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Benutzername: 
dj79
Wohnort: 
Ilsenburg

Bewertungen

Insgesamt 200 Bewertungen
Bewertung vom 26.07.2018
Vergessene Seelen / Max Heller Bd.3
Goldammer, Frank

Vergessene Seelen / Max Heller Bd.3


ausgezeichnet

Frank Goldammer arbeitet mit „Vergessene Seelen“ die Nachkriegszeit in Dresden gekonnt, gut recherchiert und sehr detailreich auf. Dabei geht er anhand von Einzelschicksalen, die Max Heller bei seinen Ermittlungen begegnen, besonders auf die Verzweiflung der Bewohner Dresdens ein. Diese wird fortwährend von Hunger, Wohnungsmangel und den Nachwehen des Krieges genährt. Die Nachricht, im Westen soll eine neue Währung eingeführt werden, lässt die Hoffnungslosigkeit weiter anschwellen. Auch das Misstrauen gegenüber dem Staatsapparat wächst stetig. So hat es Max Heller alles andere als leicht, seinen aktuellen Fall, der sich um einen toten Jungen auf einer Baustelle rankt, zu lösen. Die vor meinem inneren Auge entstandene Atmosphäre wirkte realistisch und nachvollziehbar.

Ich habe Max Heller jetzt im Rahmen des 3. Bandes erst kennengelernt. Das Lesen der Vorgänger will ich demnächst nachholen. Wahrgenommen habe ich ihn als liebenden Ehemann und Vater, der es stets bereut, nicht ausreichend Zeit für seine Familie zu haben, und Alles tun würde, um Karin und Anni zu beschützen. Als Ermittler ist Heller ein Tuck zu ehrgeizig, nimmt sich unter Berücksichtigung der kriegsbedingten Gegebenheiten eigentlich immer zu viel vor. Dabei begibt er sich mehrfach selbst in Gefahr. Diese Schwächen lassen Heller menschlicher erscheinen. So wird aus ihm ein Charakter mit Ecken und Kanten, für den ich Sympathie entwickelt habe.

Ganz besonders gut hat mir Oldenbusch, der gefühlte Assistent von Heller, gefallen. Obwohl er eigentlich fast die ganze Zeit eher im Hintergrund tätig ist, wäre die Auflösung des Falls ohne ihn nicht möglich gewesen. Wann immer Heller ihn braucht, ist Oldenbusch stets ohne Murren zur Stelle. Manche Gefahrensituation Hellers wäre ohne Oldenbusch auch anders ausgegangen. Als Ruhe in Person bildet er zudem einen ausgleichenden Pol zu Max Heller. Dennoch ist er nicht nur Gefolgsmann. Klug bringt Oldenbusch seine eigenen, zum Teil auch von Heller abweichenden Ansichten zum Ausdruck.

Am besten hat mir Frank Goldammers Auseinandersetzung mit den Kinderschicksalen in der Nachkriegszeit gefallen. Wir machen uns heute gar nicht mehr bewusst, was es bedeutet, ganz besonders für ein Kind, stehlen zu müssen, damit man überhaupt irgendetwas zu essen und zum Anziehen hat. Wir wissen auch nicht, was schlimmer ist: Ohne Eltern aufzuwachsen oder bei Eltern, die ihre Kriegserlebnisse nicht verarbeiten können mit der Folge, dass sämtliche angestaute Wut auf dem Rücken der eigenen Kinder entladen wird. Wenig Liebevolles wurde vielen Kindern zu Teil. Sie wurden missbraucht für die kriminellen Machenschaften Anderer, immer in der Hoffnung auf ein Stückchen Brot. Dem stehen Lichtblicke gegenüber, wo Eltern ganz selbstverständlich für ihre Kinder ihr letztes Hemd geben.

Sprachlich wurde sehr gut durch den Roman geführt. Kurze Kapitel, die mit Zeitangaben überschrieben sind, verleiten zum langen Lesen. Ich musste mich regelrecht zu Pausen zwingen. Dabei sind die Geschehnisse so einprägsam, dass ich auch nach einer längeren Leseunterbrechung den Faden sofort wieder aufnehmen konnte. Mein einziger Kritikpunkt ist die Benamung der Utmann-Kinder. Es war für mich nicht ganz so einfach Albert, Alfons und Alfred auseinander zu halten. Dennoch gebe ich gern eine klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 22.07.2018
Ida
Adler, Katharina

Ida


sehr gut

Unterschätzte starke Persönlichkeit

Katharina Adler rekapituliert mit ihrem Roman ein Stück österreichische und europäische Zeitgeschichte. Mit Hilfe des verwendeten Vokabulars gelingt das Eintauchen in die Orte des Geschehens jeweils sehr schnell. Katharina Adler beschreibt mit Liebe zum Detail die Familienverhältnisse und diverse gesellschaftliche Anlässe, aber auch wirtschaftliche und politische Wendepunkte zwischen Jahrhundertwende und dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Dabei erzählt sie die Geschichte nicht kontinuierlich von Anfang bis Ende, sondern bedient sich der Technik von Zeitsprüngen und Perspektivwechseln. Dadurch bleibt der Leser zunächst recht lange im Dunklen und versteht nicht wirklich, warum Ida teilweise so komisch tickt. Vielleicht waren es auch ein paar Sprünge zu viel. Insgesamt verkörpert dieses viele Hin und Her in Ida‘s Geschichte aus meiner persönlichen Wahrnehmung ihre innere Zerrissenheit.

Als zweites Kind von Philipp und Katharina Bauer entwickelt sich Ida zu einer streitbaren Persönlichkeit, die mir nur zeitweise nahe gekommen ist. Ganz oft kam mir ihr Verhalten auch irrational und befremdlich vor. Dies begründet sich wohl auf den Gepflogenheiten der Zeit, in der sie zu einer jungen Dame reift. Von Beginn an ist Ida’s Verhältnis zu ihrem Vater, Textilfabrikant und Lebemann, ausgeprägter und liebevoller als zur Mutter, die oftmals recht kühl ihrer Tochter gegenüber auftritt. Deshalb lastet jede Kritik des Vaters, z. B. als sie den Komponisten Ernst Adler heiratet, doppelt so schwer auf Ida. Als Mädchen wird sie in ihrer Entwicklung ganz bewusst ausgebremst, umfänglichen Zugang zu Bildung erhält nur der Bruder Otto. Die fast schon offen ausgelebte Liebelei des Vaters und dessen häufige Krankheiten bereiten Ida ständig Kummer. Die Aufdringlichkeit von Hans Zellenka bringt Ida‘s Weltbild dann vollends durcheinander.

Schon als Kind bildet Ida in diesem Umfeld einen chronisch wirkenden Husten sowie eine schlimme Migräne aus. Als diese Symptome auch nach teilweise schrecklichen Behandlungsstrategien diverser Mediziner nicht schwinden, soll sich Ida in die Behandlung von Sigmund Freud begeben. Wie besessen unterstellt Freud ihr sexuelle Phantasien und sie müsse nur davon ablassen, um ihre Beschwerden zu lindern. Meinem Empfinden nach hatte sie wohl eher mit ihrem geliebten Vater mitgekränkelt, da es immer zeitliche Zusammenhänge gab.

Sympathischer wird mir Ida erst als ihr Überlebenskampf beginnt. Zunächst ist dieser mit dem Tod ihres Ehemannes, Ernst Adler, nur von wirtschaftlicher Natur. Später als sie, Jüdin und Schwester von Otto Bauer, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, in Wien und bald darauf in ganz Europa nicht mehr sicher ist und flüchten muss, geht es dann richtig ums Überleben. Monatelang dauert die von Entbehrung, Ausgrenzung und Hunger gekennzeichnete Flucht. Ida‘s Beharrlichkeit und Geduld, ihr Weiterstreben trotz des ungnädigen Schmerzes und der Verluste haben mich durchaus beeindruckt. Erst in dieser Phase lässt sich feststellen, dass hinter der oft verwirrt und labil dargestellten Persönlichkeit, Ida, in Wirklichkeit eine starke Frau steckt, die fast durch ihr Umfeld gebrochen worden wäre.

Katharina Adler‘s Roman ist kein einfaches Buch, das man mal eben zwischendurch liest. Es ist anspruchsvoll, zum einen durch den geschichtlichen Hintergrund und zum anderen durch die Notwendigkeit, die bisher bekannte Wahrheit über Ida ins richtige Licht zu rücken. Gelegentliches Innehalten lässt Gelesenes wirken.

Mir hat Ida bis auf ein paar kosmetische Schwächen sehr gut gefallen.

Bewertung vom 13.07.2018
Das Mädchen, das in der Metro las
Féret-Fleury, Christine

Das Mädchen, das in der Metro las


sehr gut

Hommage an das Lesen

In jeder Zeile dieses Romans schwingt die Liebe zu Büchern, zu Geschichten, zu gedanklichen Ausflügen in eine Phantasiewelt mit.

Das Bild, das im Roman von Buchliebhabern gezeichnet wird, ist schon von außen auf dem künstlerisch gestalteten Cover zu sehen. Überall sind chaotisch wirkende Stapel von Büchern positioniert. Die so entstandenen Gebilde drohen bei der geringsten Erschütterung einzustürzen. So ähnlich sieht es wohl bei vielen von uns aus, zumindest überquellende Regale dürfte der ein oder andere kennen. Wichtige Gegenstände der Geschichte wie Kaffeetasse, Schal und Stifte sind ebenfalls präsent.

Juliette wirkt zu Beginn der Geschichte irgendwie ausgebremst vom Leben, langweiliger Job in einer Immobilienagentur, trostlose kleine Wohnung in der Nähe. Dabei hätte sie eigentlich Potential gehabt, aber eine zu ängstliche Mutter und demotivierende Lehrer haben das wohl verhindert. Das einzig Positive in Juliettes Dasein ist das allumfassende Leseerlebnis. Dazu gehört neben dem Lesen an sich die Wahrnehmung, was das Lesen in Gleichgesinnten auslöst. Irgendwie scheinen ihre Bücher Juliette zu dem schrulligen Soliman zu führen, der ihr die Augen für Ihre eigentliche Berufung öffnet.

Ich hatte den Eindruck, dass Christine Féret-Fleury unbedingt all ihre Lieblingsbücher hier wenigstens einmal nennen wollte. Das war für mein Empfinden etwas zu viel. Abgesehen von diesem Schönheitsfehler war ich ziemlich begeistert von ihrem Roman. Es war die schönste denkbare Reise mit der Pariser Metro, die ich mir vorstellen kann, sehr poetisch mit malerisch formulierten Bildern.

Bewertung vom 09.07.2018
Die Schönheit der Nacht
George, Nina

Die Schönheit der Nacht


ausgezeichnet

Bitte versteht mich nicht falsch. Ich liebe meinen Ehemann und meine beiden reizenden Kinder über Alles. Für nichts auf der Welt würde die Drei eintauschen. Unser Zusammenleben ist mit all den kleinen, täglichen Unwegbarkeiten, die das Leben so mit sich bringt, nahezu perfekt. Ich bin jedoch eine Meisterin im Hinterfragen, mich selbst, meine sogenannte Karriere, Ansätze von Kindererziehung und vieles mehr. Manchmal beneide ich Menschen, die ein anderes Leben führen, weil sie es scheinbar einfacher haben oder weil sie für dies oder jenes Zeit haben.

Da geht es mir ähnlich wie Claire, der Verhaltensforscherin, mit deren Charakter ich mich am meisten identifizieren kann. Claire musste sehr früh in ihrem Leben einen Teil ihres Frau-Seins aufgegeben, um Mutter zu sein, ihre Konzentration von sich auf ihren Sohn, Nicolas, lenken. Unbeschwertheit im Leben wich Vernunft, Verantwortung und Sorge. Das geht wohl jeder Frau, die zur Mutter wird, so. Durch ihr Kind war sie dann auch an dessen Vater Gilles gebunden. Claire zweifelt, ob alle ihre Entscheidungen gut für sie waren. Sie glaubt, in ihrem Leben festgefahren zu sein, wie „versteinert“ zu sein. Als Verhaltensforscherin ist sie aus meiner Sicht doppelt bestraft, da sie fachlich in der Lage ist, jede ihrer Gefühlslagen zu deuten und dies dann zwangsläufig auch allzuoft tut.

Julie, die neunzehnjährige Freundin des erwachsenen Nicolas, verkörpert die schüchterne, unentschlossene Jugend, der noch alle Türen offen stehen, die nur den ersten Schritt ins selbstverantwortliche Leben wagen muss. Sie ist der vorgehaltene Spiegel, der Claire einen bewussten Rückblick in ihre eigene Vergangenheit gestattet. Julie bringt fast vergessene Erinnerungen wieder zum Vorschein.

Claire und Julie, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten, sich doch aber auch so ähnlich sind, beäugen sich zunächst distanziert, tauschen Nicolas zu Liebe gehemmt Höflichkeiten aus, bis sie akzeptieren können, was sie unterbewusst schon längst wissen.

Die sprachliche Gewalt dieses wundervollen Romans rollt in Wellen auf den Leser zu, spült ihn mit sich fort in die Gedanken- und Gefühlswelt der beiden Protagonistinnen und spuckt einen mitten im eigenen Leben wieder aus. Nina George hat mich als Leser so gekonnt mitgenommen, dass ich schon nach kurzer Zeit die Rolle der Claire gedanklich angenommen habe. Nach dem Lesen bleibe ich nachdenklich zurück, fühle mich allerdings nicht mehr so allein mit meinem Drang zum Hinterfragen.

Leseempfehlung: Ich möchte die „Schönheit der Nacht“ Frauen, aber insbesondere Müttern, als Lektüre an Herz legen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.07.2018
Erzengel / Ingrid Nyström & Stina Forss Bd.6
Voosen, Roman;Danielsson, Kerstin Signe

Erzengel / Ingrid Nyström & Stina Forss Bd.6


gut

Vielleicht ist es nicht die allerbeste Idee, in die Ermittlungsserie von Ingrid Nyström und Stina Forss mit Band 6 zu starten. Innerhalb der ersten Hälfte des Krimis war es schon eine große Herausforderung für mich, über die Anzahl der Personen, Mitglieder der verschiedenen Ermittlungsteams, Opfer und Angehörige, den Überblick zu behalten. Wahrscheinlich wäre es einfacher gewesen, wenn ich wenigstens schon Ingrid Nyströms Team gekannt hätte. Mit der Zeit hat sich dann auch mir das Zusammenspiel der Protagonisten erschlossen, und auch, welche Handlungsstränge den aktuellen Fall betreffen und welche wohl buchübergreifend zu verstehen sind.

Zur zweiten Hälfte hatten die Ermittlungsteams dann so viele Puzzleteile gesammelt, dass es nun richtig spannend wurde. Die ein oder andere falsche Fährte musste noch beseitigt werden und zum Ende hin gab es eine unerwartete Wende. Dieses Stilmittel finde ich immer sehr faszinierend. Denn man hat sich beim Lesen selbst ein Bild vom Fall im Kopf zurechtgelegt, das man nun noch einmal umräumen muss. Trotzdem ist auf einmal alles klar und ganz logisch.

Rein technisch betrachtet, ist das Buch in Tage eingeteilt, die sich dann wiederum in durchnummerierte, sehr kurze Kapitel gliedern. Aus meiner Sicht wird dadurch der Lesefluss gefördert. Bei den Ermittlungen zu den in Brand gesetzten Kirchen hat mir besonders gefallen, dass ich als Leser durch die am Ende eines jeden Tages eingestreuten Täterstatements den Ermittlern immer einen Schritt voraus war.
Beide Ermittlerinnen Ingrid Nyström und auch Stina Forss durchleben gerade eine Findungsphase, nachdem sie beide dem Tod gerade nochmal von der Schippe gesprungen sind.

Ingrid Nyström hat eine Krebserkrankung, die nicht nur ihr, sondern auch ihrer Familie stark zugesetzt hat, besiegt. Jetzt, wo auf der gesundheitlichen Ebene alles wieder in Ordnung ist, muss auch im familiären Täglichen wieder Normalität gefunden werden. Im Dienst scheint es schon zu passen.
Noch etwas näher als Ingrid Nyström ist mir Stina Forss, die einen Bombenanschlag körperlich und seelisch schwer verletzt überlebt hat. Während manche Verletzungen verheilt sind, bleiben andere für den Rest ihres Leben. Sie fühlt sich, was hier auch berechtigt ist, ständig verfolgt und beobachtet. Dazu kommen Rätsel aus ihrer Vergangenheit, die mit dem Anschlag zusammenhängen, die Stina noch gar nicht deuten kann.

Mir hat Erzengel gut gefallen. Es war zwar für mich der erste Fall von Ingrid Nyström und Stina Forss, aber bestimmt nicht der Letzte.

Bewertung vom 01.07.2018
Kleine Feuer überall
Ng, Celeste

Kleine Feuer überall


gut

Shaker Heights ist als Vorort von Cleveland, Ohio, eine Reißbrett-Idylle für wohlhabende Leute. Das Leben dort unterliegt gesellschaftlichen Zwängen, es wirkt vorbestimmt, ist geprägt von einer gewissen Gleichmacherei, alles ist darauf ausgerichtet, dass die nächste Generation ebenfalls eine Karriere hat. Also, Highschool, Elite-College und Elite-Uni. Auf diesem Weg wird man maximal unterstützt. Aber wehe, man passt nicht ganz ins Schema. Als Blitzableiter erntet man dann sämtlichen Groll, den alle unterschwelligen Probleme verursachen.

Mich hat die Konstellation der vielen Hauptcharaktere sehr stark die 90er Jahre Serie „Beverly Hills 90210“ erinnert. Es gab jeweils einen männlichen und einen weiblichen Schönling, einen Nerd und und eine Rebellin. Allesamt sind sie Kinder der Familie Richardson. Um das 90210-Bild zu vervollständigen gibt es noch Pearl, die in einer Mietwohnung lebt. Sie vervollständigt die Gruppe als finanziell gesehen „Arme“, aber intellektuelle Persönlichkeit. Lange Zeit schien es, als würde sich Celeste Ng in der Beschreibung dieser Charaktere und ihrer täglichen Handlungen verlieren. Deshalb habe ich mich auch eine ganze Weile mit der Geschichte schwer getan.

Nach meinem Empfinden nimmt die eigentliche Handlung erst in der zweiten Hälfte des Buches Fahrt auf, die mir dann auch ziemlich gut gefallen hat. Celeste Ng spricht gesellschaftspolitische Probleme wie Rassismus und Ungleichverteilung von arm und reich an. Sie zeigt auf, wie Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten mit einer Notlage umgehen, was sie als Notlage empfinden und was sie zu tun bereit sind, um ihr Problem zu lösen. Sie beleuchtet dabei sehr intensiv die jeweiligen Gefühlslagen der Charaktere.

Am nächsten bin ich Mia gekommen. Als Künstlerin ist sie ständig auf der Suche nach neuen Inspirationen. Mit ihrer Tochter Pearl zieht sie quer durchs Land von Ort zu Ort. Sie lebt so viel wie möglich ihren Traum, mit künstlerischer Fotografie Statements zu setzen. Dafür ist sie bereit, mehreren schlecht bezahlten Nebenjobs nachzugehen. Durch ihr Geheimnis ist sie allerdings auch immer ein bisschen auf der Flucht.

Die Charaktere der Familie Richardson haben mich bis auf die rebellische Izzy überhaupt nicht berührt. Izzy mit ihren „Macken“ ist für mich das Ergebnis von zu viel Liebe und Zuneigung. Ihre Eltern sind kurz davor, ihr eigenes Kind damit zu erdrücken. Das alles nur aus Angst, Izzy könnte etwas zustoßen.

Insgesamt war „Kleine Feuer überall“ okay, aber auch nicht mehr. Die Charakterstudie war mir einfach zu umfangreich. Die Parallelen zu Beverly Hills 90210 waren mir persönlich zu stark.

Bewertung vom 27.06.2018
Sprichst du Schokolade?
Lester, Cas

Sprichst du Schokolade?


sehr gut

Cas Lester schafft es in seinem wunderschön gestalteten Buch „Sprichst du Schokolade“ geschickt, den ganz normalen Wahnsinn innerhalb einer pubertierenden Mädchen-Clique mit der beginnenden Integration der aus Syrien geflüchteten Nadima zu verquicken. Beim Lesen wird uns bewusst, wie weit der Krieg in Syrien nicht nur auf der Landkarte, sondern auch in unseren Köpfen von uns entfernt ist. Da wir nicht selbst betroffen sind, blenden wir ihn einfach aus. Das Buch zeigt auch, wie unbeholfen und plump wir mit Flüchtlingen umgehen.

Die eigentliche Aussage des Buches ist angenehm verpackt in den Schulalltag von 12-jährigem Mädchen. Durch die üblichen Probleme wie Lustlosigkeit in der Schule, gemeine Lehrer, zickige Mitschülerinnen, aber auch durch die angenehmen Dinge des Leben wie Pommes, Pizza, Cola oder Kino und Partys können sich Leserinnen schnell mit den Charakteren identifizieren.

Josephine Watson ist die Ich-Erzählerin in „Sprichst du Schokolade“. Sie ist unangepasst, hat Probleme beim Lesen und überhaupt keine Lust auf Schule. Josie hat gerade ihre eigentlich beste Freundin Lily an die Chefi der Clique, Kara, verloren, was ein mächtiges Gefühlschaos in ihr auslöst. Auch wenn ich als Mutter nur bedingt Verständnis für Josies Ablehnung von Schule aufbringen kann, mochte ich sie von Beginn an. Die kleinen und großen Fettnäpfchen, in die sie sich immer wieder reinmanövriert, machen sie mir noch sympathischer, weil nichts davon mit böser Absicht passiert.

Nadima ist ein aus Syrien geflüchtetes kurdisches Mädchen, das all die schrecklichen Dinge durchmachen musste, die wir nur aus dem Fernsehen kennen. Als am ersten Tag in der Schule neben Josie Platz nimmt, spricht sie nur ein paar Worte Englisch. Mit ein paar Süßigkeiten als Brückenbauer wird sich das jedoch in kürzester Zeit ändern.

Mir hat besonders gut die Freiheit von Vorurteilen der Mädchen und Nadima gefallen. Sie reden zunächst mit Händen und Füßen und Handys miteinander. Trotz unterschiedlicher Herkunft lieben sie altersbedingt gleiche Dinge. Josie und Nadima lernen jeweils bei gutem Essen gegenseitig ihre Familien kennen, kommen schließlich auch mit Rückschlägen zurecht. Es ist eine sehr liebevolle Geschichte, die ich gern Leserinnen im Alter der Protagonistinnen empfehle.

Bewertung vom 27.06.2018
Die Unruhigen
Ullmann, Linn

Die Unruhigen


gut

Die Unruhigen ist die Geschichte der Patchworkfamilie um Ingmar Bergman mit besonderem Fokus auf seine Geliebte zwischen Ehefrau Nummer vier und Ehefrau Nummer fünf, Liv Ullmann, und der gemeinsamen Tochter Linn. Obwohl ihre Liebesbeziehung nur kurz war, verbindet ihn mit Liv etwas Besonderes dauerhaft auf der Arbeitsebene.

Die beiden zeigen, dass es nicht unbedingt erstrebenswert ist, als Kind von zwei Berühmtheiten aufzuwachsen. Linns Eltern sind jeweils intensiv mit sich selbst beschäftigt. Für ihre Tochter nehmen sie sich kaum Zeit.

Der Vater wirkt auf mich wie ein Kontrollfreak. Essen und Trinken gibt es nur an festgelegten Orten im Haus. Man darf Ihn niemals bei seiner Arbeit stören, im Haus muss es immer ruhig sein. Im ganzen Haus sind die Fenster und Türen dauerhaft geschlossen zu halten, damit es zum einen nicht zieht und niemand sich erkältet und damit keine Fliegen ins Haus kommen. Mit seinen Kindern beschäftigt er sich nie spontan. Dafür werden Termine vereinbart. Wie beim Arzt bekommt jedes Kind hin und wieder eine Sprechzeit. Das ist für mich schon sehr befremdlich, auch dass die Gemeinsame Zeit jeweils nur ein Kind betrifft und dass es mehr eine geschäftsmäßige Aussprache ist als eine kindgerechte Auseinandersetzung. Die Organisation und Planung der eigenen Beerdigung ist am Ende nur folgerichtig.

Die Mutter ist Schauspielerin. Sie macht stets einen gehetzten Eindruck, von Rolle zu Rolle, von Liebhaber zu Liebhaber, von einem Wohnort zum nächsten und wieder zurück. Um ihre Tochter kümmert sie sich überhaupt nicht. Dafür beschäftigt sie Angestellte.

Diese Art Familienleben lässt mich Liebe und tiefe Zuneigung vermissen. Trotzdem fühlt sich Linn durchgehend zu ihren Eltern hingezogen. Jede längere Abwesenheit der Mutter schmerzt sie sehr. Sorgenvoll hofft sie inständig, die Mutter bald unversehrt wiederzusehen oder aber mindestens von ihr zu hören. Den Vater besucht sie jeden Sommer für mehrere Wochen.

Der Schreibstil von Linn Ullmann war für mich recht anstrengend zu lesen. Ich vermute, es lag an den Erzählperspektiven. Über lange Strecken hinweg wird über die Charaktere in der dritten Person, „der Vater“ oder „das Mädchen“, geschrieben. Mutter, Vater und Tochter wurden kein einziges Mal beim Namen genannt. Nur die Nebenrollen werden benamt. Zwischendurch wird dann plötzlich in die Ich-Perspektive gewechselt. So kam ich keinem Charakter richtig nahe. Erst zum Ende hin gab es eine längere Ich-Phase, die sich auch gut lesen lies. Gewöhnen musste ich mich auch erst an die eingestreuten Dialoge.

Dennoch hat das Buch einen Eindruck bei mir hinterlassen. Während des Innehaltens beim Lesen, um eigentlich die stückhaften Erinnerungen von Linn Ullmann in ein Gesamtbild zu sortieren, kam es immer wieder dazu, dass mich eigene Erinnerungen an meine Kindheit, insbesondere auch an meine Oma eingeholt haben. Ich bin dann gedanklich etwas abgeschweift. Für den Anstoß dazu bin ich dankbar.

Gefallen haben mir auch einige ganz wunderbar formulierte Textstellen. Zwei davon möchte ich hier zitieren:
„Ihre tiefste Sehnsucht war möglicherweise, bedingungslos geliebt und gleichzeitig ganz in Ruhe gelassen zu werden.“ (S. 28),
„Ein entflogenes Wort lässt sich nicht mehr einfangen.“ (S.74).

Fazit: Interessante Geschichte, komplex aufbereitet.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.06.2018
NACHTWILD
Phillips, Susan Elizabeth

NACHTWILD


ausgezeichnet

Grandios, doch Nichts für schwache Mutterherzen

Gefährlich, von innerer Zerrissenheit geprägt, ein Thriller wie ein Pferderennen, ein Thriller der den Namen wirklich verdient. Das ist Nachtwild. Er spielt mit den Urängsten einer jeden Mutter.

Das schönste und wertvollste Geschenk, das eine Frau je bekommen kann, ist ein eigenes Kind. Jedoch weckt ein Kind Instinkte in einer Frau, die sie zur Mutter transformieren. Ein Zurück gibt es nicht. Eine Mutter kann nie wieder nur Frau sein.
Dazu gehört die unheimlich starke Angst, das eigene Kind zu verlieren oder dass ihm etwas zustoßen könnte. Für ein Kind stellt man ohne Reue eigene Bedürfnisse zurück. Ein Großteil der Energie wird darauf verwand, dem Kind den Weg ins Leben zu ebnen. Keinesfalls möchte ich hier die Väter ausschließen, ihnen wird es ähnlich gehen, aber durch die Schwangerschaft bleibt ein Kind meiner Ansicht nach auch immer ein körperlicher Teil der Mutter.

Genau so liebt Joan ihren Sohn Lincoln. Sie geht mit ihm so oft wie möglich in den Zoo, gibt ihm damit Gelegenheit an der frischen Luft zu spielen. Sie beschäftigt sich mit ihm, unterstützt ihn in jeder seiner Spielphasen, egal, ob er nun gerade Dinosaurier oder Superhelden mag.

An einem nahezu perfekten Zootag fallen, kurz bevor Joan und Lincoln nach Hause müssen, Schüsse. Als Joan begreift, was gerade passiert ist, mutiert sie zur Bärenmutter. Ihr Körper versetzt sich in Alarmbereitschaft, Joan ergreift jede erdenkliche Maßnahme zum Schutz ihres Kindes. Nur die Unversehrtheit ihres Sohnes zählt. Alles andere ordnet Joan diesem Ziel unter, andere potentielle Opfer, eigenen Schmerz und noch viel mehr.

Als Mutter wurde ich schon nach den ersten Seiten mitten ins Geschehen gerissen. Ich konnte mich mit jeder von Joans Gefühlslagen identifizieren. Ihre Entscheidungen waren für mich 1:1 nachvollziehbar, ihre innere Zerrissenheit und das Abwägen der Alternativen ebenfalls. Joan hat genau so reagiert wie ich es von mir in meiner Vorstellung bei einem solchen Szenario glaube.

Für mich war Nachtwild ein grandioser Thriller, den ich am liebsten gar nicht aus der Hand gelegt hätte. Er hat mich gefesselt, hat mir Aufregung und Herzklopfen bereitet.

Bewertung vom 05.06.2018
Häuser aus Sand
Alyan, Hala

Häuser aus Sand


ausgezeichnet

Nirgends richtig zu Hause

„Häuser aus Sand“ ist eine politische Geschichte, die die wohlhabende Palästinensische Familie Yacoub bei ihrer Flucht vor dem Krieg über Generationen hinweg begleitet. Ausgehend von ihrer Heimat Jaffa müssen die Yacoubs zunächst nach Nablus, dann nach Kuwait und nach Amman in Jordanien fliehen. Ab der 3. Generation leben Teile der Familie sogar in Paris und Boston. Da die Familie finanziell gut betucht ist, ist die Flucht jedoch eher mit einem Umzug oder mit einem Weiterziehen vergleichbar. Ein neues Haus, neue Einrichtungsgegenstände werden angeschafft. Neue Hausmädchen werden eingestellt. Das Leben geht weiter.

Obwohl arabisch gesprochen wird, werden die Yacoubs auch an ihren Wohnorten im Nahen Osten aufgrund ihres „Dialekts“ als Fremde identifiziert und entsprechend behandelt. Deshalb fällt es ihnen schwer, richtig Fuß zu fassen. Durch ihr dauerhaftes Leben im Ausland nehmen sich die Yacoubs auch den jeweiligen Lebensstil im Land an. Schleichend und unbemerkt verändern sich die Yacoubs in ihrem Habitus. Somit weichen die späteren Generationen so stark von ihren Landsleuten ab, dass sie auch in Palästina als Fremde empfunden werden.

Als gesellschaftskritische Betrachtung setzt sich „Häuser aus Sand“ über die Flucht hinaus mit der Veränderung der Haltung der Muslime im Glauben und dem Einfluss der westlichen Welt auf den „Erziehungserfolg“ bei den Kindern auseinander. Auch fernab von der europäischen Kultur findet dem entsprechend eine Verrohung der Gesellschaft statt, wenn auch das Ausmaß ein anderes ist.

Alia ist als die Jüngste der 2. Generation das Familienmitglied, das die gesamte Geschichte miterlebt. Während ihrer aufmüpfigen Kindheit als Nesthäkchen hat sie ihrer Familie einigen Kummer bereitet. Deshalb mochte ich sie als Kind nicht so gern. Nach ihrer Hochzeit mit Atef ist ihr Leben von heftigen Turbulenzen gekennzeichnet. Dennoch hält Alia immer die Familie zusammen. Sie erträgt ihr schwieriges Schicksal ohne sich zu beklagen, versucht das Beste daraus zu machen. Dafür habe ich Alia dann bewundert.

An dem Roman hat mir der Blick hinter die Kulissen der Palästinensischen Familie besonders gut gefallen. Man erkennt, was man eigentlich weiß, was allerdings die mediale Berichterstattung vollständig ausblendet, nämlich dass auch Palästinenser oder dass auch Muslime neben dem politischen Konflikt ganz normale Problemchen wie eine krumme Nase oder Übergewicht haben. Als weiterer Pluspunkt verleihen die eingestreuten arabischen Worte dem Roman zusätzlich Authentizität.
Durch das Beschränken der Geschichte auf die wichtigsten Stationen der Familie mit mehrjährigen Lücken dazwischen und durch spontane Gedankensprünge und Rückblicke wird die Aufmerksamkeit des Lesers stark beansprucht. Auch wenn mir dieser Erzählstil gefallen hat, könnte ich mir vorstellen, dass er nicht jedermanns Sache ist.

Fazit: Empfehlung an alle, die auch beim Lesen gern eine Herausforderung annehmen.