Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 495 Bewertungen
Bewertung vom 26.01.2022
Junge mit schwarzem Hahn
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


gut

„Junge mit schwarzem Hahn“ von Stefanie vor Schulte ist ein Buch, das sich für mich sehr schwer einordnen lässt. Das Genre ist schwer zu definieren und ich kann auch nicht sagen, ob das Buch mir gefallen hat, oder nicht. Ist es nun ein Märchen für Erwachsene, eine Fabel, eine gesellschaftskritische Parabel oder eine Allegorie? Vermutlich liegt die Wahrheit dazwischen und es ist eine Mischung aus allem. Schwieriger ist jedoch die Antwort auf die Frage, ob mir das Buch gefallen hat.
Aber von vorn.
Der elfjährige Waisenjunge Martin musste als Kleinkind miterleben, wie der Vater seine Mutter und seine Geschwister erschlagen hat. Zusammen mit ihm überlebt ein schwarzer Hahn, der ihn fortan durch sein schwieriges Leben begleitet: als Freund, Vertrauter und eine Art Bodyguard, denn er verjagt Menschen durch sein Gekreische und mit seinem scharfen Schnabel. Viele meinen, Martin und der Hahn seien mit dem Teufel im Bunde („Dieses Mistvieh von einem Hahn. Der Teufel persönlich.“). Martin ist ein sensibler, intelligenter Junge und er hat sich selbst eine Mission ausgesucht: er möchte die von „schwarzen Reitern“ entführten Kinder suchen, finden und retten. Ein Maler, der in der Dorfkirche das Altarbild malen soll, nimmt sich seiner an und sie reisen gemeinsam weiter. Er ist der erste, der vor Martins Intelligenz keine Angst hat und ihn nicht, wie alle anderen, ständig schlägt.
So weit, so spannend, mystisch und märchenhaft. Könnte es zumindest sein. Und es könnte auch wirklich ans Herz gehen. Der schlaue, empfindsame kleine Junge mitten in einer kalten, rauen Welt voller Aberglauben, Tyrannei und Gewalt. Aber obwohl ich mich dem Protagonisten Martin sehr nahe fühlte, konnte das Buch mich nicht wirklich erreichen. Stefanie vor Schultes Sprache ist bildhaft und schlicht, teilweise fast fragmentiert. Auch kam sie mir bei der Lektüre fast monochrom vor und so rau wie die damaligen Zeiten (die Geschichte ist weder zeitlich noch örtlich bestimmt – sie könnte allerdings irgendwo in Europa im 30jährigen Krieg spielen, denn neben Krieg und Hunger werden auch Pest und Hexenverbrennung erwähnt). Monochrom sind auch die Charaktere – alles ist schwarz oder weiß, gut oder böse. Es gibt praktisch nichts dazwischen. Bunt sind mehr oder weniger nur die Bilder, die der Maler malt, wozu dann auch der Titel des Buchs gut passt, denn „Junge mit schwarzem Hahn“ klingt wie der Titel eines Kunstwerks.
Ist das Buch denn ein Kunstwerk? Für mich war es auf jeden Fall eine Herausforderung, denn so wirklich wurde ich mit der Geschichte nicht warm. Vor allem die erste Hälfte war mir zu verworren, zu konstruiert und zu kryptisch und verlange mehr Konzentration von mir, als ich aufzubringen im Stande war. Insgesamt erinnerte mich das Buch an die Märchen von Hans Christian Andersen, die ich sehr liebe. Das Düstere und die Moral am Ende fand ich daher sehr ansprechend. Aber manchmal fand ich die Geschichte einfach zu gezwungen. Sowohl die gezwungen alte Sprache als auch die gezwungene wirklich strikte Unterscheidung in Gut und Böse machten mir das Buch nicht zum Freund. Martin ist mir zu sehr Lichtgestalt und zu durch und durch gut in einer Welt voller Schlechtigkeit.
Durch die Parallelen zur heutigen Zeit, in der auch jeder sich selbst der Nächste ist, kann ich mir das Buch hervorragend als Schullektüre vorstellen, denn es bietet praktisch unendlich viel Stoff für Interpretationen. Manche der Ideen werden von der Autorin meiner Meinung nach auch nicht hundertprozentig zu Ende gedacht, da hätten dem Buch ein paar mehr Seiten gutgetan, um alle losen Enden befriedigend zu verknüpfen. Es ist alles in allem sicher kein schlechtes Buch und ich kann mir gut vorstellen, dass man von der Autorin künftig noch Großes erwarten kann. Aber das Buch und ich passten einfach nicht zusammen. Daher gebe ich drei Sterne, denn es gibt sicher Menschen, denen das Buch besser liegt als mir.

Bewertung vom 19.01.2022
Der Sucher
French, Tana

Der Sucher


gut

„Der Sucher“ ist der Titel von Tana Frenchs neuestem Roman. Ob das Buch nun „meisterhaft“ ist, wie die Washington Post schreibt, sei dahingestellt, mich lässt es eher zwiegespalten zurück. Aber es ist ein durchaus unterhaltsames Buch mit vielen Wendungen, interessanten Charakteren und einem ansprechenden Setting. Das gemächliche Tempo, mit dem sich die Geschichte entwickelt, hat mich allerdings immer wieder zum Querlesen verleitet und oft habe ich mich gefragt, wo es überhaupt hinführen wird. Manche mögen es „atmosphärisch“ oder „charmant“, vielleicht sogar „literarisch“ finden – ich fand es über lange Strecken relativ langweilig.
Aber von vorn. Der 48jährige ehemalige Polizist Cal verlässt Chicago und kauft sich ein Häuschen in der irischen Kleinstadt Kilcarrow. Die Idylle bekommt einen Knacks, als er mitbekommt, dass in seiner Nachbarschaft Schafe getötet werden. Und dann setzt der Satz des 13jährigen Teenies Trey „Mein Bruder ist verschwunden“ eine Dynamik in Gang, die Cal zu eigenen Ermittlungen bringt und ihm Einblicke ins Dorfleben gibt, auf die er vermutlich gerne verzichtet hätte. So weit, so spannend. Hätte es zumindest sein können. Doch das Verschwinden des 19jährigen Brendan schafft es nicht, das wirklich tragende Thema der Geschichte zu werden. Es geht schlicht immer wieder zwischen reichlich Dialogen und Beschreibungen unter, die nicht wirklich irgendwo hinführen, sie mäandern ebenso, wie der Fluss, an dem Kilcarrow liegt.
Und ehrlich gesagt hat mich die Sprache der Autorin auch nicht wirklich begeistern können. Es war mein erstes Buch von Tana French und ich denke, es wird auch das einzige bleiben. Die Sätze sind teilweise sehr lang und verschachtelt und bei „Das Badezimmerfenster geht so reibungslos und leise auf, als wäre es mit Kontaktspray eingesprüht worden, was es auch wurde.“ oder „Die Spaghetti strapazieren die Kauwerkzeuge, und die Bolognesesoße ist kräftig mit Minze, Koriander und irgendwas gewürzt, das wie Anissamen schmeckt. Das Ganze passt irgendwie, solange Cal es nimmt, wie es ist.“ habe ich mich wirklich gefragt, was die Autorin damit eigentlich bezwecken will.
Insgesamt ist mir das Buch zu klischeehaft und in manchen Punkten passt es nicht so richtig ins 21. Jahrhundert, da hilft auch die Verwendung von WhatsApp und Facebook nicht. Trey wird, obwohl schon 13 Jahre alt, immer wieder als Kind bezeichnet. Die meisten Männer sprühen nur so vor Maskulinität und die Szenen im Pub triefen vor Testosteron. Und wie Cal auf die Aussage kommt, dass 20 ein typisches Alter ist, um Suizid zu begehen, kann ich mir nicht erklären. Trey und Cal sind die beiden gut ausgearbeiteten Protagonisten des Buchs, wobei bei beiden auch sehr viel Stereotyp zum Tragen kommt. Cal ist ein typischer Städter auf dem Land (keine Ahnung, wie er überhaupt mit dem irischen Englisch der Bewohner klarkam und die mit seiner Sprache), außerdem ein klischeehafter Polizist, der einen Verdächtigen durch Folter zu einer Aussage bringt (die moralische Komponente an dieser Stelle war für mich einer der wenigen wirklich tiefgründigen Momente des ganzen Buchs). Abgesehen davon fand ich ihn eigentlich sympathisch. Mein Favorit ist allerdings Trey, das Kind aus schwierigen Verhältnissen, ein Teenie mit eigenem Kopf und Ecken und Kanten.
Rückblickend fand ich das Buch weder besonders schlecht noch übermäßig gut, höchstens solides Mittelmaß, vermutlich am ehesten etwas für Fans von Tana French und irischen Kleinstädten. Spannung sollte man auf jeden Fall nicht erwarten, wenn man anfängt das Buch zu lesen und auch Kleinstadt-Charme und gut beschriebene schrullige Bewohner sucht man eher vergebens. „Egal, was er tut oder nicht tut, er kann sich nicht vorstellen, wie diese Sache gut ausgehen soll. […] Hier gibt es kein Happy End.“ Ein Epilog hätte dem Buch dennoch gutgetan, denn obwohl der Schluss stimmig ist, kommt das ganze über ein „ist okay“ nicht hinaus. Daher vergebe ich 3 Punkte.

Bewertung vom 13.01.2022
Der Blutkünstler / Tom-Bachmann-Serie Bd.1
Meyer, Chris

Der Blutkünstler / Tom-Bachmann-Serie Bd.1


ausgezeichnet

Tom Bachmann ist „Seelenleser“ oder professionell ausgedrückt: Profiler. Sein Lebensinhalt ist die Bekämpfung des Bösen und da hat er in Chris Meyers Thriller „Der Blutkünstler“ jede Menge zu tun. In verschiedenen Teilen der Republik kommen über mehrere Jahre verteilt vier Frauen grausam zu Tode. Sie werden gequält und ihre Leichen grotesk, als kleine Mädchen verkleidet, als eine Art gruseliges „Kunstwerk“ zur Schau gestellt. Tom Bachmann wird hinzugezogen und die Ermittlungen nehmen Fahrt auf. Und dann taucht ein Kindheitsfreund auf, der früher fast wie ein Bruder für ihn war.
Chris Meyer schreibt einfach und bildhaft. Alles in allem ist das Buch, auch dank der kurzen Kapitel, flüssig zu lesen. Zudem ist er in seinen Beschreibungen schonungslos und das Buch ist nichts für schwache Nerven. Insgesamt hat der Autor bei dem Buch also nichts falsch gemacht. Er hat alle essenziellen Aspekte abgehakt. Und darin liegt die Krux: es wirkt manchmal wirklich, als habe er eine Checkliste zum Thema „was braucht ein gelungener Thriller“ abgehakt. Ermittler mit traumatischer Vergangenheit, der mit Schlaflosigkeit und seinen Dämonen kämpft. Feministische Ermittlerinnen. Mehrere brutale Morde. Manipulative Erwachsene, die Kinderleben zerstören. Aber dennoch schafft es das Buch für mich nicht, sich vom guten zum herausragenden Thriller zu mausern.
Das liegt einerseits an den Charakteren, die ich einfach zu klischeehaft finde. Tom finde ich eher interessant als sympathisch. Seine überbordende Genialität fand ich stellenweise sehr anstrengend (vor allem, weil ich ihn gar nicht so genial fand) und auch seine Handlungen waren nicht einmal dann immer nachvollziehbar, wenn man seine Vergangenheit kennt. Er wirkt sehr unnahbar und distanziert, sein Privatleben beschränkt sich auf Sport, Computerspiele und One-Night-Stands, was die Frage für mich aufwirft, inwieweit er selbst ein Psychopath sein könnte („Psychopathie war im Prinzip nichts anderes als eine Persönlichkeitsstörung, und Tom hatte sich in seinem Leben nicht nur einmal gefragt, ob er auch davon betroffen sein könnte. Zumal eines alle Psychopathen einte: Sie konnten nicht lieben.“). Neben ihm wirken alle anderen Charaktere etwas blass und insgesamt fand ich die Personen nicht ganz ausgereift.
Erzählt werden alle vier Handlungsstränge aus der Sicht eines allwissenden Erzählers. Ein Handlungsstrang spielt in Toms Kindheit in den 1980er Jahren, der zweite hat den Blutkünstler zum Protagonisten, der dritte einen lange unbenannten „Beobachter“ und natürlich ist der „Hauptstrang“ die Ermittlungsarbeit. Der Autor flicht in seine Thriller-Handlung einige interessante Fakten aus der Psychologie ein. Vor allem seine Ausführungen zu Psychopathen fand ich sehr nützlich.
Der Spannungsbogen war für mich nicht konstant, nach einem Paukenschlag-Auftakt flacht er rasch ab. Aber wirklich langweilig fand ich das Buch zu keiner Zeit, auch wenn der Autor manchmal die Spannung durch schieren Ekel erzeugt. Was mich allerdings wirklich frustriert hat, ist der Schluss. Der überraschte mich zwar, kam aber einfach zu abrupt und der Hinweis auf den Mörder kam praktisch aus dem Nichts. Kann man cleveren Twist nennen oder unterstellen, dass Chris Meyer rasch zum Schluss kommen wollte und daher seinem Publikum einen fast willkürlich ausgewählt wirkenden Täter präsentiert hat. Hier fehlte mir ein bisschen die Logik und die Ermittlungsarbeit des ach so genialen Profilers ist doch nicht so genial, denn er weiß selbst bis zur Demaskierung nicht, wer hinter dem Blutkünstler steckt.
Alles in allem ist das Buch ein solider Thriller, dem aber das Alleinstellungsmerkmal fehlt. Er wird mir vermutlich nicht im Gedächtnis bleiben. Da es der Auftakt zu einer Serie ist, bleibt zu hoffen, dass der Autor die Charaktere weiter entwickeln wird und seinen eigenen Stil findet, statt sich an tausendfach bewährte Rezepte zu halten. Von mir für die gute Idee, die sprachlich wirklich gute Umsetzung und die gute Unterhaltung aber vier Stern

Bewertung vom 07.01.2022
Weiter Himmel / Jackson Brodie Bd.5
Atkinson, Kate

Weiter Himmel / Jackson Brodie Bd.5


weniger gut

„Weiter Himmel“ von Kate Atkinson ist wirklich ein Buch, das es mir nicht leicht gemacht hat und an dem ich beinahe gescheitert wäre. Ich fand von Anfang an sehr schwer Zugang, obwohl die Geschichte an sich sehr viel Potential versprochen hat. Irgendwie hatte ich das Gefühl, die Autorin hat das brisante und interessante Thema mit Nebengeschichten und Ausschweifungen zerredet und damit jegliche mögliche Spannung komplett zerlegt. Wie schon „Die vierte Tochter“ konnte mich auch der fünfte Band um den Privatermittler Jackson Brodie nicht begeistern und ich werde Autorin und Serie wohl abhaken. Lesen kann man das Buch durchaus auch ohne Vorkenntnisse aus den anderen Teilen, fürs Verständnis braucht man sie nicht.
Aber von vorn.
Andy, Steve und Tommy sind „die drei Musketiere“, drei gutsituierte Familienväter mittleren Alters, die gemeinsam Golf spielen. Sie sind gesellschaftlich anerkannt, sozial gut aufgestellt und führen ein scheinbar geordnetes Leben. Aber hinter der schönen Fassade sieht es anders aus, denn ihr finanzielles Polster stammt aus einem ebenso einträglichen wie illegalen Nebengeschäft. Als dann eine Frau aus ihrem direkten Umfeld zu Tode kommt und die Polizei und der Privatdetektiv Jackson Brodie ermitteln, führen nach und nach alle Wege zum Golfclub und den drei Männern. Und die Entdeckungen, die gemacht werden, sind schockierend.
Eigentlich ist in dem Roman von Anfang an klar, worum es geht: Mädchenhandel. „Sie waren nicht dumm, sie wussten von Menschenhandel, von Leuten, die Mädchen davon überzeugten, dass sie gute Jobs bekommen würden, richtige Jobs, und dann endeten sie unter Drogen gesetzt in einem dreckigen Loch, wo sie mit einem Mann nach dem anderen Sex haben mussten, und sie konnten nicht zurück nach Hause, weil ihnen die Pässe weggenommen worden waren und sie sich erst wieder »verdienen« mussten. APA war nicht so.“
Natürlich ist es auch in diesem Buch nicht so. Natürlich werden auch in diesem Buch Mädchen mit falschen Versprechungen nach Großbritannien gelockt. Die Autorin greift damit ein ebenso schreckliches wie aktuelles Thema auf. Leider schafft sie es aber nicht, es wirklich gut aufzubereiten. Sie verheddert sich in verwirrenden und überflüssigen Nebengeschichten und schafft es für mich weder eine klare Linie noch einen Spannungsbogen aufzubauen. Über weite Teile des Buchs kommen weder die Geschichte noch die Ermittlungen einen Schritt vorwärts. Einzig gegen Schluss kommt ein bisschen Tempo und Spannung in die Handlung, das Ende an sich ist schlüssig, aber da hatte ich mit dem Buch innerlich schon abgeschlossen.
Die Autorin prangert Scheinheiligkeit und moralischen Verfall an, und dass in der „besseren Gesellschaft“ vieles mehr Schein als Sein ist (mit Hinblick auf Prinz Andrews Freundschaft verurteilten Pädophilen sicher berechtigt). Aber für eine wirkliche Gesellschaftskritik fehlt mir die Tiefe.
Die Charaktere sind gut ausgearbeitet, einen Bezug fand ich dennoch zu keinem. Jackson Brodie, der Held der Serie, verkommt zur Randfigur, die Ermittlungen übernehmen die Polizistinnen mit den durchaus männlichen Namen Reggie und Ronnie (in Anlehnung an die Kray-Brüder). Außerdem fand ich das Buch durch die vielen Personen und die oft wechselnde Erzählperspektive sehr unruhig. Die Wortwahl ist eher einfach, die Sätze hingegen oft wirr und überladen, vor allem durch die vielen Sätze in Klammern. Der ansprechende und überraschende Schluss konnte es auch nicht retten und die Enttäuschung blieb.
Sonst war das Buch aber nicht mein Fall. Das Thema hätte so viel mehr hergegeben als die Autorin daraus gemacht hat. Ja, sie prangert an, dass in der „besseren Gesellschaft“ vieles mehr Schein als Sein ist (mit Hinblick auf Prinz Andrews Freundschaft verurteilten Pädophilen sicher eine berechtigte Aussage) und insgesamt spielt sie viel auf Moral und deren Verfall an. Aber das reicht einfach nicht. Schade. Daher vergebe ich zwei Sterne.

Bewertung vom 03.01.2022
Eis. Kalt. Tot.
Nordby, Anne

Eis. Kalt. Tot.


ausgezeichnet

Nach „Kalter Strand“ und „Kalte Nacht“ hat Anne Nørdby mit „Eis. Kalt. Tot.“ einen enorm spannenden Thriller mit sehr hohem Ekelfaktor nachgelegt. Zwar habe ich Tom Skagen als Ermittler vermisst (für seine Fans gibt es übrigens demnächst „Kalter Fjord“), aber mit der in Grönland geborenen Super-Recognizerin Marit Rauch Iversen und dem Ermittler Jesper Bæk hat sie ein für mich ansprechendes neuen Duo ins Leben gerufen.
Aber von vorn. Ein Mörder, den die Presse „Horrormetzger“ nennt, treibt im winterlichen Kopenhagen sein Unwesen. Die Sonderkommission „Eisscholle“ ist hinter ihm her, er ist den Ermittlern aber immer mindestens einen Schritt voraus. Der Killer ist unbeschreiblich grausam, zudem hat er eine ganz spezielle Handschrift: er „bastelt“ aus den Überresten seiner Opfer bizarre neue „Wesen“. Es dauert eine Weile, bis die Ermittler diese mit den Mythen der grönländischen Inuit in Verbindung bringen. Die Erkenntnis bringt sie zwar einerseits weiter, macht aber andererseits den Fall noch wesentlich komplizierter und undurchsichtiger. Dazu kämpft Kommissarin Kirsten Vinther an mehreren Fronten: die Jagd nach dem Mörder, aber auch die Suche nach dem Maulwurf in den eigenen Reihen, denn die Presse veröffentlicht Informationen, die sie überhaupt nicht haben dürfte. Und dann gibt es weitere Opfer.
Ich bin ein großer Fan von Nordic-Noir-Thrillern im Allgemeinen und von dänischen im Besonderen. Anne Nørdbys Bücher haben mich bislang nicht enttäuscht, so auch dieses nicht. Es hat mich schon mit dem Prolog aus persönlichen Gründen gepackt, denn der spielt in direkter Nachbarschaft von meinem besten Freund. Und auch sonst hat mich das Buch die ganze Zeit über gefesselt: die düstere und beklemmende Atmosphäre, die die Autorin schafft, ist dicht und packend, Verschnaufpausen gönnt sie der Leserschaft immer nur am „Ende des Tages“, wenn die Ermittler das Ermitteln sein lassen und in den Feierabend gehen. Ob Kirstens oder Jespers kompliziertes Privatleben – die Ausflüge ins Private sind oft aufschlussreich und eine wohltuende Abwechslung bei so viel Brutalität und Gewalt im Rahmen der Ermittlungen.
Die grönländischen Mythen waren mir seit den Büchern von Mads Peder Nordbo bekannt, daher fand ich vor allem die Themen Allaq und Tupilaq von der Autorin hervorragend aufgearbeitet, ich hätte mir eventuell ein bisschen mehr Tiefe gewünscht, das hätte aber vermutlich neben Themen wie Geldgier und Umweltzerstörung in Grönland (vor allem durch die verlassenen US-Air-Bases) den Rahmen des (ohnehin mit über 500 Seiten nicht gerade schlanken) Buchs gesprengt.
Sprachlich fand ich den Thriller wieder sehr gut gelungen. Er ist flüssig zu lesen, allerdings ist er weder thematisch noch in der Wortwahl etwas für zarte Gemüter. Schimpfworte und derbe Beleidigungen sind ebenso an der Tagesordnung wie blutige Beschreibungen unglaublich brutaler Taten. Jedes einzelne der aus unterschiedlichen Perspektiven erzählten Kapitel endet mit einem Cliffhanger, was das Buch zu einem absoluten Pageturner macht. Der Schluss ist stimmig, wobei die Autorin ihre Leserschaft immer mal wieder in eine völlig falsche Richtung lotst, auch mich hat die Auflösung des Falls ziemlich überrascht. Einzig die Auflösung, wer der „Maulwurf“ im Team ist, der Informationen an die Presse weitergibt, fand ich ein bisschen unbefriedigend.
Die Charaktere sind sehr speziell und nicht unbedingt Sympathieträger. Vor allem die forsche Art von Kirsten Vinther fand ich sehr anstrengend. Ihren Umgang mit Jesper, dem „dahergelaufenen Landei“ fand ich äußerst unprofessionell und machte sie für mich wirklich zu einer Chefin aus der Hölle. Jesper fand ich trotz seiner eher „unmännlich“ weichen Art wesentlich angenehmer.
Für mich war die Lektüre dieses gut konstruierten komplexen Thrillers wieder einmal ein Fest und ich lege ihn jedem ans Herz, der kein Problem mit brutalen und blutigen Beschreibungen hat, die die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele zeigen. Von mir daher fünf Sterne.

Bewertung vom 20.12.2021
Betreff: Falls ich sterbe
Setterwall, Carolina

Betreff: Falls ich sterbe


weniger gut

„Falls ich sterbe“ steht im Betreff einer E-Mail von Aksel an seine Frau. Der Inhalt: „Mein Computerpasswort ist: ivan2014. Eine ausführliche Liste befindet sich im Dokument Falls ich sterbe.rtf“. Carolina ist empört, aber kurze Zeit später stirbt Aksel mit Anfang 30 völlig überraschend im Schlaf und sie ist von jetzt auf gleich mit dem gemeinsamen Sohn Ivan allein. In zwei Handlungssträngen erzählt Carolina Setterwall autofiktional eine Geschichte von Liebe, Trauer und Verlust. Herausgekommen ist ein Buch mit einem vielversprechenden Klappentext, zu dem ich nur schwer Zugang gefunden habe und das mich irgendwie unbefriedigt zurücklässt.
Aber von vorn. Die Liebe zwischen Aksel und Carolina ist eher ungewöhnlich. Sie ist die treibende und drängende Kraft, die von Wohnungssuche bis Familienplanung alles in die Hand nimmt. Ihr Wunschkind überfordert die junge Mutter dann aber von Anfang an. Ivan schreit sehr viel und insgesamt entwickelt sich ihr Leben anders, als sie es sich gewünscht hat. Nach dem überraschenden Tod ihres Mannes wird die Überforderung noch größer und Caro braucht einige Zeit und viel Kraft, um mit dem Verlust leben zu lernen.
In zwei gegenläufigen Handlungssträngen erzählt die Autorin die Geschichte. Jeweils abwechselnd beinhalten die kurzen Kapitel Episoden aus der Zeit vor und nach Aksels Tod. So beschreibt sie ihr Kennenlernen, dann ihr Zusammenziehen, ein bisschen Alltag, Caros Kinderwunsch (Aksel wollte eigentlich kein Kind) und schließlich Ivans Geburt. In den anderen Kapiteln schreibt sie über Aksels Tod und wie sie im Anschluss versucht, ihr Leben irgendwie weiterzuleben. Das Thema an sich hätte wirklich Stoff für ein richtig gutes Buch geliefert. Und obwohl die Autorin damit teilweise ihre eigene Geschichte erzählt, schafft sie es nicht, mir ihre Trauerbewältigung näherzubringen. Ihre Protagonistin kreist sehr stark um sich selbst und ich fand sie eher anstrengend als sympathisch. Ihre und Aksels Familie tun ihr Möglichstes, sie zu unterstützen, aber meistens scheint sie es nicht zu schätzen zu wissen. Aber schon vorher empfand ich sie als unangenehm dominant und gleichzeitig fordernd und überfordert.
Auch sprachlich fand ich das Buch nicht unbedingt ansprechend. Der Verzicht auf wörtliche Rede und der distanzierte, fast sterile Stil passten für mich so gar nicht zum berührenden Thema. Sie schreibt tagebuch- oder briefähnlich, so, als erzähle sie ihrem verstorbenen Mann die Geschichte. Wie mit einem „Weißt du noch…?“ in den Kapiteln, in denen er dabei war und dann eher deskriptiv und geradlinig im „Jetzt“-Strang nach seinem Tod. Den Titel fand ich nicht sehr glücklich gewählt, vor allem, da die erwähnte E-Mail im Buch kaum eine Rolle spielt. Der Originaltitel „Låt oss hoppas på det bästa“ (lasst uns auf das Beste hoffen) passt wirklich besser, denn der Titel steht für Aufbruch, Zuversicht und Hoffnung, etwas, was im Buch in leisen Zwischentönen im großen Dunkel anklingt.
Insgesamt war das Buch für mich eher eine mühsame und enttäuschende Lektüre. Über weite Strecken zog es sich wie Kaugummi durch alltägliche, fast belanglose Situationen, Carolina steht so sehr im Mittelpunkt und kreist so extrem um sich selbst und ihr Selbstmitleid, dass neben ihr nichts und niemand anderes auch nur annähernd dreidimensional existieren kann. Außer ihr und Ivan gibt keine wirklichen Charaktere im Buch, die Nebenfiguren sind zwar vorhanden, haben zwar für Carolina nützliche Eigenschaften, aber nicht einmal Namen. So hat mich zwar der Gedanke hinter der Geschichte berührt, nicht aber die Geschichte selbst. Fertiggelesen habe ich sie eigentlich nur, weil ich auf eine Aufklärung hinsichtlich der Mail mit dem „Betreff: Falls ich sterbe“ gewartet habe – die leider aber nicht kam. Von mir daher zwei Sterne für die gute Idee, die gelungene Übersetzung und das clevere Konzept mit den gegenläufigen Handlungssträngen.

Bewertung vom 20.12.2021
Rache / Jane Hawk Bd.4
Koontz, Dean

Rache / Jane Hawk Bd.4


sehr gut

(Techno-)Arkadier versklaven mithilfe von Nanobots die Menschen, es gibt wilde Jagden und eine absolut geniale Heldin mit Muttergefühlen, die scheinbar über unbegrenzte intellektuelle und finanzielle Mittel verfügt. Klingt das bekannt? Für die Leser von Dean Koontz‘ Jane-Hawk-Serie ganz sicher. Denn auch der vierte Teil „Rache“ unterscheidet sich allerhöchstens marginal von seinen Vorgängern. Und darin liegt für mich das Problem.

Aber von vorn. Oder auch nicht. Denn wer „Suizid“, „Gehetzt“ und „Gefürchtet“ aus der Reihe kennt, der kennt im Prinzip auch das neue Buch. Travis, Janes fünfjähriger Sohn ist dieses Mal im Visier der Arkadier. Ihn wollen sie als Köder benutzen, um seine Mutter endlich ausschalten zu können, denn schließlich ist sie die einzige, die ihr perfides Spiel, die Menschheit zu versklaven und zu kontrollieren, durchschaut hat. Das Buch schließt nahtlos an den Vorgängerteil an, diese sollte man aus Verständnisgründen auch wirklich vorher gelesen haben. Auch einige bislang lose Enden finden ihre Auflösung. Mehr kann ich aber nicht wirklich über die Handlung sagen. Denn sie bringt schlicht nichts wirklich Neues oder Überraschendes. Der Schluss ist stimmig, für mich aber trotzdem unbefriedigend. Und mich beschlich das Gefühl, dass sich Dean Koontz mit dem Buch keinen Gefallen getan hat. Denn vermutlich hatten viele Leser:innen wie ich damit gerechnet, dass das Buch die Serie zum Abschluss bringt. Stattdessen kocht der Autor praktisch alles, was in den drei Teilen vorher passiert ist, noch einmal nur in anderer Besetzung neu auf. Das mag bei Eintöpfen funktionieren – bei Thrillerserien klappt das nur sehr mäßig, hier wirkt es ein bisschen wie ein Verlegenheitswerk um die Serie noch ein wenig künstlich in die Länge zu ziehen, weil sie sich gut verkauft. Allerdings macht es das Buch nicht zu einem schlechten Werk, ich hatte nur irgendwie vorher andere Erwartungen.

Sprachlich fand ich das Buch wie immer sehr gut zu lesen, es ist rasant und gut erzählt, die oft sehr langen Sätze sind gut formuliert, allerdings ist die Sprache teilweise extrem vulgär. Es gibt eine Fülle an Charakteren, die meisten davon sehr klischeehaft beschrieben, aber durchaus passend und glaubwürdig. Die Bösen (allen voran Egon Gottfrey) sind abgrundtief böse, unsympathisch, gerissen, vulgär und sadistisch. Die Guten sind clever und schlicht gut. Ich habe mich sehr über das Wiedersehen mit Luther Tillman gefreut. Mein Highlight ist aber Cornell Jasperson, der zwar auch wirklich voller autistischer Klischees steckt, mir aber sehr ans Herz gewachsen ist.

Die Geschichte wechselt zwischen Erzählungen aus der Sicht von Jane, den Arkadiern und Travis ab, somit entsteht auf eine ganz besondere Weise eine hohe Geschwindigkeit, die vor allem gegen Ende die Spannung sehr hochtreibt. Aber vieles wiederholt sich für mich ein bisschen zu oft, vor allem das „nichts ist real“ ging mir zunehmend auf die Nerven. Und ich sehe Bücher, in denen Menschen durch injizierte Nanobots versklavt werden, aufgrund der aktuellen Diskussion um angebliche Chips in Covid-Impfstoffen einfach sehr kritisch.

Sei’s drum. Es ist beileibe kein schlechtes Buch, allerdings auch kein wirklich gutes. Von mir gibt es daher 3,5 Sterne, aufgerundet auf vier. Und man darf gespannt sein, ob Teil 5 die Serie dann wirklich zum Abschluss bringen wird.

Bewertung vom 09.12.2021
Die falsche Zeugin
Slaughter, Karin

Die falsche Zeugin


ausgezeichnet

Karin Slaughters „stand-alone-Krimis“ waren für mich bislang eher Wundertüten, ich wusste vorher nie, was mich erwartet. Überraschenderweise hat der Thriller „Die falsche Zeugin“ mich, vor allem gegen Ende, wirklich begeistert. Aber von vorn.
Trotz einer Kindheit voller Gewalt und Vernachlässigung hat Leigh Collier es geschafft: sie ist eine erfolgreiche Anwältin, hat eine Tochter und ein etwas kompliziertes Verhältnis zu deren Vater – augenscheinlich führt sie ein gutbürgerliches Leben. Aber seit ihrer Jugend trägt sie ein Geheimnis mit sich herum, das plötzlich in ihrem Leben wieder extrem präsent wird, als sie die Verteidigung des mutmaßlichen Vergewaltigers Andrew übernehmen soll. Denn der ist für sie kein Unbekannter. Als Teenager waren Leigh und ihre Schwester Callie seine Babysitterinnen. Und sein Vater Buddy hat sie beide, vor allem aber Callie, bis zu seinem mysteriösen Verschwinden, missbraucht. Dadurch, dass Andrew (der als Kind Trevor hieß) wieder in ihrem Leben auftaucht, kommt eine Dynamik in Fahrt, die nicht nur Leigh in Gefahr bringt, sondern alle, die ihr wichtig sind und sie könnte weit mehr verlieren, als einen Gerichtsprozess.
Wer Karin Slaughters Thriller kennt, der weiß, worauf er sich einlässt. Derbe Sprache, extrem brutale Szenen und ein psychologisch clever gestricktes, aber kaum erträgliches düsteres Plot. Da unterscheidet sich „Die falsche Zeugin“ nicht von ihren anderen Büchern. Anders ist eigentlich nur, dass das Buch genau datiert ist, denn das Buch spielt 1998 und 2021, letzteres ist ganz klar an den Corona-Anspielungen zu erkennen. Masken, Desinfektionsmittel und social distancing sind sehr dominante Themen. Auch Coronaleugner-Geschwurbel („»Reiner Blödsinn.« Phil riss die Packung mit den Zähnen auf. »Ich hab noch nie jemanden getroffen, der daran gestorben ist.«“) fehlen ebenso wenig wie „Absolventen der Juristischen Fakultät Twitter“.
Sehr unterschiedliche Schwestern sind wohl ein Lieblingsthema von Karin Slaughter. Die kennt man beispielsweise aus „Die gute Tochter“ der „Grant County Serie“. Und auch in „Die falsche Zeugin“ sind die beiden Schwestern sehr verschieden, haben aber beide abgesehen von ihrer Vergangenheit auch andere Gemeinsamkeiten. Komplex sind die Charaktere im Buch allerdings wieder alle, wenn auch ab und zu sehr klischeehaft. Sympathisch sind nur die „Guten“, die „Bösen“ sind abgrundtief böse und verstecken ihre unsympathische Art hinter hübschen Gesichtern. Bezüglich der Charaktere fand ich vor allem die Beschreibung der drogensüchtigen Callie angenehm wertfrei und gelungen. Mein Lieblingscharakter ist allerdings der demente Tierarzt Dr. Jerry, bei dem Callie als Aushilfe arbeitet.
Karin Slaughters Stil ist trotz manchmal fragmentierter Sätze flüssig zu lesen, Fäkalsprache und derbe Schimpfwörter dürfen einen allerdings nicht stören. Der Spannungsbogen der Geschichte kam mir wie eine wilde Achterbahnfahrt mit ungewissem Ziel vor, die vor allem gegen Ende immer schneller wurde. Der Schluss war für mich eine Überraschung und rührte mich unerwartet. Die Übersetzung ist gelungen, die schonungslos brutale Sprache von Karin Slaughter ist sehr gut getroffen. Natürlich ist das Buch, wie von Karin Slaughter gewohnt, nichts für schwache Nerven und sensible Mägen. Gewollt oder nicht, wirft die Autorin für mich auch die ethisch-moralische Frage auf: wie weit würde ICH gehen, um die zu schützen, die mir lieb und teuer sind? Die Frage hallte auch noch nach dem Zuklappen des Buchs nach. Auch die psychologische Komponente der Namenswechsel fand ich spannend, denn alle Personen scheinen sich neu erfunden zu haben (oder es zumindest versucht zu haben): aus Trevor wurde Andrew, aus Calliope wird Callie, aus Harleigh Leigh und ihre Mutter Sandra nennt sich Phil. Und dennoch mussten alle feststellen, dass das ihre Vergangenheit nicht tilgen kann.
Mich hat das Buch wirklich überrascht und begeistert, ein echtes Highlight für Slaughter-Fans. Daher vergebe ich selbstverständlich fünf Stern

Bewertung vom 06.12.2021
Die andere Tochter (eBook, ePUB)
Golch, Dinah Marte

Die andere Tochter (eBook, ePUB)


gut

Was ich zu Dinah Marte Golchs Buch „Die andere Tochter“ ganz klar sagen kann ist, dass mich das Buch überrascht hat, vor allem der Schluss kam für mich völlig unerwartet. So ganz begeistert hat es mich, trotz der enormen Spannung gegen Schluss, dennoch nicht. Stellenweise fand ich die Lektüre sogar eher mühsam.
Aber von vorn.
Durch einen Arbeitsunfall, bei dem ihre Augen verätzt werden, verliert Antonia mit knapp 40 Jahren fast ihr Augenlicht. Ein Hornhaut-Transplantat rettet ihre Sehfähigkeit, aber nach der Operation ist Toni nicht mehr die alte. Sie hat verstörende Flashbacks aus Erinnerungen, die nicht ihre eigenen zu sein scheinen. Sie beschließt, die Familie der Spenderin kennenzulernen und öffnet damit die Büchse der Pandora. Denn nicht nur ihre eigenen Familienverhältnisse sind kompliziert. Auch die Familie der Spenderin hat Geheimnisse und irgendwie scheint die verstorbene Spenderin mit ihr in Kontakt zu treten.
Die Idee, die hinter dem Buch steckt, finde ich hervorragend. Aber es ist nicht nur eine einzige Idee, es ist eine Vielzahl davon und dadurch wirkte das Buch für mich ein bisschen sehr vollgepackt. Transplantation und die daraus resultierenden möglichen psychischen Probleme (Schuldgefühle, Gefühle von Dissoziation und Derealisation, Flashbacks), Probleme mit der Mutter, Alkoholismus des Vaters, Nazi-Raubkunst, Zweiter Weltkrieg und diverse Traumata – alles in einem Buch verpackt fand ich dann doch zu viel des Guten. Ab und an verrennt sich die Autorin meiner Ansicht nach ein bisschen in Klischees und Pauschalisierungen, vor allem bei der kurzen Ausführung zur Borderline-Störung. Und auch die esoterischen Ansätze kann ich nicht wirklich teilen. Zwar gelten die Augen als Spiegel der Seele, aber der schamanistische Ansatz der Seelenwanderung bei Hornhautverpflanzungen ist für mich schwierig. Die Augenhornhaut ist in der Hauptsache ein nicht durchblutetes Stück Gewebe, weshalb es für mich schwierig nachzuvollziehen ist, wieso sich Toni so sehr mit der Spenderin verbunden fühlt. Bei einem Herzen, einer Leber oder einer Niere hätte ich ihre (Re)Aktionen wohl eher verstanden.
So fand ich den Charakter der Protagonistin eher anstrengend und ihre Gedankengänge manchmal wirklich wirr. Allerdings fand ich keinen der Charaktere im Buch wirklich sympathisch, alle haben ihr Päckchen zu tragen, es wird viel gelogen und betrogen, die einen ziehen Strippen, die anderen sind die Marionetten – alles in allem ist es ein perfides Spiel, das wirklich erst gegen Ende seine für mich völlig überraschende Auflösung findet.
Den Stil der Autorin hingegen fand ich sehr angenehm und die Erzählung der Geschichte in zwei Zeitebenen UND aus zwei Perspektiven fand ich einen sehr gelungenen Kniff und das Zusammenlaufen der beiden Stränge am Ende fand ich absolut stimmig. So wird der eine Erzählstrang von Toni aus der Ich-Perspektive erzählt, der andere aus Sicht eines Erzähler.
Eigentlich hätte mich das Buch wirklich abholen müssen: toxische Eltern-Kind-Beziehungen, Traumata, Organspenden, Identitätskrisen und die Suche nach sich selbst – das sind genau meine Themen. Und dennoch lässt das Buch mich ziemlich enttäuscht zurück. Denn manchmal schien es mir bei der Lektüre, als habe die Autorin einfach zu viel gewollt und daher viel zu viel in das Buch gepackt. Bei der Dichte und Fülle der Themen hätte sie locker zwei, wenn nicht sogar drei Bücher daraus machen können. Das wirklich wichtige Thema Organspenden wird mir zu sehr auf die esoterische Komponente reduziert, als wirklich auf die tatsächlich möglichen psychischen Folgen einzugehen. Insgesamt wäre da wirklich mehr drin gewesen und daher vergebe ich für die gute Idee und den tollen Schreibstil der Autorin drei Sterne.

Bewertung vom 01.12.2021
Falladas letzte Liebe
Töteberg, Michael

Falladas letzte Liebe


ausgezeichnet

Meine ersten Erfahrungen mit „Erwachsenenliteratur“ sind untrennbar mit Hans Fallada verknüpft. „Kleiner Mann, was nun“ war der erste seiner Romane, die ich als junger Mensch gelesen habe. Daher war es für mich nach der Lektüre von „Meine lieben jungen Freunde: Briefe an die Kinder“ klar, dass ich auch Michael Tötebergs Buch „Falladas letzte Liebe“ unbedingt lesen wollte. Der Autor ist Fallada-Fachmann, das Buch aber keine Biografie, sondern vielmehr eine dokumentarische Erzählung über die letzten Lebensjahre des Autors. Herausgekommen ist für mich ein enorm lesenswertes Buch über den Schriftsteller, basierend auf seinen Werken, Briefen oder anderen Zeugnissen, bei denen sich der Autor nach eigenen Aussagen „eng an die überlieferten Dokumente gehalten, sich jedoch die Freiheit genommen, Dinge zusammenzuziehen und die Chronologie leicht zu verändern.“ Einerseits ist Falladas Geschichte nach 1945 eine Nachkriegsgeschichte wie viele andere, voller Not, Probleme mit der russischen Besatzung und Unsicherheit. Andererseits ist sie natürlich sehr besonders, denn nichts in Falladas Leben scheint „gewöhnlich“ gewesen zu sein.
Die letzten Lebensjahre teilte Hans Fallada nach der („ekligen“) Scheidung von seiner zweiten Frau Anne Issel (von ihm Suse genannt) 1944 mit seiner 28 Jahre jüngeren Ehefrau Ulla Losch. Nichts in Falladas Leben war einfach, so auch diese letzte Ehe nicht. Nach 20 rauschgiftfreien Jahren kommt er durch Ulla an Morphium und beide rutschen schnell tief in die Sucht, aus der sie sich auch durch zahlreiche Entziehungskuren nicht befreien können. So liebevoll die Beziehung zwischen den beiden gewesen sein mag – für Fallada begann damit wohl endgültig der Anfang vom Ende („Ulla war sein Glück, aber – das ahnte er von Anfang an – auch sein Unglück“) und eine Spirale aus Drogen, Entzug, Euphorie, Alkohol, Todessehnsucht, finanziellen Problemen („Ulla war groß im Geldausgeben.“, was zuletzt zu zigtausend Mark Schulden führte), Schaffensperioden, Schaffenskrisen, Entzug und immer wieder Rückfällen in die Sucht. Dazu Streitigkeiten mit der ex-Frau und Probleme mit der russischen Besatzung (er musste als Bürgermeister in Feldberg fungieren, ein Amt, das er hasste und dessen Ausübung ihn bis zum Zusammenbruch quälte). Da er während der Zeit des Nationalsozialismus als reiner Unterhaltungsschriftsteller sehr erfolgreich war, hatte er zudem große Schwierigkeiten, einen Verlag zu finden („Sein Ruf in der literarischen Welt als anerkannter Schriftsteller war ruiniert, die Verhältnisse hatten ihn zu einem Produzenten von Schundliteratur gemacht.“). Aber er musste ja auch erst einmal etwas Verlegenswertes zu Papier bringen. Einen Verlag fand er dann, nachdem er Johannes Bechers Kulturbund beigetreten war („Becher glaubte an den Autor Fallada. Mehr als dieser an sich selbst. Das tat gut.“)
Michael Töteberg schildert den äußeren Kampf Falladas (um seine Gesundheit, sein Leben, gegen die Bürokratie) und die inneren Kämpfe (gegen Alpträume, Todessehnsucht und Schreibblockaden), für einen neuen, letzten großen Fallada-Roman packend und berührend. Denn der Leser weiß ja, wie Falladas Leben endete – und trotzdem machte es mich beim Lesen betroffen und traurig, dass er die Veröffentlichung seines letzten großen Wurfs „Jeder stirbt für sich allein“ nicht mehr erlebt hat. Der Wettlauf gegen Deadlines für Veröffentlichungen und die ständige Jagd nach Morphium, zusammen mit Ausrastern der „gequälten Künstlerseele“, machten das Buch für mich stellenweise sogar spannend zu lesen. Dazu einerseits Fallada als Kindernarr und Familienmensch und auf der anderen Seite eine eher vergnügungssüchtige junge Ehefrau, die sich dem Vernehmen nach eher aufführte wie eine weitere Tochter – ja, das Buch brachte mir Hans Fallada näher. Einen zwiespältigen, zerrissenen Menschen, getrieben von Sucht und Sehnsucht.
Daher vergebe ich für dieses äußerst gelungene Buch fünf Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.