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Insgesamt 577 Bewertungen
Bewertung vom 11.05.2008
Tod eines Handlungsreisenden
Miller, Arthur

Tod eines Handlungsreisenden


ausgezeichnet

Mag das Stück heutzutage angesichts von Internet, Videokonferenzen und globalen, gesichtslosen Geschäften antiquiert erscheinen, Handlungsreisende allmählich aussterben und sich höchstens als Klinkenputzer bemerkbar machen, trägt es jedoch jenen Kern in sich, der sich zu allen Zeiten bemerkbar macht: Das Scheitern. Die Fassade, die Willy Loman im Alter um sich errichtet hat, dieses optimistische Lachen, ist umso brüchiger, je mehr er selber an sich glauben will. Er verbirgt seinen Niedergang nicht nur vor der Familie, er puscht seine Kraft, seine Zuversicht auch vor sich selbst auf. Sind wir nicht alle unbesiegbar, stehen wir nicht alle erst am Anfang? Es bleiben noch so viele Jahre. In Millers amerikanischen Zeiten muss man an sein Glück glauben, es zwingen wollen. Sei es auch durch ein tragisches Ende. Millers Stück bezieht seine Stärke nicht nur aus dem Nachzeichnen eines alternden Geschäftslebens, es zeigt darüber hinaus, die Spuren, die ein solches Leben in der nächsten Generation hinterlassen, eine Ehe, die einzig und allein auf das Fortkommen des Ehemanns ausgerichtet ist. Ohne jegliches Pathos entwickelt Miller die Karriere des unteren Mittelstands, der zwar ein Haus, eine Lebensversicherung, eine Familie besitzt, der sich aber nicht sicher sein darf, dass all das auch morgen noch so ist. Wie leicht man aus dem sozialen Netz fallen kann, haben viele unter Bush, unter Hartz IV zu spüren bekommen, obwohl sie sich ein solches Schicksal für sich nie haben vorstellen können. Wir sind nur das, was wir sind, solange wir Arbeit haben. Somit tragen wir alle den Handlungsreisenden in uns.
Polar aus Aachen

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.05.2008
Menschen im Hotel
Baum, Vicki

Menschen im Hotel


gut

Mit feiner Feder ist dieser Roman gestrickt. Er zeigt Menschen vom Gauner, über den Unternehmer, zum kleinen Angestellten am Rande des Nervenzusammenbruchs, zusammengepfercht für eine kurze Zeit in einem Hotel. Ihre Wege kreuzen sich. Sie lernen sich besser kennen, als es im normalen Alltag der Fall wäre. Doch sie reißen sich nicht gegenseitig die Masken herab, sie hören einander zu. Allem haftet der zuvorkommende Ton Vicki Baums an. Ein Klang, dem niemand ernstlich böse sein kann, der auf das Gute abzielt, der nachweist, wie sehr jeder sein Leben in den Griff zu kommen versucht. Am Ende stirbt einer von ihnen. Die Verlockung, es zu vertuschen ist groß, doch niemand schafft es, sich soweit zu verstellen, dass er mit seiner Lüge durchkommt. Die Menschen sind, wie sie sind. Verzweifelt, sie hoffen. Sie machen das Beste draus, und manchmal erwischen sie sich gegenseitig in einem Moment, wo sie ehrlich sind. Was als Abrechnung angedacht ist, ob man sich das Leben nehmen will oder unter falscher Voraussetzung ein Zimmer bekommt, ob man ein Unternehmen zu retten versucht, die Perlen doch nicht stiehlt, endet darin, dass man sein eigenes Leben zu entschuldigen sucht. Einen Roman, der nicht verstören will, der Schicksale nachzeichnet. Eine Autorin, die ihren Figuren Nachsicht zukommen läßt. Die Zeit ist genau eingefangen, der Schrecken darf nur die Kulissen stellen.
Polar aus Aachen

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.05.2008
Leonce und Lena
Büchner, Georg

Leonce und Lena


ausgezeichnet

Eine unglückliche Liebe, die nichts voneinander weiß, sich auf die Flucht begibt, um zwangsverheiratet zu werden und tatsächlich festzustellen, dass es die Richtigen getroffen hat. Im Reiche Popo regiert die Posse. Im Reiche Pipi sieht es nicht besser aus. Dazwischen: die Regierung, ein absurder Staatsrath. Auch die Geistlichkeit in Gestalt des Hofpredigers kommt nicht glimpflich davon. Erfahren, weise erscheint nur die zweite Reihe zu sein. Valerio, die Gouvernante, Rosetta wissen, wen sie vor sich haben und bedienen sich ihrer. Büchner hat ein groteskes Bild eines Hofes gezeichnet. Mit seiner wunderbaren Sprache gelingt es ihm ein Märchen zu erzählen, dass beinah gleichzeitig mit dem Woyzeck entsteht. Hier wie da spiegelt er die Gesellschaft, setzt sie der Lächerlichkeit aus. Doch im Gegensatz zum Woyzeck, wo es tödlich endet, geht Leonce und Lena versöhnlich aus. Bei Shakespeare trinken Romeo und Julia Gift. Das ist auch eine Tragödie. Bei Büchner sitzt das Gift im Amüsement. Die Liebenden finden wie Gefangene zu ihrem Glück, müssen sich von nun an Regeln zu beugen. Trotzdem läßt Büchner uns die Hoffnung, dass sie es vielleicht eines Tages anders machen werden.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 10.05.2008
Das Schloß
Kafka, Franz

Das Schloß


ausgezeichnet

Viel ist über die versteckten Ängste bei Franz Kafka geschrieben worden. Über Szenarien der Hoffnungslosigkeit. Über Unschuld angesichts einer überwältigenden Macht, die einem den Zutritt verwehrt. Das Schloss erscheint auf den ersten Blick freundlich mit demjenigen umzugehen, der sich Zugang erhofft. Es ist nur eine Frage der Zeit. Es ist nicht das apokalyptische Bild, das dem Leser aus anderen Geschichten Kafkas entgegenscheint. Geschieht so was nicht immer wieder? Man erhält einen Auftrag, ist nicht imstande, ihn auszuführen. Und die Schuld liegt nicht bei einem selbst. Oder? Ist nicht die Fremdenfeindlichkeit an allem schuld? Ist K. nicht das naive Opfer? Irgendwo zwischen den Zeilen setzen sich die Zweifel bei K. fest. Und dieser schleichende, kaum wahrnehmbare Verlust ist das Herzstück dieses Romans. Wann endet die Hoffnung? Ist man schuldig, obwohl man gar nicht weiß, wann man sich schuldig gemacht haben könnte? Wer richtet über einen? Kafka hat es mit seinem Werk geschafft, die immer wieder auftauchenden Fragen der Menschheit, die sie mit Religion, mit Philiospie, mit Nihilismus zu begegnen sucht, ein alltägliches Gesicht zu verleihen. Das ist faszinierend zu lesen. Zumal Kafka trotz aller Lähmung, die K. befällt, den Leser solange festhält, bis er zusammen mit der Geschichte strandet. Kafka zu lesen, bedeutet, sich selbst zu begegnen. Der Roman wirft Fragen auf, denen man sich nicht entziehen kann. Deswegen wird er immer wieder gelesen. In jeder Generation.
Polar aus Aachen

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.05.2008
Maigret und Pietr der Lette
Simenon, Georges

Maigret und Pietr der Lette


gut

Angeblich hat Simenon diesen Roman in vier bis fünf Tagen geschrieben. Dieses atemberaubende Arbeitstempo soll er auch im späteren Leben beibehalten haben. Pietr der Lette merkt man den Erstling an. Die Verschwörung ist International, der Mord geschieht im Zug, die Verwechslung liegt bald auf der Hand und die betulichen Figuren um Kommissar Maigret müssen sich allesamt einer Länder übergreifenden kriminellen Organisation stellen, deren Aufbau allzu konstruiert erscheint. Kommissar Maigret, der ruhige, Pfeifen rauchende Vertreter seiner Zunft, wird sogar angeschossen. Noch zeigt sich nicht die ausgefeilte psychologische Raffinesse späterer Romane, Fahnder wie Täter stecken in der Entwicklung, auch wenn Maigret den Tod eines seiner Mitarbeiter fast nicht überwindet. Trotzdem weist sich Simenon mit diesem Fall bereits als einen Könner seines Fachs aus und versteht es, Spannung aufzubauen. Dass der Fall am Ende umständlich erklärt wird, mag an den Unwegsamkeiten eines Erstlings liegen. Maigret weist bereits einige jener Schrullen auf, die ihn später seinen Lesern so sehr ans Herz legen. Die Aufklärung seiner Fälle wird er hier wie in Zukunft vor allem seiner Intuition, weniger den intellektuellen Schlussfolgerungen á la Sherlock Holmes verdanken.
Polar aus Aachen

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.05.2008
Revolutionen
LeClézio, Jean M

Revolutionen


sehr gut

Revolutionen können privater wie öffentlicher Natur sein, sie können ein ganzes Land verändern oder eine Diktatur heraufbeschwören. Zumeist wird alles Festgefahrene mit sich gerissen. Somit ist der Titel von Le Clézios Roman Programm. Jean Marros Familie lebt sogleich in der Gestalt des Jungen Jean in der Gegenwart wie in der Vergangenheit. Sie eint vor allem eins: die Sehnsucht. Von der Französischen Revolution bis zum Algerienkrieg zeigt Le Clezio die französische Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit sich selbst, mitten drin als Kern eine Familie, die auswandert, wiederkehrt, erneut auf Mauritius das Glück sucht, das sie in ihrer Heimat nicht findet. Le Clezio ist ein Geschichtenerzähler, findet für seine Stationen poetische Orte. Manchmal verlaufen die Erzählstränge in diesem Roman allzu sehr nebeneinander her und werden nur davon zusammengehalten, dass der Leser weiß, dass Le Clézio eine über Jahrhunderte gespannte Familiensaga entwirft. In seinem Roman Ein fliehender Stern sind die unterschiedlichen Lebenswege zeitlich näher beieinander gelegen, was ihm größere Gestaltungsfreiheit gibt. In Revolutionen bürdet Le Clézio sich gleich mehrere Kontinente auf, die seinem eigenen Lebensweg entsprechen, so dass der Anspruch die Geschichte stellenweise belastet. Trotzdem bleibt es ein Roman von J.M.G. Le Clézio, der hier wie in vielen seiner Bücher eines versucht, den Leser mit seiner Sprache einzufangen.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 03.05.2008
Hinter dem Weizenfeld
Lively, Penelope

Hinter dem Weizenfeld


gut

Schon manch einer hat geglaubt, er brauche sich nur vor allem in Sicherheit zu bringen, sich zurückzuziehen, um sich vor den Zumutungen der Welt zu schützen. Nicht selten begab er sich damit genau in jene Gefahr, die er zu meiden trachtete. Wenn Kinder dann noch dazu kommen, man ihr bestes will, steht man schon mit einem Fuß auf verlorenem Posten. Penelope Lively beschreibt in ihrem Roman, die gestörte Idylle einer Mutter, die sich aus dem Leben ihrer Tochter heraushalten sollte, es aber nicht kann, ohne nicht ihren Seelenfrieden zu verlieren. Sie erzählt von Eifersucht, Mutter-Tochter-Krisen, von Erfahrungen, die einem das Leben zumutet. Dabei ist ein Roman entstanden, der leicht zu lesen ist und einen nicht mit letztendlichen Ratschlägen behelligt. Eine Sommerlektüre.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 02.05.2008
Mein Leben
Clinton, Bill

Mein Leben


sehr gut

Bill Clintons Autobiographie verlangt einem viel ab. Auf über vierzehnhundert Seiten beschreibt er sein Leben, das wenig Raum für Selbstzweifel bietet. Trotzdem ist es ein faszinierendes Bild von einem Politiker, zumal er sich selbst beschreibt und man stellenweise sein Bemühen bemerkt, es zu beschönigen. Wer heute den amerikanischen Wahlkampf, die Schlacht zwischen Obama und seiner Clintons Frau Hillary beobachtet, wird die Auseinandersetzung besser verstehen, wenn er Einsicht in das politische System Amerikas hat, das Bill Clinton zeichnet. Politik bedeutet nicht wie bei uns: die Partei, Politik ist dort personalisiert. Und so zeichnet sich Bill Clintons Leben vor allem durch eines aus: Er hat sich immer zur Wahl stellen, der Öffentlichkeit ein Bild von sich bieten müssen. Über die Jahre kristallisiert sich dabei auch heraus, wie sich der Wahlkampf in den USA verändert hat, wie die Schlammschlachten medial immer mehr an Bedeutung gewannen. Egal ob die Inhalte der Wahrheit entsprachen. Lügen wie Unterstellungen wirken solange, bis sie widerlegt sind, das kann dauern. Und plötzlich hat sich das Bild eines Politikers verfestigt. Man begegnet diesen Angriffen am besten mit eigenen Lügen und Unterstellungen. Wer sich also 1400 Seiten und mehr antun will, darf nicht enttäuscht darüber sein, dass die Schatten auf Clintons Präsidentschaft, Whitewater oder Lewinsky, mit dem Blick eines in sich gekehrt Büßers oder auch Überführten betrachtetet werden, der alle für ihn sprechenden Argumente ins Feld führt, die rechte Verschwörung gegen ihn nachweist. Das Bild von Amerika wird man danach wohl aufpolieren wollen. Manchmal funktioniert das System des Rechtsstaats dort drüben wirklich gut, manchmal auch nicht. Und Politiker haben vor allem mit einem zu kämpfen: Mit schlechten Umfragen.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 02.05.2008
Balzac
Willms, Johannes

Balzac


gut

Nach seiner Napoleon-Biographie widmet sich Johannes Willms zum zweiten Mal einem Franzosen. Auch diesmal gelingt es ihm, die Zeit und ihre Umstände treffend einzufangen. Wir lernen Balzac vor allem in seinen Nöten kennen, die ihn in einer schweren Kindheit, wie als armen Poeten in einer kalten Dachgeschosswohnung zeigt. Sein manischer Arbeitseifer ist seinem Überlebens-, wie Geltungswillen zuzuschreiben. Akribisch weist Willms die einzelnen Schritt aus, begründet die Verschwendungssucht des Erfolgreichen, reiht seinen Schulden auf, seine Phantasien, die ihn stets aller Sorgen entledigen sollten, nennt Affären wie Niederlagen und zeigt ihn im Kampf um eine späte Ehe mit einer ukrainischen Adligen. Was fehlt, ist das literarische Werk, der Zyklus La Comédie humaine. Er taucht eher am Rand auf, findet Beleg als biographischen Spiegel. Willms lenkt sein Augenmerk vor allem auf den Privatmenschen Balzac. Natürlich ist ein so vielbändiges Werk wie Die menschliche Komödie nicht in seiner Gänze vertretbar, aber den Menschen Balzac machte vor allem sein schriftstellerisches Leben aus. Willms widmet sich lieber den Goldverzierungen, den überbordenden Ausstattungen der Häuser als Balzacs schrifstellerischen Kunst, seiner Zeit ein Denkmal zu setzen. Die Verschwendung, die Schulden wiederholen sich mit der Zeit, ohne einen weiteren Aufschluss über Balzac zu bieten. Schillernder wäre es gewesen, Balzac auf beiden Seiten seines Lebens zu zeigen: in der Realität und der Phantasie.
Polar aus Aachen

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.