft zerbricht. Zu den Protagonisten gehört auch ein gestörter und etwas zurückgebliebener Jugendlicher namens Darren Earheart, ein Patient von Jonathan, der von den Altersgenossen gnadenlos gehänselt und gemobbt wird.
Erzählt wird die Geschichte nicht chronologisch aus drei wechselnden Perspektiven mit Einschüben, die Darren betreffen. Der Roman ist auch deshalb keine leichte Kost, weil die Debattierwettbewerbe in ihrer speziellen Ausprägung für uns auf jeden Fall eine fremde Welt sind. Da spielt „spreading“ eine große Rolle. Dabei wird der Gegner mit einer solchen Fülle von Argumenten überschüttet, dass er unmöglich in der vorgegebenen Zeit auf alle eingehen kann und deshalb verliert. Auf mich wirkt das eher wie ein Wettbewerb im Schnellsprechen, wo es auf Inhalte gar nicht mehr ankommt, eher ein grandioses Geschwafel. Dennoch wird deutlich, dass Sprache Macht verleiht. Sprache verhilft zu einem Überlegenheitsgefühl und bringt andere zum Verstummen. Im schlimmsten Fall kommt es zu verbaler Gewalt. Die wichtigsten Themen des Romans sind für mich: der politische Diskurs, wie wir ihn heute in den USA haben, zeichnet sich ab. Toxische Männlichkeit bleibt wirksam und macht dem weiblichen Teil der Bevölkerung das Leben schwer. Traumata werden von Generation zu Generation weitergegeben und prägen das Erleben jeder neuen Generation. Bleibt nur noch zu sagen, dass der Roman ein weiteres Beispiel für den neuen Trend der autofiktionalen Literatur ist, denn in vielen Einzelheiten gleicht Adam Gordons Geschichte der Biografie des Autors. Ein interessantes Buch, das sich nicht mühelos liest.

Bewertung vom 17.10.2020
Die verschwindende Hälfte
Bennett, Brit

Die verschwindende Hälfte


sehr gut

Die Suche nach der eigenen Identität
In Brit Bennetts neuem Roman “Die verschwindende Hälfte“ geht es um die Geschichte einer Familie im fiktiven Ort Mallard im ländlichen Louisiana über einen Zeitraum von fast 60 Jahren. Hier werden in den 40er Jahren die eineiigen Zwillinge Desiree und Stella Vignes geboren. In diesem Ort leben seit Generationen Farbige, die immer hellhäutiger werden. Als Kinder werden die Mädchen Zeugen des Lynchmords an ihrem Vater. Mit 16 Haben sie nur einen Wunsch: diesen Ort zu verlassen. Sie gehen heimlich nach New Orleans, wo sie Unterkunft und Arbeit finden. Stella geht bei einer Bewerbung um einen Bürojob als Weiße durch, und bald werden sich ihre Wege trennen. Stella entscheidet sich für ein Leben als Weiße, zahlt jedoch einen hohen Preis dafür. Sie bricht den Kontakt zu ihrer Familie ab, wobei vor allem die Trennung von der geliebten Schwester schmerzlich ist. Von da an wird ihr ganzes Leben auf einer Lüge aufgebaut sein. Sie heiratet einen weißen Banker und bekommt die blonde Tochter Kennedy mit den violetten Augen. Niemals spricht sie über ihre Vergangenheit und behauptet, ihre Angehörigen seien tot. Desiree geht einen anderen Weg. Sie heiratet einen sehr dunkelhäutigen Farbigen und bekommt die blauschwarze Tochter Jude. Nach Jahren flieht sie mit der Tochter vor ihrem gewalttätigen Ehemann und kehrt nach Mallard zurück. Hier spürt sie der Jugendfreund Early auf, der sie im Auftrag seines Chefs suchen soll, verrät sie aber nicht. Während Kennedy das Leben einer reichen Weißen lebt und zu einer ziemlich erfolglosen Schauspielerin wird, bemüht sich Jude um einen Schulabschluss und beginnt schließlich mit Hilfe eines Sportstudiums mit 10 Jahren Verspätung ein Studium an der UCLA. Zufällig begegnen sich sie Kusinen und Jude erkennt Mutter und Tochter, weil Stella Desiree noch immer wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Bei einem Streit konfrontiert Jude Kennedy mit ihrer wahren Herkunft und der Geschichte ihrer Familie. Kennedy stellt ihre Mutter zur Rede, die aber alles leugnet. Kennedy ist sich jetzt sicher, dass ihre Mutter ihr über all die Jahre nur Lügen erzählt hat. In der zweiten Hälfte des Romans läuft alles auf die unwahrscheinliche Wiederbegegnung der Schwestern hinaus, aber wie könnte die wohl aussehen?
Neben der brandaktuellen Thematik des in den USA noch immer allgegenwärtigen Rassismus behandelt der Roman viele weitere Themen: Liebe und Verrat, Lügen und Geheimnisse, Herkunft und Hautfarbe, die Suche nach der eigenen Identität, Transsexualität und die historischen Meilensteine der amerikanischen Geschichte, wie zum Beispiel die Fakten der Rassentrennung und die Morde an King und den Kennedys. Die generationsübergreifende Familiengeschichte ist wegen der vielen Zeitsprünge und Rückblenden nicht immer leicht zu lesen, und manchmal fällt die zeitliche Einordnung von Episoden schwer. Da scheitert auch der Verfasser des Klappentextes. Die Zwillinge können nicht in den 50er Jahren geboren sein, wenn Desiree 1968 mit ihrer 8jährigen Tochter Jude nach Mallard zurückkehrt. Mich hat der Roman sehr gefesselt, und ich halte ihn für einen der interessantesten der letzten Zeit.

Bewertung vom 06.09.2020
Gipskind
Kögl, Gabriele

Gipskind


ausgezeichnet

X-Haxen sind schiach
In Gabriele Kögls Roman “Gipskind“ geht es um ein Mädchen, das in den 60er Jahren in Österreich in einem ärmlichen bäuerlichen Milieu aufwächst. Das lange „die Kleine“ genannte Mädchen hat von Geburt an Probleme mit den Beinen, die eingegipst werden, um sie zu korrigieren. Sie wird nie tanzen oder Sport treiben können und ist für die lieblosen Eltern von Anfang an eine Enttäuschung, vor allem für die Mutter, für die Kinder schon frühzeitig Arbeitskräfte sind und die keinen Sinn in Bildung und Kultur sieht. Kein Kind darf den Eltern unnötig lange auf der Tasche liegen. Die Mutter will ihre Tochter Andrea zwingen, mit 14 die Schule zu verlassen und Geld zu verdienen. Andrea weigert sich, macht Abitur und will in Wien studieren. Bis dahin ist es ein langer Weg und ein schwerer Kampf, aber Andrea hat nur ein Ziel: die Enge des bäuerlichen Milieus zu verlassen. Ihr Widerstand bringt ihr viele „Watschen“, Prügel und sogar Fußtritte ein. Sie hat keine Angst vor körperlicher Züchtigung, denn nur so gewinnt sie die Freiheit zu tun, was sie will. Die einzige Person, die sie versteht und liebt, ist ihre Großmutter väterlicherseits. Mit dem Großvater hat sie die gleichen Gewalterfahrungen gemacht wie Andrea mit ihrem jähzornigen Vater. Hinzukommt, dass das Mädchen mit 13 erwachsen aussieht und die Mutter sofort ihre weiblichen Reize gewinnbringend einsetzen will – sei es zur Erlangung eines Kredits oder zur Vorbereitung einer Ehe mit dem Sohn eines reichen Bauern, was auch den Eltern eine ganz andere gesellschaftliche Stellung verschaffen würde.
Diese Geschichte wäre für den Leser unerträglich trist, wenn die Autorin nicht das eindrucksvolle Porträt einer starken Persönlichkeit zeichnen würde, die ihre Sehnsucht nach einem anderen Leben verwirklicht. Erzählt wird der Roman in ausgeprägtem österreichischem Dialekt, was ihm besondere Authentizität verleiht. Herkunft und Sprache sind hier untrennbar miteinander verbunden. Nennenswerte Verständnisprobleme gibt es für den Leser dennoch nicht. Authentisch in ihrer Grausamkeit wirken auch Beschreibungen von Schlachtszenen, der Kastration von jungen Ferkeln durch den Saustecher oder der Kaiserschnitt bei einer Kuh, bei dem die Kleine mithilft.
Mich hat das Buch sehr beeindruckt und ich empfehle es gern.

Bewertung vom 23.08.2020
Das Leben ist ein wilder Garten
Buti, Roland

Das Leben ist ein wilder Garten


sehr gut

Was wissen wir schon über unseren Nächsten?
„Das Leben ist ein wilder Garten“ (Originaltitel: Grand National), der neue Roman des Schweizers Roland Buti, beschreibt eine kurze Phase im Leben des Landschaftsgärtners Carlo Weiss. Seine geliebte Frau Ana hat ihn verlassen, die 18jährige Tochter Mina studiert in London und duldet keine Einmischung ihrer Eltern in ihr Leben. Dann wird Carlo durch einen Arbeitsunfall außer Gefecht gesetzt, und zwei Unbekannte schlagen seinen aus dem Kosovo stammenden Helfer Agon brutal zusammen, wobei sie ihn erheblich verletzen. Genau in dieser Krise verschwindet Carlos leicht demente Mutter Pia aus dem Altersheim. Carlo findet sie in dem ehemaligen Luxushotel Grand National in den Bergen, wo die bildhübsche Tochter eines Bäckers als junges Mädchen Brötchen auslieferte. Die Mutter will hier in Würde ihre letzten Tage verbringen und weigert sich, ins Heim zurückzukehren. An ihrer Seite trifft Carlo einen alten Lehrer, der sie offensichtlich sein Leben lang bewundert und geliebt hat. In den Gesprächen mit dem Lehrer und mit seiner Mutter erfährt Carlo eine Menge über die Vergangenheit seiner Mutter, vor allem über die Männer in ihrem Leben, als sie eine umschwärmte Schönheit war.
Buti erzählt seine an äußerer Handlung recht arme Geschichte sensibel und poetisch, wobei er deutlich macht, dass wir nur sehr wenig über die Menschen wissen, die uns nahestehen. Carlo hat nicht nur ein sehr unvollständiges Bild von seiner Mutter. Er erfährt auch, dass der massige Koloss Agon mit den Riesenpranken eine dunkle Vergangenheit im Balkankrieg hat und es sich bei dem Überfall um eine späte Rache handelt. In der Begegnung mit Carlos Mutter erweist sich Agon als äußerst sensibel und empathisch. Umso schlimmer ist es für ihn, dass sein kleines Gartenparadies samt Hütte einem Fußballplatz weichen muss.
Poetisch ist die Sprache Butis nicht nur in Bezug auf die Menschen, sondern auch bei den Naturbeschreibungen. Da verschmerzt der Leser leicht, dass auf der Handlungsebene nicht viel passiert.

Bewertung vom 23.08.2020
Wilde Freude
Chalandon, Sorj

Wilde Freude


gut

Niemals aufgeben
Im Mittelpunkt von Sorj Chalendons neuem Roman “Wilde Freude“ steht die Buchhändlerin Jeanne Hervineau. Sie erfährt, dass sie an Brustkrebs erkrankt ist. Die gute Nachricht: ihr wird nicht die Brust amputiert, aber sie muss monatelang eine Chemo-, danach eine Strahlentherapie machen. Ihr Mann Matt reagiert abweisend und kalt. Er kann ihren Anblick und Geruch schon bald nicht mehr ertragen und verlässt sie. Da trifft es sich gut, dass sie bei der Therapie die empathische Brigitte kennenlernt, die sie schon bald einlädt, in die WG mit den Freundinnen Assia und Melody einzuziehen, die alle dasselbe durchmachen. Drei von ihnen teilen im Übrigen auch die Erfahrung, ein Kind verloren zu haben. Jeannes Sohn Jules starb mit sieben Jahren an einer unheilbaren Krankheit. Seit seinem Tod ist die Beziehung zu Matt bereits zerrüttet. Bei den drei Frauen fühlt sich Jeanne geborgen und fasst allmählich neuen Lebensmut. Sie verändert sich auch sonst, entschuldigt sich nicht mehr ständig, was ihr den Spitznamen Jeanne Sorry eingebracht hat. Sie merkt, dass sie ein Leben lang unauffällig und angepasst sein wollte. Jetzt nimmt sie ihr Schicksal in die Hand und wird zur mutigen Kämpferin. Diese Eigenschaft wird gebraucht, als die vier Frauen einen Überfall auf ein Juweliergeschäft planen, um einer von ihnen aus ihrer Notlage zu helfen. Dadurch bekommt der Roman, der in der ersten Hälfte eher von Traurigkeit angesichts der vielleicht tödlichen Krankheit dominiert wird, Elemente eines Thrillers mit zunehmender Spannung. Wilde Freude vermisse ich allerdings weitgehend – abgesehen von der Tatsache, dass die Frauen ihr Leben trotz aller Schmerzen und Ängste so normal wie möglich weiterführen.
Ich kenne fast alle Romane von Chalendon. Dieser ist anders und gefällt mit aus verschiedenen Gründen weniger als die anderen. Das liegt einmal an den detaillierten Beschreibungen der Krankheit und den Therapien mit den verheerenden Begleiterscheinungen, zum andern an der nicht immer besonders plausiblen Romanhandlung – hier vor allem der bewaffnete Überfall. Positiv zu bewerten ist auf jeden Fall, dass die Geschichte den Leser nicht hoffnungslos zurücklässt. Dafür sorgt schon die beschriebene Solidarität und Freundschaft unter den Frauen, die ihnen den Mut und die Kraft zu kämpfen gibt. Bedingt zu empfehlen.

Bewertung vom 22.08.2020
Was uns verbindet
Gowda, Shilpi Somaya

Was uns verbindet


ausgezeichnet

Man muss einander und sich selbst verzeihen
In Shilpi Somaya Gowkas neuem Roman “Was uns verbindet“ geht es um eine Familie, die alle Voraussetzungen zu erfüllen scheint, um dauerhaft glücklich zu sein. Die Diplomatentochter Jaya mit indischen Wurzeln trifft in London den amerikanischen Banker Keith Olander. Sie sind seit 20 Jahren ein glückliches Paar ohne finanzielle Sorgen in einem kalifornischen Vorort, haben zwei Kinder Karina, 13 und Prem, 8. Dann passiert ein tragischer Unglücksfall, und nichts ist mehr, wie es war. Die Familie zerbricht, jeder versucht auf seine Weise, mit Trauer und Schuld umzugehen. Dabei entwickeln sie sich sehr weit auseinander. Die Eltern lassen sich scheiden. Jaya flüchtet in eine tiefe Spiritualität und folgt einem Guru. Keith arbeitet noch mehr als zuvor, hat zahlreiche Affairen und trifft als erfolgreicher Investmentbanker eine ethisch problematische Entscheidung, die ihn in große Schwierigkeiten bringen wird. Die Eltern merken nicht, dass Karina unter Depressionen und einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und sich immer wieder selbst verletzt. Am College macht sie Erfahrungen, die sie weiter traumatisieren. Sie kann sich niemand anvertrauen und flüchtet schließlich auf eine Oase genannte Farm, wo eine sektenähnliche Gruppe unter dem charismatischen, aber sehr dominanten Führer Micah eine alternative Lebensform ausprobiert. Karina verliebt sich in Micah und entdeckt erst allmählich, wie gefährlich dieser Mann ist, der sie alle belügt und benutzt. Nach einem weiteren furchtbaren Erlebnis ist Karina wieder bei den Eltern und bekommt endlich ihre Unterstützung und die professionelle Hilfe, die sie so dringend benötigt.
Auch der Leser nimmt einige Erkenntnisse aus diesem weisen Buch mit: den richtigen Umgang mit Trauer und Schuld und die Notwendigkeit, irgendwann damit abzuschließen und sein Leben in den Griff zu bekommen. Die Geschichte hat mich sehr berührt, zeigt sie doch, was Familie auch in existentiellen Krisen leisten kann, wenn sie funktioniert. Erzählt wird aus den vier verschiedenen Perspektiven der Familienmitglieder, wobei der Schwerpunkt auf Karinas Sicht und Erfahrungen liegt. Ein sehr schönes Buch, das ich uneingeschränkt empfehle.

Bewertung vom 02.08.2020
Der letzte Satz
Seethaler, Robert

Der letzte Satz


sehr gut

Ich sollte noch ein bisschen bleiben
In Robert Seethalers neuem Roman “Der letzte Satz“ ist der Komponist und Dirigent Gustav Mahler auf dem Schiff „Amerika“ von New York Richtung Europa unterwegs. Er ist todkrank und weiß selbst, dass dies seine letzte Reise sein wird. Er schaut vom Deck aus über das Meer und lässt Stationen seines Lebens Revue passieren: seine bemerkenswerte Karriere als Dirigent, die ihn in die großen Häuser der ganzen Welt führte und unter anderem in Wien einem disziplinlosen Orchester mit teilweise mittelmäßigen Musikern zu großen Triumphen verhalf. Er erinnert sich an seine kleine Tochter Maria, die etwa zwei Jahre zuvor verstarb, und er denkt über seine Ehe mit der schönen Alma nach, die mit der kleinen Tochter Anna ebenfalls an Bord ist. Alma ist die Liebe seines Lebens. Sie ist dennoch von dieser Ehe enttäuscht und hat sich einem anderen Mann zugewandt, weil sie immer gespürt hat, dass die Musik in Gustav Mahlers Leben die wichtigste Rolle spielt. Sie verlässt ihren Mann jedoch nicht, denn ihm bleibt ohnehin nicht mehr viel Zeit. Rückblickend bedauert Mahler, nicht mehr komponiert zu haben: „Ich sollte noch ein bisschen bleiben.“ (S. 118) Seine Tätigkeit als Dirigent und die vielen Reisen haben zu viel Zeit gekostet.
Seethaler zeichnet in diesem schmalen Bändchen ein faszinierendes Porträt eines großen Künstlers, der trotz antisemitischer Anfeindungen und Widerständen aller Art seinen Weg ging und großes leistete. Auch die lange Krankheit mit vielen unangenehmen Symptomen lässt ihn nicht resignieren. Er weiß: Solange man sich den Tod vorstellen kann, ist er noch nicht da (S. 108). Dem Autor ist ein auch sprachlich beeindruckendes Porträt gelungen, das ich gern empfehle.