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Juti
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Insgesamt 631 Bewertungen
Bewertung vom 02.10.2022
Limonow
Carrère, Emmanuel

Limonow


gut

bis zur Hälfte gut

Von einem Buch „Yoga“ erwartet der Leser von Carrère, dass er sich im Selbstversuch mit Yoga beschäftigt und ähnlich wie in seinem mich vollkommen überzeugenden Buch „Das Reich Gottes“ die Selbstwahrnehmung mit seinen Leserinnen teilt. Dies gelingt bis Seite 156, wo ein „junger Typ“ mitteilt, dass er beim Meditieren immer an „Titten!“ denken muss.

Danach erfahren wir, dass der Autor wegen einer bipolaren Störung meditieren wollte. Dabei musste ich an Thomas Mette denken und sein Buch ist besser. Denn der Trip nach Bagdad, um den Blutkoran zu finden, ist zu weit hergeholt und die Flüchtlingsgeschichte nicht neu, zumal er korrekt darauf hinweist, dass der Migrant weiß, dass er Erzählungen hinzudichten muss, um in Europa Asyl zu erhalten.

Erst auf S.304 kehrt er zur Definition von Meditation zurück, nachdem er auf S.171 einen unbekannten Mystiker zitiert hat: „Gott schaut mit seinen Augen der Barmherzigkeit nicht den an, der du bist, sondern den, der du sein wolltest.“
„Machen Sie gar nichts: Nur so kann Veränderung eintreten“ lässt er auf S.187 einen Therapeuten sagen und definiert dies als Meditation wie „still und unbewegt dazusitzen“ , „den Gedankenstrudel beobachte[n], ohne sich davon mitreißen zu lassen“, „sich von seiner Identität zu lösen“ (alles 304), „ins Innere des eigenen Ichs einzutauchen“, „alles anzunehmen, was auftaucht“, „lernen, nichts zu bewerten“ und „loszulassen, nichts mehr zu erwarten, nichts mehr zu tun zu versuchen.“ (alles 305)

Diese verkürzte Definition ist Ergebnis einer geplanten 10tätigen Schweigemeditation ohne Abendessen, die der Autor aber abbrechen musste, weil ein Bekannter bei den Anschlägen auf „Charlie Hebido“ stirbt. Dabei fallen immer wieder nette Zitate: „Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von deinen Plänen!“ (62)

Nicht nur von seinem Hardcoreseminar erzählt der Franzose, auch wie er in Genf während einer Meditation mit einer Frau im siebten Himmel schwebt (82f). Schulz von Thun kennt er aber nicht, sonst würde er sich über das Ich anstatt du nicht beschweren (103) und fragt, ob Sex nicht wahrer sei als Meditation (109). So bin ich wieder in der Mitte des Buches mit: „Alles, was wirklich ist, ist per Definition wahr, aber manche Wahrnehmungen der Wirklichkeit haben einen höheren Wahrheitsgehalt als andere“. (154)


Für den ersten Teil 5, für den zweiten Teil 1 Stern, macht 3 Sterne.

Bewertung vom 30.09.2022
Deutsche Erinnerungsorte
Francois, Etienne / Schulze, Hagen (Hrsg.)

Deutsche Erinnerungsorte


gut

anderes Erinnern

Ich hätte dieses Buch gerne als Reiseführer gelesen. Doch fällt dies schwer, wenn das Thema Reformation heißt. Eigentlich hätte man das Kapitel auch Martin Luther nennen können. Dann bleibt als Reiseziel Wittenberg, war ich aber schon 2017.

Nächstes Thema Reichstag. Hier war ich überrascht, dass die erste Stadt genannte Stadt Regensburg heißt, Berlin kommt erst später.
Dann folgt das Kapitel Weimar, also Goethe. Die Republik und Birkenau werden noch gestreift, das Bauhaus ganz vergessen.


Ja, dieses Werk ist kein Lesebuch, sondern ein Nachschlagewerk. Und da ist „Die deutsche Seele“ von Thea Dorn und Richard Wagner von der Aufmachung schöner und leichter lesbar. Weil dieses Werk aber älter ist, bekommt es von mir 3 Sterne.

Bewertung vom 16.09.2022
Über alte Wege
Deen, Mathijs

Über alte Wege


schlecht

Tabula rasa

Dem Kritiker der FAZ ist voll und ganz zuzustimmen. Nach zwei interessanten Kapiteln über Europastraßen geht es schnurstracks in die Steinzeit. Während die Fußspuren am Strand noch halbwegs interessant ausgegraben werden, spielen die Wege eine immer unwichtigere Rolle.

Wie eine Isländerin im Mittelalter nach Rom reist, wird nur noch am Rande behandeln. Viel lieber erzählt Deen von den Städten Utrecht und Köln. Das habe ich noch mitbekommen.

Im folgenden Kapitel, dem längsten im Buch, fragte ich mich dann, ob Weiterlesen noch sinnvoll ist. Ich hatte von Postkutschen, Fußgängern und schnellen Reitern geträumt, eventuell auch von Bertha Benz.


All das habe ich in diesem Buch nicht gefunden, jedenfalls nicht bis Seite 240, denn da gewann der Wunsch ein richtig gutes Buch zu lesen Überhand. Nach dem enttäuschenden Brexit-Buch von Morris wieder nur 1 Stern. Ich wollte reinen Tisch machen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.09.2022
Geographie ist Schicksal
Morris, Ian

Geographie ist Schicksal


schlecht

falscher Stolz

Dieses opulente Werk ist zum Brexit erschienen. Schon auf der zweiten Seite seines Textes (im Buch S.8) schreibt Morris zu den anderen Bücher, die die Entwicklung nur bis Camerons Erklärung 2013, dem Eintritt Großbritanniens in die EWG 1973, in die 40er Jahre oder allerhöchstens ins 16. Jahrhundert zurückgehen: „Ich bin überzeugt, dass keiner diese Analysen wit genug zurückreicht.“

Und er untermauert seine Behauptung mit dem Churchill-Zitat: „Je weiter man in die Vergangenheit blickt, desto weiter kann man in die Zukunft sehen.“
Auf S. 9 kündigt er folgerichtig an, die Beziehungen der Britiscvhen Inseln zu Europa in der Eiszeit untersuchen zu wollen. Das klingt für mich so satirisch, dass ich gleich beschloss, den Teil I, also 250 Seiten, auszulassen.
Ganz ausgelassen habe ich es dann doch nicht. Den banalen Satz Thatchers „Wir sind untrennbar mit Europa verbunden“ (S.33) habe ich noch gelesen. Mir reichte es aber, als der Autor diese Binsenweisheit noch als Thatchers Gesetz verkaufte.

Der Autor schreibt, dass Identität, Mobilität, Wohlstand, Sicherheit und Souveränität die wichtigsten Punkte bei der Brexitentscheidung waren. Doch die Geographie, die er erstaunlich als Technologie und Organisation definiert, verändert die Bedeutung der Werte.

Eigentlich baut Morris sein Buch an drei Karten auf:
1. die Hereford-Karte, eine mittelalterliche Karte mit Jerusalem als Mittelpunkt und den britischen Inseln als letzten Ort am Rand. Sie hatte bis 1497 bestand. Die Entdeckung Amerikas schuf eine neue Weltordnung, die in der
2. Mackinders Karte mit den britischen Inseln als Mittelpunkt zum Ausdruck kommen. Diese Karte auf S.19 enthält einen Kreis, der die Kugelform der Erde wohl verdeutlichen soll. Warum aber ganz Afrika oberhalb des Kreises liegt, der sonst eher dem Äquator gleich, wird nirgendwo erklärt.
3. bezieht sich der Autor auf die Karte des Geldes, die im 20. Jahrhundert auch China als Schwerpunkt aufweist. Eine historische Entwicklung dieser Geldkarte bleibt Morris aber schuldig. Es könnte ja sein – und ich meine es ist auch so – dass China schon immer wohlhabend war, nur in Europa hat es keiner mitbekommen.

Die Einleitung enthält auf S.25 noch eine vierte Karte, die belegen soll, dass nur Englands Südosten Europa zugewandt ist. Dass die Schotten mehrheitlich gegen den Brexit gestimmt haben, widerspricht dieser These und wird mit keinem Wort erwähnt.

Ich wollte dem Buch noch eine Chance geben und begann das 6. Kapitel, in dem der Autor die Frühe Neuzeit unter dem Motto „was ich immer schon mal sagen wollte“ behandelt. Da ich kein England-Experte bin, war es nicht ganz uninteressant, aber als Wilhelm von Oranien „Wilhelm von Orange“ getauft wurde, hatte ich die Nase voll. Vorher wurde immer schon der katholische Teil Europas als „Europäische Union“ bezeichnet. Dabei wurde die Protestanten schlicht vergessen. Und dass es in Europa auch orthodoxe Christen gab und gibt, wird dem Autor erst einfallen, wenn er meinen Text liest. Von Union kann also nicht die Rede sein.


Nach meiner Wertung bekommt ein abgebrochenes Buch einen Stern, mehr hat das kluge Geschwafel auch nicht verdient.

Bewertung vom 14.09.2022
Die Hohenzollern und die Nazis
Malinowski , Stephan

Die Hohenzollern und die Nazis


ausgezeichnet

Nie und nimmer

Wenn die Rückgabe des Grundbesitzes der Hohenzollern diskutiert wird, kommt die Frage auf, ob die ehemalige Kaiserfamilie der Nazi- Herrschaft Vorschub geleistet habe. Und wer dieses Buch gelesen hat, wird zu dem Ergebnis kommen, dass die Bundesrepublik nie und nimmer den Hohenzollern ihren Besitz zurückgeben darf.

Das Verhalten von Kaiser und Kronprinz im Ersten Weltkrieg nicht an der Front zu fallen, sondern in den Niederlanden Asyl zu suchen kann ich nachvollziehen. Nachvollziehen kann ich auch, dass der Ex-Kronprinz nach seiner Rückkehr von er Wiederherstellung der Monarchie träumte. Doch der Autor legt plausibel dar, dass trotz Monarchiewillen in weiten Teilen der Bevölkerung weder der wankelmütige, frauenumwerbende Kronprinz noch sein Vater noch ein anderes Familienmitglied als Monarch in Frage kam.

Weit schlimmer ist aber, dass der Ex-Kronprinz als Mitglied der Stahlhelm-Bewegung sich um die Einheit der konservativen Bewegung bemühte und schon vor der Machtübernahme der Nazis sich mit Hakenkreuzen zeigte. Nie hatte die Hohenzollern-Familie eine Beziehung zur Weimarer Republik gefunden.

Als die Nazis während ihrer Regierung schnell dafür sorgten, dass ohne öffentliche Berichterstattung das Interesse am Ex-Königshaus sank, setzte auch kein Widerstand ein. Ebenso wenig schadete der Gewaltherrschaft, dass ein Enkel des letzten Kaisers an der Front fiel und auch die Beteiligung der Hohenzollern am Attentat des 20. Julis gehört in das Reich der Fabel.

Nach dem Krieg inszenierte sich die Familie weiter als zum Widerstand gehörig oder wie Historiker Clark als unbedeutend. Doch auch unzählige Gerichtsverfahren können den Autor Malinkowski nicht widerlegen.


Dieses Buch erhielt den Deutschen Sachbuchpreis 2022 und das völlig zu Recht. Da mich dieses Thema nur am Rande interessiert, fand ich es manchmal etwas zu ausführlich, aber das kann ich keinem Sachbuch vorwerfen, nein von Herzen 5 Sterne.

Bewertung vom 05.09.2022
Eine ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch

Eine ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch


schlecht

Grimms Wörterbuchauszug

Was an der Auswahl "ungemein eigenwillig" ist, konnte sich mir nicht erschließen. Dass sich eine Sprache im Laufe der Jahrhunderte ändert, versteht sich von selbst. Dass eine solche Auswahl mehr leisten muss als nur eine Auszug aus dem Wörterbuch eigentlich auch. Aber denkste!

Nach einer guten Stunde legte ich das Buch aus der Hand und weniger als 1 Stern geht leider nicht.

Bewertung vom 05.09.2022
Alexander von Humboldt
Daum, Andreas W.

Alexander von Humboldt


ausgezeichnet

schöne Einführung

Nach Andrea Wulf habe ich nun mit Vergnügen die zweite Humboldt-Biografie gelesen. Das dünne Bändchen eignete sich gut für den Zug mit dem 9-Euro Ticket.

Vieles war mir zwar schon bekannt, aber Details wie das Eingraben von Humboldt und Bopland in Südamerika gegen Moskitos hatte ich dann doch vergessen.

Dieses Buch will nur einen Überblick bieten und das leistet es auch. 5 Sterne

Bewertung vom 27.08.2022
Heimreisen
Maurer, Golo

Heimreisen


gut

Goethes Italienreise als Selbstentdeckung

Ich bin kein Goethe-Experte, sondern ich interessiere mich für Reisen. Neu für mich war, dass Goethe erst im vierten Anlauf bis nach Italien reiste, zweimal war er vorher auf dem Gotthard, dann gilt: „Goethe kam nur bis Heidelberg.“ (24, als in den Weimarer Fürst nicht in Frankfurt abholte)

Doch scheint es mir, dass der Autor Goethe nicht in den Mittelpunkt stellen wollte, sondern die Auswirkungen seiner Reise auf die Nachwelt. „Goethe hatte als Letzter den Vorteil, nicht auf den Spuren Goethes reisen zu müssen“, schreibt er selbst-kritisierend seine Weisheit auf S.110.

Mit dem besprochenen Gedicht „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,“ (265) öffnet er den Raum für ironische Dichtung wie diese:
„Kennst du das Land, wo die Kartoffeln blühn,
Wo dürre Ochsen krumme Furchen ziehn,
Wo Magd und Bauer aus derselben Schüssel fressen?
Da ist das Land der dummen Hessen.“ (269)

Dass er Herder als Nachfolger behandelt, ok. Dass der goethekritische Nicolai mit dem schönen Satz zitiert wird: „Venedig nahm sich aus wie eine größere Stadt am Horizont einer Ebene, etwa wie Leipzig oder Breslau.“ (299), auch ok.

Danach wird die Auswahl aber willkürlich und mir bleibt nur dass Zitat von Curtius: „Florenz ist schön, aber nicht groß. Interessant, nicht überwältigend. Das Quattrocento ist süß, innig – aber kindlich. Keine Kunst höchsten Ranges.“ (364) Selbst Thomas Mann und Ingeborg Bachmann, also jeder, der mal in Rom gewesen ist und ein Buch geschrieben, wird erwähnt.


„Sehenswürdig ist, was andere schon gesehen hatten.“ (461) ist eine Definition des Autors. Seltsam, denn lesenswert ist nicht alles, was andere gelesen haben. Dieses Buch hat dank dden für mich neuen Themen und den guten Zitaten 3 Sterne verdient. Wie aber drei Literaturwissenschaftler in Rom von den Nazis verfolgt werden, ist ein neues Thema und deswegen gibt es auch nicht mehr.

Bewertung vom 22.08.2022
Rot (Hunger)
Varatharajah, Senthuran

Rot (Hunger)


schlecht

Falsch gelegen

Oft stimme ich mit Denis Scheck überein. Bei diesem Büchlein aber nicht. Es ist kein Meisterwerk.

Das Beste an diesem nur 115 Seiten langen Bändchen ist, dass es dank zahlreicher Zitate erst auf S.14 beginnt und dass zwischen Kapitel A und B 6 Seiten leer sind, zwei davon rot.

Ich hatte noch die Hoffnung, dass ich im zweiten Kapitel einen roten Faden finden würde, doch als dies auch nicht geschah, war S.80 die letzte, die ich las.

Zweifellos darf ein Autor Wörter auseinanderschneiden, keine Trennungsstriche verwenden und mit einzelnen Buchstaben eine neue Zeile beginnen, doch der Leserin bereitet dies mehr Mühe. Den Aufwand könnt ihr euch sparen, auch wenn das Thema des Kannibalen von Rotenburg sicher irgendwann in einem guten Roman verarbeitet wird. 1 Stern

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.08.2022
Die Taube
Süskind, Patrick

Die Taube


ausgezeichnet

überzeugende Novelle

Hanna Engelmeier dürfte es gewesen sein, die in ihrem Buch „Trost“ auf dieses Bändchen hinwies. Und das zu recht.

Tröstet es nicht, wenn ein gestandener Franzose aus der Bahn geworfen wird, weil eine Taube den Weg aus seiner Haustür versperrt. Er schafft es dennoch pünktlich zur Arbeit, weil er auf sein Frühstück verzichtet.
Seine Arbeit wiederum ist ein Bull Shit Job. Er ist Wachmann in einer Bank, hat aber nicht anderes zu tun als im Hin- und Herlaufen das Ansehen der Bank zu erhöhen und bei der Abfahrt der Direktoren zu salutieren – ein echter Lakai also.

Ausgerechnet an diesem Taubentag verpasst er die Direktoren und reißt sich an der Bank eines Clochards auch noch seine gute Arbeitshose auf. Die Schneiderin, die er kennt, könnte das reparieren, aber erst in drei Wochen. Wir erleben förmlich wie Jonathan innerhalb eines Tages auf die schiefe Bahn gerät und im Hotel übernachtet.


Das Ende wird nicht verraten, schließlich soll noch etwa Spannung bleiben. Angesichts von nur genau 100 kleinen Seiten kann ich jedem empfehlen, sich maximal 2 Tage Zeit zu nehmen. 5 Sterne