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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 24.02.2021
Lügentochter
Peterson, Megan Cooley

Lügentochter


sehr gut

Die 17-jährige Piper lebt mit ihren zahlreichen Geschwistern unter strenger Obhut ihrer Eltern auf dem Gelände eines stillgelegten Vergnügungsparks. Schnell wird klar, dass es sich nicht um eine Aussteiger-Großfamilie handelt, sondern um eine Sekte, deren Anführer nicht davor zurückschreckt, selbst die kleinsten Kinder einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Wie eine Jugendliche in einer solchen Sekte aufwächst und wie das Leben für sie weitergeht, wenn die vertraute Umgebung plötzlich nicht mehr existiert - davon erzählt Megan Cooley Peterson in ihrem packenden Jugendbuch "Lügentochter".

Der Roman ist in zwei Erzählstränge unterteilt, ein "Davor" und ein "Danach", die die Autorin nach und nach zusammenknüpft und dabei nur wenige Fäden offenlässt. Die großen Vorzüge des Romans sind dabei der Spannungsverlauf und die Intensität, mit der die Entwicklung der Protagonistin Piper vollzogen wird. "Lügentochter" liest sich fast wie ein Thriller und entfaltet mit unzähligen Cliffhangern eine regelrechte Sogwirkung. Die Sprache ist modern und jugendgerecht und dürfte auch eine erwachsene Zielgruppe durchaus ansprechen. Das Ereignis, das die Handlung in "Davor" und "Danach" aufteilt, wird lange Zeit nur angedeutet, aber man erkennt schnell, dass die Sekte - auf welche Art auch immer - aufgelöst wurde und Piper fortan in ihrem neuen Leben zurechtkommen muss. Fast schmerzhaft intensiv ist dabei der Weg, den man gemeinsam mit Piper geht, um nach und nach der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Letztlich ist diese um ein Vielfaches grausamer, als ich es mir noch zu Beginn des Romans erdacht hatte - und gerade das Finale ist wirklich sehr berührend.

Äußerst gelungen ist auch der Ort des Sekten-Geschehens: der verwilderte Vergnügungspark mit Aussichtsturm auf der Achterbahn, die Natur, die sich nach und nach ihre Rechte an diesem Ort zurückholt - all das sorgte bei mir für Gänsehaut und ein wenig Grusel.

Nicht ganz so stark wie die Entwicklung Pipers und der Handlungsverlauf sind Megan Cooley Peterson in meinen Augen die anderen zahlreichen Figuren geglückt, die in ihrer Intensität doch arg hinter der Hauptfigur zurückbleiben. So wurde mir nie ganz klar, was an Pipers Eltern so charismatisch sein soll. Und auch Pipers Liebe Caspian, der eigentlich die zweite Hauptfigur sein könnte, entwickelt zu wenig Profil. Er besitzt vor allem Piper gegenüber so gut wie keine Ecken und Kanten und ist eigentlich einfach nur "lieb".

Ein weiterer Nachteil ist, dass ich die ganze Zeit über schon viel mehr zu wissen glaubte als Piper selbst und sich diese Gedanken letztlich auch bewahrheiteten. Zwar ahnte ich wie oben angedeutet die ganzen Ausmaße des Grauens nicht, aber in welche Richtung der Weg führt, war relativ schnell klar. Das tat der Spannung aber keinen Abbruch, weil ich eben auch die ganze Zeit wissen wollte, wie Piper auf diese Wahrheit reagieren wird.

Insgesamt ist "Lügentochter" aber nicht nur wegen der schönen Gestaltung des magellan-Verlags sehr empfehlenswert, sondern eben auch wegen der Dramatik, die der Roman entwickelt. Im Nachwort erfahren wir mehr über die Hintergründe der Autorin und des Buches, was dem Roman nachträglich zudem noch eine große Prise Authentizität verleiht.

Bewertung vom 21.02.2021
Der Untertan
Mann, Heinrich

Der Untertan


ausgezeichnet

Das Deutsche Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Der kleine Diederich Heßling wächst als Sohn eines Papierfabrikanten in der fiktiven Kleinstadt Netzig auf. Zuhause sieht er sich der Gewalt des Vaters ausgesetzt, in der Schule teilt er selbst lieber gegen die Schwächeren aus - der Grundstein einer Opportunisten-Karriere, die Diederich nicht nur über das Militär und die Burschenschaften während seines Studiums, sondern vor allem auch später als Fabrik-Erbe skrupellos auslebt. Und während sich um die Jahrhundertwende im wilhelminischen Deutschland oppositionelle Kräfte bilden, entwickelt sich Diederich zu einem bedingungslosen Verteidiger des Kaisers - ohne sich um Freund und Feind zu scheren...

Heinrich Mann hat in seinem kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs fertiggestellten und 1918 erstmals veröffentlichten Roman "Der Untertan" eine blitzgescheite Polit- und Gesellschaftssatire erschaffen, die längst als Klassiker gilt. Anlässlich des 150. Geburtstags Manns hat der Reclam Verlag nun eine wahrlich prächtige Neuedition herausgegeben. Angefangen beim bedruckten Buchdeckel über das silberne Lesebändchen bis zum informativen Nachwort und dem unglaublich umfassenden Kommentar - die neue "Untertan"-Ausgabe ist ein Fest für bibliophile LeserInnen.

Das größte Plus sind dabei die detaillierten und liebevollen Illustrationen von Arne Jysch, die nicht nur das Romangeschehen an sich greifbarer machen, sondern auch einen fabelhaften Blick auf die Gesellschaft im wilhelminischen Zeitalter ermöglichen. Diederich erhält ein Gesicht, durch die Zeichnungen fühlte ich mich in einigen Szenen direkt in die Zeit zurückversetzt. Ganz ausgezeichnet gelingt es Jysch dabei, die Illustrationen gleichzeitig historisch wie modern aussehen zu lassen.

Doch nicht nur wegen der Ausstattung lohnt sich diese Neuedition des "Untertans". Heinrich Manns fast schon prophetischer Blick auf die damaligen Entwicklungen hat an Aktualität kaum etwas eingebüßt. Auch wenn heutzutage wahrscheinlich kein Autor seine gesellschaftskritischen Dialoge so ausschweifen lassen würde wie Mann es in einigen Szenen tut; auch wenn kein zeitgenössischer Autor seinen Figuren so viele Zitate aufbürden würde wie Mann es Diederich mit den ganzen Kaiser-Wilhelm-Ausführungen zumutet - es lässt sich nicht leugnen, dass sich nicht wenige Themen wie Antisemitismus, Karrierestreben und (Neo-)Faschismus auch und gerade in der heutigen Gesellschaft wiederfinden.

Deshalb sollte "Der Untertan" auch heute noch und wieder gelesen werden - nicht nur als historisches Zeugnis der Zeit vor den Weltkriegen, sondern auch mit kritischem und bissigem Blick auf die Aktualität.

Fazit: Der Reclam Verlag hat den "Untertan" in ein geradezu kaiserliches Gewand gekleidet, das große Lust machen sollte, den Klassiker wieder- oder neu zu entdecken.

Bewertung vom 14.10.2020
Der Moment zwischen den Zeiten
Orriols, Marta

Der Moment zwischen den Zeiten


ausgezeichnet

Die Ärztin Paula Cid arbeitet in einer Klinik in Barcelona auf der Frühgeborenen-Station. Während eines Treffens mit ihrem langjährigen Freund Mauro offenbart ihr dieser, dass er eine jüngere Frau kennengelernt hat und Paula verlassen möchte. Doch wenige Stunden später ist er nach einem Unfall tot. Wie geht man mit dem Verlust eines geliebten Menschen um, wenn bei diesem die Liebe offenbar verblasst war? Wie kann man weiterleben mit diesem doppelten Verlust? Darüber schreibt Marta Orriols in ihrem Debütroman "Der Moment zwischen den Zeiten".

Der deutsche Titel klingt poetisch, ist aber im Vergleich zum katalanischen Original eher schlecht gewählt. "Lernen, mit den Pflanzen zu sprechen" wäre die wörtliche deutsche Übersetzung, doch vielleicht klang das dem dtv-Verlag zu verschroben? Schade, denn die Formulierung bezieht sich auf eine zentrale Stelle dieses emotionalen Romans.

Die Lesefreude wird dadurch jedoch nicht getrübt. Gleich von Beginn an schickt Marta Orriols ihre LeserInnen auf eine intensive Achterbahnfahrt der Gefühle. Die Ich-Erzählerin Paula ist eine so emotionale Figur, dass sie eigentlich niemanden kalt lassen kann. Ich freute mich mit ihr, trauerte mit ihr, litt mit ihr, ärgerte mich über sie. Sie nervte mich, berührte mich, ging mir nicht mehr aus dem Sinn.

Gleichzeitig konnte ich mich mit Paula sehr gut identifizieren, auch wenn die Perspektive des Romans natürlich eine weibliche ist. Wer schon einmal einen geliebten Mensch betrauern musste, setzt sich mit diesem Verlust wieder auseinander, wenn er "Den Moment zwischen den Zeiten" nach bewegten und bewegenden knapp 300 Seiten aus der Hand legt.

Marta Orriols findet zudem viele kluge Sätze, über die es sich lohnt, nachzudenken. "Als Kind nimmt man vieles wahr, aber es fehlt einem die Kraft, es zu ändern", heißt es an einer Stelle. "Wenn einer stirbt, teilt sich der Freundeskreis wieder in die Freunde des Verstorbenen und die eigenen Freunde" an einer anderen.

Als besonders intensiv empfand ich die Teile des Romans, in denen sich Paula direkt an den verstorbenen Mauro wendet und konsequenterweise die "Du"-Form verwendet. Hier schreibt Orriols emotional, ohne auch nur annähernd kitschig zu werden. Ein großes Plus eines - ja - Liebesromans, denn als einen solchen würde ich "Der Moment zwischen den Zeiten" bezeichnen, auch wenn er inhaltlich weit darüber hinausgeht. Denn es geht nicht nur um die Liebe zu einem Verstorbenen, es geht um Vaterliebe und um die Liebe zum Leben allgemein.

Die Figuren wirken authentisch und glaubwürdig. Alle weisen ihre speziellen Ecken und Kanten auf, ohne dabei ins Klischee zu verfallen.

Ich habe "Der Moment zwischen den Zeiten" mit großem Gewinn gelesen. Der Roman hat mich berührt, aufgebaut - und mich zum Nachdenken gebracht. Viel mehr kann man als Leser eigentlich nicht erwarten.

In einer besonders emotionalen Szene widmet Paulas Vater seiner Tochter ein selbst komponiertes Lied und spielt es ihr als Weihnachtsgeschenk auf dem Klavier vor: "Es ist eine minimalistische, schmerzlich-schöne Melodie, die von der tiefen Anteilnahme spricht, die ich so oft in seinen Augen wahrnehme, wenn wir uns zum Essen oder auf einen Kaffee trinken, mehr noch, im Grunde drückt sie all das aus, was er mir nie zu sagen vermocht hatte, und endet mit einem Akkord voller Hoffnung."

Eine bezaubernde Beschreibung, die man mühelos auch für den kompletten Roman verwenden kann. Denn genau so ist "Der Moment zwischen den Zeiten": schmerzlich-schön, voller Anteilnahme - und trotz aller Trauer mit einer großen Prise Hoffnung.