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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

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Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 14.05.2017
Das Ende aller Geheimnisse / Heidi Kamembas Bd.1
Keller, Stefan

Das Ende aller Geheimnisse / Heidi Kamembas Bd.1


ausgezeichnet

In einer idealen Welt wäre Rassismus kein Thema mehr. Ein Krimi mit einer farbigen Kommissarin wäre dann etwas so Alltägliches, dass man gar nicht weiter darüber nachdenken würde – außer vielleicht, um sich über die ethnische und kulturelle Vielfalt zu freuen. Leider leben wir aber nicht in einer idealen Welt, und gerade darum war Heidi Kamemba für mich eine willkommene Überraschung.

Wer jetzt aber befürchtet, sie wäre womöglich wenig mehr als ein billiger Marketingtrick des Autors oder sogar nur eine literarische 'Vorzeige-Schwarze', damit der Leser sich selber für seine Toleranz auf die Schulter klopfen kann, den möchte ich beruhigen:

Heidi Kamemba ist ein interessanter, glaubhafter Charakter mit Stärken und Schwächen. Auch wenn sie in den Gedanken ihrer Kollegen oft nur 'die Schwarze' ist, reduziert Stefan Keller sie mitnichten auf ihre Hautfarbe. Sie ist eine talentierte junge Kommissarin, die manchmal im Übereifer übers Ziel hinausschießt, dafür aber auch hochintelligent und einfallsreich agiert. Über manche ihrer Entscheidungen habe ich zwar den Kopf geschüttelt, und beinahe hätte sie ihre erste Woche als Kommissarin nicht überlebt – aber ich konnte auch immer nachvollziehen, warum sie manchmal glaubt, nicht anders handeln zu können.

Der eigentliche Kriminalfall ist solide und logisch konstruiert, mit spannenden Wendungen, falschen Fährten und unerwarteten Enthüllungen. Heidi muss sich nicht nur direkt in ihrer ersten Woche mit einer verkohlten Leiche beschäftigen, sondern auch mit dem nagenden Gefühl, dass ihr neues Team vielleicht nicht unschuldig war am Tod ihres Vorgängers... Mit der Auflösung hatte ich so nicht gerechnet, sie ist aber in sich schlüssig und verbindet die vielen verschiedenen Hinweise sinnvoll – und das wünscht man sich doch bei einem Krimi! (Es wäre ja langweilig, wenn man auf Seite 50 schon wüsste, wer der Täter ist, aber man will im Rückblick auch nicht das Gefühl haben, der Autor habe das Ende aus dem Hut gezaubert.) Ich fand die Geschichte originell und kein bisschen vorhersehbar.

Natürlich ist Rassismus zwangsläufig ein Thema, und das wirkte auf mich gut recherchiert und mit viel Feingefühl in die Handlung verwoben, ohne dem Leser plump mit dem Holzhammer um die Ohren geschlagen zu werden. Es ist ein beiläufiger Rassismus, der selten direkt ausgesprochen wird, aber unterschwellig immer und überall zu Heidis Alltag gehört wie ein schleichendes Gift. Ein Teil von ihr ist sich dessen stets bewusst: sie betrachtet ihre Umgebung mit ständiger Wachsamkeit, reguliert ihre eigene Körperhaltung und Mimik, analysiert das Verhalten anderer Menschen ihr gegenüber, um die Bedrohlichkeit einer Situation abzuschätzen... Aber sie ist eine Kämpferin und lässt sich davon nicht unterkriegen.

Die anderen Charaktere wirken auf den allerersten Blick eher einfach gestrickt, aber das täuscht! Im Laufe des Buches zeigen sie alle nach und nach mehr Tiefgang.

Oft sieht man einen Charakter erstmal nur 'von außen', aus Heidis Sicht, und dann wirkt er vielleicht sympathisch und hilfsbereit – aber dann bekommt man Einblick in seine Gedanken, und die zeichnen ein ganz anderes Bild. Keiner ist nur gut oder nur böse, aber mehr als einer hat geheime Laster und Probleme, die im Laufe der Geschichte eine Rolle spielen. Ich könnte mir vorstellen, dass vieles davon in den Folgebänden noch eine größere Rolle spielen wird!

Der Schreibstil ist klar und eher schlicht (im positiven Sinne), dabei aber sehr flüssig, mit einem angenehmen Sprachrhythmus und einer prägnanten "Stimme". Ganz ohne Schnörkel und blumige Formulierungen, ist er dennoch bildlich genug, um Atmosphäre aufzubauen und es dem Leser zu ermöglichen, sich alles wunderbar vorzustellen.

Bewertung vom 13.05.2017
Drachenläufer
Hosseini, Khaled

Drachenläufer


ausgezeichnet

Handlung:

Wenn mich jemand fragen würde: »Worum geht es in diesem Buch?«, dann würde ich sagen: Es ist eine wunderbare Geschichte von der bedingungslosen Freundschaft und Loyalität zwischen Amir und Hassan, zwei kleinen Jungen, die 1975 in Afghanistan leben. Amir ist ein Paschtun aus reichem Hause, Hassan ist Sohn eines Dieners und gehört den Hazara an, einer diskriminierten Minderheit.

Es ist aber auch eine Geschichte von großer Tragik, denn Amir verrät diese Freundschaft und verleugnet dann noch seine eigene Schuld, die ihn aber gerade deswegen die nächsten Jahrzehnte verfolgen und bis ins Mark erschüttern wird.

Nicht zuletzt ist "Drachenläufer" ein Drama vom Krieg, der sich wie ein Krebsgeschwür ins Land frisst und Lebensfreude und Menschlichkeit seiner Bewohner vergiftet.

Meine Meinung:

ACHTUNG: Triggerwarnung! Das Buch thematisiert unter anderem körperliche und sexuelle Gewalt, auch gegenüber Kindern.

Beim Lesen habe ich mich oft gefragt: Was weißt du eigentlich über Afghanistan, das über die endlosen Schlagzeilen von Krieg, Krieg und wieder Krieg hinausgeht? Was weißt du über die Menschen, die Kultur, das Lebensgefühl? Bestürzt wurde mir klar, dass mir tatsächlich als erstes Wörter wie "Luftangriff", "Terrormiliz" und "Taliban" durch den Kopf gehen.

Zwar spielt auch in "Drachenläufer" der Krieg immer wieder eine zentrale Rolle, aber hier sieht man den Krieg nicht als Schlagzeile, sondern als menschliches Schicksal. Man kann nicht einfach geflissentlich-traurig den Kopf schütteln und das Ende der Nachrichten abwarten oder die nächste Seite der Zeitung aufschlagen. Hosseini lädt den Leser ein, mitzufühlen, auch wenn es manchmal wehtut. Obwohl alle Charaktere frei erfunden sind, bleibt einem doch immer im Hinterkopf, dass es Menschen wie sie in der Realität zu Hunderten und Tausenden gibt.

Dass das Buch einem auch Einblicke gewährt in die Pracht und den Zauber eines Afghanistans, wie es einst war und vielleicht nie wieder sein kann, macht den Niedergang des Landes umso bitterer und verstörender. Es gibt viel Schmerz und keine einfachen Lösungen. Ich habe mehr als einmal Tränen vergossen, und dennoch bereue ich nicht, "Drachenläufer" gelesen zu haben.

Es liest sich mal beinahe wie ein orientalisches Märchen, dann bietet es wieder eine erbarmungslos realistische Sicht auf das wahre Leben von Menschen, die im Krieg leben oder vom Krieg entwurzelt wurden. Originell fand ich die Geschichte so oder so, und sie entfaltete auf mich eine ungeheure Sogwirkung, Ich musste einfach wissen, ob es Amir gelingen wird, seine Schuld wiedergutzumachen, und so klappte ich das Buch dann auch erst in den frühen Morgenstunden zu...

Die Charaktere fand ich großartig, aber auch die "Guten" machen es einem nicht immer einfach. Viele davon laden Schuld auf sich, dafür zeigen aber auch einige eine Selbstlosigkeit und einen Mut, der vielleicht nur in Zeiten größter Not erwacht. Die "Bösen" dagegen zeigen eindringlich, dass der Krieg auch das Schlechteste aus einem Menschen hervorholen kann.

Amir erscheint zunächst sehr selbstsüchtig. Er wird zwar von Schuld über seinen Verrat zerfressen, kann aber damit nicht umgehen, lässt ausgerechnet Hassan dafür büßen - und begeht damit einen vielleicht noch größeren Verrat. Am Anfang empfand ich daher sogar ein wenig Widerwillen dagegen, eine Geschichte zu lesen, die sich hauptsächlich um Amir dreht! Aber man muss ihm zugestehen, dass er als Kind in eine Situation geriet, mit der er grundlegend überfordert war, und er macht im Laufe des Buches auch noch eine große Entwicklung durch.

Der Schreibstil verzichtet auf Pathos und erzählt zwar detailliert und lebendig, dabei aber auch einfach und direkt. Hosseini lässt dem Leser viel Freiraum für eigene Gedanken und Kopfkino!

Bewertung vom 12.05.2017
Mehr als das
Ness, Patrick

Mehr als das


ausgezeichnet

Am Anfang steht das, was normalerweise das Ende wäre: der schonungslos geschilderte Tod des Protagonisten. Seth ertrinkt, doch bevor ihn Atemnot und Kälte töten können, zerschmettert das Meer seinen Körper an einem Felsen. Er stirbt. Er wacht wieder auf. An einem Ort, den er kennt und doch nicht kennt, vertraut und fremdartig zugleich. Denn er ist alleine. Ganz alleine. Keine Menschen, keine Tiere.

Es fiel mir zunächst sehr schwer, das Buch einzuschätzen: Was lese ich hier überhaupt? Fantasy, Dystopie, Science Fiction, Drama? Die Antwort überrascht. Sie überschreitet Genregrenzen, auf Pfaden abseits jeder Vorhersehbarkeit, und wirft dabei eine Vielzahl von philosophischen Fragen auf. Worin liegt der Wert des Lebens, wie gehen wir mit unserer eigenen Vergänglichkeit um? Wo endet Verantwortung und beginnt Schuld? Und immer wieder: war das schon alles – oder gibt es doch noch mehr als das?

Nach meiner anfänglichen Verwirrung war ich schnell fasziniert und vollkommen gefangen genommen von dieser originellen, außergewöhnlichen Geschichte. Ich teilte Seths Verwirrung und Ratlosigkeit in diesem albtraumhaften Szenarium und wollte unbedingt wissen, wie sich das alles auflösen würde. Die Art der Spannung wandelt sich im Laufe des Buches, denn es gibt bestürzende, grandiose, unerwartete Wendungen, die immer wieder alles verändern, der Spannungsbogen bleibt jedoch immer hoch.

Seth ist intelligent, hat wenig Selbstwertgefühl und trägt viel mit sich herum: Vor neun Jahren ist seinem kleinen Bruder Owen etwas Schreckliches geschehen, was ihn für immer verändert hat und wofür die Eltern Seth die Schuld geben. Er ist schwul, sein Comingout war allerdings so unfreiwillig wie katastrophal. Er ist ängstlich, andererseits irgendwie auch mutig, wenn es darauf ankommt. Vor allem ist er glaubhaft und echt.

Regine ist oft ruppig – aber auch mutig und entschlossen, für die Menschen, die ihr wichtig sind, bis zum Letzten zu kämpfen. So wie Seth nicht auf seine Homosexualität reduziert wird, wird Regine nicht auf ihre Hautfarbe reduziert: Seth ist schwul, Regine ist schwarz und beide sind auch noch viel mehr als das.

Ihnen schließt sich der kleine altkluge Tomasz an, der die wildesten Geschichten erzählt, aber so fix um die Ecke denken kann, dass er die anderen mehr als einmal rettet. Er ist zutiefst emotional und dabei so loyal und liebenswert, dass es manchmal wehtut.

Bevor Seth ertrank, hatte er einen Jungen, der für ihn das "mehr" in seinem Leben war. Ich möchte hier noch nicht verraten, wer es ist, aber ich fand die Liebesgeschichte unglaublich bewegend, gerade weil sie nicht unproblematisch ist.
Der Schreibstil ist in meinen Augen phänomenal. Patrick Ness hat eine sehr prägnante literarische Stimme – mal beinahe poetisch, mal eher schlicht, aber immer ungewöhnlich und schwer zu beschreiben. Er folgt den Gedanken von Seth oft sehr direkt: Pausen, abbrechende Sätze, und was er selber zu verdrängen versucht, in Klammern gesetzt.

Das Buch endet an einem Punkt, bei dem sich viele Leser fragen werden: war es das jetzt, oder kommt da doch noch mehr als das? (Das konnte ich mir jetzt nicht verkneifen.) Ich habe mir sagen lassen, es sei typisch für die Bücher von Patrick Ness, dass die Enden mehr Denkanstoß sind als der Wahrheit letzter Schluss. Nachdem ich es jetzt etwas habe sacken lassen, bin ich mit dem Ende dann doch zufrieden: es lässt vielleicht vieles offen, aber jeder der drei Hauptcharaktere hat ein enormes inneres Wachstum durchlebt und mit einem wichtigen persönlichen Thema abgeschlossen.

Allerdings hätte ich mir schon gewünscht, dass manche Dinge irgendwo zwischen Anfang und Ende erklärt worden wären, denn sie erschienen mir nicht vollkommen glaubhaft und schlüssig. Es gibt für meinen Geschmack auch zu viele Rettungen in allerletzter Sekunde!

Bewertung vom 11.05.2017
Hallo Leben, hörst du mich?
Cheng, Jack

Hallo Leben, hörst du mich?


ausgezeichnet

Es geht um einen kleinen Jungen mit einem großen Hobby: Alex will den Außerirdischen die Erde und das menschliche Leben erklären – genauso wie sein Held und Vorbild, der Wissenschaftler Carl Sagan. Der schickte nämlich 1977 zwei goldene "Schallplatten" mit Botschaften und Informationen über die Erde ins All, mit den Raumsonden 'Voyager 1' und 'Voyager 2.'

Also lackiert Alex seinen iPod einfach golden und fängt an, alles darauf zu sprechen, was die Außerirdischen seiner Meinung nach wissen sollten; den iPod will er dann bei einem Raketenfestival mit seiner selbstgebauten Rakete 'Voyager 3' ins All schicken. Als Leser merkt man jedoch schnell, dass im Leben des Jungen noch viel mehr passiert als nur dieses Projekt und der nahende Raketenstart, denn er erzählt seinen außerirdischen Freunden durchaus auch persönliche Dinge.

Der Titel "Hallo Leben, hörst du mich?" ist gut gewählt. denn das Buch deckt tatsächlich die volle Bandbreite des Lebens ab: das Lustige und Schöne genauso wie das Schlimme oder Traurige. Es wird alles sehr unverfälscht beschrieben und der Leser ist immer ganz nah und unmittelbar dran an Alex' Gedanken, da die Geschichte ausschließlich durch seine Aufnahmen erzählt wird. Das ist manchmal etwas holprig – er ist schließlich nur ein kleiner Junge, der erzählt, was ihm gerade so in den Sinn kommt, und dabei erwachsener klingen möchte, als er ist –, aber mir hat das gut gefallen, weil es alles umso glaubhafter macht.

Es geht nicht nur um den Raketenstart, sondern um eine Vielzahl von Themen, wie zum Beispiel die psychische Erkrankung von Alex' Mutter. Diese führt dazu, dass er mit seinen 11 Jahren in die Rolle des Erwachsenen gedrängt wird und sich um Dinge wie Putzen, Einkaufen und Kochen kümmern muss. Außerdem geht es um Freundschaft, Mut, Abenteuer, Außerirdische und ganz, ganz oft um den Wissenschaftler Carl Sagan... Alex' Reise ist wirklich eine außergewöhnliche, in deren Verlauf er Dinge findet, von denen er gar nicht wusste, dass er sie sucht.

Er geht eigentlich mit großer Ernsthaftigkeit an sein Projekt heran, das führt dann aber oft zu den lustigsten Situationen – die er dann wiederum sehr ernsthaft beschreibt und gar nicht versteht, warum andere Menschen um ihn herum so seltsam darauf reagieren?! Den Humor fand ich großartig, denn auch, wenn er oft daraus entsteht, dass Alex etwas unfreiwillig Komisches sagt oder tut, ist er dennoch nicht herabwertend.

Die Charaktere werden wunderbar beschrieben, lebendig und authentisch. Auch wenn der Leser sie nur indirekt durch Alex' Aufnahmen kennenlernt, bekommt man ein sehr gutes Gefühl für ihre verschiedenen Persönlichkeiten, und das ist ein echtes Kunststück des Autors. Besonders erstaunlich ist das bei Zed: Veganer mit Schweigegelübde, Hippie und grundguter Mensch. Wie der Autor seine Persönlichkeit rüber bringt, obwohl Alex' Aufnahmen normal nur sein Schweigen aufzeichnen, ist grandios!

Alex selber ist altklug, intelligent und verantwortungsbewusst über sein Alter hinaus und dabei doch noch Kind genug, um bei einer Enttäuschung in Tränen auszubrechen. Es ist unglaublich rührend, wie sehr er seinen Hund liebt, den er nach seinem großen Vorbild natürlich 'Carl Sagan' genannt hat, und überhaupt ist er einfach ein sehr lieber kleiner Kerl, dem man nur das Beste wünscht.

Es ist nicht nur eine rührende, sondern auch eine sehr spannende Geschichte. Am Anfang fragt man sich: wird Alex' Rakete wirklich fliegen? Wie geht es mit ihm und seiner Mutter weiter? Aber dann passieren so wahnsinnig viele Dinge, und aus der Reise zum Raketenfestival wird eine große persönlich Suche, die mich nicht mehr losgelassen hat.

Bewertung vom 11.05.2017
Jeder Tag kann der schönste in deinem Leben werden
Barr, Emily

Jeder Tag kann der schönste in deinem Leben werden


ausgezeichnet

Flora Banks leidet an anterograder Amnesie, was bedeutet, dass sie sich Dinge nur für wenige Stunden, manchmal sogar nur für Minuten merken kann. Seit sieben Jahren setzt sich ihr Gehirn immer wieder zurück auf den Stand, auf dem sie im Alter von 10 Jahren war. Immer wieder stellt sie die gleichen Fragen, immer wieder tut sie die gleichen Dinge, immer wieder ist sie überrascht von ihrem eigenen Spiegelbild. Im Grunde ist sie daher ein kleines Mädchen im Körper eines Teenagers.

Doch dann küsst sie am Strand einen Jungen, und die Erinnerung bleibt. Für sie bedeutet das zwei Dinge: 1) er muss die Liebe ihres Lebens sein, und 2) wenn sie mit ihm zusammen ist, wird das ihre Amnesie heilen. Dass er in die Arktis gezogen ist, um dort zu studieren, kann sie nicht aufhalten - mutig und entschlossen reist sie ihm nach ans Ende der Welt.

Flora ist eine sehr ungewöhnliche Heldin mit einer sehr ungewöhnlichen Erkrankung. Eigentlich würde man ja erwarten, dass sie sich im Laufe des Buches nicht wirklich weiterentwickeln kann - schließlich vergisst sie ständig, was sie erlebt hat, und kann daher nichts daraus lernen.

...oder?

Die Autorin schafft es dennoch, Flora als einzigartigen Menschen mit ganz viel Persönlichkeit und wunderbaren Eigenschaften zu zeigen. Und Flora hat ein System entwickelt, mit dem sie ein Stück weit ihr Gedächtnis ersetzen kann: sie schreibt wichtige Dinge auf ihre Arme, auf Zettel und in Notizbücher. Jedes Mal, wenn sie sich verwirrt irgendwo wiederfindet, ohne zu wissen, wer sie ist, wo sie ist und was gerade passiert ist, setzt sie sich anhand dieser Dinge Stück für Stück wieder zusammen. Meist fällt ihr als erstes das "Flora - Sei mutig!" auf ihrer Hand ins Auge.

Gleichzeitig ist Flora emotional sehr kindlich, denn im Herzen ist sie immer noch zehn. Und deswegen war ich sehr, sehr skeptisch, was die Liebesgeschichte betrifft! Dass Flora direkt glaubt, Drake müsse die Liebe ihres Lebens sein und diese Liebe das Allheilmittel für ihre Amnesie, konnte ich nachvollziehen, gerade weil sie noch denkt und fühlt wie ein kleines Kind. Es kam mir aber mehr als fragwürdig vor, dass Drake ein Mädchen küsst, von dem er ganz genau weiß, dass sie emotional im Alter von zehn Jahren stehengeblieben ist.

Ich möchte jetzt natürlich noch nicht verraten, was daraus wird, aber meine Befürchtungen, Floras Erkrankung könne herabgesetzt werden, indem die Liebe wundersamerweise die Lösung für all ihre Probleme ist, haben sich nicht erfüllt. Die Autorin geht sehr sensibel und realistisch mit dem Thema um.

Die anderen Charaktere muss man zusammen mit Flora immer wieder neu von vorn entdecken, und trotzdem bekommt man einen guten Eindruck davon, wer sie sind. Ein echtes Kunststück der Autorin!

Der Schreibstil ist eher einfach, denn Flora denkt meist wie ein Kind. Natürlich gibt es unzählige Wiederholungen, was aber keineswegs dazu führt, dass die Geschichte langweilig wird, und es wird auch nicht benutzt, damit der Leser auf Floras Kosten lachen kann. Stattdessen hat es etwas unbeschreiblich Bewegendes und oft Tragisches. Man fiebert mit Flora mit, man freut sich über ihre Fortschritte, und dann... Schnitt. Reset. Flora schaut sich um, wundert sich, wo sie ist, und muss schon wieder von vorne anfangen.

Ich fand das Buch unglaublich gut geschrieben und konnte es kaum einmal weglegen. Ich habe es in Rekordzeit beendet, denn ich habe mit Flora mitgefiebert und ihr so sehr ein (glaubhaftes) Happy End gewünscht... Die Auflösung fand ich überraschend und dennoch schlüssig. Flora und der Leser stellen fest, dass die ganze Zeit Dinge vorgingen, die Flora nicht bewusst waren, und die Autorin verzichtet auf einfache Lösungen, findet aber ein Ende, mit dem ich zufrieden war.

Bewertung vom 10.05.2017
George
Gino, Alex

George


ausgezeichnet

Das Buch hat einige Auszeichnungen für Kinder- und Jugendliteratur gewonnen, wie zum Beispiel den 'Stonewall Book Award for Children' oder die Goldmedaille des 'California Book Awards'. Als Alex Gino 2003 mit der ersten Version des Buches begann, gab es nur wenige Kinderbücher, in denen glaubwürdige schwule oder lesbische Charaktere eine Rolle spielten, und Kinderbücher mit transsexuellen Charakteren schien es gar nicht zu geben.

Das Thema ist eine Herzensangelegenheit für Alex Gino, dier sich selbst als 'genderqueer' identifiziert, was bedeutet, dass xier sich weder als Mann noch als Frau betrachtet. ('dier' und 'xier' werden übrigens oft anstelle von 'der/die' oder 'er/sie' verwendet.) Gino hat also eigene Erfahrungen mit den Vorurteilen und Schwierigkeiten, mit denen Menschen kämpfen müssen, die von den Vorstellungen der Gesellschaft über Sexualität abweichen.

Und das merkt man auch, denn die kleine George ist von Anfang an herzzerreißend glaubhaft. Sie ist erst 10 Jahre alt, aber sie hat immer schon gewusst, dass sie ein Mädchen ist und kein Junge! Man spürt auf jeder Seite, wie George unter dem leidet, was für alle anderen selbstverständlich ist: sie verzweifelt daran, die Jungentoilette benutzen zu müssen, sie hat Angst davor, älter und 'männlicher' zu werden, und sie könnte weinen, wenn ihre Mutter ihr sagt, George würde immer ihr kleiner Junge sein... Und sie ist manchmal so unglaublich einsam damit, trotz ihrer besten Freundin Kelly - denn die weiß auch nicht, dass ihr bester Freund in Wirklichkeit eine beste Freundin ist

Kein einziges Mal habe ich beim Lesen von George als Jungen gedacht: George ist ein Mädchen, das ist doch sonnenklar! Und nicht nur irgendein Mädchen, sondern ein intelligentes, warmherziges, witziges und mutiges, und damit genau die Identifikationsfigur, die transsexuelle Kinder und Jugendliche so dringend brauchen. Aber es ist auch für cisssexuelle1 Leser jeden Alters ein wichtiges Buch, das zum Nachdenken, zum Mitfühlen und zur Toleranz einlädt.

Auch die anderen Charaktere sind großartig und wunderbar geschrieben, vor allem Georges treue Freundin Kelly, die ihr immer bedingungslos beisteht. Ich wünschte, jedes transsexuelle Kind (oder überhaupt jedes Kind!) hätte eine Freundin wie Kelly. Aber nicht alle Menschen in Georges Leben können direkt damit umgehen!

Die Geschichte wird spannend erzählt, mit viel Humor und ganz großen Emotionen. Ich habe mit George mitgelitten und mitgefiebert, und mir ist das Herz aufgegangen, wann immer sie einen kleinen Schritt in Richtung Akzeptanz gehen konnte - in Richtung von Melissa, ihrem wahren Ich. Die überschäumende Freude, die George an ganz einfachen Dingen empfindet, wie zum Beispiel, sich endlich selbst im Spiegel in Mädchenkleidung und mit einer Mädchenfrisur zu sehen, hat mich zu Tränen gerührt.

Das Ende ist versöhnlich und hoffnungsvoll, ohne die Schwierigkeiten, die George/Melissa in der Zukunft mit Sicherheit begegnen werden, kleinzureden. Aber wie sie selber sagt: es wird vielleicht schwer werden - aber als Junge leben zu müssen, ist auch schon furchtbar schwer und wird immer schwerer.

Der Schreibstil ist einfach und kindgerecht, bringt das Thema und die Persönlichkeit von George aber perfekt rüber. Es ist einfach alles so echt, wie direkt aus dem Leben gegriffen!

Auch die Umsetzung als Hörbuch fand ich unglaublich gut gelungen, denn Julian Greis spricht alle Charaktere, allen voran George und Kelly, überzeugend und einfühlsam. Die Balance aus Humor und Ernsthaftigkeit gelingt ihm tadellos.

Bewertung vom 02.05.2017
Für immer vielleicht
Ahern, Cecelia

Für immer vielleicht


sehr gut

Das Buch ist komplett in Form von SMS, Emails, Briefen und Chatnachrichten geschrieben! Das ist nicht nur originell, es funktioniert in meinen Augen auch perfekt und vermittelt dem Leser den Eindruck, unmittelbar dabei zu sein.

Man folgt Rosie und Alex durch Jahrzehnte ihres Lebens, und das ist mal humorvoll und mal tragisch, denn das Schicksal legt ihnen immer und immer wieder Steine in den Weg. Ich habe mitgefiebert mit den beiden, gespannt darauf, wann sie endlich realisieren, dass sie zusammen gehören – aber manchmal fand ich auch frustrierend, dass vieles sich viel früher hätte klären lassen, hätten die beiden einfach mal ehrlich miteinander geredet. Ein klein wenig hat das für mich auch die ansonsten großartige Romantik geschmälert!

Obwohl man die Charaktere nur durch ihre Nachrichten kennenlernt, bekommt man doch ein sehr gutes Gefühl dafür, wer sie sind und wie sie fühlen und denken.

Fazit:
Ein ungewöhnlich geschriebener Liebesroman, und ganz nebenher eine philosophische Geschichte über das Lebensglück. Originell, spannend, romantisch und humorvoll, manchmal aber auch frustrierend und tragisch.

Das Buch regt zum Nachdenken an: was ist eigentlich Glück, was erwartet man vom Leben?

Bewertung vom 30.04.2017
Mordkapelle / Ira Wittekind Bd.4
Berling, Carla

Mordkapelle / Ira Wittekind Bd.4


sehr gut

Gleichzeitig ein Debütroman und ein vierter Band? Möglich gemacht wird das scheinbare Paradoxon von der einfachen Tatsache, dass Carla Berling. die ihre schriftstellerische Karriere als Lokalreporterin und Pressefotografin begann, die ersten drei Bände ihrer erfolgreichen Krimireihe in eigener Regie als Selfpublisherin herausgab.

In "Sonntagstod", "Königstöchter" und "Tunnelspiel" ließ die Autorin eine starke Heldin mittleren Alters ermitteln: Ira Wittekind, mit der sie mehr gemeinsam hat also nur den Beruf, und der sie daher eine überzeugende Authentizität verleihen konnte. Vielleicht war es das, was die Aufmerksamkeit des Heyne-Verlags erregte? Jedenfalls trudelte im November 2014 eine Mail bei Carla Berling ein, die Interesse an einer Zusammenarbeit bekundete – und das Ergebnis steht nun unter dem Titel "Mordkapelle" in den Buchhandlungen.

Ein Verlagsdebüt also, und dennoch eine Krimireihe, deren Hauptcharaktere schon eine gewisse Hintergrundgeschichte mitbringen. Das merkt man auch, denn sie wirken sehr lebendig und vielschichtig, mit all den familiären und freundschaftlichen Querverbindungen, die aus langer Bekanntschaft eben entstehen! Das Buch enthält eine kleine Übersicht der wichtigsten Personen, aber sie sind in meinen Augen ohnehin unverwechselbar genug, um als Leser nicht durcheinander zu kommen.

Ira Wittekind ist schon in sofern eine eher ungewöhnliche Krimi-Heldin, dass sie Mitte fünfzig ist – und das ist wunderbar. Warum sollen es immer nur die Mittzwanzigerinnen sein, die Abenteuer erleben? Wenn ich sie in wenigen Worten beschreiben müsste, dann wären es wohl: 'hartnäckig', 'entschlossen', 'intelligent', 'integer'... Und 'Tunnelblick'. Denn sie kann sich ganz schön verbeißen in einen Fall, und manchmal sieht sie dann den Wald vor lauter Bäumen nicht! Manchmal konnte ich ihr Verhalten nicht hundertprozentig nachvollziehen, meist war ich aber ganz "bei ihr" und fand ihre Ermittlungsmethoden schlüssig und hochspannend.

Das Buch ist ein klassischer Krimi im Stile eines "Whodunits". Nicht ausufernde Gewalt steht im Mittelpunkt, sondern das große Rätsel: Wer hat es getan? Und warum? Ira ermittelt, was der Polizei oft ein Dorn im Auge ist, und fördert dabei nach und nach einiges zu Tage: mehr als eine Person im Umfeld des ermordeten Apothekers Ludwig Hahnwald hat Dreck am Stecken und/oder ein mögliches Motiv. Außerdem stößt sie auf ein altes Geheimnis, das mehr als 40 Jahre nicht aufgedeckt wurde.

Der Leser kann fleißig miträtseln, der Fall ist interessant konstruiert, es gibt zahlreiche Winkelzüge und versteckte Motive. Die Auflösung ereilt die Guten wie die Bösen überraschend, im Rückblick konnte ich mich aber an genug Hinweise erinnern, dass sie nicht aus heiterem Himmel kam.

Ein wenig enttäuscht hat mich, dass Ira im Finale eine zwar dramatische, aber eher passive Rolle spielt! Statt aktiv das letzte Rätsel zu lösen, widerfährt ihr die Lösung eher, als dass sie sie triumphierend präsentiert. Gelegentlich fand ich auch etwas zweifelhaft, wie mühelos sie Verdächtige und Zeugen zum Reden bringt – und das zum Teil mit sehr offensichtlich strategischen Fragen.

Die Spannung ist meist eher eine unterschwellige, statt vor Action nur so zu strotzen, aber sie hält sich durchweg auf hohem Niveau. Es sind nicht nur der Mordfall und das alte Geheimnis, die für Verwirrung sorgen: genauso brisant ist das plötzliche Auftauchen eines selbsternannten Enthüllungsjournalisten, der auf seiner Webseite mit geschmacklosen Schlagzeilen ganz tief im Dreck wühlt. Außerdem verfügt er über Informationen, die die Polizei noch gar nicht herausgegeben hat... Er war ein interessanter, zwiespältiger Charakter, allerdings erschien mir eine bestimmte Entwicklung gegen Ende ein wenig konstruiert.

Der Schreibstil ist flüssig und locker; die Autorin lässt ein wenig Lokalkolorit und Humor einfließen, was der Krimi-Atmosphäre und der Ernsthaftigkeit des Falls aber keinen Abbruch tut.

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