Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Circlestonesbooks.blog
Über mich: 
Lesebegeisterte Literaturbloggerin, https://www.circlestonesbooks.blog/

Bewertungen

Insgesamt 411 Bewertungen
Bewertung vom 10.09.2021
Besichtigung eines Unglücks
Loschütz, Gert

Besichtigung eines Unglücks


ausgezeichnet

Besichtigung von Lebenswegen

„Es ist die Liste, die am nächsten Tag in der Genthiner Zeitung abgedruckt wurde, die erste einer ganzen Reihe von Listen, die bereits den Namen enthielt, der mich lange beschäftigen würde, weil es der einzige ausländische war. Buonomo Giuseppe aus Neapel.“ (Zitat Pos. 600)

Inhalt
An diesem 22. Dezember 1939, um 0 Uhr 53, sind die Wetterverhältnisse extrem schlecht und knapp vor dem Bahnhof Genthin prallen zwei Züge aufeinander. Vier entscheidende Sekunden führen zu einem Trümmerfeld mit hunderten Toten und Verletzten und dennoch ist dieses schwere Zugunglück durch die deutsche Geschichte der darauffolgenden Jahre in Vergessenheit geraten. Der Journalist Thomas Vandersee hat seine Kindheit in Genthin verbracht. Als er von einem alten Herrn, der Lisa, die Mutter von Thomas, aus Schultagen vom Sehen kannte, einen Zeitungsartikel über dieses Zugunglück erhält, ist er zunächst nicht interessiert. Doch eine Bemerkung über eine der beiden Unglückslokomotiven, die unter einer geänderten Nummer wieder in Betrieb genommen wurde, ändert alles. Er beginnt zu recherchieren, doch während er versucht, anhand der Akten den Unglückshergang zu rekonstruieren, tauchen eine Reihe weiterer Fragen auf. Carla Finck war in diesem Zug, warum steht ihr Name auf keiner Opferliste? Immer tiefer taucht er in Einzelschicksale ein und gleichzeitig auch in die Vergangenheit der eigenen Familie, in die Geschichte seiner Mutter.

Thema und Genre
Was als Recherche zu einem tragischen Eisenbahnunglück beginnt, erweitert sich in diesem Roman rasch zu den Geschichten von irgendwie mit diesem Zugunglück in Verbindung stehenden Menschen mit ihren Beziehungen, Träumen, Geheimnissen. Es geht um Entscheidungen, Zufälle und den Faktor Zeit, denn es sind immer wenige Sekunden, die alles verändern.

Charaktere
Der Autor nimmt sich Zeit für seine Figuren, er schildert ihr Verhalten und Entscheidungen im Kontext mit der damaligen Zeit. Thomas Vandersee erkennt, dass es die Familiengeheimnisse seiner Kindheit und Jugend sind, die ihn prägen.

Handlung und Schreibstil
Der Roman umfasst fünf große Teile und Thomas Vandersee als Ich-Erzähler ergänzt die Geschichte noch mit seinen persönlichen Erinnerungen. Der erste Teil führt uns in die Gegenwart, in das Leben und den Alltag des Journalisten Thomas Vandersee als Ich-Erzähler, unterbrochen von minutiösen Schilderungen möglicher Hergänge des Zugunglücks, wie auch die Akten unterschiedliche Versionen zur Klärung der Schuldfrage darstellen. Im zweiten Teil geht es um das Leben von Carla Finck, im personalen Mittelpunkt des dritten Teils steht Lisa, die Mutter von Thomas, der vierte Teil trägt den Titel „Aus den Notizheften“, denn Thomas macht sich zu allen Alltagsereignissen Gedanken und füllt damit Notizhefte, die er alle aufbewahrt, weil sie seine Vergangenheit dokumentieren. Der letzte, fünfte Teil bringt nochmals ergänzende Details zu Carlas Leben, einige Fragen werden gelöst, andere bleiben offen und überlassen es uns, darüber nachzudenken. Die poetische, klare Sprache schildert und beschreibt eindrücklich.

Fazit
Dieser facettenreiche Roman ist nicht nur die Besichtigung eines Unglücks, sondern vielmehr eine vielschichtige, intensive Besichtigung von Lebenswegen und folgenreichen Entscheidungen, von Sekunden, die das Leben eines Menschen verändern können.

Bewertung vom 10.09.2021
Schnittbild
Felnhofer, Anna

Schnittbild


gut

Intensiv, komplex, beklemmend

„Nun ja, jedes dieser Bilder trägt seine eigene Wahrheit, aber zugleich auch das Prinzip der anderen in sich und wirkt so auf zweifache Weise: Mit einer Wahrheit, die für sich stehen kann und mit einer, die über diese in sich geschlossene, segmentierte Wahrheit hinausweist.“ (Zitat Pos. 3995)

Inhalt
Fünfunddreißig Jahre trennt Fabjans Geschichte, der die Welt durch die Linse seiner Leica betrachtet und auch an diesem Silvester 2016 noch nicht darüber hinweggekommen ist, dass Lena ihn verlassen hat, und die Geschichte der jungen Rahel, die als selbstmordgefährdete Vierzehnjährige im Frühling 1981 in die Psychiatrie eingewiesen wird. Eriks Geschichte liegt dazwischen, seine Frau ist 1997 bei einem Familienurlaub an der Adria spurlos verschwunden und genau an diesem Tag, sieben Jahre später, ist er im Auftrag seiner Fakultät auf dem Weg zum Forum Alpbach 2004. Sie haben eine Gemeinsamkeit: die Therapeutin, die sie in der kritischen Zeit betreut.

Thema und Genre
In insgesamt vier Episoden erzählt dieser Roman vier unterschiedliche Schicksale, Probleme und Konflikte von vier Menschen in psychischen Ausnahmesituationen. Immer wieder verschieben sich Bilder der Wirklichkeit, werden zur Iteration, zu unterschiedlichen, möglichen Versionen der jeweiligen Geschichte.

Charaktere
Die Autorin schreibt über Figuren in besonderen Konfliktsituationen, über die Gefahr von zu engen Beziehungen zwischen Patient und Therapeut, doch was mich irritiert, ist diese harte, analytische Sachlichkeit, mit denen sie ihre Figuren schildert, das Fehlen von Empathie mit der realen Ausweglosigkeit der Situation, in die sie ihre Figuren entlässt.

Handlung und Schreibstil
Die Autorin erzählt die Handlung in vier Episoden, die durch die Therapeutin miteinander verbunden sind. In der vierten Episode verschieben sich die Bilder zwischen möglicher Realität und möglicher Scheinwelt nochmals und es ergeben sich neue Sichtweisen, aber auch neue Fragen. Der Schreibstil ist analytisch, wissenschaftlich, klar und emotionslos, man erkennt darin die wissenschaftliche Qualifikation der Autorin, die selbst Psychologin ist und ihr Fachgebiet virtuelle Realitäten. Dies führt dazu, in Verbindung mit der intensiven Dichte der Problematik, der Themen und vor allem der an sich selbst scheiternden Therapeutin, dass die Handlung des Romans teilweise beklemmend, verstörend wirkt und in ihrer Vielschichtigkeit viele Fragen unbeantwortet lässt, unter anderem die Frage, was uns die Autorin mit diesem Roman sagen will, „traue keiner Therapeutin, keinem Therapeuten“?

Fazit
Die Grundidee der Autorin, bekannte literarische Vorbilder in psychologischen Ausnahmesituationen für die facettenreichen Konflikte ihrer Episoden heranzuziehen, aus dem ursprünglichen Zusammenhang in neue Bilder von unterschiedlichen Realitäten und scheinbaren Realitäten einzusetzen, ist genial. Die Umsetzung jedoch konnte mich nicht überzeugen.

Bewertung vom 08.09.2021
Was Frauen schreiben
Klüger, Ruth

Was Frauen schreiben


ausgezeichnet

Schon diese Zusammenstellung ist Lesevergnügen

„Für die Kolumne in der Literarischen Welt konnte ich mir aussuchen, welches Buch ich unter die Lupe nehmen wollte, ich musste nur rezensieren, was ich guten Gewissens den Leserinnen empfehlen konnte. Solang es von einer Frau geschrieben war.“ (Zitat Seite 8)

Thema und Inhalt
In diesem Buch finden werden insgesamt einundsechzig Werke vorgestellt, sechzig davon wurden von Frauen geschrieben. Die einzige Ausnahme ist das Buch eines bekannten skandinavischen Autors und in ihrer Besprechung begründet Ruth Klüger auch, warum.

Umsetzung
Die in diesem Buch zusammengestellten Besprechungen sind in den Jahren 1994 bis 2010 erschienen, die meisten davon in der monatlichen Kolumne „Bücher von Frauen“ in der Literarischen Welt. Das erstmalige Erscheinungsdatum des jeweiligen Textes gibt auch die Reihenfolge vor, in welcher die einzelnen Bücher vorgestellt werden. Jede Besprechung endet mit den Angaben zum Buch: Autorin, Titel, Verlag, Erscheinungsdatum und Ort, Seitenzahl.
Es ist eine bunte, internationale Auswahl, darunter drei deutschsprachige Länder und der Bekanntheitsgrad der Autorinnen bewegt sich zwischen Nobelpreisträgerinnen und beinahe vergessenen Autorinnen. Auch Biografien berühmter Frauen finden sich unter den rezensierten Titeln, und überrascht stoßen wir zwei Mal auf Harry Potter.

Fazit
Eine breit gefächerte Sammlung von lebhaften, großartigen Essays, in denen insgesamt einundsechzig sehr unterschiedliche Bücher vorgestellt werden. Es sind sicher Bücher darunter, die wir bereits gelesen haben, Bücher, von denen wir gehört haben, auf die wir aber erst jetzt durch die Besprechung im vorliegenden Buch neugierig geworden sind und kaum bekannte Autorinnen und ihre Werke. Doch das Lesevergnügen beginnt schon hier, mit diesem Buch.

Bewertung vom 08.09.2021
Der versperrte Weg
Goldschmidt, Georges-Arthur

Der versperrte Weg


ausgezeichnet

Die Geschichte des älteren Bruders

„Es ist ein sonderbares Gefühl, so nahe aneinander gelebt zu haben und so wenig vom älteren Bruder zu wissen.“ (Zitat Pos. 166)

Inhalt
Erich Goldschmidt ist fast fünf Jahre alt ist, als am 2. Mai 1928 sein Bruder Jürgen-Arthur geboren wird und dieses schreiende Baby ist für Erich ein Eindringling. Dennoch fühlt er sich später für seinen Bruder verantwortlich. Besonders ab diesem 18. Mai 1938, an dem die Eltern sie beide zu Verwandten nach Italien schicken, um sie in Sicherheit zu bringen, denn plötzlich sind sie keine Deutschen mehr, sondern Juden. Da ist Erich vierzehn Jahre alt, Jürgen-Arthur zehn. Bald ist auch Italien nicht mehr sicher und am 17. März 1939 werden sie nach Frankreich geschickt, wo sie die nächsten Jahre im Internat einer Privatschule verbringen. Nach dem Abitur ist Erich für die Résistance tätig, um seine neue Heimat Frankreich im Kampf gegen die Nationalsozialisten zu unterstützen. Dennoch wird Erich immer das Gefühl haben, irgendwo zwischen Deutschland und Frankreich zu stehen, in Deutschland verfolgt, weil er Jude ist, in Frankreich nach Kriegsende verfolgt, weil er Deutscher ist.

Thema und Genre
Im Mittelpunkt dieses autobiografischen Romans steht diesmal der ältere Bruder des Autors. Es geht darum, wie sehr die Verfolgung, Lebensgefahr und Flucht aus Deutschland das Leben eines jungen Menschen, im konkreten Fall das Leben von Erich, nachhaltig prägen.

Charaktere
Erich ist Deutscher, protestantisch erzogen und als er plötzlich aus dem Freundeskreis des Gymnasiums ausgeschlossen wird, weil er Jude ist, bricht für ihn die Welt zusammen, er versteht das nicht. Dieser Verlust der Heimat prägt sein ganzes Leben, obwohl er sich rasch in Frankreich zu Hause fühlt, bleibt eine innere Zerrissenheit.

Handlung und Schreibstil
Der Autor erzählt die Geschichte seines Bruders chronologisch, wobei Kindheit und Jugend im Mittelpunkt stehen, vor allem die Ereignisse ab dem Jahr 1938. Immer wieder müssen sie fliehen, entkommen nur knapp, werden versteckt und im Jahr 1943 trennen sich ihre Wege. Während Jürgen-Arthur bei Bauern untertaucht, beginnt Erich, für die Résistance tätig zu sein. 1947 treffen sich die Brüder kurz, aber die hier erzählte Geschichte erfährt der Autor von seinem Bruder erst, als sie sich Ende der siebziger Jahre in Deutschland wiedersehen. In leiser, eindringlicher Sprache schildert der Autor das Leben eines Menschen, der von seiner persönlichen Vergangenheit geprägt ist und sich selbst damit den eigenen Lebensweg zu versperren scheint.

Fazit
„Warum bin ich gerade der, der ich bin?“ (Zitat Pos. 812). Diese autobiografische Geschichte erzählt von einer Generation, die in Deutschland aufwuchs, um über Nacht plötzlich als Jude verfolgt, bedroht zu werden und gerade noch durch Flucht aus dem Land entkommt, das für sie bisher Heimat war.

Bewertung vom 04.09.2021
Sternflüstern
Carlin, Paula

Sternflüstern


ausgezeichnet

Ein nachdenklicher, facettenreicher Wohlfühlroman

„Sternflüstern! In diesem Moment vernahm ich es wieder. Dieses Knistern voller Wunder und Versprechen und Möglichkeiten, das sich für einen Augenblick auf alles um mich herum und in die neuen Tage legte.“ (Zitat Seite 132)

Inhalt
Es ist ein altes, baufälliges Haus, doch seine Ausstrahlung ist nicht unglücklich, es wirkt eher verlassen, denn es steht schon längere Zeit leer. Nach dem Tod des vorigen Besitzers soll es verkauft werden, doch der Zustand und die Größe schrecken mögliche Interessenten ab. Die sechsundfünfzigjährige Irith Falterberg, die das Haus zufällig entdeckt, erliegt sofort dem Charme dieses Hauses mit dem breit auslandenden Dach, aber sie weiß, dass dies weit außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten liegt. Warum hört sie ausgerechnet in diesem etwas verwahrlosten Garten, plötzlich die Stimme ihre Freundes Lunis, dessen Tod sie noch nicht verwunden hat? Warum treten gerade jetzt die junge Künstlerin Sophie und die soeben pensionierte Alix, Dozentin für Forstwirtschaft, in ihr Leben, ahnte Lunis, was passieren würde, wenn er diese drei Frauen zusammenbringt?

Thema und Genre
In diesem klugen, einfühlsamen Roman geht es um Verlust, Trauer, künstlerische Kreativität, Hoffnung, den Mut zum Neubeginn, Freundschaft und Liebe. Kernaussage ist die Freude am Leben und die immer neuen Überraschungen, die es bietet, wenn wir uns darauf einlassen.

Charaktere
Irith hat den Tod von Lunis noch nicht verwunden, doch sie ist bereit für Neues. Die Arbeit an ihren Mosaiken hat in den letzten Jahren ihren Blick für Details und Ideen intensiviert. Sophie kann sehr hartnäckig sein, wenn es sich um „etwas Unbedingtes“ handelt. Alix ist gerade pensioniert worden und überlegt, womit sie nun ihre Zeit verbringen will. Zwischen den drei Frauen entwickelt sich eine lebendige, kreative Eigendynamik und plötzlich scheint alles möglich zu sein.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte spielt in der Jetztzeit. Es ist Sommer, doch der nahende Herbst kündigt sich schon an. Die Ereignisse werden von Irith als Ich-Erzählerin geschildert. Parallel dazu tauchen wir in ihre Erinnerungen und damit in die Vergangenheit ein. Durch die Gespräche mit den beiden anderen Hauptfiguren Sophie und Alix erfahren wir auch Details aus deren Leben. Dies macht die Geschichte stimmig und nachvollziehbar. Lebhafte Schilderungen der Natur, besonders des verträumten, magischen Gartens, des alten Hauses und der Entstehung unterschiedlicher Kunstobjekte ergänzen die Handlung. Diese eindrückliche Sprache ist eine Stärke der Autorin Patricia Koelle, die wir bereits aus ihren Serien kennen, die an der Nordsee oder Ostsee spielen. Für diesen Roman wählte sie das Pseudonym Paula Carlin, macht jedoch kein Geheimnis daraus.

Fazit
Ein nachdenklicher, positiver Wohlfühlroman, der vom Leben in allen Facetten erzählt und von den Möglichkeiten und Überraschungen, die es bietet, wenn man bereit ist, sich auf Neues einzulassen.

Bewertung vom 01.09.2021
Dünenzorn
Kneifl, Edith

Dünenzorn


sehr gut

Mord mit Inselfeeling

„Laura hatte ihren Vater nie anders erlebt als impulsiv, ungeduldig und umtriebig. Und ich bin ihm ähnlich, dachte sie leicht verärgert.“ (Zitat Seite 28)

Inhalt
Laura Mars, vierundvierzig Jahre alt, hat ihren Vater Michael „Mischa“ Mars seit sechs Jahren nicht gesehen. Michael Mars war Journalist, ist seit zehn Jahren in Pension und mit seiner zweiten Frau Ramona nach La Gomera ausgewandert. Nun ist Ramona spurlos verschwunden und Laura Mars kommt nach La Gomera, um ihren Vater bei den Recherchen zu unterstützen. Denn dieser vermutet, dass seine Ehefrau entführt worden ist – er schreibt gerade an einem ausführlichen Artikel über die Drogenmafia auf den Kanaren. Neben dem Familienanwalt Juan María de Alvarez beauftragt Mischa auch den Privatdetektiv Alfredo Díaz mit den Nachforschungen, doch Laura hat den Verdacht, dass Alfredo vor allem auf sie aufpassen soll, worüber sie nicht begeistert ist. Auf keinen Fall will ihr Vater die Polizei einschalten, denn er traut den Beamten nicht. Da trifft eine Lösegeldforderung ein und gleichzeitig geschieht ein Mord.

Thema und Genre
Dieser Kriminalroman mit Regionalbezug spielt auf den Kanarischen Inseln. Es geht um Entführung, Mord, die Drogenmafia, aber auch um brisante gesellschaftspolitische und sozialkritische Themen.

Charaktere
Laura ist seit ihrem persönlichen Drama auf Samos immer noch teilweise traumatisiert. Obwohl sie sich mit Ramona nicht besonders gut versteht, folgt sie sofort engagiert allen sich ergebenden Spuren. Alfredo Díaz wirkt optisch wie ein gutmütiger Bär im Rocker-Outfit. Er ist absolut loyal, hartnäckig, clever, einfühlsam und mutig. Die Autorin bemüht sich um möglichst authentische Figuren, doch manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie selbst keine ihrer Figuren wirklich mag, immer wieder werden die jeweiligen menschlichen Schwächen und optischen Mängel betont. Vielleicht aber habe ich einfach nicht den richtigen Humor.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte spielt in der Jetztzeit, im personalen Erzählstrang steht Laura im Mittelpunkt. Ein zweiter Erzählstrang schildert die Erlebnisse und Gefühle einer „Ich“-Person, verläuft parallel und gleichzeitig zum ersten Erzählstrang und ergänzt die Ereignisse für uns Lesende mit weiteren Details und Fakten, ohne jedoch zu viel zu verraten, sondern gerade genug für weitere eigene Überlegungen über das Wer und Warum. Leserinnen und Leser, die auch bei Kriminalromanen mit Regionalbezug Wert auf einen durchgehend hohen Spannungsbogen legen, werden zeitweise vielleicht etwas enttäuscht sein. Denn diese Autorin legt ihre Geschichte sehr vielschichtig an, es ist das Gesamtpaket, das überzeugt. Zunächst ein undurchsichtiger Kriminalfall mit wechselnden Verdächtigen, unterschiedlichen möglichen Motiven und Überraschungen. Dazu aktuelle Themen, sozialkritisch und gesellschaftspolitisch. Auch für die Vielfalt der drei Kanarischen Inseln La Gomera, Teneriffa, Gran Canaria, die in diesem Fall Schauplätze sind, nimmt sich die Autorin Zeit, zeigt bekannte und verborgene Naturschauplätze, Sehenswürdigkeiten und Örtlichkeiten zwischen wunderschön und dem genauen Gegenteil, beides Realität.

Fazit
Dunkle Geheimnisse, Mord und zwielichtige Geschäfte von ebensolchen Figuren, dazu Inselfeeling mit Sonne, Meer und der interessanten, abwechslungsreichen Schönheit der Kanarischen Inseln.

Bewertung vom 30.08.2021
schrift für blinde riesen
Seiler, Lutz

schrift für blinde riesen


ausgezeichnet

Poetisch, fordernd, leise und eindrücklich

„ein leben, das heißt einhunderttausend träume (circa) & zwanzig / millionen wimpernschläge.“ (aus „drüben stehen die robinien“, Seite 36)

Inhalt
Zu Beginn dieses Gedichtbandes stellt der Autor fest: „daumen & zeigefinger / kommen zusammen, die / schreibhand entsteht. zehntausend jahre / vor dem aufrechten gang.“ (aus „morgenrot & knochenaufgänge“, Seite 7). Es folgen dreiundsechzig Gedichte in sieben übergeordneten Kapiteln.

Themen und Sprache
Der Autor führt uns in seinen Gedichten zurück in die Kindheit, in vergangene Tage und die damit verbundenen Erinnerungen und Gefühle, die in Verlust und Abschied münden und sich mit der Gegenwart verbinden. Oft geht es auch um die Natur, als Begleitung und Ergänzung der Szene zu einem einprägsamen Bild. Doch gerade, wenn man sich lesend zwischen den Kiefern der Wälder und an der Küste des Meeres gedanklich niederlassen will, durchbricht er die gerade entstehende Wohlfühlzone und rüttelt aus auf, mit Umbrüchen, völlig neuen Bildern, lässt uns an seiner Suche und Gedanken teilhaben, gibt aber immer auch Raum für unsere eigenen Überlegungen, für das Nachdenken und Innehalten.
Ich habe Lutz Seiler durch seinen Roman „Kruso“ entdeckt, wo er mich auch sprachlich sofort beeindruckt und begeistert hat. Da gibt es eine Stelle, wo ein Satz über dreizehn Buchzeilen reicht und dieser ist weder geschachtelt, noch wirkt er konstruiert, erzählend verliert er in keinem einzigen Wort die Aussage oder den Sinn. Diese Sprache begeistert auch in den vorliegenden Gedichten, prägnant verdichtet, präzise und einprägsam in der Sprachmelodie, manchmal hart und trotzdem immer leise und poetisch zeichnet sie auch in der lyrischen Kürze Bilder und ganze Geschichten in unsere Gedanken.

Fazit
Im inneren Klappentext schreibt Lutz Seiler über Gedichte: „Jedes gute Gedicht kann der gestische Kern eines Romans sein und die Verbindung herstellen zum Ursprung des Genres: zum Epos und seinem Gesang.“ Besser kann man die hier vorliegenden Gedichte gar nicht beschreiben. Es lohnt sich, beim Gedanken an Lyrik nicht innerlich die Nase zu rümpfen oder den Kopf zu schütteln, man sollte neugierig bleiben, sich die Zeit nehmen und sich auf dieses besondere Leseerlebnis einlassen.

Bewertung vom 29.08.2021
Seht ihr es nicht?
Haderer, Georg

Seht ihr es nicht?


ausgezeichnet

Ein facettenreicher Kriminalroman mit einer sympathisch-schrägen Ermittlerin

„Herumzutapsen, durch einen treibenden Fluss an Informationen zu waten, einen Datenhaufen verstehen zu wollen, den ein gutes Dutzend an Ermittlern laufend vergrößerte. Gab es eigentlich irgendjemanden unter ihnen, der sich die laufend aktualisierten Berichte komplett durchlas?“ (Zitat Pos. 3363-3369)

Inhalt
In Unterlengbach werden in der Nacht vom 23. auf den 24. August 2019 vier Mitglieder einer Familie ermordet, Helena Sartori, ihr Sohn und ihre Eltern. Nur die Tochter Karina, elf Jahre alt, kann entkommen, doch sie ist seither verschwunden und niemand weiß, ob sie noch am Leben ist. Philomena „Philli“ Schimmer, vormals Polizistin, nun Mitglied des KAP „Kompetenzzentrum für abgängige Personen“, eine Sondereinheit des BKA, soll Michael Muster, Kriminalpolizist beim LKA Niederösterreich und auch ihr Exfreund, in diesem schwierigen Fall unterstützen. Bis vor zwei Jahren war Helena Sartori als Molekularphysikerin in der Nanobots-Forschung sehr erfolgreich tätig, nun lebte sie zurückgezogen auf dem Land. Hängen die Morde mit ihrer Forschungstätigkeit zusammen, oder ist Franz Morell, ihr Exmann, der Täter?

Thema und Genre
In diesem vielschichtigen Kriminalroman geht es um moderne Technologien, Psychologie, Familie und alle Facetten von zwischenmenschlichen Beziehungen.

Charaktere
Philli Schimmer, die mittlere von drei Schwestern, ist eine hartnäckige, eigenwillige Ermittlerin, erkennt kleinste Details und scheut sich nicht, auch ungewöhnlichen Vermutungen nachzugehen. Als Mensch ist sie sehr speziell und unangepasst. An ihre besonderen Besucher, die unvermutet auftauchen und die nur sie sehen kann, hat sie sich auch schon beinahe gewöhnt. Alle Charaktere dieses Kriminalromans sind mit Einfühlungsvermögen für menschliche Schwächen und viel Humor entwickelt und sie sind großartig.

Handlung und Schreibstil
Die Handlung, in deren Mittelpunkt meistens die Ermittlerin Philli Schimmer steht, wechselt durchaus unvermutet die Erzählperspektive. Dies führt zu Überraschungen und neuen Vermutungen beim Lesen, bis sich auch diese Überlegungen durch weitere Wendungen als falsch erweisen. Der Fall bleibt ungewöhnlich und spannend bis zum Schluss. Rückblenden ergänzen die aktuelle Handlung. Dadurch lernen wir Philli besser kennen, vor allem, als sich Parallelen zu einem ihrer alten Fälle ergeben, Erinnerungen, die sie auch heute noch beeinflussen. Die Sprache ist lebhaft, in vielen Facetten zwischen sachlich und locker, und humorvoll.

Fazit
Ein Kriminalroman mit aktuellen Themen, überraschend, vielschichtig und herrlich schräg. Spannendes Lesevergnügen mit der speziellen Ermittlerin Philomena „Philli“ Schimmer, die wir hoffentlich in Zukunft bei weiteren packenden Fällen begleiten dürfen.

Bewertung vom 28.08.2021
Der Panzer des Hummers
Minor, Caroline Albertine

Der Panzer des Hummers


sehr gut

Ein moderner Familienroman

„In letzter Zeit hat Ea zunehmend Angst davor, die falschen Entscheidungen zu treffen. Sie läuft mit dem bedrückenden Gefühl umher, die Jahre wären wie ein Trichter angeordnet, und der weiteste, offene Teil des Lebens läge schon hinter ihr.“ (Zitat Pos. 558)

Inhalt
Aufgewachsen sind die Geschwister Ea, Sidsel und Niels Gabel mit einem Vater, der meistens irgendwo auf der Erde unterwegs und daher abwesend war, während sich ihre Mutter Charlotte „Lotta“ bis zu ihrer Krankheit und frühem Tod um alles gekümmert hat. Heute lebt Ea in den USA, Sidsel in Kopenhagen und Niels, der jüngste der drei Geschwister, lebt heute überall und nirgends, zurzeit jedoch in der Nähe von Kopenhagen. Die Lebenswege der Geschwister sind unterschiedlich verlaufen und immer noch sind sie, unabhängig voneinander, auf der Suche nach dem Platz im eigenen Leben.

Thema und Genre
In diesem modernen Familienroman geht es um unterschiedliche Lebensformen, den Verlust vertrauter Strukturen, Patchwork-Familien und die Frage, wie wir im heutigen Gesellschaftsgefüge unser Leben gestalten wollen. Auch spirituelle und philosophische Elemente spielen eine Rolle.

Charaktere
Die einzelnen Figuren des Romans werden am Beginn der Geschichte vorgestellt. Im Mittelpunkt stehen die Mitglieder der Familie Gabel und der Familie Wallens, wobei sich die Wege einzelner Personen der beiden Familien zufällig kurz kreuzen. Es sind schwierige Charaktere, die Frauen unsicher zwischen ihrer Rolle als Mütter und der eigenen Lebensplanung. Niels ist ein moderner Job- und Wohnungsnomade.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte spielt innerhalb von fünf Tagen im April, die Ereignisse sind Momentaufnahmen, Rückblenden zeigen ergänzende Details der persönlichen Entwicklung der einzelnen Figuren als mögliche Erklärung für die jeweilige aktuelle Situation. Die Chancen auf Veränderungen und Neubeginn klingen im Hintergrund an, bleiben jedoch offen. Der gesamte Handlung wirkt beim Lesen wie ursprünglich unabhängig voneinander geschriebene Erzählungen, die für dieses Buch nachträglich in kurze Kapitel unterteilt und neu zusammengefügt wurden, abwechselnd, mit jeweils einer der Hauptfiguren im Fokus, und ergänzt durch verbindende Elemente. Vorbild der Autorin war, wie in einem Interview bestätigt, die „Carrier Bag Theory of Fiction“ („Tragbeutel-Theorie“) von Ursula K. Le Guin, wonach es im Roman nicht nur einen Helden und einen Konflikt geben soll, sondern viele verschiedene Teile, deren Verhältnis zueinander ebenfalls unterschiedlich, aber möglichst gleich gewichtet sein sollte. Leider nimmt diese bewusste Konstruktion, dieses Schreiben nach Anleitung, der vorliegenden Geschichte die lebensnahe Lebendigkeit.

Fazit
Ein moderner Familienroman über die Vielfältigkeit der Strukturen abseits der traditionellen Familiengefüge, mit Figuren in existenziellen und emotionalen Krisensituationen.

Bewertung vom 28.08.2021
Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García
Rinke, Moritz

Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García


ausgezeichnet

Lesevergnügen, das begeistert

„So wie ich das sehe, sitzen hier drei Männer. Der eine ohne Sohn, völlig am Ende. Der andere ohne Job, ohne Fische, ohne das Meer, nur mit einem Joint. Und der dritte ohne Papiere, nur mit irgendwelchen Gedichten.“ (Zitat Seite 312)

Inhalt
Sein Großvater hat die kleine Poststelle in Yaiza eröffnet, inzwischen führt Pedro Fernández García, vierzig Jahre alt, diese weiter. Er muss kreativ sein, denn im Zeitalter des modernen Internets schreibt niemand mehr Briefe und er muss seine Auslastung belegen, um seinen Arbeitsplatz zu erhalten. Kreativ ist auch sein bester Freund, der Fischer Tenaro, zur Zeit ein arbeitsloser Fischer mit viel Fantasie und immer neuen Ideen. Als Pedros große Liebe Carlota ihn überraschend verlässt und mit dem Sohn Miguel nach Barcelona zieht, verliert er die Lebensfreude, plötzlich entdeckte Familiengeheimnisse belasten ihn zusätzlich. Sein Leben wird grau, bis Amado, Dozent für spanische Literaturen in Afrika, zur Zeit Flüchtling ohne Papiere, mit seinen bunten T-Shirts und seiner Geschichte in sein Leben tritt. Auch er braucht Hilfe auf seinem umgekehrten Fluchtweg, zurück in die Heimat. Tenaro hat eine Idee - sind sie gemeinsam kreativ und stark genug, um diese umzusetzen?

Thema
Diese Geschichte ist eine weit gefächerte Mischung aus Poesie, Magie, Schicksal, vielfältig wie das Leben. Es geht um Freundschaft, Beziehungen, Vater und Söhne, Familiengeheimnisse, aber auch um sozialkritische, brisante Themen.

Charaktere
Jede der Figuren ist etwas Besonderes mit ihren Gefühlen und persönlichen Eigenheiten, und man folgt gespannt ihren Wegen und Erlebnissen. „Zwei Freunde sind wie zwei Geschichten, die sich zu einer verbinden.“ (Zitat Seite 400)

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte spielt auf der Insel Lanzarote, während der Jahre 2009 und 2010. Die aktuelle Handlung wird ergänzt durch Erinnerungen an vergangene Ereignisse und Kindheitserinnerungen. Einzelne Tage mit ihren jeweils besonderen Erlebnissen, von denen sich manche nicht erklären lassen, aber trotzdem stattfinden, fügen sich zu einem vielschichtigen, eindrucksvollen Ganzen, in dem sich die einzelnen Fäden zusammenfinden. Es sind bewegte Wochen, die Pedro, Tenaro und Amado zusammenführen und für eine Zeitspanne die Schicksale des Postmannes, des arbeitslosen Fischers mit den phantasievollen Geschäftsideen und des Literaturdozenten, derzeit illegaler Flüchtling, verbinden, vereint durch Literatur und Fußballbegeisterung. Die Sprache erzählt einfühlsam, intensiv und begeistert durch die wunderbaren Schilderungen der dem Tourismus verborgenen Schönheit der Insel Lanzarote.

Fazit
Eine großartige Mischung aus Geschichten, Menschen, Alltag und Gefühlen. Liebenswerte Charaktere und humorvoll-skurrile Szenen vereinen sich mit der Nachdenklichkeit der brisanten Themen unserer Zeit und werden erzählerisch eingebettet in eindrücklichen Schilderungen der Schönheit und des Lebens auf der besonderen Insel Lanzarote.