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sleepwalker

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Insgesamt 467 Bewertungen
Bewertung vom 02.09.2021
Narbenherz / Heloise Kaldan Bd.2
Hancock, Anne Mette

Narbenherz / Heloise Kaldan Bd.2


ausgezeichnet

„Narbenherz“ von Anne Mette Hancock war ein Krimi, der fast komplett auf meiner Linie lag. Er vereinte spannende Handlung, ein bisschen Privates der Hauptpersonen und ganz viel Kopenhagen, leider aber auch einige Klischees und Rassismus. Was bleibt war aber ein lesenswerter Krimi mit einem überraschenden Schluss. Das Buch, das im Original „Mercedes-Snittet“ (Der Mercedes-Schnitt) heißt, ist bereits 2018 im dänischen Original erschienen und der zweite Teil einer Reihe um den Polizisten Erik Schäfer und die Investigativjournalistin Heloise Kaldan. Schauplatz ist Kopenhagen und da verpackt die Autorin eine Menge Lokalkolorit in ihrer Geschichte. Mein bester Freund lebt dort und ich konnte mich wirklich in die Örtlichkeit einfühlen. Aber von vorn:
Der zehnjährige Lukas ist verschwunden, seine Eltern sind verzweifelt und die Polizei rechnet mit dem Schlimmsten. Sein Vater Jens ist der Arzt der Journalistin Heloise Kaldan, zudem besucht Lukas dieselbe Schule besucht, wie die Tochter ihrer Freundin Gerda. Dadurch hat die Journalistin einige persönliche Berührungspunkte mit dem Fall, zudem ist der ermittelnde Kommissar Erik Schäfer ein alter Freund von ihr. Daher versucht sie, ihm bei den Ermittlungen zu helfen und natürlich soll sie das Ganze aber auch für ihre Zeitung journalistisch aufbereiten. Als dann ein ehemaliger Soldat erschossen aufgefunden wird, stehen die Ermittler vor einem Rätsel: wie hängt das alles zusammen und tut es das überhaupt?
Narben, sichtbare, vor allem aber unsichtbare, sind das Hauptthema des Buchs. Kriegsveteranen, aber auch zivile Helfer in Kriegsgebieten tragen Traumata davon, mit denen sie selbst und ihr Umfeld leben müssen. Aber sie sind nicht die einzigen, die in der Geschichte unter Symptomen eines Posttraumatischen Belastungssyndroms leiden. Jeder der Charaktere hat sein Päckchen zu tragen, vor allem Heloise hat mit vielen privaten Problemen zu kämpfen. Und auch sonst ist nicht viel von der von Dänemark erwarteten Leichtigkeit, Weltoffenheit, schlicht dem „hygge“ zu sehen: die Geschichte ist bedrückend und düster, aber durchaus spannend und realitätsnah und der Schluss hat mich nach einigen Finten sehr überrascht.
Sprachlich fand ich das Buch sehr gut zu lesen, es ist flüssig und bildhaft geschrieben. Leider kommt die Autorin nicht ohne Klischees aus, so ist beispielsweise eine ganze Menge Rassissmus oder sonstige Diskriminierung eingebaut, dazu häusliche Gewalt – alles vermutlich durchaus realistisch beschrieben. Vor allem Kommissar Erik Schäfer lässt manchmal die gebotene Neutralität gegenüber „andersartigen“ vermissen, aber auch Heloise erweist sich häufig als eher unprofessionell und illoyal. Und sie hat in dem Buch auch nicht wirklich eine Hauptrolle, die Ermittlungen liegen doch eher bei der Polizei und Erik Schäfer, obwohl es ein Teil der „Heloise-Kaldan-Serie“ ist.
Ich werde auf jeden Fall die anderen beiden Bücher der Autorin noch lesen, im dänischen Original gibt es mit „Pitbull“ auch schon den dritten Teil der Reihe, der auf Deutsch im kommenden Januar unter dem Namen „Grabesstern“ erscheinen soll. Vielleicht erfahre ich ja im ersten Teil Näheres über das Verhältnis von Heloise zu ihrem verstorbenen Vater, das in dem Band nur als schwierig dargestellt, aber nicht näher erklärt wird. Zwar kann man das Buch natürlich auch ohne Vorkenntnisse verstehen, aber die Probleme in Heloises Vergangenheit werden immer nur angedeutet, aber nicht näher erklärt.
Alles in allem fand ich das Buch einen eher mäßig spannenden, aber dennoch gelungenen Krimi mit einer ausgewogenen Balance aus Ermittlungen und Privatleben der Ermittler. Er ist größtenteils erfreulich unblutig und gut geschrieben, auch die Übersetzerin hat gute Arbeit geleistet. Allerdings wäre bei Spannung und Konzept ein bisschen Luft nach oben gewesen, daher vergebe ich vier Sterne.

Bewertung vom 31.08.2021
Eine ganze Welt
Goldbloom, Goldie

Eine ganze Welt


ausgezeichnet

„Eine ganze Welt” von Goldie Goldbloom ist ein Buch, das auf meiner Bücher-Hitliste ganz oben gelandet ist. Ich habe selten einen Roman gelesen, der mich auf so unterschiedliche Art berührt hat.
Surie Eckstein ist 57 Jahre alt, hat zehn Kinder, 32 Enkel und das erste Urenkelkind ist unterwegs. Endlich sind alle aus dem Gröbsten raus und sie freut sich darauf, Zeit für sich zu haben. Aber völlig überraschend ist Surie 41 Jahre nach ihrem ersten Kind erneut schwanger und das auch noch mit Zwillingen. Sie macht sich wegen der Schwangerschaft große Sorgen. Dabei denkt sie aber mehr an das Gerede in der strenggläubigen chassidischen Gemeinde, weniger an eventuelle gesundheitliche Probleme für extrem Spätgebärende. Daher verheimlicht sie die Schwangerschaft, denn „Eine Geburt würde öffentlich bekanntmachen, dass sie und Yidel sich lange über das normale Alter des Kinderkriegens hinaus noch begehrenswert fanden“. Mit jeder Seite wachsen ihre Freude auf die Kinder, aber auch ihre Unsicherheit und ihre Angst vor der Schande („Ihre armen Enkelinnen! Sie würden dem neuen Status der Familie nie entkommen können, gleichgültig, wie tadellos sie oder ihre Mütter sich verhielten.“)
Dabei war es für die Familie schon schwierig genug, das Ansehen in der Gemeinde aufrecht zu erhalten, denn Sohn Lipa war homosexuell, HIV positiv und beging mit 22 Jahren Suizid. Surie fühlt sich daran mitschuldig, sie quält sich mit Selbstvorwürfen („Wäre es anders gekommen, wenn er einen jungen Mann hätte nach Hause mitbringen und seiner Familie vorstellen können, ihm die Fotoalben der Familie hätte zeigen und ihn an Chanukka zum Essen hätte einladen können? Wäre Lipa noch am Leben, wenn sie ihn einfach hätten lieben können, wie er gewesen war?“), während ihre bigotte Tochter Ruchel so tut, als habe es den Bruder nie gegeben.
Surie sitzt nicht nur zwischen zwei Stühlen, sie sitzt mitten in einem ganzen Stuhllager. Sie ist völlig hin- und hergerissen zwischen dem Glauben, dem sicheren, aber abgeschiedenen Leben in Gemeinde und Familie, und dem Wunsch nach einem etwas säkulareren Leben, einer Ausbildung als Laien-Hebamme („Und sie hatte auch von der Arbeit im Krankenhaus geträumt, vom Studium der Lehrbücher in der Mittagspause und der Hebammenprüfung, davon, eine chassidische Frau zu entbinden und ihr auf Jiddisch zuzureden.“) Den inneren Konflikt beschreibt die Autorin hervorragend, sie ist selbst chassidische Jüdin und Mutter von acht Kindern.
Sehr ans Herz ging mir der liebevolle Umgang zwischen Surie und Yidel. Ihre Ehe war arrangiert und dennoch sind die beiden ein wundervolles Paar. „Er hatte sie immer abgöttisch geliebt, ihren Kindern erklärt, dass ihre Mutter eine Heilige war, seine Liebe, seine Liebste, die Beste aller Frauen.“ Er ist tief im Inneren ein kleiner Rebell („Abends sang er unter der Dusche, bevor er ins Bett ging, obwohl chassidische Männer im Bad möglichst keinen Laut von sich geben. Ein Regelverstoß, aber ein kleiner.“) und ein großer Romantiker. („»Ich mag dieses alte Flanellnachthemd«, sagte er, als sie zurückkam. Es hatte lange Ärmel und einen hohen Kragen aus Spitze. Er legte den Arm um sie und die Lippen an ihren Nacken. »Es riecht wie du.«“)
Sprachlich fand ich das Buch hervorragend zu lesen, die meisten jiddischen Worte konnte ich mir erschließen. Die Sprache ist bildhaft und stark, die Geschichte mitreißend und berührend. Die Autorin schafft es, der Leserschaft eine ganze Welt, eine andere, völlig fremde Welt nahezubringen. Über das Buch wäre noch eine ganze Menge zu sagen. Fest steht aber, dass es ein wundervolles Buch über Glauben, Zweifel, Liebe, Religion, Aufbruch, (gute und böse) Geheimnisse, Familienzusammenhalt, Traditionen und noch vieles mehr ist. Chassidisches, bzw. streng jüdisch-orthodoxes Leben ist so viel mehr als Schläfenlocken, Biberpelz-Hüte und isoliertes und weltfremdes Leben. Für mich ein bewegender Ausflug und eine absolute Lese-Empfehlung, nein, eine Lese-Aufforderung! Fünf Sterne.

Bewertung vom 30.08.2021
Grauzonen
Sievers, Christian

Grauzonen


ausgezeichnet

Die Stimme von Christian Sievers hat mich ein paar Jahre meines Lebens begleitet, als er noch beim (damaligen) Südwestfunk in Baden-Baden arbeitete. Daher habe ich mich auf sein Hörbuch „Grauzonen“ ganz besonders gefreut. Und ich wurde nicht enttäuscht. Er hat das Buch, das er liest, selbst geschrieben und erzählt autobiografisch über seinen Werdegang vom Radioreporter zum Fernseh-Reporter, zum Auslandskorrespondenten und Leiter des ZDF-Auslands-Studios in Tel Aviv und schließlich zum Moderator der Heute-Sendung im ZDF.
Er erzählt gewöhnt souverän exemplarische Geschichten aus seinem (Berufs-)Leben, vor allem aber über Kämpfe: Straßenkämpfe, Kriege und Wahlkämpfe. Er erzählt über News und Fake News, hauptsächlich erzählt er aber über Menschen und darüber, was hinter den Geschichten steht, die man in den Nachrichten sehen kann. Christian Sievers hat Spaß an seiner Arbeit und findet irgendwie immer den richtigen Ton: angemessen nüchtern wenn nötig, aber auch emotional wenn möglich. Und für ihn gibt es definitiv kein schwarz-weiß-Denken, sondern alle möglichen Graustufen.
So erzählt er über die Kämpfe im Gazastreifen, die Anschläge aufs World Trade Center und seine Erlebnisse 2015 an der sogenannten „Balkan-Route“. Und immer wieder pickt er eine oder mehrere Personen heraus, an denen er seine Schilderungen festmacht, bewegend, berührend und mit sehr viel Tiefgang. Manchmal fand ich seine Erzählungen und seinen Tonfall einen Hauch pathetisch, aber wirklich nur manchmal und irgendwie passte es ja auch dazu.
Ich habe eine etwas andere Sichtweise auf viele Dinge gewonnen und das Buch brachte mich gleichermaßen zum Lachen, wie auch zum Weinen. Manche politische Zusammenhänge und Hintergründe sind mir jetzt klarer, aber auch über den Journalismus im Allgemeinen und die Arbeit als Auslandskorrespondent im Speziellen weiß ich jetzt sehr viel mehr. Zwar war natürlich nicht alles neu für mich, aber trotzdem interessant, es noch einmal auf das Wichtigste konzentriert zu hören. Für mich sowohl ein Hörgenuss, als auch eine lehrreiche Horizont-Erweiterung. Ganz klare fünf Sterne.

Bewertung vom 23.08.2021
Um Mitternacht ab Buckingham Palace / Detective Strafford Bd.2
Lawless, JB

Um Mitternacht ab Buckingham Palace / Detective Strafford Bd.2


schlecht

„Um Mitternacht ab Buckingham Palace“ von JB Lawless ist ein Buch, das mich völlig ratlos zurücklässt. Der Klappentext war sehr ansprechend, deshalb habe ich mich auf das Buch wirklich gefreut. Nach der letzten Seite bin ich mir aber nicht sicher, ob mich jemals ein Buch so enttäuscht hat, wie dieses. Dabei ist die Idee hinter der Geschichte richtig gut, nur die Umsetzung war eher nach dem Motto „was will mir der Künstler eigentlich damit sagen?“
1941 werden die beiden Töchter der königlichen Familie aus dem Bombenhagel auf London nach Irland evakuiert und aus Elizabeth und Margaret werden Ellen und Mary. Beschützt von der MI5-Agentin Celia Nash und dem Polizeibeamten Saint John Strafford leben sie im kalten und feuchten Herrenhaus Clonmillis Hall, einem eher heruntergekommenen Anwesen in der Grafschaft Tipperary („Sie für ihren Teil hätte ihren Hund nicht in so ein bedrohliches Mausoleum geschickt“). Eine völlig neue Erfahrung für die vierzehn- und zehnjährigen Prinzessinnen, fernab der Eltern, die darauf bestehen, in London zu bleiben.
So weit so gut. Nur leider entpuppte sich die Geschichte, die so gut und spannend hätte sein können, als langweilig und langatmig. Neben dem immer wieder auftauchenden running Gag, dass Straffords Name oft ohne das „r“ ausgesprochen wird, passiert in dem Buch nicht wirklich viel, von Spannung möchte ich gar nicht erst reden. Die Charaktere sind allesamt eher wie Pappfiguren, blass, charakterlos und ohne Tiefgang. Die Prinzessinnen werden als eher unsympathisch beschrieben, Elizabeth scheint ruhig und besonnen, aber arrogant zu sein und Margaret pubertär, vorlaut und anstrengend. Die Agentin Celia Nash wirkt unbeholfen und unerfahren und Detektiv Strafford kam mir die meiste Zeit über irgendwie unbeteiligt vor. Die Charaktere interagieren wenig, es ist mehr ein Nebeneinander als ein Miteinander und alles in allem fand ich die Handlung fade und leblos.
Auch die Konflikte, die die Zeit eigentlich prägten, sind nicht wirklich gut aufgearbeitet. Die Reibereien zwischen dem neutralen Irland und der Kriegspartei England hätten wesentlich mehr hergegeben als ein paar bissige Kommentare und abfällige und zynische Bemerkungen. Denn die Probleme zwischen den beiden Ländern bestanden ja bekanntlich nicht nur in den unterschiedlichen Haltungen im 2. Weltkrieg. Das Buch fußt wohl auf wahren Begebenheiten aus der Kindheit von Elizabeth II und ihrer Schwester Margaret, aber selbst diesen Umstand kann der Autor nicht bewegend oder packend einbauen.
Die ersten zwei Drittel sind unter „belangloses Geplänkel“ zu verbuchen, dann taucht eine Leiche auf und danach passiert – wieder nicht viel. Selbst den Schluss schafft der Autor langweilig und fade darzubringen und obwohl ich ein großer Freund unblutiger und subtiler Krimis bin, war ich bei dem Buch einfach nur enttäuscht. Sprachlich ist das Buch nett, mehr aber auch nicht. Ich denke, der Autor tut gut daran, sein Pseudonym nicht zu lüften, solche Bücher sind einer Karriere nicht zuträglich.
„Es war eine so öde Veranstaltung gewesen, dass Strafford wehmütig mit dem Gedanken spielte, darum zu bitten, zukünftig die Mahlzeiten in seiner Unterkunft bei den Stallungen einnehmen zu dürfen“ – eine öde Veranstaltung war für mich auch das Buch, tatsächlich musste ich mich nach den ersten paar Kapiteln durchkämpfen, in der Hoffnung, es werde irgendwann mal besser. Aber auch diese Hoffnung wurde enttäuscht, womit das Buch für mich ein kompletter Reinfall wurde. Von mir daher ein Stern für die gute Idee, die so viel Potential geboten hätte.

Bewertung vom 18.08.2021
Between Your Words
Scott, Emma

Between Your Words


ausgezeichnet

An „Between your words“ von Emma Scott bin ich eher zufällig geraten und ich habe es nicht bereut. Auch wenn die Liebesgeschichte zwischen Jim und Thea voller Klischees, größtenteils unrealistisch oder zumindest höchst unwahrscheinlich ist, hat sie doch Charme, philosophisch angehauchte Passagen und geht ans Herz. Als Fan von Oliver Sacks und Peter Lund Madsen bin ich immer wieder gespannt darauf, wie die Themen Gehirn und Gedächtnis in Romanen umgesetzt werden. Wirklich schlecht macht die Autorin es in diesem Fall nicht, aber auch nicht hundertprozentig gut.
Die junge Künstlerin Althea leidet nach einem schweren Autounfall unter einer extrem seltenen Form der Amnesie („Althea Hughes hat die zweitschlimmste dokumentierte Amnesie in der Geschichte der Medizin“) und lebt in einem Sanatorium. Sie hat immer rund fünf Minuten bewusstes Erleben, bevor ihr Gehirn das Kurzzeitgedächtnis löscht und auf null zurücksetzt. Jim ist der neue Aushilfspfleger, der ebenfalls sein Päckchen zu tragen hat. Er wuchs in verschiedenen lieblosen Pflegefamilien auf. Er verliebt sich sofort in Thea und kümmert sich über die Grenzen der Professionalität hinaus um sie. Mehr möchte ich über die Handlung gar nicht schreiben, ich möchte nicht spoilern.
Sprachlich fand ich das Buch gut zu lesen, es ist flüssig und gefühlvoll geschrieben. Eingeteilt in drei große Teile werden die Unter- Kapitel aus der Sicht von Thea und Jim aus der jeweiligen Ich-Perspektive erzählt. Die Charaktere sind sehr gut ausgearbeitet und beschrieben, jeder hat seine Geschichte, auch wenn sich nicht jeder an sie erinnert. Thea fand ich eher interessant als sympathisch, weil an ihrer Person essenzielle Fragen hängen. Kann jemand leiden, wenn er seine Situation nicht bewusst wahrnimmt? („»Es gibt keine Wahrnehmung ohne Bewusstsein.« Sie lächelte sanft. »Deshalb nennt man es bewusstlos.«“) Kann man glücklich sein, auch wenn man sich nicht daran erinnert, was „glücklich sein“ ist?
An Jims Charakter hängen eher greifbare als philosophische Probleme. Als ehemaliges ungeliebtes Pflegekind („Du bist nicht mit mir verwandt. Du bist nichts als ein Scheck, der jeden Monat mit der Post kommt, also hör auf zu heulen.«“) stottert er phasenweise stark und wurde in der Schule gemobbt und von seiner Pflegemutter Doris beschimpft und beleidigt („Pfft. Er ist einfach ein Riesendummkopf. Das beweist das nur.“) Ihn mochte ich von Anfang an sehr, er ist ein liebevoller und liebesbedürftiger junger Mann, aber ab und an verbissen und fast übergriffig.
Theas Schwester Delia fand ich trotz ihrer rauen Art einen ebenfalls starken Charakter. Die Eltern der beiden jungen Frauen kamen bei dem Unfall ums Leben, bei dem Thea verletzt wurde. Delia war als einzige nicht im Auto, fühlt sich unterbewusst schuldig („Ich hätte auch in diesem Auto sitzen sollen“) und dadurch für ihre Schwester verantwortlich. Die Art, wie sie sich um Thea kümmert und deren Pflege arrangiert, ist grob und irgendwie arrogant, dennoch glaube ich, manchmal einen Hauch Überforderung herauslesen zu können.
Neben der romantischen und herzergreifenden Liebesgeschichte thematisiert die Autorin auch Dinge wie Personalmangel in Pflegeeinrichtungen, Übergriffe auf Bewohner und die Situation mancher Kinder in Pflegefamilien. Die fand ich teilweise schwerer zu verdauen als die Amnesie und die Triggerwarnung im Buch ist durchaus berechtigt. Thea ist gefangen in einem Leben ohne Erinnerungen, Jim ist gefangen in den Erinnerungen seines Lebens und beide leiden darunter, wenn auch auf unterschiedliche Weise.
Für mich war es ein starkes Buch mit ein paar Schwächen. Aber die Autorin wollte ja kein Fachbuch schreiben, daher möchte ich ihr die schwache und klischeehafte Umsetzung der medizinischen Aspekte nicht zu stark ankreiden. Herausgekommen ist eine ergreifende, hochemotionale Liebesgeschichte, ein solides, tiefgründiges, manchmal sogar spannendes Buch, das noch einige Zeit nachhallt. Von mir 4,5 Sterne, aufgerundet auf 5.

Bewertung vom 12.08.2021
Flüsterwald - Durch das Portal der Zeit: Ausgezeichnet mit dem LovelyBooks-Leserpreis 2021: Kategorie Kinderbuch (Flüsterwald, Staffel I, Bd. 3)
Suchanek, Andreas

Flüsterwald - Durch das Portal der Zeit: Ausgezeichnet mit dem LovelyBooks-Leserpreis 2021: Kategorie Kinderbuch (Flüsterwald, Staffel I, Bd. 3)


ausgezeichnet

„Durch das Portal der Zeit“ ist der Name des dritten Teils von Andreas Suchaneks „Flüsterwald“-Serie. Ich habe die beiden ersten Teile auch gelesen und ungeduldig auf den dritten Band gewartet, gespannt darauf, was sich der Autor dieses Mal einfallen lässt. Und ich wurde nicht enttäuscht, Band 3 ist tatsächlich noch phantasievoller, actiongeladener und spannender als die ersten beiden.
Wieder erleben Lukas, Ella, Rani und Punchy ein wildes Abenteuer im Flüsterwald, aber dieses Mal reisen sie in die Vergangenheit und treffen dort auf neue Verbündete und neue Widersacher. Das Ziel ist, den Schlüssel für einen magischen Fluch, der auf dem Flüsterwald liegt, zu finden. Keine leichte Aufgabe für die Helden, aber eine tolle Geschichte für ihr Publikum. Mehr möchte ich gar nicht zur Geschichte sagen, denn die ist spannend, voller Überraschungen und einfach nur wild und der Schluss hat mich ziemlich überrascht. Nur so viel: es gibt Flug- und Flüsterpulver, Fahrten mit der Blinzelbahn, Schlingpflanzen-Angriffe, dunkle Magier und noch eine Menge mehr. Und da die Gruppe rund um Lukas in die Vergangenheit gereist ist, ist es natürlich eine große Herausforderung, nicht in den Lauf der Geschichte einzugreifen. Denn spätestens seit „Zurück in die Zukunft“ wissen wir ja, dass dadurch ihre eigene Zukunft verändert würde.
Nachdem die Handlung im zweiten Teil schon so rasant war, hätte ich nicht gedacht, dass der Autor das Tempo noch weiter steigern könnte. Weit gefehlt! Die Geschichte ist locker und flott geschrieben, die Sprache ist ideal für jüngere Leser und unglaublich bildreich. Die Kapitel sind kurz, dadurch ist das Buch sicher auch zum Vorlesen gut geeignet. Die Charaktere sind wie immer gut ausgearbeitet und, ja, der schokoladensüchtige, tagebuchschreibende Menok Rani ist nach wie vor mein Liebling. Er ist schließlich (zumindest in seinen Aufzeichnungen „Ranis heldenhafte Abenteuer“) der mutigste Menok der Welt. Aber auch die anderen Personen sind toll und anschaulich beschrieben, die Reise durch die Zeit ist packend und ich kam als Leser kaum zum Luftholen.
Mit viel Humor, Action und Fantasie konstruiert der Autor eine wundervoll spannende Geschichte über Magie, Freundschaft, Mut und kreative Problemlösungen, die nicht nur die Zielgruppe (das Buch ist für Kinder ab neun Jahre) geeignet ist, sondern schlicht für Leser:innen jeden Alters, die für Geschichten dieser Art etwas übrig haben. Gruselige Elemente dürfen natürlich in der Geschichte auch nicht fehlen, aber manche Passagen sind einfach nur unglaublich kreativ und witzig. Manche Stellen brachten mich zum Lachen, einige aber auch zum Nachdenken, denn neben wirklich lustigen Passagen sorgen Themen wie Pubertät, Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Toleranz und Vertrauen für die nötige Balance im Buch.
Nur eine einzige winzige Sache fiel mir negativ auf. In ein paar Überschriften sind Fehler in der Groß- und Kleinschreibung korrekt („Der plan des professors“, „Der preis der Macht“). Aber das sind wirklich Luxusprobleme und taten meiner Lese-Freude keinen Abbruch, daher natürlich auch nicht der Punktzahl. Das Buch endet wie gewohnt mit einem Cliffhanger, der für den nächsten Teil alles, aber wirklich alles möglich macht. In gespannter Erwartung auf den nächsten Band vergebe ich daher 5 Sterne und empfehle das Buch gerne weiter.

Bewertung vom 10.08.2021
Zweiunddieselbe
Pearson, Mary E.

Zweiunddieselbe


gut

Trotz meines fortgeschrittenen Alters bin ich ein großer Freund von Jugendbüchern. Ich mag dystopische Geschichten, vor allem solche, bei denen man am Anfang noch nicht weiß, wohin sie führen. Aber „Zweiunddieselbe. Das vergessene Leben der Jenna Fox“ von Mary E. Pearson war für mich enttäuschend. Die Autorin hat das enorme Potential, das die Idee hinter dem Buch geboten hätte, viel zu wenig ausgeschöpft. Schwierige Themen wie Ethik im Allgemeinen und in der Wissenschaft, Gott-Spielen bei Entscheidungen über Leben und Tod und die Frage, was einen Menschen zu dem macht, was er ist, wurden zu oberflächlich beleuchtet.
Aber von vorn: Die 17jährige Jenna Fox wacht nach über einem Jahr aus dem Koma auf. Ihre Eltern und ihre Großmutter versuchen, ihre Erinnerungen unter anderem mit DVDs aus ihrem Leben, wiederzuerwecken und ihr Vergangenheits- Ich mit dem Jetzt-Ich in Einklang zu bringen. Aber für Jenna ist das sehr unbefriedigend und sie beginnt, sich auf eigene Faust auf die Suche nach sich selbst zu machen. („Aber ich bin mehr als ein Name. Mehr, als sie mir erzählen. Mehr als die Zahlen und Fakten, mit denen sie mich vollstopfen. Mehr als die Videos, die sie mich anschauen lassen.
Mehr. Aber ich weiß nicht genau was.“) Und sie entdeckt Unfassbares, denn das Buch spielt in einer Zukunft, in der sehr vieles möglich ist, ja sogar, dass eigentlich tote Menschen wieder zum Leben erweckt werden.
Das Setting ist erschreckend realistisch. Zwar erschien das Buch schon 2010, also lange vor Corona, aber die Autorin schreibt über Umweltkatastrophen, ein großes Beben und eine „Aureus-Epidemie“, die „zwanzig Millionen Menschen dahingerafft“ hat. Die surreal-dystopische Stimmung flammt innerhalb der Geschichte immer mal wieder auf. Spannung ist auch eher sporadisch vorhanden, das Buch lebt mehr von inneren und äußeren Konflikten und es wechseln sich bedrückende, nachdenkliche, spannende, romantische und völlig belanglose Sequenzen immer wieder ab.
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht der sehr reflektierten Ich-Erzählerin Jenna. Die Sprache ist eher locker, aber bildhaft, passend sowohl zur jugendlichen Erzählerin, als auch zur Zielgruppe. Die Leserschaft lernt die Charaktere fast zeitgleich mit Jenna kennen, da sie diese ja auch neu entdecken muss. Daher sind zumindest die „tragenden Rollen“ ziemlich gut beschrieben, die Nebenrollen fallen stark ab. Zwischen den Kapiteln sind kurze Abschnitte mit Gedanken oder Gefühlen von Jenna, die einen tieferen, manchmal philosophisch angehauchten Einblick in ihre Gedankenwelt geben. Jennas Probleme (fehlende Erinnerung, Konflikte mit Eltern und Großmutter) waren gut und realistisch beschrieben. Vor allem die Großmutter ist ein dominanter Charakter, denn schon früh wird klar, dass sie der „alten“ Jenna nachtrauert. Sie spricht im Dialog mit ihrer Enkelin von deren früherem Ich in der dritten Person (also von „sie“ statt von „du“), als wäre es nicht ein und dieselbe Person, sondern tatsächlich „zweiunddieselbe“.
Es ist ein Buch über die Suche nach sich selbst, festgemacht an einer Protagonistin, die ihre Erinnerungen und damit einen großen Teil ihrer (alten) Identität verloren hat. Damit verbindet die Autorin die Frage, was einen Menschen überhaupt ausmacht: Erinnerungen, Wissen, Intelligenz, Aussehen? Was sind denn überhaupt „Persönlichkeit“ und „Identität“ und existieren sie noch, wenn man keine Erinnerungen hat? (Frei nach Prentice Mulford: „Wir sind die Summe unserer Erfahrungen.“) Und wie lassen sich Wissenschaft und Ethik in Einklang bringen, wann ist es legitim, alles Mögliche zu versuchen und wann ist es verwerflich. Das Buch hätte wirklich gut sein können, ist es für mich aber nicht. Der Epilog hat der Geschichte meiner Meinung nach den Rest gegeben und die Geschichte wird auf den letzten paar Seiten noch unrund und unbefriedigend. Es ist aber trotz allem ein Buch, das nachdenklich macht. Daher von mir drei Sterne für die wirklich hervorragende Idee.

Bewertung vom 06.08.2021
Die Hebamme
Hoem, Edvard

Die Hebamme


ausgezeichnet

Edvard Hoem ist in Norwegen ist er ein vielfach preisgekrönter Bestseller-Autor, in Deutschland ist er nicht wirklich bekannt. Ich habe mich auf seinen Roman „Die Hebamme“ sehr gefreut, denn er schreibt über zwei Themen, die ich sehr gerne mag: Norwegen und Geschichte. Die Hauptperson ist Marta Kristine Andersdatter Nesje, die Ururgroßmutter des Autors. Zum ersten Mal befasste er sich mit ihrer Geschichte schon 2008 zum 100jährigen Bestehen der norwegischen Hebammenvereinigung, denn Marta Kristine, genannt Stina, war über 50 Jahre lang Hebamme und half über 1000 Kindern auf die Welt, sie selbst bekam elf Kinder. Es ist ein Buch über eine starke, unangepasste Frau, aber keineswegs ein „Frauenbuch“.
„Ich weiß nicht, was aus ihr werden soll“, erwiderte der Vater, „sie sagt, sie wäre lieber ein Kerl geworden als ein Frauenzimmer.“ – dieser Satz charakterisiert Stina sehr gut, gegen Ende des Buchs trägt sie unter ihrem Rock tatsächlich Hosen! Sie konnte zupacken und hart arbeiten, war fleißig, ausdauernd und hatte immer ihren eigenen Kopf. Und das war in den harten Zeiten, in denen sie lebte, überlebenswichtig. Die napoleonischen Kriege gingen auch an Norwegen nicht spurlos vorbei, vor allem die britischen Marineblockaden waren der Grund für große Not in der Bevölkerung. Als Tochter eines Schuhmachers und Schlachters hatte Stina wenige Chancen, etwas aus sich zu machen. Heiraten, ein paar Felder bewirtschaften und Kinder bekommen – so hätte ihr Leben am ehesten aussehen können. In gewisser Weise sah es auch so aus, aber der zupackenden Stina war das nicht genug. Der Pfarrer erwähnte einmal die Hebammenausbildung und diese Idee ließ sie nicht mehr los. Schon zu Schulzeiten verliebte sie sich in Hans, einen drei Jahre älteren Mitschüler. Und auch er war ihr zugetan, über Umwege kamen sie zusammen, obwohl sie ein uneheliches Kind mit in die Ehe brachte.
1817 ging sie als 24Jährige nach Molde, um die Geburtshilfe in einem sechswöchigen Kurs zu lernen. Aber Hebammen waren zu der Zeit nicht gut angesehen, viele werdende Mütter sparten sich lieber die Hebammen-Gebühren. Daher beschloss Stina 1821, die fast 600 Kilometer nach Christiania (das war bis 1924 der Name des heutigen Oslo) zu Fuß zu gehen, um sich dort ein Jahr lang „richtig“ zur Hebamme ausbilden zu lassen. Nach dem Ende der Ausbildung ging sie zurück und arbeitete fast 50 Jahre lang weiter. So viel ist Fakt, die wenigen Aufzeichnungen aus der Zeit stammen hauptsächlich aus Kirchenbüchern.
Daher ist das Buch ein fiktiver Roman auf der Grundlage dokumentierter Fakten. Aber eben diese fiktive Ausgestaltung macht den Roman so besonders. Aus den Fakten, die so karg sind wie das Land, in der die Geschichte spielt, strickt der Autor eine packende und lebendige Erzählung über eine Frau, die ihrer Zeit weit voraus war. Allerdings hatte sie wohl immer den Rückhalt ihrer Familie, Eltern und Mann legen ihr (zumindest in der Geschichte) keine Steine in den Weg zum Glück. Schicksalsschläge wie Tod, Not und Schulden werden in der für die Zeit und die Lebensumstände typischen Ruhe hingenommen, trotz des harten und arbeitsreichen Lebens scheint Stina zufrieden. Ob es so war, weiß keiner. Aber es hätte so sein können. Das Bild, das der Autor von Personen und Zeit zeichnet, ist glaubwürdig und realistisch.
Für mich war das Buch ein echtes Highlight, die deutsche Fassung ist der Übersetzerin hervorragend gelungen. Es ist eine dichte und packende Geschichte über Liebe, Familie, Hebammenberuf, Trauma, Not, Überlebenskampf, Mut und eine bemerkenswerte und starke Frau. Edvard Hoem baut seiner Urururgroßmutter ein Denkmal, verfällt aber nicht in Klischees oder Lobhudelei. Ich habe mir jetzt die anderen Teile seiner Familiensaga im Original besorgt, denn ich habe mich in seinen klaren, sachlichen und doch poetischen Stil verliebt. Für dieses Buch gibt es von mir ganz klar fünf Sterne.

Bewertung vom 04.08.2021
Die Geschichte von Kat und Easy
Pásztor, Susann

Die Geschichte von Kat und Easy


gut

„Die Geschichte von Kat und Easy“ von Susann Pásztor erzählt in zwei Ebenen die Geschichte einer Teenagerfreundschaft, die das Leben auseinandergerissen hat. 1973 waren die beiden knapp 16 Jahre alt und seit etwa einem Jahr sehr eng befreundet. Aber auch mitten in der (Spät)Pubertät. Kiffen, Rauchen und Jungs waren dominante Themen in ihrem Leben, dazu die Musik der Zeit als Soundtrack. Fertig. Fertig? Nein, nicht ganz. Denn dank des Internets finden sich die beiden fast 50 Jahre später wieder. Um der alten Zeiten willen machen sie gemeinsam auf Kreta Urlaub.
Ohne eine wirkliche Klassentreffen-Atmosphäre aufkommen zu lassen, erzählt die Autorin die Geschichte relativ schnörkellos in zwei Zeit-Ebenen, dem Hier und Jetzt auf Kreta und der Jugendzeit 1973 im beschaulichen Laustedt. Die Kreta-Kapitel sind von Kat in der Ich-Form erzählt, die anderen Kapitel durch einen neutralen Erzähler.
Die beiden Protagonistinnen des Buchs gehören zur Sandwich-Generation zwischen meinen Eltern und mir, aber wirklich viel scheint sich bezüglich Mädchenfreundschaften tatsächlich nicht verändert zu haben. Hauptthema des Buchs ist die Freundschaft zwischen zwei Jugendlichen, die den Sprung zur Erwachsenenfreundschaft nicht schafft. Es scheint auch von Anfang an keine gleichberechtigte Freundschaft zu sein, denn beide sind nicht wirklich ehrlich zueinander, zwischen ihnen stehen Schwindeleien und Neid – und irgendwie geht es immer um Liebe, Jungs und Drogen. An manchen Stellen habe ich mich ehrlich gefragt, wieso die beiden überhaupt befreundet waren. Vielleicht, weil die eine gerne voraus ging und die andere hinterher? Oder weil sich Gegensätze anziehen oder sie sich ähnlicher waren, als sie dachten? Kat war pummelig und trug eine dicke und (wie sie fand) hässliche Brille. Sie beneidete Easy darum, dass sie hübscher war (fand sie), cooler und irgendwie reifer („Was hatte ich mich manchmal vor Easys Unbekümmertheit gefürchtet, während andere sie gerade dafür bewunderten, dass sie Makel ansprach, die sie gar nicht als solche empfand.“). Nähe, Distanz, Neid, Zuneigung, Abgebrühtheit und Verliebtsein sind dadurch nur einige der Themen, die die Autorin streift.
Aber sie streift sie nur, irgendwie fehlt mir bei dem Buch die Tiefe, denn im Endeffekt wird in dem Buch einiges geredet, aber sehr wenig gesagt. Zu einer wirklichen Aussprache kommt es nur zögerlich, da ist mir zu viel „Können wir darüber ein andermal reden, Kat?“ dabei und die Essenz des Buchs liegt nicht in den Zeilen, sondern dazwischen. Ja, die Autorin schafft es, die Geschichte zu einem halbwegs ordentlichen, wenn auch für mich eher unspektakulären Schluss zu bringen, streift nebenher noch die Themen Internet („Du hast niemals im Internet nach den Leuten von früher gesucht?“) und Einsamkeit, aber mir ist das Buch insgesamt zu vage.
Sprachlich fand ich es sehr gelungen und die Charaktere sind sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart gut beschrieben, sodass man auch die Entwicklung der beiden nachvollziehen kann. Die beiden Protagonistinnen sind älter geworden, aber nicht „souverän gealtert“. Alte Stutenbissigkeit ist geblieben, neue Gleichgültigkeit ist dazugekommen („Früher wäre ich neidisch gewesen. Jetzt war es mir egal.“) Und da vermutlich jede:r solche oder ähnliche Erfahrungen mit Freundschaften gemacht hat, kann man sich vieles aus dem Buch sehr gut vorstellen.
Für mich war es daher einerseits eine unterhaltsame Lektüre, andererseits eine schmerzhafte Erinnerung an zerbrochene Freundschaften. Der Drogenkonsum hat für mich eine zu dominante Rolle (die beiden Damen kiffen auch auf Kreta noch zusammen) und alles in allem fehlt mir die Tiefe und die einzige erleuchtende Erkenntnis, die mir bleibt ist, dass man auf Freundschaften aufpassen muss, wenn man sie aufrechterhalten will. Die steht aber sicher auch in irgendwelchen Abreißkalendern. Es ist kein schlechtes Buch, aber für mich auch nicht wirklich gut, daher vergebe ich drei Sterne.