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Aischa

Bewertungen

Insgesamt 548 Bewertungen
Bewertung vom 10.05.2022
Gefundenes Fressen
Haebel, Fabio;Hrdlicka, Jan;Deharde, Olaf

Gefundenes Fressen


sehr gut

Ganz unter uns - ein wenig Effekthascherei ist beim Titel dieses edel gestalteten Kochbuchs schon im Spiel. Sicher, einige der Rezepte werden mit Wildkräutern, -beeren und Pilzen zubereitet, die man gut selbst "finden", sprich: sammeln kann. Aber die wenigsten Leserinnen dürften selbst Angeln oder auf die Jagd gehen, um so ihr "Fressen zu finden". Und selbst im Supermarkt oder beim Metzger ums Eck sind Wildschweinwurst, Gämse oder Fasan kaum erhältlich. Gut, dass das Autorentrio hier auf die Website des Deutschen Jagdverbandes verweist; dort kann der Hobbykoch nämlich regionale Wildhändler und Jägerinnen in seiner Nähe finden. Noch spezieller wird es beim - an sich sehr interessanten - Strandsammelguide: Queller oder Meersenf können Leser aus dem süddeutschen Raum wohl nur im Urlaub an der Küste sammeln.

Eine breitere Leserschaft spricht das Kapitel Vorräte und Grundrezepte an. Hier wird fermentiert, Mixed Pickles eingelegt, getrocknet und eingekocht.

Die rund 60 Essensrezepte sind nach Jahreszeiten gegliedert und werden durch zehn alkoholische Drinks ergänzt. Der Schwierigkeitsgrad der Gerichte ist überwiegend einfach, sie dürften auch Kochanfängern gut gelingen. Leider sind keine Zubereitungszeiten angegeben, das erschwert die Planung beim ersten Nachkochen etwas. Dafür überzeugen die Gerichte optisch und geschmacklich rundum.

Die Ausstattung des fadengebundenen Hardcovers ist top: ein edler Leineneinband, ein praktisches Lesebändchen und das junge, freche Layout mit tollen Fotos machen das Buch auch zum idealen Geschenk für Kochbegeisterte, vorausgesetzt sie essen Fleisch und Fisch.

Fazit: Wer ein wenig Mühe bei der Besorgung der Zutaten nicht scheut, wir mit außergewöhnlichen und sehr schmackhaften Gerichten belohnt. Nichts für die schnelle Küche, aber jede Menge Kreatives für den besonderen Anlass.

Bewertung vom 10.05.2022
Das Lächeln der Natur. Ein Lesebuch für Gartenliebhaber
Lässig, Christine

Das Lächeln der Natur. Ein Lesebuch für Gartenliebhaber


sehr gut

Klein, aber fein - diese Redewendung trifft auf dieses handliche Lesebuch zum Thema Garten rundum zu. Autorin Christine Lässig teilt ihre Ansichten zum Wachsen und Vergehen der gehegten heimischen Flora und regt so zum eigenen Nachdenken über Gärten und Gärtnerinnen an. Dabei halten sich Tiefsinniges und Humorvolles auf angenehme Weise die Waage.

Die Illustrationen von Rita Fürstenau im plakativ-naiven Stil erinnern an ein Kinderbuch und geben dem Paperback einen eigenen Charme. Interessant sind überdies zahlreiche Zitate bekannter und weniger bekannter Gartenliebhaber.

Mein einziger Kritikpunkt ist, dass das Buch sehr vom christlichen Glauben der Autorin geprägt ist und dies anhand des Klappentextes nicht unbedingt ersichtlich ist. Um die Schöpfung als Lobpreis Gottes zu sehen muss man zwar nicht unbedingt christlich sein, eine religiöse Weltanschauung ist hingegen schon erforderlich, um diese Sicht zu teilen. Daher sollte der Untertitel besser "Ein Lesebuch für gläubige Gartenliebhaber" lauten.

Bewertung vom 25.04.2022
Die Gemüsebäckerei
Wallentinson, Lina

Die Gemüsebäckerei


gut

Backen ist eine meiner großen Leidenschaften, und ich liebe Gemüse in den verschiedensten Varianten, daher klang "Die Gemüsebäckerei" nach dem perfekten Backbuch für mich.

Und meine Neugierde wurde durchaus belohnt, das Buch der schwedischen Autorin punktet mit vielen innovativen und wirklich leckeren Rezepten. Z. B. der Zucchinikuchen mit Mohn und Zitrone, fix gemacht und einfach traumhaft lecker! Auch die Bohnenmuffins mit Schokolade haben mich positiv überrascht: Pürierte Bohnen ersetzen hier das Mehl, treten geschmacklich überhaupt nicht in Erscheinung, geben den kleinen Kuchenhäppchen jedoch eine einzigartig feine Textur. Die herzhaften Backwaren überzeugen ebenfalls, sowohl geschmacklich wie auch optisch: Das (durch Spinat) grün gefärbte Baguette ist garantiert der Hingucker bei jeder Grillparty.

Doch leider kann ich das Buch nur eingeschränkt empfehlen, denn es beinhaltet einige Ungereimtheiten und sogar Fehler. Mal fehlt die Angabe, was bei getrennten Eiern mit dem Eigelb passieren soll, mal ist ein Rezept fälschlicherweise als glutenfrei gekennzeichnet, obwohl dafür Hartweizenmehl verwendet wird, das besonders viel Gluten enthält. Die Teigmasse ist oftmals viel zu wenig für die angegebene Form, so dass der fertige Kuchen bzw. das Brot viel zu flach ist.

Die Angaben zum Backvorgang sind recht knapp gehalten, meist findet sich nur Backtemperatur und -zeit, nicht aber, ob bei Ober- oder Unterhitze oder mit Heißluft und auf welcher Schiene gebacken werden soll. Versierte Bäcker*innen dürften damit gut klar kommen; Anfängern rate ich dazu, sich lieber Unterstützung zu holen.

Man merkt dem Buch seine skandinavische Herkunft an. Das ist bei der Auswahl der Rezepte erfrischend (Kuchen mit Lakritz, viel Knäckebrot), bei den verwendeten Mehlsorten vermisse ich eine Tabelle, die die in Schweden gängigen Mehle ("Weizenmehl spezial") in deutsche bzw. österreichische Typenangaben übersetzt.

Gut gefällt mir die Aufmachung mit rustikal gehaltenen, ganzseitigen Fotos und gleich zwei praktischen Registern (alphabetisch nach Rezept und nach verwendetem Gemüse). Last but not least: Durch die Fadenbindung bleibt das hochwertige Hardcover aufgeschlagen gut liegen.

Bewertung vom 21.04.2022
Engel des Todes / Paul Stainer Bd.3
Ziebula, Thomas

Engel des Todes / Paul Stainer Bd.3


ausgezeichnet

Für seinen dritten Fall muss Kriminalinspektor Paul Stainer ausgerechnet in den äußerst unruhigen Tagen des Kapp-Putsches ermitteln. Blut fließt diesmal nicht nur durch die Taten eines Serienmörders, sondern auch durch die politisch motivierten Kämpfe in den Straßen Leipzigs.

Zeitlich spielt dieser Roman also im März 1920 und knüpft somit nahezu nahtlos an den Vorgängerband an, und auch wenn seit meiner Lektüre von "Abels Auferstehung" ein gutes Jahr vergangen war, konnte ich mir die Protagonisten und Settings schnell wieder ins Gedächtnis rufen. Dabei hilft ohne Frage Ziebulas anschaulicher, detailverliebter Schreibstil - selbst den Gummibaum in Stainers Büro durfte ich erneut schmunzelnd vor meinem inneren Auge sehen.

Diesmal steht weniger die Suche nach dem Täter im Fokus, denn wer die Morde begeht, erschließt sich den Leser*innen relativ bald. Doch keine Sorge, darunter leidet die Spannung keineswegs. Denn erstens ist es dramatisch genug, mit zu fiebern wie lange der Serienmörder sein Unwesen treiben kann, bevor er endlich gefasst wird. Und zweitens ist Ziebula mit dieser Geschichte ein großartiges Psychogramm gelungen. Wie wird ein Mann zum mehrfachen Mörder, was bewegt ihn, wie denkt ein Psychopath? Diese und andere Fragen sorgen für einen hohen Spannungsbogen.

Das alles wäre schon genug für einen guten Kriminalroman, aber der Autor hat noch eine Schippe drauf gepackt: Nämlich indem er Ursachen und Verlauf des Kapp-Putsches gut verständlich schildert und dies perfekt in die Story einbettet. Die Zusammenhänge haben sich mir - fast ohne geschichtliches Vorwissen - gut erschlossen. Beeindruckt hat mich die Schilderung der Auswirkungen der Straßenkämpfe und des Generalstreiks auf die Bevölkerung. Die Erzählung hat zahlreiche Facetten, und doch fügen sich die verschiedenen Handlungsstränge am Ende zu einem stimmigen Ganzen zusammen.

Die Ausstattung ist gewohnt hochwertig, die historische Karte Leipzigs auf Vor- und Nachsatz gibt einen guten Überblick über die Sachsenmetropole.

Fazit: Ein echter Pageturner, ich bin Fan der Reihe und froh, dass der Autor bereits einen vierten Band angekündigt hat!

Bewertung vom 21.04.2022
Wu-Tang Forever
Ries, Eva

Wu-Tang Forever


sehr gut

Autorin und Musikmanagerin Eva Ries arbeitet seit 1994 für und mit dem Wu-Tang Clan. Im vorliegenden, prachtvoll ausgestatteten Bildband schildert sie unterhaltsam und kurzweilig, wie sie es - als weiße deutsche Frau - schaffte, das Vertrauen der neun Gangstarapper zu gewinnen und welche Herausforderungen das Tourleben mit den vorbestraften Jungs mit sich brachte.

Ries teilt ihr Hintergrundwissen großzügig mit den Leser*innen: Man erfährt, dass es eine FBI-Akte über den Clan gab oder dass es im Tourbus schon mal zu wildesten Sex-Orgien (ohne Eva!) kam. Aber nicht nur Ereignisse aus der Bandgeschichte, die bereits reichlich für Schlagzeilen gesorgt haben, werden beleuchtet, sondern auch der gesellschaftlich-religiöse Hintergrund der Clan-Members. So waren die in New Yorker Ghettos aufgewachsenen Hip-Hopper völlig baff, beim ersten Konzert in Europa vor WEISSEM Publikum zu spielen. Interessant ist auch die Einführung in die Lehre der "Nation of Gods and Earths", auch bekannt als "Five Percent Nation", zu deren Anhänger die Mitglieder des Wu-Tang Clan zählen. Mehr als einen kurzen Überblick samt Zahlen- und Buchstabenmystik dieser Bewegung darf man allerdings nicht erwarten. Hilfreich fürs Verständnis der Songtexte ist eine Liste mit knapp 40 Vokabeln aus dem bandinternen "Wu-Slang", und anhand der "Wu-map", einer groben Karte New York Citys mit wichtigen Stationen der Band kann man sich einen guten Überblick verschaffen.

Überhaupt ist das großartige Layout dieses hochwertigen Hardcovers ein wirkliches Highlight. Außergewöhnliche, ausdrucksstarke Fotos, verschiedene Papierqualitäten und die sehr kreative, moderne Optik laden zum Durchblättern ein. Die ausführliche Diskographie (samt Collaborations, Compilations und Soundtracks) ist sicher vor allem etwas für Fans; leider fehlen hier die Solo-Veröffentlichungen von Masta Killa.

Der Text kann nicht immer mit der erstklassigen Ausstattung mithalten. Die einzelnen Clan-Mitglieder werden zwar auf je einer Doppelseite porträtiert, dennoch bleiben sie für mich nicht greifbar. Außer RZA, dem "Kopf" der Truppe, und dem viel zu früh verstorbenen ODB könnte ich auch nach der Lektüre kaum etwas über die einzelnen Members wiedergeben. Dafür ist mir ein ganzes Kapitel im Gedächtnis geblieben, in dem die Autorin schildert, wie sie die Anschläge auf das World Trade Center 2001 erlebt hat. In einem Buch über den Wu-Tang Clan hätte ich mir stattdessen - oder zumindest auch - Informationen darüber gewünscht, wo die Members an diesem denkwürdigen Tag waren, wie sie sich gefühlt haben und welche Auswirkungen diese Katastrophe auf sie und ihre Familien hatte.

Dennoch: ein sehr lesenswertes Buch, nicht nur für WTC-Fans, sondern für alle, die etwas Einblick ins (Hip Hop-)Musikbusiness bekommen wollen.

Bewertung vom 19.04.2022
Gutes Essen - Großer Genuss
Naessens, Pascale

Gutes Essen - Großer Genuss


ausgezeichnet

Das ehemalige Model Pascale Naessens zählt in Belgien zu den meistverkauften Kochbuch-Autorinnen. Hierzulande ist sie noch eher unbekannt - zu unrecht, wie ich finde. Denn dieses Kochbuch, das den Schwerpunkt auf kohlehydrarme, mediterrane Ernährung legt, hat mich wirklich begeistert. Es bietet eine wahre Fülle an äußerst geschmackvollen Gerichten, die mit wenigen Zutaten auskommen und fix zubereitet sind. So macht Kochen auch noch nach einem langen Arbeitstag Freude!

Der Clou vieler Rezepte ist eine ungewöhnliche, kreative Kombination der Zutaten. So wird etwa Hähnchenbrust mit Miso-Paste, Sesam und Lauch aufgepeppt. Mit Käse überbackener Blumenkohl bekommt eine orientalische Note, indem er zuvor mit Ras-el-Hanout-Würzmischung bestreut und angebraten wird. Ein wahres Gedicht!

Auch optisch überzeugt das Buch: Mit den vielen großformatigen Fotos eignet es sich auch als Coffee Table Book. Die Gerichte sind, auf von der Autorin selbst getöpfertem Geschirr, so ansprechend in Szene gesetzt, dass man sofort probieren möchte. Ein weiterer Pluspunkt ist das äußerst praktische Register, das die Rezepte nach Zutaten sortiert auflistet. So findet man auch ein Gericht schnell wieder, dessen genauen Namen man nicht mehr parat hat.

Kleine Kritikpunkte: Bei der Angabe essbarer Blüten fehlt der Warnhinweis, dass Borretschblüten wegen der darin enthaltenen giftigen Alkaloide nur in geringen Mengen verzehrt werden sollten, bzw. bei Leberproblemen gar nicht. Und dass Naessens propagiert, Eiweiß und Kohlenhydrate nicht gleichzeitig zu verzehren, ist etwas veraltet. Denn die Thesen zu positiven gesundheitlichen Auswirkungen dieser sogenannte Trennkost sind mittlerweile medizinisch und ernährungswissenschaftlich widerlegt.

Aber sei´s drum - die Gerichte bestehen aus frischen, gesunden Zutaten und schmecken traumhaft, also ran an die Töpfe!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.03.2022
Der Besitzer
Gordimer, Nadine

Der Besitzer


gut

Noch im Erscheinungsjahr 1974 wurde dieser Roman der späteren Nobelpreisträgerin und Lieblingsautorin Nelson Mandelas, Nadine Gordimer, mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Ohne Frage behandelt sie mit der durch Rassismus tief gespaltenen Gesellschaft Namibias ein Thema, das - leider - nach wie vor nichts an Aktualität eingebüßt hat.

Im Zentrum des Romans steht Protagonist Mehring, ein knapp 50jähriger erfolgreicher weißer Geschäftsmann aus Johannesburg, der sich vor den Toren der Stadt eine große Farm gekauft hat, auf der er an den Wochenenden auftaucht und den schwarzen Hilfsarbeitern Anweisungen erteilt. Die Story spielt vor der Unabhängigkeit Namibias, als das Land unter dem Namen "Deutsch-Südwestafrika" unter der Verwaltung Südafrikas stand, inklusive der Apartheids-Politik. Gordimer schildert - mit wenigen Worten und doch sehr eindringlich - wie unentrinnbar die Zugehörigkeit zur weißen Herrschaftsschicht und zur ausgebeuteten schwarzen Arbeiterklasse war. Dabei kam ich oft an die Grenze des für mich Erträglichen. Ich kann nicht sagen, was ich schrecklicher fand - die menschenverachtende ignorante und überhebliche Einstellung des Wochenendfarmers, oder die - erzwungenermaßen - unterwürfige, duckmäuserische Haltung der Schwarzen. Interessant, wenn auch sehr klischeehaft, ist auch die Darstellung der indischen Einwanderer, die gewissermaßen eine Hybridstellung innerhalb der Gesellschaft einnehmen. Zwar gelten sie als "Farbige" und dürfen daher offiziell kein Gewerbe betreiben, sind aber doch hell (in doppeldeutigem Sinn) genug, um die Regeln geschickt zu umgehen.

Doch ich möchte den Roman nicht auf die Rassismusproblematik reduzieren. Mehring, obwohl wirtschaftlich abgesichert und gesellschaftlich äußerst privilegiert, ist zutiefst unglücklich, er irrlichtert durch sein Leben, stets auf der Suche nach ... ja, wonach eigentlich? Er ist geschieden, ein Womanizer, an Angeboten für Affären mangelt es ihm nicht. Aber er kann keine glückliche Beziehung aufbauen, weder zu einer Partnerin, noch zu seinem jugendlichen Sohn. Und auch an seinen "boys", wie die Farmarbeiter genannt werden, verzweifelt er immer wieder, nicht zuletzt, weil es ihm nicht gelingt, ihnen die Bedeutung des Naturschutzes zu vermitteln, der ihm so am Herzen liegt.

Hier erkenne ich übrigens eine zentrale Metapher, die die deutsche Übersetzung leider unkenntlich gemacht hat: Der englische Originaltitel lautet "The Conservationist", auf Deutsch Natur- oder Umweltschützer, vom lateinischen Wortstamm her also jemand, der etwas bewahrt, nicht ein Besitzer. Und das trifft auf Mehring zu, er möchte das Land bewahren, seine Farm ebenso wie die Gesellschaft in der er lebt, Veränderungen machen ihm Angst, und je weiter der Roman voranschreitet, desto mehr verwischen Realität und Wachträume, Erlebtes und Wahnvorstellungen. Und genau hier ist Gordimer etwas über das Ziel hinausgeschossen: Die Erzählperspektiven wechseln oft und abrupt, nur schwer erkennbar, es ist sehr anstrengend, zu erkennen, wer was sagt, tut oder nur denkt oder träumt. Außerdem fehlen mir Hinweise, wieso Mehring so unzufrieden mit seinem Leben ist, wieso er zunehmend die Kontrolle verliert. Ist es die Angst davor, die Macht zu verlieren? Ich bleibe leider aufgewühlt, aber auch verwirrt und unzufrieden zurück.

Bewertung vom 28.03.2022
1774. Als die jungen Genies die Freiheit suchten
Schmidt, Simone Francesca

1774. Als die jungen Genies die Freiheit suchten


gut

"Ein unterhaltsames Panorama des Sturm und Drang, gewürzt mit Klatsch, Skandalen und Affären – und mit überraschend aktuellen Bezügen." So vielversprechend der Klappentext des Verlags, so wenig vermag der Inhalt dieses Versprechen zu halten.

Ich hatte mich auf eine spannende Zeitreise in ein Jahr inmitten dieser für die deutsche Literatur so prägenden Epoche gefreut. Waren mir Goethe, Schubart und Lenz bis dato ausschließlich als Schriftsteller ein Begriff, so hoffte ich, sie durch die Lektüre auch als Persönlichkeiten näher kennen zu lernen. Und natürlich wollte ich auch Einsichten in Politik und Gesellschaft des Jahres 1774 und deren Auswirkungen auf die Gegenwart erhalten.

Simone Francesca Schmidt hat ihr Buch in die zwölf Monate des Geschehens unterteilt. Der Einstieg ist durchaus unterhaltsam - die Vorstellung des jungen Goethe, der seiner Leidenschaft zum Schlittschuh laufen auch mal im knallroten Mantel der Mutter frönt, brachte mich sehr zum Schmunzeln. Überhaupt ist Schmidts Stil anfangs erfrischend frech, was sich leider im Verlauf des Buchs stark verliert. Und nicht nur das. Nach wenigen Kapiteln gerät die Erzählung immer wieder zu einer langweiligen, nichtssagenden Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten. X trifft Y, Z sollte auch besucht werden, war aber leider nicht zu Hause ... Das ist eine Zeit lang in Ordnung, um einen Eindruck vom Alltag der Protagonisten zu bekommen, aber es trägt nicht über einen ganzen Roman hinweg. Auch hätte ich mir ab und an einen Dialog gewünscht, um mehr Schwung in die Erzählung zu bringen. Stattdessen finden sich zahllose Zitate aus Tagebüchern, Briefen usw. Über weite Strecken hinweg habe ich mich sehr gelangweilt, ich war oft kurz davor, die Lektüre abzubrechen. Wenn doch mal etwas Interessantes vorkommt, wie zum Beispiel das Kasseler Kaffeeverbot, fehlendes Copyright oder die damalige Praxis, Literatur anonym zu veröffentlichen, dann wird es nur kurz unkommentiert erwähnt, Hintergründe sucht man vergeblich.

Auch viele Protagonisten bleiben blass. So schildert Schmidt zwar den Skandal um Mercks Ehefrau, die ihn während eines längeren Aufenthalts in der Schweiz betrügt und ihn bei ihrer Heimkehr mit ihrer Schwangerschaft überrascht. Doch was führte zu dem Seitensprung, zumal das Ehepaar zuvor als rundum glücklich geschildert wurde? Wer war der Vater des Kindes? Wie war das erste Aufeinandertreffen der Ehepartner nach dem Betrug, was haben sie dabei gefühlt? Hat Merck seiner Frau wirklich verziehen, wie verhielt er sich dem Kind gegenüber? Mit all diesen Fragen bleiben die Leser*innen alleine.

Ich ziehe meinen Hut vor der umfangreichen und intensiven Recherchearbeit, die diesem Buch zugrunde liegen muss. Umso bedauerlicher ist es, dass die Autorin aus der Fülle des Materials keine fesselnde Erzählung machen konnte. Sehr gelungen ist der Epilog, hier ordnet sie ein und bewertet - mehr davon auch in den vorhergehenden Kapiteln hätte dem Buch gut getan, so ist es deutlich zu wenig.

Sehr gelungen ist hingegen der Anhang: Zeitgenössische Abbildungen der Protagonisten und ausführliche Personenverzeichnisse geben inmitten der Namensfülle Orientierung und haben mich bewogen, meine Bewertung auf drei Sterne aufzurunden.

Bewertung vom 28.03.2022
Genderleicht
Olderdissen, Christine

Genderleicht


ausgezeichnet

Es gibt wohl derzeit wenig sprachliche Entwicklungen, die mehr polarisieren als das Gendern. Einerseits versuchen sich (alte weiße) Männer mit einem "Frauen sind doch mit gemeint" aus der Verantwortung zu ziehen und wollen bequem an der männlichen Vorherrschaft der deutschen Sprache festhalten. Andererseits finden sich Texte, die vor Gendersternen nur so strotzen, aber leider einmal mehr zeigen, dass gut gemeint nicht automatisch gut gemacht ist.

Autorin Christine Olderdissen erklärt, wieso sprachliche Gleichstellung wichtig ist und zeigt auf, wie wir geschlechtergerecht sprechen und schreiben können, ohne weder uns, noch die Sprache dabei zu verbiegen.

Der Ratgeber ist kein Genderwörterbuch, sondern regt anhand vieler Beispiele zu kreativem und unverkrampften Gendern an. Wir können geschlechtsneutrale Worte verwenden, in herzlichen, respektvollen Begrüßungen alle ansprechen, ohne uns in endlosen Aufzählungen zu verlieren und gut verständliche Texte schreiben, die dennoch der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen. Der Mann hat als Maß aller Dinge (und Wörter) ausgedient, und auch wenn dies einzelne Exemplare in ihrer Mannesehre kränken mag, es ist mehr als fair, dies auch sprachlich abzubilden. Wer dazu beitragen möchte, ist herzlich eingeladen, sich selbst kritisch zu hinterfragen und zu einem modernen, zeitgemäßen Gendern zu finden. Ich habe viel gelernt, etwa dass Genderzeichen nicht barrierefrei sind, weil durch Computersysteme vorgelesene Texte diese Zeichen meist als eigenes Wort aussprechen. (Kund*innen wird so zu "Kund - Stern - Innen".)

Oderdissen ist eine frische, ausgewogene, unterhaltsame und leicht verständliche Mischung aus Sprachtheorie, gesellschaftlicher Bestandsaufnahme und praktischem Ratgeber gelungen.