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Buchbesprechung
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Bad Kissingen
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

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Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 14.05.2020
Offene See
Myers, Benjamin

Offene See


ausgezeichnet

REZENSION – Ein belletristisch seltener Genuss ist der im März bei Dumont veröffentlichte Roman „Offene See“ des englischen Schriftstellers Benjamin Myers (44), weshalb man dem Verlag zu diesem Glücksgriff nur gratulieren kann. Es ist vor allem die in romantischen Bildern berauschende Sprache, die diesen ersten in deutscher Übersetzung erschienenen Roman des zuvor schon mehrfach ausgezeichneten Autors so fasziniert und berührt, weshalb auch den Übersetzern Klaus Timmermann und Ulrike Wasel für dieses literarische Erlebnis zu danken ist.
Nicht nur sprachlich, auch in seiner Handlung versetzt uns der Roman „Offene See“ gefühlsmäßig ins Zeitalter der Romantik, als sich im 19. Jahrhundert heranwachsende Kavaliere auf ihre Grand Tour, ihre kulturelle Bildungsreise durch Europa, begaben. „Ich blieb stehen, um meine Feldflasche am Straßenrand an einer Quelle zu füllen, die in einen Steintrog plätscherte, und kam mir vor, als hätte ich ein Gemälde betreten.“ Doch der 16-jährige Robert Appleyard ist weder Kavalier noch lebt er im 19. Jahrhundert. Myers Geschichte spielt in Nordengland im Jahr 1946, also kurz nach Kriegsende. Der 16-jährige Schulabsolvent scheut die Enge seines augenblicklichen Lebenshorizonts und die Schlichtheit seines dörflichen Lebens sowie den allen Männern seiner Familie vorbestimmten grauen und tristen Alltag als Bergarbeiter. Er sehnt sich nach Weite, nach farbenprächtiger Natur, nach dem noch undefinierbaren Neuen, weshalb er sich auf die Wanderung zur offenen See aufmacht.
Doch noch bevor er die offene Küste erreicht, trifft er abseits der Straße auf ein heruntergekommenes Cottage, dessen schon ältere Bewohnerin Dulcie ihn zum Tee einlädt. Aus einem Nachmittag werden Wochen. Robert bringt den verwilderten Garten der alleinstehen Frau, dessen hochgewachsene Hecken die Sicht auf das Meer versperren, wieder in Ordnung. In diesen Sommermonaten wird die unverheiratete Dulcie, die sich nach erlebnisreichen Reisen und abenteuerlichem Leben in die Einsamkeit ihres Cottages zurückgezogen hat, in ihrer burschikosen und unkonventionellen Art zur Lehrmeisterin des jungen und noch unerfahrenen Robert. Nicht selten überrascht sie ihn mit ihren ungewöhnlichen Ansichten zur Lebensführung, mit ihrer drastischen und offenen Art, Dinge beim Namen zu nennen.
Dulcie gibt ihm ungeachtet seiner begrenzten schulischen Bildung die Klassiker der Weltliteratur, Gedichte und Romane, zu lesen, von denen manche wie „Lady Chatterley’s Lover“ von D. H. Lawrence nur zensiert oder unter dem Ladentisch zu bekommen waren. In langen Gesprächen schärft sie Roberts Blick für das Wesentliche im Leben und ermuntert ihn vor allem, seinen Neigungen zu folgen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. „Ich lebte das Leben, das ich leben wollte“, erinnert sich Robert später als alternder Schriftsteller.
Myers Roman „Offene See“ ist eine Lobeshymne auf das wahre Leben und dessen schöne Seiten, auf eine breitgefächerte kulturelle und humanistische Allgemeinbildung. Mit der romantisch-bildhaften und klangvollen Sprache seines zauberhaften Romans gelingt es dem Autor – und den beiden Übersetzern –, ähnlich wie im Falle Robert Appleyards gleichsam Musik und Farbe auch in unseren oft grauen Alltag zu bringen.

Bewertung vom 12.05.2020
Trotzdem
Schirach, Ferdinand von;Kluge, Alexander

Trotzdem


ausgezeichnet

REZENSION – Wer sich mit den möglichen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf unsere Gesellschaft beschäftigen will, kann viele Bücher lesen. Empfehlenswerter ist aber die Lektüre des kleinen, im Mai beim Luchterhand-Verlag erschienenen Büchleins „Trotzdem“. Wie schon in ihrem ersten beeindruckenden Gesprächsband über „Die Herzlichkeit der Vernunft“ (2017) überzeugen auch diesmal die beiden Schriftsteller-Juristen Ferdinand von Schirach (56) und Alexander Kluge (88) durch Intellekt, Scharfblick und Weitblick. Das gerade in seiner Kürze und Prägnanz beeindruckende, auf knapp 80 Seiten festgehaltene Gesprächsprotokoll der beiden Juristen beantwortet Fragen von der Rechtmäßigkeit heutiger Einschränkungen bis zur Zukunft Europas.
Das Corona-Virus schafft eine Zeitenwende, vermuten beide Juristen, die Zweierlei möglich macht - „das Strahlende und das Schreckliche“. Das „Schreckliche“ zuerst: Während manche einen „Shutdown unserer Grundrechte“ zu erkennen glauben, bleibt Schirach zuversichtlich: „Wir leben in Demokratien, wir haben eine Gewaltenteilung. Noch immer muss das Parlament entscheiden.“ Doch auch er warnt vor einer „Verfestigung autoritärer Strukturen“, an die sich die Menschen bald gewöhnen könnten, und fordert deshalb zwingend eine zeitliche Befristung jeder Maßnahme, die zudem vier Voraussetzungen erfüllen muss: „Sie muss einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sein.“ Würde man zum Beispiel allen Menschen die Fahrerlaubnis entziehen, um Leben zu schützen und Tausende Verkehrstote pro Jahr zu vermeiden, wäre auch dies zwar legitim, aber nicht angemessen.
Doch diese Frage scheint beiden Gesprächspartners eher unwichtig zu sein, weshalb sie sich stattdessen der weitaus interessanteren Frage nach langfristigen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf unsere gesellschaftliche Entwicklung zuwenden. Wie das verheerende Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 die europäischen Völker von ihrem bisherigen Gottesglauben entfernte und dadurch zum beschleunigenden „Katalysator der Aufklärung“ wurde, indem rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen überwand, so kann auch die weltweite Corona-Pandemie unsere Gesellschaft auf einen neuen Weg führen. So könne kein Politiker in Zukunft behaupten, Klimaschutzmaßnahmen seien nicht zu verwirklichen, weil sie zu teuer sind oder die Gesellschaft zu sehr einschränken. „Wir können offenbar alles, wenn Gefahr droht“, folgert Schirach aus dem aktuellen Shutdown.
Ähnlich der amerikanischen Verfassung, die 1787 ungeachtet der weit verbreiteten Sklaverei dennoch das Recht auf Leben und persönliche Freiheit forderte, sollten sich die EU-Staaten eine vorausschauende europäische Verfassung geben - mit dem Anspruch auf eine intakte Umwelt und der klaren Forderung, wirtschaftliche Interessen grundsätzlich den universalen Menschenrechten nachzustellen. Solche Forderungen seien nicht weniger utopisch, als jene der amerikanischen Verfassung.
Dieses kleine, mit seinem grauen Einband so unscheinbare Büchlein „Trotzdem“, nicht einmal 80 Seiten stark, hat es wahrlich in sich: Einerseits ist es ein Protest, sich als Mensch nicht von Pandemie und Einschränkungen unterkriegen zu lassen, sondern an die Zukunft zu glauben. Andererseits ist es nichts weniger als ein eindrucksvoller Aufruf zweier selten kluger Köpfe, den Shutdown als eine einmalige Chance für einen sinnvollen Neuanfang, einen wohl überlegten und zukunftsweisenden Wiederaufbau zu nutzen, statt gedankenlos und allzu bequem die veralteten Strukturen mit ihren längst erkannten Mängeln wieder aufzunehmen.

10 von 11 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.05.2020
Der Himmel so rot
Feldhausen, Marion

Der Himmel so rot


sehr gut

REZENSION – Wer einen spannenden Unterhaltungsroman mit historischem Rückblick in die Zeit des Zweiten Weltkriegs sucht, macht mit dem 200-Seiten-Krimi „Der Himmel so rot“, dem dritten Buch von Marion Feldhausen, sicher keinen Fehler. Er verknüpft in lockerem Stil aktuelle gesellschaftspolitische Themen mit Kriegsverbrechen in Norditalien. Besser wäre allerdings gewesen, wenn Letzteres nicht schon im Klappentext des Romans verraten würde. Denn dadurch verliert der durchaus raffiniert aufgebaute Krimi einen wesentlichen Teil seiner Spannung. Doch das Tempo der Handlung, starke Szenenwechsel, kurze Sätze und gute Dialoge machen das Buch zu einem leicht und gern lesbaren Spannungsroman.
Hauptkommissarin Sophia Barucchi, Deutsche mit italienischen Wurzeln, und ihr Kollege, Oberkommissar Paul Scholten, werden eines Morgens in ein Waldstück am Duisburger Kaiserberg gerufen, wo nach einem anonymen Anruf die skelettierte Leiche einer etwa 30-jährigen Frau gefunden wurde. Deren Leichnam wurde nach Auskunft der Rechtsmedizinerin wohl schon vor 30 Jahren dort vergraben. Daneben werden zwei ältere Lira-Münzen gefunden. Sophias italienischer Kollege, der eigentlich gerade unter Todesgefahr gegen die Mafia kämpft, überprüft alte Vermisstenmeldungen. Bald stoßen die Ermittler auf das Verbrechen einer SS-Panzergrenadier-Division an Einwohnern des Dorfes Santa Maria, die 1944 zu Hunderten ermordet wurden. Nicht weniger gefährlich erscheint das Ermittlungsumfeld in Duisburg, wo Sophia und Paul es mit rivalisierenden Rockerbanden, Drogenhandel und Prostitution sowie mit Neonazis und einem Altnazi zu tun bekommen. Dann wird im eigenen Kommissariat noch ein „Maulwurf“ entdeckt.
Was einerseits die Stärke dieses Krimi ist - schnelles Tempo, hohe Handlungsintensität, starke Szenenwechsel, flapsige Dialoge und sympathische wie unsympathische Figuren – und sich damit für eine Verfilmung eignen würde, ist gleichzeitig sein Nachteil: In die Handlung wurde alles gepackt, was thematisch passend scheint: Zu den Altnazis und SS-Schergen mit ihren heute oft verjährten Kriegsverbrechen kommen die Neonazis. Von ihnen ist es nur ein kleiner Sprung zu den Rockerbanden und weiter zu Drogenhandel und Prostitution – alles Themen, mit denen sich die Autorin als berufsmäßige Psychotherapeutin von drogensüchtigen Strafgefangenen zweifellos gut auskennt. Als wäre dies nicht genug, erschweren auch noch LKA und BND die Arbeit der Duisburger Ermittler.
Diese kraftvolle Themenvielfalt, gepresst auf nur 200 Seiten, ermöglicht es der Autorin kaum, sowohl in der Handlung tiefer zu gehen als auch die Charaktere ihrer Protagonisten stärker auszuleuchten. Jedes Thema für sich würde schon für einen eigenen Roman reichen. Und was ließe sich alles aus der temperamentvollen Deutschitalierin Sophia Barucchi und ihrem Verhältnis mit dem Staatsanwalt noch herausholen oder aus Sophias freundschaftlich-knisternder Beziehung zum Kollegen Paul. Und dann ist da noch die clevere Helma, die „Perle des Kommissariats“. Doch ungeachtet dessen bleibt „Der Himmel so rot“ ein locker geschriebener, leicht zu lesender und durchaus fesselnder Krimi, der als spannende Feierabendlektüre bestens geeignet ist.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.05.2020
Ich bin ein Laster
Winters, Michelle

Ich bin ein Laster


sehr gut

REZENSION – Ist es ein Kriminalroman? Oder doch eine Liebesgeschichte? „Ich bin ein Laster“, der nur 140-seitige Debütroman der kanadischen Schriftstellerin Michelle Winters, ist beides - ein liebevoller Kurzkrimi, der zu Recht für die Shortlist des kanadischen Giller Prize 2017 nominiert war. In der tragikomischen Emanzipationsgeschichte geht es um Einschränkung, aber auch um Befreiung, um Liebe und Verlust, um Tradition und Aufbruch also um die Frage wohl eines jeden, was wir sind und was wir sein wollen.
Auch nach 20 Jahren sind Agathe und ihr hünenhafter Holzfäller-Ehemann Réjean noch immer verliebt. Kleine Notlügen wie Réjeans jetziger Aufbruch zum Angelausflug verzeiht man sich. Doch als er nicht zurückkommt und sein geliebter Chevrolet Silverado unverschlossen am Straßenrand gefunden wird, stellt sich die Frage: War es Mord, eine Entführung oder ist Réjean nur weggelaufen? Als nach Wochen der trauernden Agathe das Geld ausgeht, fängt sie in einem Elektroladen zu arbeiten an. Durch ihre dortige Kollegin Debbie lernt sie ein ihr bisher fremdes Leben kennen. Etwas unheimlich wird es, als Autoverkäufer Marzin Bureau, der einzige Freund Réjeans, sie wie ein Stalker zu verfolgen beginnt. Als schließlich der verlorene Ehemann doch wieder auftaucht, muss Agathe sich entscheiden für ihr altes oder ein neues Leben.
„Ich bin ein Laster“ ist eine Geschichte voller Wendungen und Gegensätze. Winters zeigt den Zwiespalt, das Gemeinsame und doch Trennende in der kanadischen Provinz der 1980er Jahre, den Zusammenprall zwischen anglo- und frankophoner Kultur. Während Réjean ausschließlich Französisch spricht, ist Englisch die Muttersprache seines Freundes Martin Bureau. Die alltägliche Vermischung beider Landessprachen führt zum zweisprachigen Kauderwelsch, das auch in der deutschen Übersetzung von Barbara Schaden im originalen Wortlaut reizvoll beibehalten wurde.
Aus Ablehnung gegen die Übermacht amerikanischen Einflusses liebt Réjean seinen Chevrolet Silverado, während ausgerechnet der anglophone Chevrolet-Verkäufer Martin privat und heimlich seinen Ford-Geländewagen fährt. Während für Réjean nichts anderes als frankokanadische Folkmusik aus dem Autoradio kommen darf, liebt Agathe die amerikanische Rock- und Popmusik, in deren lebensfrohe Welt sie sich später von Kollegin Debbie bei nächtlichen Disco-Besuchen gern entführen lässt.
Diese manchmal absurde Welt voller Gegensätze kommt auch in der Dramaturgie des Romans zum Ausdruck. Die einzelnen Kapitel wechseln zwischen Davor und Jetzt, zwischen dem alten und dem neuen Leben. Wir beobachten, wie sich Agathe allmählich aus der Umklammerung befreit, durch die ihr bisheriges Leben eingeengt war. „Es ist doch nie zu spät. Es ist nie zu spät für irgendwas.“
Doch nicht nur Agathe befreit sich aus ihrer provinziellen Enge, wenn auch der letzte Schritt, mit Debbie in die Großstadt zu gehen, ausbleibt. „Ché pas … E could come home asoir.“ Denn während wir Agathes Wandel in wachsende Selbstständigkeit begleiten, löst sich beiläufig auch das mysteriöse Rätsel um das Verschwinden Réjeans. Auch er wird sich schließlich für ein völlig neues Leben entscheiden müssen. Warum Michelle Winters lesenswerte Geschichte mit ihren so liebenswerten Charakteren allerdings auch im Original mit „I am a truck“ betitelt ist, bleibt ein Rätsel.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.04.2020
Der Weizen gedeiht im Süden
Schulz, Erik D.

Der Weizen gedeiht im Süden


sehr gut

REZENSION – „Realitätsnahe Bezüge mit gründlich recherchierten Fakten“ sind ihm besonders wichtig, sagt der unter dem Pseudonym Erik D. Schulz schreibende Arzt über seine Arbeit als Autor. Gleichzeitig geht es ihm um Spannung und Unterhaltung „durch eine intensive, emotionale Zeichnung der Romanfiguren“, verbunden mit „einer Portion Optimismus, der den Leser an die eigenen Stärken glauben lässt“. Dies alles trifft auf seine im März veröffentlichte postnukleare Dystopie „Der Weizen gedeiht im Süden“ zu. Nach vier Jugendromanen hat sich Erik D. Schulz erstmals an einen Roman für Erwachsene herangewagt – und dieses Wagnis ist gelungen.
Nicht nur der 75. Jahrestag des amerikanischen Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945, sondern erst recht die derzeitigen weltpolitischen Verwerfungen durch autokratische Staatslenker, hier vor allem der Wirtschaftskonflikt zwischen den USA und China, geben diesem Roman, dessen Autor sich in seinem Hauptberuf in der Organisation Internationaler Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges und die Abrüstung atomarer Waffen (IPPNW) engagiert, eine besondere, eine fast erschreckende Aktualität. Denn auch Schulz' Roman beginnt nach einem weltweiten Atomkrieg, der durch einen Wirtschafts- und Cyberkrieg zwischen den USA und China ausgelöst wurde. Das Leben in der nördlichen Hemisphäre ist weitestgehend vernichtet, Europa ist verstrahlt und bei minus 25 Grad mit hüfthoher Schneedecke bedeckt.
In einem mit allem Lebensnotwendigen komfortabel ausgestatteten Riesenbunker in den Schweizer Alpen überleben 300 Menschen. Doch plötzlich ist das Trinkwasser verstrahlt, auf dem unterirdischen, überlebenswichtigen Weizenfeld breitet sich die Getreidepest aus und der zum Psychopathen sich entwickelnde Bunker-Leiter wird immer unberechenbarer. Um dem garantierten Strahlen- und Hungertod zu entkommen, flieht eine kleine Gruppe um den Arzt Oliver Bertram und dessen 14-jährige Tochter Annabel aus dem Bunker und findet nach mehrwöchigem abenteuerlichem und gefährlichem Weg durch die lebensfeindliche Schneewüste Europas und die Hitze Nordafrikas endlich Rettung im Sudan, allerdings nicht ohne vorher noch in einem mit tausenden europäischen Überlebenden überfüllten Flüchtlingslager dem Typhus ausgesetzt zu sein. Dennoch ist der afrikanische Kontinent, die einstige „Wiege der Menschheit“, nun die letzte Hoffnung aller Überlebenden.
Der Autor versteht es, mit seinem Roman die Leser zu packen. Die stellenweise in Einzelheiten gehenden, trotzdem nie langweilenden Schilderungen lassen den Roman absolut authentisch wirken, auch wenn märchenhaft klingt. So überrascht es doch, dass die Flüchtlingsgruppe im zerstörten Locarno nicht nur ein vollgetanktes Kleinflugzeug findet, sondern ihr Anführer sogar einen Flugschein hat, um die Gruppe komfortabel nach Afrika zu bringen. Auch wundert man sich, dass im Laufe der Flucht alle Begleitpersonen um Oliver Bertram ums Leben kommen, aber kein Mitglied seiner neu geformten „Familie“.
Doch sind dies als dramaturgische Mittel nachzusehende Punkte in dem sonst recht wirklichkeitsnah erscheinenden Roman. Dem Autor gelingt es tatsächlich, wie eingangs zitiert, die an sich selbst gestellten Forderungen zu erfüllen: Die Geschichte ist spannend und trotz der tristen Weltuntergangsstimmung noch unterhaltend. Die Figuren sind im Guten wie im Schlechten nachvollziehbar charakterisiert. Abschließend bleibt sogar der vom Autor versprochene Optimismus und tröstliche Hoffnungsschimmer eines möglichen Neuanfangs nach der Katastrophe.

Bewertung vom 21.04.2020
Weißes Feuer / Darktown Bd.2
Mullen, Thomas

Weißes Feuer / Darktown Bd.2


sehr gut

REZENSION – Noch spannender und interessanter als der erste Band „Darktown“ (2018) ist der im November im Dumont-Buchverlag veröffentlichte Folgeband „Weißes Feuer“ des amerikanischen Schriftstellers Thomas Mullen (46). Wieder geht es um den täglich sichtbaren und unsichtbaren Rassenkonflikt zwischen Schwarzen und Weißen in Atlanta, Hauptstadt des Bundesstaates Georgia, im Nachkriegsjahr 1950 und um die schwierige Arbeit der ersten acht, seit 1948 im Schwarzenviertel „Darktown“ eingesetzten Negro-Polizisten. Im Unterschied zum ersten Band, der die Tage direkt nach Gründung der vom Bürgermeister aus rein politischem Kalkül um Wählerstimmen geschaffenen Polizeieinheit aus nur wenigen Afroamerikanern schildert, sind die acht Darktown-Polizisten inzwischen auch mit Pistolen ausgerüstet, was die Gefahr möglicher rassistischer und persönlicher Konflikte noch erhöht.
Ohnehin ist die Situation der Negro-Cops, wie sie von den Weißen genannt werden, schwierig genug. Einerseits gelten Afroamerikaner grundsätzlich als Bürger zweiter Klasse, andererseits sind diese Uniformträger für die meisten Bewohner Darktowns Autoritätspersonen - allerdings nicht für alle. Denn als Polizisten dem von Weißen bestimmten System zugehörig, werden sie von manchen Schwarzen wiederum nicht anerkannt. So ist auch für den schwarzen Polizisten Lucius Boggs und seinen Partner Tommy Smith, die wir wieder auf ihren nächtlichen Streifengängen sowie in ihrem privaten Alltag auf Schritt und Tritt begleiten, der Polizeidienst eine tägliche Gratwanderung. Doch in diesem zweiten Band der „Darktown“-Trilogie geht es nicht allein nur um Einzelschicksale. Vielmehr beschreibt Mullen in „Weißes Feuer“ die gesellschaftliche Gesamtsituation des Rassismus in den amerikanischen Südstaaten sowie die schrittweisen Veränderungen auch innerhalb der schwarzen Gemeinschaft: Der zwar geringe, aber doch wachsende Wohlstand ist an der steigenden Zahl von Hauskäufen abzulesen. Doch wegen fehlenden Wohnraums in den von Schwarzen bewohnten Wohnvierteln dringen erste Hauskäufer in die von Weißen bewohnten Viertel vor. Dies führt zu neuen Konflikten und letztlich zum Auftritt des Ku-Klux-Klans sowie der noch gewaltbereiteren Nazi-Gruppierung der „Columbianer“.
Autor Thomas Mullen gelingt es großartig, die gesellschaftliche Komplexität des Rassismus in den Südstaaten, dessen Auswirkungen auch heute noch immer präsent sind, in einer spannenden Handlung und in unterschiedlichen Facetten darzustellen. Wir in dieser Thematik eher unerfahrenen Leser lernen viel über das Treiben des Geheimbundes Ku-Klux-Klan und der Nazi-Gruppierungen, die vor Mord an Schwarzen nicht zurückschrecken. Wir erfahren aber auch, dass es nicht nur zwischen Weiß und Schwarz gesellschaftliche Grenzen gibt, sondern auch eine Milieu-Abgrenzung einer gebildeten, wohlhabenderen Oberschicht der Afroamerikaner zur breiten Schicht ungebildeter einfacher Arbeiter.
Bemerkenswert an dieser Darktown-Reihe ist, dass deren Autor ein Amerikaner weißer Hautfarbe ist, blieb doch dieses Thema bislang eher wenigen schwarzen Autoren vorbehalten. Andererseits mag dies aber auch Ursache mangelnder Objektivität in der Charakterisierung seiner Figuren zu sein: Bei Thomas Mullen gibt es nur „gute Schwarze“ und – bis auf zwei Ausnahmen – nur „schlechte Weiße“, allen voran die korrupten und in Verbrechen verstrickten weißen Polizisten. Sieht man aber davon ab, ist der Roman „Weißes Feuer“ trotz seines historischen Faktenreichtums ein leicht lesbarer und überaus spannender Kriminalroman. Er vermittelt seinen Lesern zugleich auf lockere Weise viel Interessantes und Wissenswertes über die Jugendzeit des damals erst 20-jährigen, in Atlanta geborenen und aufgewachsenen Prediger-Sohnes Martin Luther King (1929-1968), der wegen der in Mullens genannten Lebensumstände zum Bürgerrechtler wurde. Auf den letzten Band der Darktown-Trilogie, „Lange Nacht“, darf man gespannt sein.

Bewertung vom 13.04.2020
Maigret in der Liberty Bar / Kommissar Maigret Bd.17
Simenon, Georges

Maigret in der Liberty Bar / Kommissar Maigret Bd.17


weniger gut

Bisher kannte ich keinen der 120 Romane und 150 Erzählungen des Belgiers Georges Simenon (1903-1989), weder einen seiner Krimis mit dem ewig Pfeife rauchenden Kommissar Maigret noch einen seiner Non-Maigret-Romane. Nachdem ich nun dank eines Überraschungspakets des Atlantik-Verlags, der gerade die Neuübersetzungen Simenons herausbringt, zunächst den 1948 erstmals und nun im November 2019 veröffentlichten Roman "Der Schnee war schmutzig" gelesen hatte - ganz ohne Maigret und kein Krimi -, der mir ausnehmend gut gefallen hatte und den ich sehr gern weiterempfehle, las ich nun den bereits 1932 erstmals und nun im Februar 2020 in neuer Übersetzung erschienenen Krimi "Maigret in der Liberty Bar": Der Mord an einem Australier führt Kommissar Maigret an die Côte d’Azur, wo er sich im milden Mittelmeerklima wie im Urlaub fühlt. Erst nach dem Anblick des Toten, der ihm verblüffend ähnelt, beginnt sich Maigret für den Mann zu interessieren, der für den französischen Geheimdienst arbeitete, mit zwei Frauen zusammenlebte und Verbindungen in eine seltsame Bar hatte - die Liberty Bar. Auch in diesem Maigret-Krimi liegt der Schwerpunkt des Romans [wie angeblich bei den anderen Maigret-Romanen auch] weniger auf äußerer Handlung als auf dem inneren Prozess Maigrets, der zunächst einmal das Geschehen zu verstehen versucht. Nach einigem Hin und Her ist die Tat endlich aufgeklärt, doch am Ende gibt es keine Verhaftung, sondern Maigret überlässt die Täterin ihrem ohnehin schweren Schicksal. Ist "Maigret in der Liberty Bar" nun einer von Simenons schwächeren Krimis? Ich hatte mir nach meinem ersten Simenon-Roman (siehe oben) jedenfalls mehr vom berühmten „Maigret“ versprochen. Stellenweise langweilte mich der Krimi sogar. Liegt es vielleicht am Alter des Krimis, der immerhin vor fast 90 Jahren geschrieben wurde? Mag sein. Heutzutage verlangt man nach mehr Tempo, mehr Action, noch mehr Psycho – alles dies fehlte mir hier. Der Roman schien mir zudem nicht schlüssig, die Auflösung allzu überraschend. Nach diesen zwei Erfahrungen kann ich mir durchaus vorstellen, einen weiteren Non-Maigret-Roman von Georges Simenon zu lesen, einen weiteren "Maigret" aber wohl eher nicht.

Bewertung vom 13.04.2020
Hineni
Ivanji, Ivan

Hineni


ausgezeichnet

REZENSION – Es ist kein biblischer Text, und doch ist es eine Geschichte aus der Bibel: „Hineni“, der aktuelle Roman des serbischen Schriftstellers Ivan Ivanji (91), schildert – ohne biblischen Pathos, sondern eher augenzwinkernd geschrieben – die modern erzählte Lebensgeschichte Abrahams, der vor 4 000 Jahren auszog, um als „Vater vieler Völker“ im „gelobten Land“ Kanaan alle dort lebenden Stämme zu vereinen, ein eigenes Volk zu gründen und dem einen allmächtigen Gott zu dienen. „Hineni“ ist ein versöhnlicher Roman, geschrieben von einem Überlebenden der KZs Auschwitz und Buchenwald. Der 1929 in Serbien als „zufälliger Jude“ Geborene versteht sich noch heute, Jahrzehnte nach dem Zerfall Jugoslawiens, als Bürger des einst von General Tito zusammengehaltenen Vielvölkerstaates, dessen Dolmetscher Ivanji war. Dies zu wissen, hilft die Botschaft seines lesenswerten Romans zu verstehen.
Ivanji erzählt die Lebensgeschichte Abrahams als historischen Tatsachenroman, hält sich nach Vergleich von Thora, Koran und Bibel – wichtig deshalb auch sein diesbezügliches Nachwort – an überlieferte Fakten, scheut sich allerdings auch nicht, mit fiktiven Zutaten und eigener Interpretation der drei heiligen Schriften eine spannende Geschichte daraus zu machen. Bei ihm ist Abraham ein einfacher Kaufmann in der Handelsstadt Haran. Erst viele Jahre später zieht er als Vasall des politisch modern denkenden Pharaos Amenemhet I. in sein „gelobtes Land“ Kanaan, um die dort von Ägypten unabhängig lebenden Stämme zu vereinen und mit ihnen und eigenen Nachkommen sein eigenes Volk zu gründen. Dass der große Plan Abrahams schon in der nachfolgenden Generation seiner Söhne Ismael und Jakob misslingt, ist eine andere Geschichte.
So ernst dem Autor der Gedanke der Völkerverständigung und des friedlichen Miteinanders auch ist, schildert der Autor seinen Helden Abraham keineswegs als weise, von Gott geleitete biblische Persönlichkeit. Abraham scheint eher oft hilflos, wenn er grübelnd auf dem Flachdach seines Hauses steht und seinem Gott laut „Hineni – Hier bin ich“ zuruft. Dies klingt durchaus nicht als Ausdruck höchster Dienstbereitschaft und ist nicht der Ausruf eines von Gott Berufenen, sondern gleicht eher dem Ausruf Luthers: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen!“ Wie oft zweifelt Abraham an seinem Gott: „Hatte er selbst diesen Gott erfunden, weil er ihn brauchte für die Erfüllung seiner irdischen Vorhaben? …. Mit Sicherheit nicht! Elohim würde es richten. Hoffentlich. Gewiss! Amen!“
In dieser Hilflosigkeit meint Abraham in allen eigenen Gedanken, aber auch in Ratschlägen seiner Vertrauten die Stimme seines Gottes zu hören. Und wenn es ihm nicht gelingt, seinen Willen – also Gottes Willen – bei seinen noch mehrheitlich die heidnischen Gottheiten anbetenden Untertanen durchzusetzen, dann muss eben auch mal ein göttliches Wunder her, bei dem Abraham etwas nachhilft, oder ein paar Geschichten, „die interessanter und daher glaubwürdiger waren als die fade Wirklichkeit“. So fragt ihn Lot nach dem Untergang Sodoms und dem Tod seiner Frau: „Wieso Salzsäule?“ Und Ivanji lässt Abraham antworten: „Was weiß ich. Das klingt doch nach einer guten Geschichte, das werden die Leute sich merken.“
Ivan Ivanjis nachdenklich stimmender Roman „Hineni“ könnte mit seiner Ironie und seinem Witz manchem Bibelgläubigen missfallen. Doch er ist ein ernster Aufruf zur Verständigung zwischen Juden und Arabern als Nachkommen Abrahams, des „Vaters vieler Völker“. Dieser Roman passt als Mahnung ins 75. Jahr der KZ-Befreiung und in die Zeit des Corona-Virus, der doch alle Völker auf Erden gleichermaßen trifft – ohne Ansehen von Rasse und Religion.

Bewertung vom 11.04.2020
Felix und die Quelle des Lebens
Schmitt, Eric-Emmanuel

Felix und die Quelle des Lebens


ausgezeichnet

REZENSION – Ist es eine poetische Erzählung, eine zeitgenössische Fabel, ein modernes Märchen? Wie auch immer: „Felix und die Quelle des Lebens“, der achte Band seines 1997 begonnenen „Zyklus des Unsichtbaren“ des französischen Schriftstellers Eric-Emmanuel Schmitt (60), ist einfach schön zu lesen und macht dem Wortsinn der „Belletristik“ alle Ehre. Schmitt, der 2001 mit „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Korans“ seinen internationalen Durchbruch hatte, verzaubert wohl jeden Leser mit dieser anrührenden und lebensklugen, dabei recht locker und humorvoll geschriebenen Geschichte um den 12-jährigen Felix, der mit seiner aus Senegal stammenden Mutter Fatou in Paris lebt und ihr, die bislang mit ihrer Lebensfreude strahlender Mittelpunkt seines Lebens war, nun in verzweifelter Situation aus tiefster Schwermut hilft.
Die bis vor kurzem noch lebensfrohe Fatou ist Wirtin eines kleinen Cafés, um die sich eine bunt gemischte Schar schrulliger Stammgäste schart, die - wie Fatou und Felix als Schwarze unter Weißen – in ihrem Wesen zur benachteiligten, auch diskriminierten Minderheit gehören, alle aber in Fatous Café Anerkennung und Heimat finden. Da trifft das lesbische Pärchen auf eine Transe, ein verkappter Philosoph auf einen Mann, der ein Wörterbuch auswendig lernt. Fatous Leben scheint soweit wunderbar, bis ihr Traum eines größeren Cafés durch Betrug und Geldgier von Immobilienhaien zerplatzt und die Enttäuschung sie in tiefe Depression stürzen lässt. Fatous vermeintlicher Bruder Bamba aus Senegal, den Felix zu Hilfe ruft, kann nicht helfen. Erst sein Vater, der nach zwölf Jahren unerwartet auftaucht, ahnt die Lösung: Er reist mit Mutter und Sohn in Fatous afrikanisches Heimatdorf - an die „Quelle des Lebens“, wo Fatou auch tatsächlich wieder gesund wird.
In „Felix und die Quelle des Lebens“ geht es nicht um das Elend alleinerziehender Mütter mit Migrationshintergrund, sondern um die Kraft von Herkunft, Abstammung und Familie. Schmitt verbindet völlig Gegensätzliches, Rationales mit Irrationalem, Sichtbares mit Unsichtbarem. Der Autor lässt Welten aufeinander prallen, die kaum gegensätzlicher sein können: Paris und das senegalesische Dorf, medizinische Wissenschaft und die traditionelle Heilkunst der Schamanen Er lässt uns über philosophische Weisheiten und spirituelle Themen nachdenken, die, aus dem Blickwinkel eines Zwölfjährigen geschildert, einfach und plausibel erscheinen.
Letztlich geht es in „Felix und die Quelle des Lebens“ um die Frage, wie wichtig die Vergangenheit eines Menschen für sein gegenwärtiges Leben ist, und dass wir lernen müssen, auch mit negativen Erfahrungen umgehen zu können. Der Autor mahnt uns mit einfachen Worten auf humorvolle und trostreiche Weise, uns zur eigenen Identität, zur eigenen Geschichte und Spiritualität zu bekennen. So fordert uns und Felix der senegalesische Schamane auf, der in Wahrheit aufgeklärter ist, als er sich mit seinem zeremoniellen Äußeren gibt, uns nicht durch den vordergründigen Schein des Materiellen vom tieferen Sinn des Lebens ablenken zu lassen: „Blicke hinter das Sichtbare. Betrachte das Unsichtbare. …. Die unsichtbare Quelle ist überall, immer dort, wo du dich befindest.“ Denn das afrikanische Sprichwort, das Eric-Emmanuel Schmitt seinem Buch vorangestellt hat, weiß: „[Nur] derjenige, der genau hinschaut, sieht sie schließlich.“

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.04.2020
Pandora / Stein und Wuttke Bd.1
Amber, Liv;Berg, Alexander

Pandora / Stein und Wuttke Bd.1


weniger gut

REZENSION – Als „historischer Thriller“ über die Nachkriegszeit in Berlin angekündigt, durfte man auf das Krimi-Debüt „Pandora. Auf den Trümmern von Berlin“ des in Berlin lebenden Autoren-Duos Liv Amber und Alexander Berg gespannt sein, bieten doch gerade die Nachkriegsjahre vielerlei Ansatzpunkte für einen interessanten Roman um „alte Schuld und neue Sünden“. Doch „Pandora“ ist leider weder historisch interessant noch als Kriminalroman spannend genug. Stattdessen ist die Handlung um den aus dem britischen Exil in seine von Ost-West-Spaltung und sowjetische Blockade gebeutelte Heimatstadt heimgekehrten Hans-Joachim Stein, Kriminalkommissar in der neuen Westberliner Mordinspektion, allzu durchsichtig. Schon nach 100 der knapp 450 Seiten ist der Zusammenhang zweier Mordfälle zu durchschauen. Schnell wird deutlich, dass es um die mangelhafte Aufarbeitung von Euthanasie- und anderer Verbrechen geht, die in den Nachkriegsjahren bekanntermaßen, da viele Nazis in West-Berlin und in der jungen Bundesrepublik wieder in Justiz und Verwaltung eingesetzt waren, von alten NS-Seilschaften gezielt behindert wurde.
Gleich nach Dienstantritt in seinem neuen Job wird Stein die Aufklärung des Mordes an einem stadtbekannten früheren Schwarzmarkthändler und jetzigen Besitzer des Nachtclubs „Pandora“ übertragen. Zufällig findet er auch die Akte eines anderen Mordfalles auf seinem Tisch, bei dem wohl gleich nach Kriegsende fünf junge Frauen aus einer Klinik umgekommen sind. Dass sein Chef, Polizeirat Krüger, alles daran setzt, diese Akte unbedingt verschwinden zu lassen, weckt Steins Misstrauen, weshalb er sich gerade deshalb heimlich auch dieses Falles annimmt. Leider allzu frühzeitig wird dem Leser eine mögliche Verbindung beider Mordfälle offensichtlich.
Erwartet man von einer gebürtigen Schwedin und praktizierenden Anwältin wie Liv Amber als Autorin vielleicht die literarische Kraft eines skandinavischen Thrillers oder wenigstens einen spannenden Justizkrimi, wird der Leser bei „Pandora“ leider enttäuscht. Auch die Co-Autorenschaft des Psychiatrie-Professors und Sachbuch-Autors Alexander Berg hinterlässt in den handelnden Charakteren keine erkennbaren Spuren – im Gegenteil, die Figuren sind nur oberflächlich charakterisiert und verkörpern vielmehr bereits stark abgegriffene Klischees. Da ist natürlich der gute Deutsche in Person des Heimkehrers Hans-Joachim Stein, der „mit unbestechlichem Blick alte und neue Verstrickungen aufdeckt“ und bei seiner Suche nach Wahrheit gegen den „allgegenwärtigen Geist des Nationalsozialismus“ ankämpfen muss, wie es schon im Klappentext heißt. Dann lernen wir seinen Kollegen Max Wuttke kennen, der als typischer Mitläufer natürlich „niemals Nationalsozialist und nie in der Partei“ war, aber seinem Vorgesetzten Krüger in alter Kriegskameradschaft immer noch hörig ist. Und so setzen sich die altbekannten Klischees in anderen Romanfiguren fort. Auch in historischer Sicht bietet der Krimi nichts, was man in anderen Romanen nicht schon besser gelesen hätte.
Alles in allem enttäuscht also der Krimi „Pandora. Auf den Trümmern von Berlin“ – zumindest die älteren, schon erfahrenen Leser – durch die Oberflächlichkeit seiner Figuren, den wenig spannenden, da erwartbaren Handlungsablauf, die Verwendung allzu bekannter Klischees und den auch historisch wenig interessanten Handlungsrahmen. Anders mag das Urteil vielleicht bei jüngeren, in Nachkriegsromanen noch ungeübten Lesern ausfallen. „Pandora“ wurde als Auftakt zu einer historischen Thriller-Reihe angekündigt. Doch ein zweiter Band sollte nach diesem literarisch noch recht bescheidenen Debüt schon einiges mehr an Spannung, historischer Milieu-Beschreibung und Tiefenschärfe seiner Figuren bieten.