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Rezensentin aus BW

Bewertungen

Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 18.09.2020
1000 Serpentinen Angst
Wenzel, Olivia

1000 Serpentinen Angst


ausgezeichnet

Die namenlose und schwangere Protagonistin und Ich-Erzählerin ist in den 80-ern in der ehemaligen DDR geboren.

Trotz oder gerade wegen ihrer Angsterkrankung ist sie eine Kämpferin.
Sie, die familiären Rückhalt vermisst und es in ihrer DDR - Kindheit nicht leicht hatte, kämpft um sich selbst.

Sie hatte einen Zwillingsbruder, den sie schmerzlich vermisst, denn... er nahm sich mit 17 Jahren das Leben.

Ihr Vater ist schwarz und stammt aus Angola. Kurz nach der Geburt der Kinder ging er in sein Herkunftsland zurück und baute sich da ein neues Leben auf.

Ihre Mutter, systemrebellische Altpunkerin, war somit alleinerziehend, ist weiß und stammt aus der ehemaligen DDR.

Ihre latent rassistische Großmutter mütterlicherseits konnte durch ihre systemkonforme Gesinnung in Wohlstand und Sicherheit leben.

Die Mutter der Erzählerin wollte schon als Jugendliche die DDR-Diktatur hinter sich lassen und sich aus den Fängen der Stasi befreien. Sie sehnte sich nach Freiheit und mit ihrer Schwangerschaft mit 19 Jahren platzte dieser Traum wie eine Seifenblase.

Selbst jetzt, nach 30 Jahren kann sie mit ihrer Tochter nicht gelassen und unbefangen über die Vergangenheit sprechen.
Darüber, warum sie einst verhaftet und eingesperrt wurde, warum sie nach der Maueröffnung so oft allein vereiste und die Kinder in der Obhut der Großeltern oder von Freunden betreuen ließ, warum sie schließlich den Kontakt zu Mutter und Tochter abbrach und verschwand.

Olivia Wenzel hat ein intensives, geistreiches und berührendes, gleichermaßen witziges wie ernsthaftes und wuchtiges, schonungsloses wie zartes Buch über Heimat, Herkunft und Verlust, Rassismus und Sexismus, Ost und West sowie Angst und Zuversicht geschrieben.

Aber das sind bei weitem nicht alle Themen, die eine Rolle spielen.
Es geht auch um psychische Störungen, sexuelle Gewalt, Homosexualität, innere Zerrissenheit und Selbstfindung.

Trotz dieser Vielfalt wirkt die Geschichte nicht überladen. Alles wird gut dosiert und gekonnt eingeflochten.

Olivia Wenzel regt mit ihrem 352-seitigen Werk zum Nachdenken an, gibt Denkanstöße und bietet eine Steilvorlage zum Perspektivenwechsel.

Es ist, meines Erachtens, kein Roman im typischen oder eigentlichen Sinn.
Man wird zu Beginn etwas ins kalte Wasser geschmissen, aber wenn man sich auf den unkonventionellen Erzählstil einlässt, dann wird man mit einer anspruchsvollen und gleichzeitig lesenswerten und mitreißenden Lektüre belohnt.

Die Geschichte ist in drei Teile gegliedert und wirkt manchmal, aufgrund seiner nicht chronologischen Erzählweise, recht sprunghaft.
Die z. T. rein aus Dialogen bestehenden Kapitel wirken zunächst ungewöhnlich oder sogar befremdlich. Man hat dann den Eindruck, einem, zugegebenermaßen, höchst interessanten Frage - Antwort - Spiel beizuwohnen, in dem die Rollen wechseln.
Originell!

Ich möchte diesen Roman sehr gerne weiter empfehlen.
Für mich gehört er sicherlich zu meinen Jahreshighlights.

Bewertung vom 18.09.2020
Oberkampf
Klute, Hilmar

Oberkampf


ausgezeichnet

Frankreich, Paris, Anfang 2015.

Der Mittvierziger Jonas Becker, der bisher in Berlin gelebt hat, zieht nach Paris.
In eine kleine Wohnung in der Rue Oberkampf.
Er hat eine Trennung hinter sich und seine Selbständigkeit in seiner Agentur über Bord geworfen und will nun, in der „Stadt der Liebe“, als freier Schriftsteller arbeiten.

Warum gerade Paris?
Jonas will eine Biografie über den gleichermaßen berühmten wie wenig erfolgreichen älteren Schriftsteller Richard Stein schreiben und dieser Lebemann wohnt seit einigen Jahren in der französischen Hauptstadt.

Es läuft gut an.
Der Verlag bezahlt seine Miete, er lernt Richard Stein, den er nun fast täglich trifft, näher kennen und eine Liebschaft mit der Französin Christine bahnt sich an.

Tagsüber Interviews, nachts Amüsement mit Christine in den Pariser Kneipen, Bars und Bistros.

Und dann ereignet sich, schon wenige Tage nach seiner Ankunft, eine einschneidende Begebenheit: das Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo.
Ganz Paris und seine Einwohner geraten in den Ausnahmezustand.

Auch weitere Geschehnisse sorgen für Wirbel.
Die beiden Schriftsteller kommen sich näher und Jonas erfährt, dass Richard in Amerika einen Sohn hat. Elias kam mit hochgesteckten Zielen und vielen Träumen in die USA und ist jetzt dort irgendwie verschollen.
Schließlich machen sich die beiden Männer auf den Weg, um den verlorenen Sohn aufzuspüren, der abzustürzen droht.
Ein Roadmovie beginnt...

Die Geschichte zog mich in ihren Bann und ich konnte in Windeseile eintauchen und versinken.

Es geht letztlich um die Verstörung und Sinnsuche im Großen und Kleinen.
Eine Stadt sucht Sinn und Halt nach einem katastrophalen Anschlag und Jonas sucht Sinn und Halt in seinem Leben, das er kürzlich völlig umgekrempelt hat.
Auch Elias sucht Sinn... und braucht Halt.

Hilmar Klute ist ein scharfsinniger Beobachter und hat hier einen bravourösen Bogen geschlagen zwischen zeitgeschichtlichem und individuellem Wendepunkt.

Kurswechsel in der Gesellschaft.
Kurswechsel im persönlichen Leben.

Der Autor erweckt seine Figuren und Handlungsorte durch seine wortgewaltige Sprache und ausdrucksstarken Bilder zum Leben.

Er schreibt tiefgründig, unterhaltsam, ironisch und humorvoll, benutzt treffende Formulierungen und regt zum Nachdenken an.

Mir gefallen Klutes ausdrucksstarke und pointierte Sprache und sein bildgewaltiger Schreibstil.

Ein Highlight.

Bewertung vom 17.09.2020
Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst
Hornby, Nick

Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst


sehr gut

Ein ernstes Thema - eine Ehekrise - witzig-spritzig, schlagfertig und mit viel Humor an den Leser gebracht.

Im Zentrum stehen ein Ort (ein Pub), ein Ehepaar (Tom und Louise), ein Problem (eine Ehekrise) und ein Lösungsansatz (eine Paartherapie).

Tom und Louise sind seit vielen Jahren verheiratet und jetzt ist der Wurm drin.

Die Ärztin Louise hat ihren Ehemann, den Musikjournalisten Tom betrogen. Die beiden haben zwei Kinder und einen Hund und über die Jahre ist etwas zu kurz gekommen und verloren gegangen. Die gegenseitige Aufmerksamkeit? Die Leidenschaft?

Eine Paartherapie soll aus der Sackgasse heraus helfen.

Höchst originell ist, dass es hier um eine Paartherapie geht, man aber nicht ein einziges Mal einer Sitzung beiwohnt.
Man erlebt nur, bzw. stattdessen die Sitzungen vor den Sitzungen in der Kneipe gegenüber der Praxis mit.
Und die sind äußerst amüsant, manchmal auch albern, erkenntnisreich, kurzweilig und unterhaltsam. Auch nachdenkliche, ernste, tiefgründige und bittere Momente gibt es.

Es ist wie ein aus 10 Akten bestehendes Kammerdpiel, das aus den Dialogen zwischen Tom und Louise besteht.

Bei aller zugrunde liegender Ernsthaftigkeit sind die 10 Episoden herzerwärmend und komisch.
Man muss schon wegen der häufigen Wiedererkennungseffekte aus dem Eheleben schmunzeln.
Ich bin mir sicher, dass jedes lange verheiratete Ehepaar sich im ein oder anderen wiederfindet.

Es zeigt sich hier, dass Nick Hornby ein scharfsinniger Beobachter ist, der das Beobachtete brilliert und pointiert wiedergeben kann.

Es ist sehr vergnüglich, den Wortgefechten der beiden zu lauschen.
Man fliegt regelrecht durch dieses äußerst schmale Bändchen, das ich gerne weiter empfehle.

Bewertung vom 17.09.2020
Aus schwarzem Wasser
Freytag, Anne

Aus schwarzem Wasser


ausgezeichnet

Eine alptraumhafte Vorstellung: man erwacht nach einem Unfall in einem Leichensack.

Genau das ist Maya passiert. Sie befreit sich aus dem Sack, flüchtet aus der Pathologie des Krankenhauses und findet bei einem Freund Unterschlupf.

Dann beginnt das große Spekulieren.
Die Bevölkerung fragt sich, wo Mayas Leiche ist und Maya fragt sich, was ihr da eigentlich widerfahren ist.

Sie hatte einen schweren Autounfall:
Zusammen mit ihrer Mutter, der Innenministerin Dr. Patricia Kohlbeck.
Mutter Kohlbeck raste mit ihrem Dienstwagen, in dem auch Maya saß, ungebremst in die Spree.

Kurz bevor ihre Mutter ertrank, riet sie ihrer Tochter noch, niemandem zu trauen, da sie alle mit drin stecken würden.

Was meinte ihre Mutter damit?
Wie konnte Maya 20 Minuten unter Wasser überleben?
Wie konnte sie aus dem gepanzerten Dienstauto unter Wasser gerettet werden?
Wer hat sie gerettet?

Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf ein Geflecht von Lügen, Intrigen und Machtkämpfen.
Verheerende Naturkatastrophen ereignen sich. Sie selbst und die ganze Menschheit ist in Gefahr.

Im Verlauf lernt man die Figuren, die vielschichtig und authentisch gezeichnet werden, gut kennen. Auch deren Beziehungen untereinander werden alles andere als eindimensional dargestellt.

Wir erfahren, woran Frau Doktor Kohlbeck geforscht hat, bevor sie Innenministerin geworden ist und dass sie eine machthungrige Frau war, der Forschung über alles ging. Sie hatte wohl einige Leichen im Keller.

Wir begleiten Maya, die sich nicht ganz sicher sein kann ob sie dem persönlichen Assistenten ihrer Mutter, ihrem Patenonkel oder ihrem Freund vertrauen kann.

Nach und nach durchdringt die mutige und beherzte junge Frau das komplexe Netz aus Ungereimtheiten.

„Aus schwarzem Wasser“ ist ein packender, kurzweiliger, aktueller und unterhaltsame Thriller, der ein Katastrophenszenario aufwirft.

Schonungslos und zugespitzt entwirft die Autorin einen Pageturner, den man sich unschwer verfilmt vorstellen kann.

Sie treibt die Handlung mit sprachgewaltigen Sätzen voran und Steigert die Neugierde des Lesers und die Spannung der Geschichte gleichermaßen.

Mit den unterschiedlichen Perspektiven und Zeitebenen wird der Thriller, der aufgrund seines Plots ohnehin schon packend ist, noch abwechslungsreicher.

Obwohl der Thriller über 600 Seiten umfasst fliegt man regelrecht atemlos durch das Buch.

Wer mal wieder so richtig Lust auf Spannung hat, der lese „Aus schwarzem Wasser“.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.09.2020
Der Löwe Gottes
Friedlaender, Maren

Der Löwe Gottes


ausgezeichnet

Der jüdische Junge Ariel (hebräisch „Löwe Gottes“) ist 1939 geboren.
Seine Eltern sind wohlhabend und die drei ziehen während der Nazidiktatur um und durch die Welt.

Ariels Vater arbeitet für den britischen Geheimdienst.
Bei einem Einsatz kommt er ums Leben.

Der Sohn will seinen Vater rächen.
Er wird seinem Namen gerecht.
Er wird zum Zornesengel.
Er wird zum Bestrafer der Dämonen.
Er wird zum Nazijäger.
Er wird aber auch ein Liebender.
Ein Liebender, der seine Liebe verliert.

Mehr Worte möchte ich über den Inhalt nicht verlieren, weil das Buch recht schmal ist.
Ich würde Spannung und Lesevergnügen vorwegnehmen.

Dieser Kurzroman ist außergewöhnlich und seltsam. Gleichermaßen schön wie bedrückend.
Er stimmt nachdenklich.

Es ist ein Roman, in dem es um Rache, Vergeltung, Liebe, Verrat und Tod geht.

Ist Rache moralisch akzeptabel? Nachvollziehbar? Verständlich? Menschlich?
Welche Möglichkeiten der Rache sind annehmbar?
Führt Rache zu anhaltendem Wohlbefinden bei dem, der sich rächt?
Oder nur zu vorübergehender Genugtuung?
Wird die Welt durch Rache besser?

Der Roman ist originell und unterhaltsam.

Ich empfehle ihn gerne weiter.

Bewertung vom 17.09.2020
Die Unschärfe der Welt
Wolff, Iris

Die Unschärfe der Welt


ausgezeichnet

Iris Wolff erzählt feinfühlig und mit brillanter Sprache die Geschichte einer Familie aus dem Banat, einer historischen Region in Südosteuropa, die heute in den Staaten Rumänien, Serbien und Ungarn liegt.

Wir begleiten die vier Generationen von der Zeit der Monarchie bis zum Ende der rumänische Revolution von 1989.

Im Verlauf des Romans lernen wir schwerpunktmäßig sieben Personen kennen, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist.
Diese Personen stehen miteinander in Verbindung und am Ende schließt sich der Kreis.

Mit Aufschlagen des Buches werden wir in eine mitreißende und packende Situation in die rückständig wirkende Zeit der 1960-er Jahre hineinkatapultiert: die Geburt von Samuel, der in jedem der sieben Kapitel eine zentrale Rolle spielt.

Er ist der einzige Sohn von Florentine und dem deutschstämmigen Pfarrer Hannes.
Florentine ist eine introvertierte Frau mit einer Leidenschaft für Bücher und Poesie.
Sie kümmert sich um die Familie ihrer bei einer illegalen Abtreibung verstorbenen Freundin Nika und um die Gäste, die ins Pfarrhaus kommen.
Auch Benedikt und Lothar aus der DDR gehören zu diesen Besuchern. Sie scheinen etwas im Schilde zu führen und nutzen die Gastfreundschaft von Florentine und Hannes ungewöhnlich lange aus.

Auch Samuel hat seinen besten Freund verloren: Echo wird er genannt, bevor er starb.

Dann ist da noch Karline. Sie ist die Mutter von Pfarrer Hannes, die aus einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie stammt und von besseren Zeiten träumt: von der vergangenen Monarchie.

Und auch Konstanty, der gewalttätige Ehemann von Florentibes slowakischer Freundin Malva, soll hier noch kurz erwähnt werden. Er ist ein Gegenspieler bzw. Unruhestifter in dieser dörflichen Welt im Banat. Er ist ein überzeugter Kommunist und Anhänger Ceausescus und die Pfarrersfamilie hat ihre liebe Not mit ihm.

Wir können uns die Charaktere, deren Umfeld und die Umstände, in denen sie leben, unschwer vorstellen, weil die Autorin sie uns unaufgeregt, empathisch und in wundervoller Sprache mit beeindruckenden Bildern nahebringt.
Die Figuren werden authentisch skizziert und dabei glaubhaft und undramatisch miteinander verbunden.

In dem Roman werden viele Themen gestreift:
Bedeutung von Familie und Freundschaften, Verlässlichkeit innerhalb der Familie, Identitäts- und Sinnsuche, Liebe, glückliche Umstände versus Fügung bzw. Zufall versus Schicksal.
Es geht auch um Zusammenhalt, Einsamkeit, Heimat und Sprache.

Eingebettet sind all diese Themen in eine unterhaltsame und fesselnde Familiengeschichte, deren Rahmen politische, gesellschaftliche und kulturelle Geschehnisse sind.

Ich empfehle diese spannende und berührende Familiengeschichte, deren melodische und poetische Sprache und originelle Bilder ein Genuss sind, sehr gerne weiter.
Iris Wolf ist eine Sprachkünstlerin mit einem ausgeprägtem Sprachgefühl.

Für mich ist der 216-seitige Roman ein Highlight.
Ein literarisches Sahnestückchen. Ruhig und gleichzeitig bewegend.

Bewertung vom 17.09.2020
Sieben Versuche zu lieben
Biller, Maxim

Sieben Versuche zu lieben


ausgezeichnet

In diesem Erzählband finden sich 13 tiefsinnige und facettenreiche Familiengeschichten, denen Biographisches zugrunde liegt und deren Rahmen politische, gesellschaftliche und kulturelle Geschehnisse bilden.

Autobiographisches und Reales in Fiktion eingebettet.

Es geht „im Kleinen“ immer um die zwischenmenschlichen Beziehungen und Verwicklungen innerhalb des familiären Netzes und dabei im Besonderen um Familiengeheimnisse, Familienkonflikte, Lügen, Verrat, Grenzüberschreitungen, Krisen, Brüche, Heimat, Herkunft und Sehnsucht.
Aber auch berufliche Schwierigkeiten und die Liebe kommen nicht zu kurz.

- das alltägliche Leben eben. Gleichermaßen unspektakulär wie außergewöhnlich.

„Im Großen“ spielen politische Ereignisse wie Judenverfolgung, Holocaust und Prager Frühling eine nicht unbedeutende Rolle.

Feinfühlig und mit knappen und präzisen Worten gelingt es Maxim Biller jeweils in Windeseile, den Leser in die Geschichte hineinzuziehen.

Er präsentiert mit seinen z. T. skurrilen und selbstironischen jüdisch-russischen Familiengeschichten ausgewogene und unterhaltsame Mischungen zwischen Handlung und Reflexion sowie Witz und Provokation und vermittelt die jeweilige Atmosphäre gekonnt und im Handumdrehen.
Die Geschichten kommen sehr unterschiedlich daher.
Mal wuchtig, mal unaufgeregt.
Mal emotionaler, mal sachlicher. Mal weitschweifiger, mal knapper.

Ich empfehle diesen kurzweiligen und abwechslungsreichen Erzählband des scharfsinnigen Beobachters und brillanten Sprachkünstlers sehr gerne.

Bewertung vom 17.09.2020
Marta schläft
Hausmann, Romy

Marta schläft


ausgezeichnet

Spreewald, Berlin und polnisches Randgebiet ... das ist das Setting des Thrillers.

Als ich mir die Vorankündigung zu diesem Buch durchlas, stieß ich auf folgende interessante Legende, die sich um die Entstehung des Spreewaldes dreht und die ebenfalls ihren Weg in den Text gefunden hat:
Der Sage nach hat der Teufel höchstpersönlich den Spreewald erschaffen, indem er zwei Höllenochsen vor einen Pflug spannte.
Doch die Tiere gingen ihm durch und rannten unkontrollierbar los, wobei der Pflug Tausende von tiefen Furchen hinterließ, die sich mit Wasser füllten und so bis heute die zahllosen Spreewaldkanäle bilden.

Als Jugendliche wird Nadja, die eine schwere Kindheit in Polen erlebte, für ein grausames Verbrechen verurteilt.
Nachdem sie nach sechs Jahren aus der Haft entlassen wird, ist es ihr nachvollziehbarer Wunsch und ihr Ziel, ein normales Leben zu führen.
Sie findet einen Job in Berlin als Assistentin in einer Anwaltskanzlei. Es sieht gut aus.
Dann geschieht ein Mord und Nadja gerät in Verdacht.
Einmal Mörder, immer Mörder?

Zwei zunächst voneinander unabhängige Handlungsstränge streben aufeinander zu und treffen sich schließlich.
Im einen lernen wir das graue Mäusschen Nadja kennen, die ihrer Freundin Laura bei einem gravierenden Problem helfen möchte und dabei in Lebensgefahr und Schusslinie gerät.
In anderen geht es um Nelly, die im Hotel ihrer Eltern arbeitet und die Geliebte eines Gastes wird.

„Marta schläft“ ist ein spannender und kurzweiliger Psychothriller, der Gänsehaut verursacht und die Frage aufwirft, ob ein Täter den Stempel des Täters jemals wieder loswerden kann?

Die Ich-Perspektive zieht den Leser in die Geschichte und die bildhafte Sprache lässt das Geschehen wie einen Film vor dem inneren Auge erscheinen.
Die eingestreuten Briefe bringen Abwechslung und die Rückblicke in die Vergsngenheit sind interessant.

Die Autorin ist eine genaue Beobachterin und verwendet eine schöne Sprache.

Die Charaktere sind interessant und werden in ihrer Komplexität gezeichnet; der Thriller liest sich leicht und flüssig.

„Marta schläft“ ist ein gelungener und außergewöhnlicher Thriller mit überraschenden und raffinierten Wendungen und einem wunderbaren Ende.

Man muss aufmerksam lesen, sich darauf einlassen und erst einmal aushalten, dass man durch den undurchsichtigen, etwas bruchstückhaften und wenig fassbaren Beginn der Geschichte verwirrt und ratlos ist.
Aber letztlich löst sich das Chaos auf, alles ergibt Sinn und alles passt zusammen.

Unbedingt lesen!
Thriller mit Sogwirkung.

Bewertung vom 16.09.2020
Die Parade
Eggers, Dave

Die Parade


ausgezeichnet

Wir begeben uns mit Beginn der Lektüre in irgendein unbenanntes Land, in dem bis vor kurzem Bürgerkrieg herrschte und wir befinden uns in der Gegenwart.

Auch die Protagonisten, zwei Straßenbauer, sind namenlos.
Sie heißen „vier“ und „neun“.
Sie müssen eine 230 km lange Straße, die von einer lebendigen Hauptstadt im Norden zum ländlich geprägten und ärmlichen Süden führt, asphaltieren und linieren.
Diese Aufgabe muss in zwölf Tagen erledigt sein, denn anschließend soll gerade auf dieser Straße mit einer Militärparade der noch junge Frieden gefeiert werden.

Die beiden Männer grundverschieden.
Vier ist ein erfahrener Tiefbauarbeiter. Verantwortungsbewusst, zuverlässig, diszipliniert, schnell und korrekt erledigt er, was man ihm aufträgt. Er hält sich strikt an die Regeln, will einfach nur seinen Job erledigen und bald wieder nach Hause.

Neun ist unerfahren, aber abenteuerlustig und neugierig.
Er ist interessiert an Land und Leuten und offen für alles, was sich am Straßenrand abspielt.
Er sucht Kontakt zu den Einheimischen und interessiert sich für deren Kultur.
All das ist gegen die Regeln.
Er sorgt mit seiner Lebensfreude und Menschenfreundlichkeit für Ärger.

Die genannten Unterschiede führen zu Konflikten und als einer der beiden ernsthaft erkrankt, wird es dramatisch.

Beide kommen an ihre Grenzen, beidehinterfragen ihre Aufgabe

„Die Parade“ ist eine fesselnde, spannende und intelligente Parabel, die nachdenklich stimmt.

Es ist ein außergewöhnliches und besonderes, psychologisches und politisches Werk, das inhaltlich und sprachlich interessant ist und einen unerwarteten Ausgang hat.
Außerdem ist es hochaktuell und gleichermaßen realistisch wie verstörend.

Der Autor wählt seine Worte ganz gezielt. Er erzählt scharfsinnig, knapp und verdichtet.
Durch sein ruhiges und unaufgeregtes Erzählen kann die spannungs- und wendungsreiche Handlung umso deutlicher in den Vordergrund rücken.

Eggers beobachtet und erzählt recht nüchtern und schnörkellos und minimalistisch. Er moralisiert nicht.

Sehr zu empfehlen!

Bewertung vom 15.09.2020
Letzte Erzählungen
Trevor, William

Letzte Erzählungen


ausgezeichnet

Der Autor erzählt in diesem Werk, das aus seinem Nachlass stammt, tiefgründig, feinfühlig und einfühlsam von den verborgenen und abgründigen Tiefen des menschlichen Seins.

Er hat in diesem Buch brillante, ruhige und überwiegend melancholische Erzählungen versammelt, die meist kein Happy End haben oder offen enden.

Es geht meist um alltägliche, zufällige oder schicksalshafte Begegnungen, die bedeutsam sind und doch keine großen Auswirkungen haben.

Die totgeglaubte Mutter ist lebendig und kerngesund.
Eine Klavierlehrerin duldet, dass ihr Schüler sie bestiehlt, weil er so gut spielt.
Ein Mord wird geflissentlich übersehen.
Eine Freundschaft zerbricht wegen einer Liebe.
Der Verlust der Ehegatten.
Der Einsatz von KO-Tropfen.
Eine tote italienische Haushaltshilfe nach der kein Hahn kräht.
Ein italienischer Cafébesitzer, der sein Café nach der Frau benennt, die ihn verlassen hat...

Es sind präzise formulierte Erzählungen von Durchschnittsbürgern, Einzelgängern, Gescheiterten, Scheiternden oder Ausgegrenzten in Alltagssituationen.
Keine großen Dramen, eher vertraute oder unspektakuläre Schicksalsschläge.
Nichts Außergewöhnliches?
Doch!
Schon allein wegen der beeindruckenden Sprache.

Meines Erachtens sollte man jede Erzählung für sich ganz aufmerksam lesen, das Gelesene auf sich wirken lassen und dann darüber sinnieren.
So ist der Lesegenuss am größten.

Diese zehn großartigen, melancholischen, manchmal etwas verstörenden Geschichten wurden erst nach dem Tod des irischen Schriftstellers William Trevor, der 2016 verstarb, veröffentlicht.

Ich empfehle sie sehr gerne weiter! 10 Kostbarkeiten, die man in Häppchen genießen kann.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.