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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 820 Bewertungen
Bewertung vom 08.03.2021
Predigt auf den Untergang Roms
Ferrari, Jérôme

Predigt auf den Untergang Roms


gut

Ein kühnes Unterfangen

Mit dem Roman «Predigt auf den Untergang Roms» hatte Jérôme Ferrari 2012 seinen Durchbruch als Schriftsteller, er gewann den Prix Goncourt, die wichtigste literarische Auszeichnung Frankreichs. Wie in seinen anderen Werken geht es auch hier um das Scheitern, schon der Titel spielt ja auf die Warnung von Augustinus an, der von der Überheblichkeit der Römer und vom Untergang des römischen Reiches gepredigt hat. Der Autor nutzt sein Wissen als Philosophie-Lehrer und seine Milieu-Kenntnisse, um die hehren Gedanken des Kirchenvaters vom Werden und Vergehen auf eine Bar in einem korsischen Dorf anzuwenden, Religion und Philosophie also der für eine Bar spezifischen Männergier nach Alkohol und Frauen gegenüber zu stellen. Ein kühnes Unterfangen!

Philosophie-Student Matthieu, ein Leibnitz-Apologet, und sein aus Sardinien stammender Freund Libero, leidenschaftlicher Augustinus-Spezialist, übernehmen eine schlecht gehende Dorfkneipe im Landesinneren von Korsika, an der schon viele Pächter ökonomisch gescheitert sind. Mit kreativen Ideen in eine Bar verwandelt, haben sie dort sehr schnell großen Erfolg, zu dem vor allem vier junge, attraktive Frauen beitragen, die sie als Kellnerinnen eingestellt haben. Von weit her kommt nun Kundschaft angefahren, das Geschäft floriert. Und auch ein Gitarrist belebt mit seinem - leider unüberhörbar stümperhaften - Spiel gleichwohl die Tristesse der ehemaligen Kneipe. Besonders die kesse Annie lockt die Männer an, sie küsst jeden männlichen Gast zur Begrüßung und fasst ihm dabei wie selbstverständlich zwischen die Beine. Schon vor der Neueröffnung lautete der gutgemeinte Rat eines in der Branche erfahrenen Freundes: «Und vor allem dürft ihr die Kellnerinnen nicht ficken». Irgendwann aber hält sich Matthieu nicht mehr daran. Damit läutet er dann letztendlich den Niedergang ein, Annie nimmt Geld aus der Kasse, es gibt Eifersüchteleien, das bisher so gute Betriebsklima leidet. Während Leibnitz-Jünger Matthieu sich in der besten aller Welten wähnt, in der Milch und Honig fließen, ekelt sich der von Augustinus intellektuell geprägte Libero inzwischen geradezu vor dem zwielichtigen Milieu, in das er da hineingeraten ist, er will aussteigen.

Den einzelnen Kapiteln seines Buches hat der Autor jeweils hochtrabende, tief religiöse Zitate von Augustinus vorangestellt, das letzte Kapitel ist sogar ganz dem Kirchenvater gewidmet. Das in Alltagssprache der Jetztzeit geschilderte, eher derbe Geschehen steht in eklatantem Gegensatz dazu. Als originär weltliche Bühne dient dabei die Bar mit ihrem ständigen Kommen und Gehen, mit all den zweifelhaften Figuren, die derartige Orte so gerne bevölkern. Wohl um den Untergang des französischen Kolonialreichs als weiteren Beleg seiner Thesen mit einzubinden, hat Ferrari auch noch eine Passage über den Großvater von Matthieu eingefügt, der diese Zeit als Soldat und späterer Diplomat miterlebt hat. Und seine Schwester, die erzählerisch den Außenblick auf Matthieu repräsentiert, ist an archäologischen Grabungen in Hippo Regius beteiligt, dem einstigen Bischofssitz von Augustinus. Der schmale Band mündet mit seiner hoch verdichteten Erzählweise in dessen These ein, dass Werden und Vergehen auf dieser Welt unterliege einem ewigen Kreislauf, in dem sich alles wiederholt und nichts wirklich verschwindet, weil die geistige Welt ja ewig bestehen bleibe.

Nach der Lektüre stellen sich Zweifel ein, ob das Gegeneinanderstellen von philosophischer Hochkultur aus den «Sermones» des Augustinus und der schnöden Underground-Szenerie einer korsischen Bar ein gelungenes Verfahren ist, den Impetus des Autors zu verdeutlichen. Denn eine wirklich tragfähige Verbindung hat er nicht herstellen können, die Augustinus-Thematik wird der mitreißend bunten, korsischen Geschichte regelrecht aufgepfropft. Stilistisch störend sind zudem die prätentiös wirkenden Satzkonstruktionen, die das Lesen dieses ambivalenten Romans schwierig machen. Das Lesen aber - lohnt sich trotzdem!

Bewertung vom 05.03.2021
Treffen sich zwei
Hanika, Iris

Treffen sich zwei


schlecht

Love it or leave it

Mit dem deskriptiven Titel «Treffen sich zwei» hat Iris Hanika die Thematik ihres Romans bereits angedeutet, es geht um Zweisamkeit in konventioneller Form, in der heterosexuellen also. Ein ‹weites Feld› mithin, und ein reichlich beackertes zugleich, die Zahl die Liebesromane ist ja Legion. Umso kühner also der Versuch der Autorin, diesem abgedroschenen Thema, jenseits der Herz/Schmerz-Trivialität, neue Facetten abgewinnen zu wollen.

Die Zwei, die sich da treffen, sind bereits über vierzig, beide sind mit ihren diversen Partnerschaften jeweils grandios gescheitert. Senta arbeitet in einer nur nachmittags geöffneten Bilder-Galerie, die ein kunstbesessener Notar und Rechtsanwalt sich quasi als Hobby leistet. In einer Bar trifft sie auf Thomas, beide schauen sich wie vom Blitz getroffen in die Augen, sie fühlen sich unwiderstehlich zueinander hingezogen. Kaum haben sie ein paar Sätze gewechselt, da verlassen sie auch schon gemeinsam die Bar und landen wie selbstverständlich in Sentas Bett, die Anziehungskräfte sind einfach übermächtig. Als Thomas sie morgens überhastet verlässt, weil er zur Arbeit muss, sagt er ihr, er würde sie anrufen. Senta merkt, dass sie von ihm nichts weiß, außer seinem Vornamen und dass er IT-Systemberater ist. Sie hat ihm nicht mal ihre Telefonnummer gegeben, so sehr waren sie in ihrem Sexrausch versunken. Nach zwölf ähnlich wilden Tagen kommt es zum Eklat, sie betrinkt sich in der Bar, weil er sich heute wegen einer geschäftlichen Verpflichtung nicht gemeldet hatte. Beim verzweifelten Grübeln wird ihr klar, dass Thomas ja überhaupt kein Mann zum Heiraten ist. Als er sie spätabends aber doch noch anruft, ist sie bereits stockbetrunken, und als er dann in die Bar kommt, um sie abzuholen, macht sie ihm vor allen Gästen eine Szene. Sie beschuldigt ihn, er würde sie ja sexuell nur ausnutzen, sie hingegen würde nicht mal zum Orgasmus kommen mit ihm. Alles vorbei also?

Beide haben ihre große Liebe gesucht und, überstrahlt von der gierig genossenen Lust, scheinbar auch gefunden, aber es ist ihnen nicht gelungen, dieses Glück dann auch zu bewahren. In ihrem Katzenjammer bricht die hysterische Senta auch noch einen Streit mit ihrer besten Freundin vom Zaun, die, anders als sie, ihren Mann fürs Leben gefunden hat, glücklich verheiratet ist und Kinder hat. Senta, die nah am Wasser gebaut hat, ist tagelang in Tränen aufgelöst vor Verzweiflung. Thomas ist entsetzt und auch sehr wütend, dass sie ihn in der Öffentlichkeit derart blamiert hat. Ein alles andere als überraschender Plot, der garniert ist mit allerlei peripheren Schilderungen aus dem Stadtteil Berlin-Kreuzberg, in dem die Handlung angesiedelt ist. In epischer Breite wird da zum Beispiel von der Geschichte des Landwehrkanals berichtet, an dem die Zwei gerne spazieren gehen. In einer Art Jobbeschreibung wird die Tätigkeit eines IT-Systemberaters erklärt und die spezielle Konzeption der Software, mit der Thomas so überaus erfolgreich arbeitet.

Stilistisch sind in diesem Roman vom Scheitern die verschiedensten Erzählformen vertreten, journalistisch nüchterne Beschreibungen, essayistische Abhandlungen, Internet-Recherche, Passagen in Form des Dramas mit szenischen Anmerkungen. Allzu häufig wird auch aus englischen Songtexten zitiert, die kaum jemandem etwas sagen, der sich nicht bestens in dieser Szene auskennt, Gleiches gilt für den mit seiner Penthesilea zitierten Kleist. So ganz ohne Pathos geht es also nicht ab in diesem Roman, obwohl all das unübersehbar ironisch unterlegt ist, ein Großstadt-Märchen mit dem (unheilvollen?) Credo «Wir schaffen das». Störend sind auch all die satztechnischen Mätzchen, mit denen zum Teil Seiten geschunden werden, die anbiedernd postmodern erscheinen, ohne erkennbar etwas zu bewirken. ‹Love it or leave it› ist hier das Motto für den Leser, der Roman, dessen Protagonisten kaum Empathie zu wecken vermögen, wirkt jedenfalls stark polarisierend. Sein Unterhaltungswert aber tendiert gegen Null.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.03.2021
Nach Hause schwimmen
Lappert, Rolf

Nach Hause schwimmen


gut

Alles andere als literarisch frigid

Mit seinem fünften Roman «Nach Hause schwimmen» ist der Schweizer Schriftsteller Rolf Lappert von der Jury des Frankfurter Buchpreises 2008 auf die Longlist gewählt worden, er wurde damit erstmals einem größeren Lesepublikum bekannt. Das Werk wurde im gleichen Jahr auch mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet, es ist sein bisher größter Erfolg. Auch sieben Jahre später war er mit «Über den Winter» Finalist in Frankfurt, thematisch verwandt sind beide Romane mit ihren wegen psychischer Defekte am Leben scheiternden Protagonisten.

Das Unglück verfolgt Wilbur, seit er geboren wurde. Seine Mutter stirbt bei der Frühgeburt, der Vater verschwindet spurlos, das Kind kommt ins Waisenhaus. Bis seine irischen Großeltern ihn zu sich holen und die Großmutter den kleinwüchsigen Jungen umsorgt. Als sie bei einem Unfall stirbt, kommt er zu puristischen Pflegeeltern, die ihn so gängeln, dass er irgendwann Feuer legt und in der Besserungsanstalt landet. Bis ihn dort schließlich Alice befreit, die nette Schwester, die ihn schon im Säuglingsheim geliebt hat und ihn nun adoptiert und nach Amerika holt. Was Wilbur widerfährt wird in einem hoch komprimierten Plot erzählt, der sich als ein wahres Füllhorn an Erlebnissen, Schicksalsschlägen und überraschenden Wendungen erweist. Orte der Handlung sind Amerika, Irland und Schweden, Erzählzeit sind die Jahre seit der Geburt Wilburs 1980 bis zu seinem zwanzigsten Geburtstag. Geradezu verschwenderisch wird da vom Ertrinken erzählt, vom Feuerlegen, von Suizidversuchen, von kriminellen Machenschaften in der Besserungsanstalt, vom Alkoholismus, sogar ein Goldschatz fehlt da nicht. Wilburs Inselbegabung lässt ihn mühelos zum besten Schüler werden, zum überaus talentierten Cellospieler zudem, aber auch zum begeisterten Buchleser, Bibliothekar, Cineasten und Verfasser eines dicken Buches über sein Schauspieler-Idol Bruce Willis, in dessen Actionthrillern voller Gewaltexzessen er sich begeistert mit dem Helden identifiziert.

Psychologisch klar nachvollziehbar wird in diesem Roman die Leidens-Geschichte eines körperlich gehandicapten Außenseiters geschildert. Dessen Wut gegen die Welt sowie seine partiell auftretende, emotionale Bindungs-Unfähigkeit stürzen ihn immer wieder in größte Probleme und lösen irrationale, verzweifelte Reaktionen aus. Ein stabiler Platz in der Gesellschaft scheint somit unerreichbar für den Hochbegabten, der sich fleißig und erstaunlich talentiert mit niederen Gelegenheits-Arbeiten weit unter seinem Niveau durchschlägt. Gleich zu Beginn treffen wir den zwanzigjährigen, lebensmüden Protagonisten in einer psychiatrischen Anstalt. Er erzählt aus der Ich-Perspektive, warum er der Welt so glücklos abhanden gekommen ist. «Glück ist dein Lieblings-Song aus dem Radio eines Autos, das an dir vorbeirast und in einen Abgrund stürzt», erklärt er resigniert. Parallel wird in einem zweiten Handlungsstrang, abwechselnd und zeitlich gegenläufig, auktorial von Wilburs Kindheit erzählt, bis die beiden Handlungs-Stränge am Ende zusammentreffen.

Dieser unterhaltsame Entwicklungs-Roman übertreibt es allerdings mit seinem extrem vielschichtigen Plot, in dem eine spannende Geschichte atemlos Schlag auf Schlag vorangetrieben wird, - weniger wäre da mehr gewesen. Als wahre Stärke erweist sich hingegen die bewundernswerte Fähigkeit des Autors, seine vielen Charaktere mit allen ihren schrulligen Eigenarten mit wenigen Worten anschaulich zu beschreiben, in ein paar Sätzen ihr ganzes Leben zu erzählen. Und dies auch bei Nebenfiguren, von jedem hat man ganz schnell erfasst, was für einen Menschen man vor sich hat. Aus den Figuren heraus werden stimmige Bilder erzeugt, entwickelt sich das turbulente Geschehen in diesem Pageturner. Erzählt wird stilistisch unprätentiös, angenehm lesbar und sprachlich durchaus kreativ, er sei «kulinarisch frigid», erklärt Wilbur beispielsweise mal. Wer nicht ‹literarisch frigid› ist, wird diesen komplexen Roman lieben.

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Bewertung vom 28.02.2021
Die morawische Nacht
Handke, Peter

Die morawische Nacht


gut

Bilanz eines verbiesterten Dichterlebens

In «Die morawische Nacht» erzählt Peter Handke von der selbstkritischen Lebensbilanz eines namenlosen Ex-Schriftstellers, in der sich zwar etliche Parallelen zum Autor zeigen, die aber kaum autobiografisch gedeutet werden können. Der Buchtitel bereits weist mit der Morava als Nebenfluss der Donau auf den Balkan hin, und so ist denn der Ort der Rahmenhandlung tatsächlich ein Hausboot, auf das jener Schriftsteller zu später Stunde sieben Freunde einlädt, um ihnen, da er ja nicht mehr schreibt, nun eben mündlich von seiner gerade erst beendeten, langen Reise durch Europa zu berichten.

Überraschend befindet sich auch eine, im allegorischen Sinn schöne Frau an Bord, die bei der Bewirtung hilft, deren Beziehung zu dem als frauenfeindlich geltenden Gastgeber aber im Dunkeln bleibt. Im Laufe der Nacht erzählt nun der «ehemalige Schriftsteller» den einzeln, an getrennte Tische platzierten Freunden, alles Männer natürlich, von seiner Reise, auf der er auch einige der Zuhörer getroffen hat. Die lösen ihn dann ihrerseits zeitweise als Erzähler ab und berichten von dem gemeinsam Erlebten. Einer der Gäste unterbricht immer wieder mal als vorlauter Zwischenrufer den Erzählfluss und stellt Fragen zu unklar gebliebenen Details. Die mit einem klapprigen, uralten Bus der österreichischen Post begonnene Reise aus der serbischen Enklave, wo das Hausboot vor Anker liegt, führt zunächst nach Belgrad. Von dort geht es weiter auf die fiktive Adriainsel Cordura, mutmaßlich Krk, wo Handke einst seinen ersten Roman geschrieben hatte. Nächste Station ist eine gottverlassene Hochebene in Spanien, wo ein Kongress über Lärm und Geräusche stattfindet. In Wien gerät der Erzähler zufällig in ein nicht minder merkwürdiges ‹Festival der Mundorgelspieler› aus der ganzen Welt, danach besucht er das Grab seines Vaters im Harz und fährt nach Kärnten, seiner als «Stammgegend» bezeichneten Heimat.

Die Rahmenhandlung dieser nicht nur von der Textmasse her üppigen Erzählung dient als Vehikel für eine großangelegte, radikale Selbstprüfung des «ehemaligen Autors» in Form einer «imaginierten Reportage». Voller Ironie werden dabei in ebenso lebendigen wie präzisen Bildern, oft phantastisch anmutend, markante Figuren gezeichnet, geheimnisvolle Orte beschrieben, wundersame Begebnisse geschildert. Mit vielen Fragezeichen durchsetzt ist diese handketypisch kleinteilige Prosa in Satzschnipsel zerhackt, üppig mäandrierend und immer wieder durch Ergänzungen, Zweifel, Klarstellungen unterbrochen, meist in Klammern gesetzt. Dieses Buch ist somit auch eine fragmentarische Erzählung über das Erzählen selbst, versinnbildlicht durch die ständigen Korrekturen des bereits Gesagten als untrennbar zum Prozess des Schreibens gehörig. Und bei diesem Prozess kann eine Frau ja nur stören. Schriftsteller zu sein und Liebhaber in einer Person, das erscheint somit völlig unmöglich. Es ist zumindest kontraproduktiv und kann im schlimmsten Fall sogar in Mord und Totschlag enden. Folglich ist die Frau im Buch nur anfangs in einer Nebenrolle sichtbar, ansonsten eher kurz mal als Vision, wie auch ganz am Ende.

Es ist müßig, abzuschätzen, inwieweit diese Selbstbefragung eines Schriftstellers wirklich nur den ‹ehemaligen› oder doch auch den nobelpreis-gekrönten Autor selbst betrifft, und wenn letzteres zutrifft, inwieweit sie ernstgemeint ist. Hier wird, oft meditativ anmutend, anhand von Erinnerungen, Reflexionen und präzisen Alltags-Beobachtungen beschrieben, wie einer mit sich selbst nicht klarkommt. Einer, der sich selbst im Wege steht, der keinen an sich heranlassen will, für den das Alleinsein höchstes Glück bedeutet, ein Misanthrop par excellence. Der am Ende seiner Reise dann auch kein Hausboot mehr vorfindet, alles ist weg. Er ist nun wunschgemäß völlig mit sich allein, seine Geschichte aber haben offensichtlich die Freunde aufgeschrieben. Als (selbstironische?) Bilanz eines verbiesterten Dichterlebens ein intensives Leseerlebnis!

Bewertung vom 23.02.2021
Taxi
Duve, Karen

Taxi


gut

Existenzielle Trostlosigkeit

«Taxi» von Karen Duve geht auf ihre Tagebücher aus mehr als 13 Jahren als Hamburger Taxifahrerin zurück. Sie hatte dieses Material zu einem als ihr Debüt geplanten 800-Seiten-Roman kompiliert, es fand sich jedoch kein Verleger dafür. Später hat sie ihre autobiografische Geschichte von den Erlebnissen der «Zwodoppelvier», wie sie im Jargon der Taxifunk-Zentrale mit der Kennnummer ihres Wagens immer nur genannt wurde, radikal gekürzt und mit großem Erfolg als ihren vierten Roman veröffentlicht, dessen Erzählzeit von 1984 bis 1990 reicht.

Die junge Alexandra, Ich-Erzählerin des Romans und Alter Ego der Autorin, meldet sich nach einer abgebrochenen Ausbildung kurz entschlossen auf eine Stellenanzeige als Taxifahrerin. Trotz mangelnder Ortskenntnisse besteht sie die Prüfung und kurvt fortan mit ihrem Taxi durch Hamburg, mit der gleichen Kennung 244, die einst auch der Wagen der Autorin hatte. Alex, wie sie von den Kollegen genannt wird, fährt von Beginn an nur Nachtschicht, weil da mehr zu verdienen ist. Sie versteht sich durchzubeißen in der sehr speziellen Welt der Taxler und gerät in einen munteren Kreis von ausschließlich männlichen Kollegen, die dem gängigen Klischee vom ‹Akademiker im Taxi› erstaunlich nahekommen. Da ist vor allem Dietrich, ein verkappter Kunstmaler, mit dem sie schon bald eine längere Affäre hat, ferner dessen bester Freund Rüdiger, ein Möchtegern-Philosoph, der als Frauenhasser ständig hitzige Diskussionen mit Alex führt. Ihr Privatleben wird als zielloses Dahinvegetieren mit ständigen Geldnöten geschildert, in dem außer ihren Männer-Geschichten nichts passiert. Wenn sie überhaupt mal ein Buch liest, dann eines über Affen, Dian Fossey fasziniert sie besonders. Zufällig trifft sie Marco wieder, einen kleinwüchsigen, ehemaligen Schulkameraden, der sich als guter Liebhaber erweist. Sie will sich aber keinesfalls in der Öffentlichkeit sehen lassen mit Marco, was zur Entfremdung zwischen ihnen führt. Schließlich hat sie noch eine heiße Affäre mit ihrem Nachbarn Majewski, einem windigen Journalisten und Frauenheld. «Sein Körper schob sich wie ein Sargdeckel über mich» heißt es lakonisch über das erste Mal.

Diese Männer-Geschichten bilden das spärliche Handlungs-Rückgrad des zweiteiligen Romans, der in 113 vignette-artigen Kapiteln Anekdote nach Anekdote aneinanderreiht. Die Fahrgäste bilden dabei ein Panoptikum verschiedenster Typen, die häufig auch aus dem Rotlichtmilieu stammen. Oft sind es Betrunkene, es gibt viel Ekliges wegzuwischen und Gestank zu ertragen, nicht nur von Rauchern. Alex erlebt den permanenten Kampf um den besten Standplatz und die lukrativste Tour, bekommt mal verschwenderisch viel und manchmal auch gar kein Trinkgeld. Sie muss gelegentlich sogar ihrem Geld hinterherlaufen, wenn der fiese Fahrgast nicht zahlen kann oder will. All diese Erfahrungen bewirken keine ‹Éducation sentimentale›, die Protagonistin wird nicht geläutert, «Taxi» ist auch kein Entwicklungsroman, sondern eine emotionslose Schilderung existenzieller Trostlosigkeit ohne erkennbaren Ausweg.

Mehr Authentizität als in diesem Roman ist fast nicht möglich, Karen Duve erzählt schonungslos und oft lakonisch mit dem Insider-Wissen aus mehr als einem Jahrzehnt. Sie schildert ganz unsentimental die für ihre Romane typische Antiheldin als antriebslos und entscheidungs-unfähig. Mit scharfem Blick für Details wird dabei unentwegt aus dem Alltag der Taxifahrerin berichtet, was durch ständige Wiederholungen allmählich doch ermüdend wirkt. Stilistisch dem Milieu angepasst, ist ihre Sprache eher karg, mit ironischem Unterton. Störend an diesem ambivalenten Roman ist ein, angesichts der Kongruenz Heldin/Autorin, peinlicher Narzissmus, der zum Beispiel beim Bruch mit Dietrich in dem Satz gipfelt: «Jemanden wie mich würde er nie wieder finden». Trotz eines geradezu albernen Shutdowns ist dieser Roman gleichwohl eine angenehme Lektüre, die zuweilen sogar mit ihrer Alltags-Philosophie zu überraschen vermag

Bewertung vom 21.02.2021
Die Stille
DeLillo, Don

Die Stille


weniger gut

Die Stille im Kopf des Lesers

Der neueste Roman des Postmodernisten Don DeLillo mit dem deskriptiven Titel «Die Stille» wird oft als Dystopie missverstanden. Diese einen einzigen Tag des Jahres 2022 schildernde Erzählung ist eine nüchterne Zustandsbeschreibung, keine negative Zukunftsvision. Plakativ könnte man das so umschreiben: Nehmt doch mal allen Leuten ihre Smartphones weg und schaut, was dann passiert! Der amerikanische Autor hat den Bogen aber noch viel weiter gespannt, er nimmt einfach den Strom weg. Ein Zusammenbruch aller digitalen Systeme ist die Folge. Alle Bildschirme bleiben schwarz, früher oder später sind auch alle Akkus leer, und sämtlichen Notstrom-Aggregaten geht der Treibstoff aus.

In New York haben sich fünf Menschen verabredet, abends gemeinsam das Finale der American Football-League im Fernsehen anzuschauen. In ihrem Appartement warten die emeritierte Physik-Professorin Diane, Max, ihr footballsüchtiger Mann und Martin, einer ihrer Ex-Studenten mit Savant-Syndrom, auf ein befreundetes Paar, das rechtzeitig mit dem Flugzeug aus Paris zurückkehren will. Die farbige Tessa, eine Journalistin und Schriftstellerin, und ihr Mann Jim führen im Flugzeug eine banale, belanglose Konversation, sie starren auf die Bildschirme vor ihnen. Sowohl im Appartement als auch im Flugzeug werden die Protagonisten von außen bespaßt, sie reden nicht über sich, über ihre Erlebnisse, sie kommentieren nur die Bilder, die sie vorgespielt bekommen. Bis im Landeanflug die Displays plötzlich schwarz werden, die Maschine ins Trudeln gerät und zur Notlandung ansetzt. Leicht lädiert flüchten die Beiden aus dem havarierten Flugzeug und werden in eine Klinik gebracht, wo Jims Kopfverletzung ambulant versorgt wird. Da der Verkehr völlig zusammengebrochen ist, müssen sie zu Fuß zur Wohnung ihrer Freunde gehen. Was sollten sie auch sonst tun?

Vor dem schwarzen Bildschirm kommentiert der enttäuschte Max pantomimisch in allen Details ein fiktives sportliches Geschehen auf der Mattscheibe, einschließlich aller eingeblendeten Werbeclips. Diese makabre Reportage spiegelt eindrucksvoll die beängstigende Situation, auf die sich alle keinen Reim machen können, über die es allenfalls Mutmaßungen gibt. Betrifft der totale Crash die ganze Welt? Zusammenhanglos zitiert der inselbegabte Martin immer wieder aus Einsteins Relativitäts-Theorie, auch das Atakama Radioteleskop in Chile wird erwähnt. Es fallen Begriffe wie Krypto-Währung, Cyberangriff, Biowaffen, digitales Wettrüsten, autonome Drohnen. Gibt es womöglich bereits Menschen, denen ein Telefon implantiert wurde? «Wir werden zombifiziert», sagt Max, «wir werden verspatzenhirnt». Einprägsam ist dem schmalen Bändchen ein Zitat Albert Einsteins vorangestellt: «Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im Vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen».

In einem kammerspielartigen Setting dreht sich das nur wenige Stunden umfassende Geschehen um nicht weniger als den Sinn der menschlichen Existenz. Jeder der fünf Protagonisten offenbart in einem theatralischen Schlussmonolog auf seine Weise seine emotionale Leere in einer saturierten Gesellschaft. Die scheint auf mediale Zerstreuungen derart angewiesen zu sein, dass sich ein totaler digitaler Crash schon fast als Nicht-Sein im philosophischen Sinne erweist. Wo nur Äußerliches wichtig erscheint, wo das Menschsein als Gesprächsstoff nicht mehr taugt, wo nur üppiger Wohlstand Befriedigung zu verschaffen vermag, da enttarnt so ein Blackout das virtuelle Paradies als Schimäre, er markiert eine Zäsur. Die allesamt konturlos bleibenden Figuren gleichen leeren Hüllen, sie reden zwar, aber sie kommunizieren nicht miteinander. Um sie herum herrscht die titelgebende Stille, die aber letztendlich auch im Kopf des Lesers keine Spuren zu hinterlassen vermag. Dazu trägt nicht wenig auch das hier ins Extreme komprimierte Erzählen bei, das sich leider allzu oft auf vage Andeutungen beschränkt.

Bewertung vom 19.02.2021
Schutzzone
Bossong, Nora

Schutzzone


schlecht

Einsames Nilpferd

Lobhudelei beim Feuilleton und überwiegende Ablehnung bei den Leserkritiken kennzeichnen den Roman «Schutzzone» von Nora Bossong, der 2019 immerhin für den Frankfurter Buchpreis nominiert wurde. Schon mit dem Titel, mehr noch mit dem treffend gewählten Titelbild, wird auf die Vereinten Nationen hingewiesen, und damit auf eine literarisch noch wenig erschlossene Thematik. Was denn wohl auch das große Interesse an diesem Buch erklärt, erzählende Literatur kann ja auf unterhaltende Art durchaus auch Horizonte erweitern. Erfüllt dieser Roman denn derartige Erwartungen?

Durch einen Zufall lernt Ich-Erzählerin Mira in New York einen UNO-Mitarbeiter kennen, der sie spontan als seine Assistentin engagiert. Schon bald wird sie mit anspruchsvolleren Aufgaben betraut, weil sie insbesondere die Gabe besitzt, zuhören zu können, was sie als Gesprächs-Partnerin für diffizile diplomatische Verhandlungen besonders auszeichnet. Fortan pendelt sie, mit den verschiedensten Aufträgen betraut, zwischen New York, Genf, Den Haag und Bujumbura in Burundi hin und her. Ausgehend vom Jahr 2017 erzählt die Autorin in ständig wechselnden Rückblenden bis ins Jahr 2003 von ihrer Arbeit in verschiedenen Krisenregionen, bis 1994 zurückreichend auch ein wenig aus ihrer freudlosen Kindheit. Damals wohnte sie nach der Trennung ihrer Eltern als junges Mädchen einige Monate bei guten Freunden ihrer Mutter in der Nähe von Bonn. Deren acht Jahre älteren Sohn Milan trifft sie dann später bei der UNO wieder. Zwischen ihr und dem inzwischen verheirateten Mann entwickelt sich eine von vornherein zum Scheitern verurteilte, kurze Liaison. Beruflich ist sie unter anderem in diplomatischer Mission im Zypernkonflikt engagiert, später aber auch in Burundi, wo sie sogar in Kontakt zu einem mächtigen Warlord kommt, der sie privat empfängt und ihr die Situation im Lande sehr drastisch aus seiner Sicht schildert. Durch diese enge Nähe zum Terror verstrickt sie sich in eine gewisse Mitschuld bei der unzureichenden Aufarbeitung des Genozids in diesem ärmsten Staat der Welt.

Mit hehren Kapitelüberschriften wie Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung und Übergang erzählt Nora Bossong von der Erfolglosigkeit der UNO, der sie das private Scheitern ihrer Protagonistin gegenüberstellt. Dabei begnügt sie sich auf das reine Beschreiben, sie schildert, was ist, ohne moralisierend Verlorenheit, Unvermögen und Machtgier in einem politischen Ränkespiel anzuprangern, das sie an einer Stelle als «politische Balztänze» bezeichnet. Köstlich ist das Nilpferd-Spiel, mit dem sie die Anarchie der verkrusteten UNO-Bürokratie eindrucksvoll entlarvt. Dabei schleusen Mitarbeiter in ihre offiziellen Berichte das völlig unsinnige Wort «Nilpferd» ein, das mit dem Vorgang selbst nicht das Geringste zu tun hat. Gewinner ist derjenige, dessen Ausarbeitung unbeanstandet durch alle Instanzen bis in die Hände des höchsten Vorgesetzten gelangt. Ein starkes Bild für die Inkompetenz dieser ohnmächtigen Mega-Bürokratie!

In einem einzigen inneren Monolog wird hier sachlich und nüchtern vom diplomatischen und persönlichen Scheitern erzählt, wobei ein in langen Sätzen artikulierter, elegischer Tonfall für eine äußerst depressive Stimmung sorgt. Die wenigen Figuren treten kaum in Dialoge miteinander, sie bleiben als Charaktere farblos, geradezu unnahbar, sie wirken fast schon wie Untote. Man erfährt wenig über sie und schon gar nichts, was sie sympathisch erscheinen lassen könnte, das pralle Leben also wird hier total ausgeblendet. Ebenso uneindeutig ist auch die Auseinandersetzung mit der Thematik selbst, weder die weltpolitische Organisation als solche noch die ethischen Fragen in den ständig neu aufbrechenden Konfliktherden werden hinterfragt. Letztlich bleibt von diesem handlungslosen Roman, dessen fast unsichtbare Heldin immer wieder nur sinnierend aus dem Fenster schaut, lediglich maßlose Langeweile zurück, ohne Bereicherung in der Sache, - sieht man mal von dem einsamen Nilpferd ab

Bewertung vom 16.02.2021
Das Lied von Bernadette
Werfel, Franz

Das Lied von Bernadette


sehr gut

Denkwürdig

Der erfolgreichste Roman von Franz Werfel, «Das Lied von Bernadette», entstand aufgrund eines Gelübdes, das der österreichische Schriftstellers auf der Flucht vor den Nazis im Juni 1940, während seines kurzen Zwischen-Aufenthalts im Wallfahrtsort Lourdes, in großer Bedrängnis abgelegt hatte: Er würde einen Roman über das Wunder von Lourdes schreiben, wenn er das rettende Amerika erreicht. «Ich habe es gewagt, das Lied von Bernadette zu singen, obwohl ich kein Katholik bin, sondern Jude» hat er ein Jahr später beim Erscheinen seines Romans in Los Angeles angemerkt, wo er glücklich Zuflucht gefunden hatte. Die 1933 von Pius XI heiliggesprochene Bernadette Soubirous hatte als 14jähriges Mädchen zwischen 11. Februar und 16. Juli 1858 insgesamt 18 Visionen, die von Wissenschaft, Politik und Kirche zunächst argwöhnisch bezweifelt, später dann aber als Marien-Erscheinung gedeutet wurden.

Beim Holzsuchen erscheint Bernadette in der Grotte von Massabielle nahe dem Fluss Grave plötzlich eine wunderschöne Dame im weißen Kleid mit einem blauen Gürtel. Sie ist barfüßig, auf beiden Füßen befindet sich eine goldene Rose, sie lächelt freundlich, spricht aber kaum. Als Bernadette am nächsten Tag mit einigen Freundinnen wieder zur Grotte geht, gibt ihr die Dame zu verstehen, sie möge zwei Wochen lang täglich wiederkommen. Während der Begegnung mit der Dame bemerken die Freundinnen, die die Dame selbst nicht sehen können, eine wundersame Verklärung in Bernadettes Gesicht, sie ist in ihrer Ekstase der Umgebung völlig entrückt. Bei einem dieser Treffen flüstert die unnahbare Dame immer wieder nur «Buße, Buße, Buße». Schließlich fordert sie Bernadette auf, sie möge in der Grotte die Quelle suchen, aus ihr trinken und sich darin waschen. Und tatsächlich findet das Mädchen eine bisher unbekannte feuchte Stelle im Sand, von der niemand etwas wusste. Sie wird von den Bewohnern sogleich als überraschend ergiebige Wasserquelle gefasst. Kurz darauf ereignet sich an dem schwerkranken Nachbarkind die erste spontane Wunderheilung, nachdem die verzweifelte Mutter ihren kleinen Sohn in den Quelltopf getaucht hatte.

Franz Werfel erklärt im Vorwort: «All jene denkwürdigen Begebenheiten, die den Inhalt dieses Buches bilden, haben sich in Wirklichkeit ereignet». Und er ergänzt: «… ihre Wahrheit ist von Freund und Feind und von kühlen Beobachtern in getreuen Zeugnissen erhärtet». Mit einem stattlichen Figuren-Ensemble von mehr als 60 Personen aus Familie, Nachbarschaft und Amtsträgern von Staat und Kirche erzählt er neben der Geschichte seiner Seherin von den weitreichenden Auswirkungen ihrer mysteriösen Erscheinungen. In diesem fiktiven Teil seines Romans erweist er sich als begnadeter Erzähler, der besonders seine Figuren sehr lebensnah als Charaktere schildert, die viele Typen des Menschen-Geschlechts glaubwürdig verkörpern. Er nutzt vor allem die gelehrten Dialoge der verschiedenen Honoratioren und des Klerus für kontemplative Betrachtungen des Geschehens aus unterschiedlichsten Perspektiven, behält als Autor aber stets die nötige Distanz.

Auch wer als Atheist dem katholischen Mummenschanz ablehnend gegenüber steht, wird hier in Vorgänge und Usancen einer Weltreligion eingeweiht, die in Rom den Statthalter Christi auf Erden als unfehlbare Instanz etabliert hat. En passant erfährt man dabei faszinierende Details aus dem Klosterleben und von der pompösen Zeremonie einer Heiligsprechung. Besonders vergnüglich zu lesen sind die Ränkespiele zwischen Politik und Kirche, die an ein Schwarzer-Peter-Spiel erinnern, aus dem sich sogar Napoleon III tunlichst herauszuhalten versucht. Erstaunlich ist, dass es dem Autor trotz der weitgehend bekannten Fakten gelingt, einen Spannungsbogen aufzubauen, der bis zum Ende anhält. Bei der Heiligsprechung ist der als Erster durch Wunderheilung genesene Nachbarjunge als alter Mann unter den Besuchern im Petersdom, damit schließt sich äußerst elegant der Handlungsbogen einer denkwürdigen Geschichte.

Bewertung vom 11.02.2021
Chronik eines angekündigten Todes
García Márquez, Gabriel

Chronik eines angekündigten Todes


sehr gut

Mord und Moral

Zu den bekanntesten Werken des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel Garcia Márquez gehört der 1981 erschienene Roman «Chronik eines angekündigten Todes». Die Geschichte geht auf eine wahre Begebenheit zurück. Im Stil des Magischen Realismus geschrieben, zu deren wichtigsten Vertretern der ein Jahr später mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Autor zählt, gehört der schmale Band inzwischen zu den südamerikanischen Klassikern.

«An dem Tag, an dem sie ihn töten sollten, stand Santiago Nasar um fünf Uhr dreißig morgens auf, um das Schiff zu erwarten, mit dem der Bischoff kam». In diesem ersten Satz steckt bereits ein Teil der beißenden Kritik des Autors, Bischoff und Töten werden in einem Atemzug genannt, Ursache und Wirkung also einer rigiden katholischen Sexualmoral, die dem fragwürdigen Ehrenkodex einer naiven, dörflichen Bevölkerung zugrunde liegt. Es ist die Geschichte einer pompösen Hochzeitsfeier und ihrer Folgen. Der erst vor wenigen Monaten in das Dorf gekommene, reiche und charismatische Bräutigam hat sich spontan ein schönes, junges Mädchen zu Braut erwählt. Die ist aber gar nicht begeistert, da sie ihn kaum kenne und nicht liebe. «Auch die Liebe lässt sich lernen», hält ihr die resolute Mutter entgegen, die Eltern stimmen der geplanten Ehe erfreut zu. Als die Schöne ihrer Mutter gesteht, dass sie keine Jungfrau mehr sei, werden ihre Bedenken dahingehend zerstreut, es gäbe da einschlägige Hebammen-Tricks, um dem meist ja ziemlich betrunkenen Bräutigam die geforderte Unberührtheit vorzugaukeln. Die Sache geht schief, nach der Hochzeitsnacht bringt der Bräutigam seine Braut zu den Eltern zurück, als Reklamation quasi. Die wütende Mutter prügelt aus ihr den Namen des Verführers heraus, Santiago Nasar sei es gewesen, ein arabisch-stämmiger junger Mann aus der Nachbarschaft. Die Zwillingsbrüder der Braut führen sich verpflichtet, die Familienehre wieder herzustellen, indem sie den Verführer töten. Der Skandal ist da, jeder im Dorf weiß davon, und jeder weiß auch, was nun geschehen wird.

Der Ich-Erzähler kommt 27 Jahre später in sein Heimatdorf zurück und spricht mit vielen Beteiligten über das noch fest in der gemeinsamen Erinnerung verankerte Geschehen von damals. Die aus seiner Perspektive erzählte Geschichte erscheint nicht nur im Nachhinein völlig grotesk, es bleiben auch viele Fragen offen. Niemand habe das ahnungslose Opfer nachdrücklich vor den auf ihn lauernden Zwillingen gewarnt, keiner habe versucht, die Tat zu verhindern, die meisten aber nahmen die Drohung überhaupt nicht ernst. Die journalistisch knappe Erzählweise klammert beispielsweise die Vorgeschichte der Entjungferung ebenso aus wie das Geschehen in der Hochzeitsnacht. Nur vage wird angedeutet, dass der mit einer andern Frau verlobte Santiago Nasar mutmaßlich nicht der Verführer gewesen sei, was seine Sorglosigkeit erklärt, als er wenige Minuten vor dem Mord doch noch von der Drohung der Zwillinge erfährt.

Garcia Márquez legt den Fokus seiner Erzählung konsequent auf die Umstände vor der Tat, er blendet also alle für die Tat selbst nicht relevanten, voraus gegangenen Geschehnisse bewusst aus. Eine puristische, auf jegliche Spannung verzichtende Erzählweise, die den religiös indizierten, moralischen Irrwitz, der hier geradezu satirisch thematisiert wird, genau deshalb umso deutlicher bloßlegt. Dazu tragen insbesondere auch seine allesamt recht einfältig wirkenden Figuren bei, deren oft verschrobene, undurchsichtige Charaktere er nicht beschreibt, sondern durch ihr irreales Handeln verdeutlicht. Selbst die beiden Täter haben Zweifel an ihrer vermeintlichen Ehrenpflicht. Sie tun alles, um ihr zu entgehen, indem sie ihre Absicht lautstark ankündigen in der Hoffnung, jemand würde beherzt eingreifen und sie vom Tatzwang befreien. Ein fast kammerspielartiges Setting macht diesen kleinen Roman zu einem nachwirkenden Leseerlebnis, dessen offene Fragen den Leser noch lange beschäftigen, gerade weil sie so abstrus erscheinen.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.02.2021
Wo wir waren
Zähringer, Norbert

Wo wir waren


gut

Zum Träumen einladend

Mit der Nominierung des Romans «Wo wir waren» für den deutschen Buchpreis 2019 hat Norbert Zähringer seine bislang größte Anerkennung als Schriftsteller gefunden. In diesem fünften Roman erweist er sich erneut als ein Autor, der sein ausuferndes erzählerisches Material virtuos in verschiedene Handlungsfäden zu überführen versteht. Es ist mal wieder ein Pageturner, perfekt konstruiert, den er da geschrieben hat, argwöhnisch beäugt vom Feuilleton, das ihn als thematisch überfrachtet hart am Rande des Kitsches verortet.

Narratives Zentrum des weitverzweigten Handlungs-Geflechts ist die Mondlandung 1969. Der Protagonist Hardy Rohn, dessen Leben den dominanten Handlungsfaden des Romans bildet, damals fünf Jahre alt, flieht in dieser Fernsehnacht aus einem schrecklichen Waisenhaus. Als er in aller Frühe plötzlich am Fenster des Science-Fiction-Autors Walther auftaucht, der euphorisch eine Mondlande-Party vor seinem Fernseher veranstaltet, nehmen sich Nachbarn spontan des Jungen an. Ein Jahr später adoptiert das kinderlose Paar den schweigsamen Hardy, und er erweist sich schon bald als wahres Wunderkind. Der ein ganzes Jahrhundert umfassende, vielschichtige Plot vereint so unterschiedliche Themen wie die Weltraumfahrt, die Gräuel zweier Weltkriege, Entdecker-Freude, Globetrotter-Sehnsüchte, Vietnamkrieg, die Dotcom-Blase und anderes mehr, aber eben auch so Banales wie das Spießertum in der Reihenhaus-Siedlung mit akkurat gestutzten Buchsbaum-Hecken. Hardys Mutter, die ihn im Zuchthaus geboren und sofort zu Adoption freigegeben hat, verbüßt eine lebenslängliche Strafe wegen Doppelmordes, sie erzählt in einem längeren Kapitel dem Psychiater in der Forensik ausführlich ihre tragische Geschichte. Mit großen Zeitsprüngen wechseln auch die Handlungsorte, vom beschaulichen Kleinstadtidyll im Rheingau ins Silicon-Valley, wo der von einem unbändigen Forscherdrang getriebene Hardy eine kometenhafte Karriere zuerst mit Computerspielen und dann mit einer neuartigen GPS-Software hinlegt. Mit einer Viertel-Milliarde Dollar als Erlös für seine von der Konkurrenz übernommene Firma sinnt der nimmermüde Tüftler und Entdecker auf neue Taten. Sein Lebenstraum, in das Weltall zu fliegen, scheint durch die Absicht der Russen realisierbar, private Gäste für läppische 25 Millionen Dollar an einem Raumflug teilnehmen zu lassen, Hardy bucht als Erster.

In eine überaus spannende, turbulente Geschichte, der man atemlos folgt, wurde hier sehr viel Weltgeschehen hinein gepackt. Über Raum und Zeit hinweg jagt dieser Roman, von Cliffhanger zu Cliffhanger, durch seine vielen episodisch erzählten Szenen. Ein stimmig geschildertes, vielköpfiges Figuren-Ensemble ist dabei in allerlei schicksalhafte Situationen verstrickt. Jeder sucht sich auf seine Weise zu verwirklichen, seinen ureigenen Weg zu finden in einem ebenso durch Zufall wie durch Vorprägung bestimmten Leben. Es geht um die Essenz menschlichen Daseins, die Norbert Zähringer anhand seiner unterschiedlichste Typen verkörpernden Figuren dahingehend deutet, dass sie ganz einfach in der ungeheuren Vielfalt der Möglichkeiten liegt. Seine permanenten Rückblenden unter dem Motto «Wo wir waren» verdeutlichen anschaulich diese These.

Es ist ein ironisches Märchen für Erwachsene, das den Leser hier mit einer abenteuerlichen Fülle von wundersamen Zufällen und glückhaften Wendungen bei Laune hält, so er denn bereit ist, die zahlreichen Klischees unkritisch zu akzeptieren als unverzichtbare Bestandteile von Märchenhaftem. Der in einem flüssig lesbaren Stil geschriebene Roman führt leichtfüßig durch ein komplexes Handlungs-Dickicht, in dem alles mit allem zusammen zu hängen scheint, er überwindet spielend kulturelle Grenzen und lädt ungeniert zum Träumen ein. «Vieles ist unwahrscheinlich, aber wenn wir nur an das Wahrscheinliche glauben, dann kommen wir nicht weit» heißt es im Roman. Und genau so sollte man auch als Leser herangehen an diese zum Träumen einladende Geschichte!