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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Ein Samstag in Sydney
Jones, Gail

Ein Samstag in Sydney


ausgezeichnet

Vier Personen treffen im Hafen von Sydney ein und jeder erlebt den strahlenden Tag im australischen Sommer anders. Die Beschreibung des Lichts über dem Meeresspiegel vermittelt eine heitere, optimistische Stimmung. Den Fixpunkt Opernhaus interpretiert jeder der Ankömmlinge anders. Eine sieht in dem Gebäude einen Stapel ineinandergestellter Pozellanschälchen, eine andere ein aus Papier gefaltetes Objekt, Blütenblätter und ein geöffnetes Hai-Maul. Schon an ihrem Schritt würde man als Ohrenzeuge das unterschiedliche Temperament der Ankömmlinge erkennen. Ellie wird förmlich vom Zug ausgespuckt. Ihre kindliche Vorfreude auf das Treffen mit ihrem Jugendfreund James hat mich augenblicklich in die Geschichte hineingezogen, Ellies Lebensfreude und Lebhaftigkeit fand ich so ansteckend, dass ich alles über ihr Schicksal wissen wollte. James, den Ellie seit der Grundschule kennt und der ihr erster Liebhaber war, leidet an den Menschenmassen am Fähranleger und an seiner Vergangenheit.

Pei Xing wirkt aufgrund ihrer grauen Haare alt. Doch sie fühlt sich in der Masse wohl, kennt den Fahrkartenverkäufer und den Eismann gut, weil sie ihren Weg jeden Samstag geht. Die Einwanderin aus China nimmt die fremden Schriften an den Geschäften auf und empfindet ihre neue Heimat als asiatisch. Pei Xings Eltern kamen während der Kulturrevolution ums Leben und wurden erst Jahre später nachträglich rehabilitiert. Sie selbst wurde während ihrer Haft misshandelt. Pei Xing besucht ihre ehemalige Gefängniswärterin, die nach einem Schlaganfall hilflos im Rollstuhl sitzt, um ihr aus dem Roman Dr. Schiwago vorzulesen. Seine Kenntnisse von Fremdsprachen und ausländischen Autoren hatten zur Maozeit Pei Xings Vater das Leben gekostet. Trotz ihres schweren Lebens hat Pei Xing sich Erinnerungen an eine glückliche Kindheit bewahrt. Die vierte Person ist die irische Journalistin Catherine, die für ein Jahr einen Job in Sydney angenommen hat. Catherine, die noch immer um ihren verstorbenen Bruder trauert, wirkt abenteuerlustig. Sie genießt die fremde Stadt und ihr Leben wie einen Lottogewinn. Die Besucherin aus Irland nimmt besonders die Sprachenvielfalt der Einwanderergesellschaft wahr. Allmählich stellt sich die Frage, ob die Personen zufällig in Sydney eintreffen oder ob eine Verbindung zwischen ihnen besteht. James und Ellie verbindet ein besonderes Vertrauensverhältnis miteinander, die Erinnerungen beider münden in ihrem Treffen in Sydney. Das Leben aller kreist um die Vergangenheit. Während Ellie Kraft aus den Erinnerungen an ihre Lehrerin bezieht, obwohl sie um ihren Vater trauert, wirkt James gebeugt unter seinem Scheitern und unter Schuldgefühlen. Pei Xings Schicksal dagegen zeigt, wie subjektiv die persönliche Einschätzung sein kann, von einem schweren Schicksal getroffen zu sein, es schlechter angetroffen zu haben als andere Menschen. Die Chinesin, die von der Kulturrevolution um ihre Familie und ihre Jugend gebracht wurde, scheint zu den Menschen zu gehören, die die Vergangenheit bewahren und sich trotzdem nicht von ihr zu Boden drücken lassen.

Gail Jones hebt vier durchschnittliche Menschen aus der Masse einer Großstadt hervor und entfaltet aus den Ereignissen eines gewöhnlichen arbeitsfreien Tages die Sicht in die Innenwelt ihrer Figuren, die stellvertretend für die australische Gesellschaft stehen könnten. Jones feine Wahrnehmung von Außen- und Innenwelt hat alltägliche Ereignisse zu einem Roman der leisen Töne gefügt.

Bewertung vom 04.01.2017
Jonglieren
Trapido, Barbara

Jonglieren


sehr gut

In "Jonglieren" treffen zahlreiche Personen aus komplizierten Familienverhältnissen aufeinander - neudeutsch: Kinder aus Patchwork-Familien. Christina ist die leibliche Tochter von Alice. Ihre ältere Schwester Pam wurde als Neugeborenes von Alice und Joe adoptiert, nachdem das Drama um den Tod von Pams Mutter das Paar an deren Sterbebett überhaupt erst zusammengeführt hatte. Joe ist der Verleger der Verstorbenen. Die Geschichte der ungewöhnlichen Familiengründung erzählt Mutter Alice ihren Töchtern wie ein Märchen. Die Mädchen sind im Alter weniger als ein Jahr auseinander und Christinas Eifersucht auf die Erstgeborene ist nur zu verständlich. Schon früh wird Christinas Drang deutlich, Gleichaltrige zu dominieren und aus der Enge ihrer Familie auszubrechen. Pietro, der Jongleur, dem sie so gern nacheifern würde und den sie zum Beinahe-Vater ehrenhalber ernennt, wartet mit einer ähnlich komplizierten Herkunft auf. Als Kind kennt Christina die Verbindung zwischen Alice und einem Mann namens Roland Dent noch nicht, die durch Pietros Herkunft bis nach Frankreich reicht. Durch eine Begegnung mit Internatsschülern entschliesst sich Joe spontan, seine Töchter auf das englische Internat dieser Jungen schicken. Die Schule nimmt noch nicht lange Mädchen auf, ihre Strukturen sind stark durch männliche Rituale geprägt. Christina findet im Internat ihr aus "Der Herr der Fliegen" bekannte Gruppen-Beziehungen vor. Herrscher und Meinungsführer der Schüler ist Jago Rutherford, dessen Kontakt zum eigenen Zwillingsbruder durch die Trennung seiner Eltern abriss und der unbewusst auf der Suche nach seiner verlorenen schwächeren Hälfte zu sein scheint. Der Neuanfang im Internat ermöglicht Joe und Alice ein Leben ohne Kinder; die Mädchen können sich endlich mit Gleichaltrigen messen, nicht wie bisher nur mit der eigenen Schwester. Die Beziehung zwischen der allgemein bewunderten Christina und Jago könnte die Verletzungen des wilden, unglücklichen Jungen heilen, würde bei Jagos Ersatzzwilling Peter jedoch neue Wunden reißen. In einer Halloween-Nacht kommt es zu einer Gewalttat unter den Internatsschülern. Mehrere Personen wollen - mit besten Absichten - dem Opfer helfen, in eigener Hilflosigkeit verschlimmern sie die Sache jedoch. Was gut gemeint war, sprengt die ohnehin komplizierten Beziehungen.

In Rückblenden in die Kindheit werden die Familienbeziehungen gleich zu Beginn der Handlung aufgefächert, so dass man ähnlich wie in einer Krimihandlung Details sammeln kann, die zu einer Lösung führen könnten. Das Thema Herkunft läuft wie eine zweite Spur neben der Handlung. Wie die eigene Entwicklung von der Nationalität der Eltern beeinflusst wird, das Wissen über die leiblichen Eltern, wie auch die Situation von Stief- und Halbgeschwistern laufen wie ein roter Faden durch die Handlung.

Die bis dahin so spannende Handlung hebt leider im letzten Drittel des Buches ab, sie zerfasert an dem Punkt, an dem ich lieber wissen wollte, wie es dem Opfer der Gewalttat inzwischen geht. Chrissie, vom Kinderbuch "Madeline" und von "Herr der Fliegen" geprägt, arbeitet inzwischen als Studentin über Shakespeare - Barbara Trapido schwelgt deutlich in literarischen Bezügen. Durch die Beziehungen zwischen sehr vielen Personen, sowie die intertextuellen Bezüge war "Jonglieren" für mich ein mit feinem bis drastischem Humor beobachteter, sehr fordernder Familien-Roman, der sicher bei der zweiten Lektüre weitere Seiten von sich preisgeben wird.

Bewertung vom 04.01.2017
Der Mann im Park
Ljunghill, Pontus

Der Mann im Park


sehr gut

Kommissar John Stierna geht im Jahr 1953 vorzeitig in Pension. Körperlich von einer Schussverletzung gezeichnet, hat der schwedische Ermittler nicht verwunden, dass ihm und seinem Team ein Täter entkommen konnte, der 1928 ein kleines Mädchen ermordet hatte. 1928 trug ein schwedischer Polizist noch Pickelhaube und Säbel. Der Besitz eines Autos oder eines Telefonanaschluss war damals nicht selbstverständlich. Die Ermittlungsarbeiten wirken sorgfältig recherchiert und aus der heutigen Sicht erstaunlich modern. Spuren und Indizien werden gesichert, Täterskizzen gezeichnet, Schriftproben untersucht und mit immensem Aufwand von Tür zu Tür mögliche Augenzeugen befragt. Dass der Täter trotz dieser umfangreichen Fahndung nicht verhaftet werden konnte, ist vom Beginn der Handlung an klar; denn sonst würde Stierna sich nicht kurz vor der Verjährung des Mordes mit den Ermittlungsakten von damals auf die herbstliche Insel Gotland zurückziehen. Dem gemächlichen Erzähltempo, mit dem das Psychogramm eines Polizeikommissars am Ende seiner aktiven Karriere gezeichnet wird, bin ich über die gesamte Länge des Buches gern gefolgt. Zu den Gedanken des Täters haben nur die Leser Zugang, für Stierna und sein Team bleibt der Mann aus dem Park durch seine Unscheinbarkeit unsichtbar. Er kann noch in dem Moment spurlos von der Bildfläche verschwinden, als die Ermittler schon die Hand nach ihm ausstrecken.

Unter der unpassenden Bezeichnung Thriller zeichnet Pontus Ljunghill das Schicksal eines Ermittlers auf, der durch sein berufliches Versagen auch als Privatperson geprägt wurde. Die Atmosphäre im Schweden der 20er Jahre und eine Generation später in den 50ern vermittelt Ljunghill in ruhigem, melancholischem Ton. Am unterschiedlichen Wissensstand in Kriminaltechnik in den beiden Epochen interessiert, hätte für mich diese Differenz z. B. in einem informativen Nachwort deutlicher herausgearbeitet werden können.

Bewertung vom 04.01.2017
Dreimal im Leben
Pérez-Reverte, Arturo

Dreimal im Leben


sehr gut

Auf einer Schiffseise nach Buenos Aires im Jahr 1928 begegnet das Ehepar de Troeye dem Eintänzer Max Costa. Der für das Trösten gelangweilter Damen bezahlte Gentleman hat in seinem bewegten Leben in der Fremdenlegion gekämpft und keine Gaunerei ausgelassen. Zwischen dem Genteleman-Gauner, dem Komponisten Armando und dessen Frau Mercedes springt sofort ein Funke über, befeuert von alten und modernen Tangorhythmen. Jahre später begegnen sich Mercedes (Mecha) und Max an der Côte d'Azur, ein drittes Mal vierzig Jahre nach der Schiffsreise in Sorrent. Beide sind inzwischen ergraut. Mercedes kommt als Mutter und Managerin eines begabten chilenischen Schachspielers zu einem Schachturnier nach Sorrent. Max, offiziell der Chauffeur eines wohlhabenden Schweizers, investiert noch immer in Haltung und Noblesse, um vermögende Frauen für sich zu gewinnen und im günstigen Fall am Rande einer Liebesnacht Geld oder Wertgegenstände abzustauben. Mercedes kennt Max Schwächen und Fähigkeiten nur zu genau. Im mit harten Bandagen ausgetragenen Wettkampf der Schachspieler Ost gegen West soll der alternde Gentleman-Gauner Max ihr als Geheimwaffe dienen.

Von Antonio Perez-Reverte hätte ich alles, nur keinen Liebesroman vor der Kulisse einer untergehenden Epoche erwartet. Die Ereignisse auf zwei Zeitebenen in Sorrent und in Nizza überlappen sich beinahe unmerklich. Für Max und Mecha fügen sich Erinnerung und Gegenwart zu einem Bild, vom Leser erfordern die nahtlosen Übergänge geschärfte Aufmerksamkeit, um die Ereignisse richtig zuordnen zu können. Der Tango als erotisches Symbol und Schach als intellektuelle Herausforderung vervollständigen eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zum interessanten, aber wenig spannenden Portrait eines charismatischen Gauners.

Bewertung vom 04.01.2017
Uwe Timm
Hielscher, Martin

Uwe Timm


ausgezeichnet

An Schriftsteller-Biografien hat mich schon immer interessiert, welches Kind ein Autor/eine Autorin früher war, mit welchen Geschichten dieses Kind aufwuchs und wer sie erzählte. Diese Frage beantwortet der Literatuwissenschaftler und Lektor Martin Hielscher in seiner Timm-Biografie. Uwe Timm (*1940) gehört zu der Generation, deren Väter Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs waren und sich nach ihre Rückkehr privat und beruflich nur schwer in der Nachkriegszeit orientieren konnten. Lesenswert ist allein schon, wie aus einem Schulkind, für dessen außergewöhnliche Fantasie die Schule der Nachkriegszeit keinen Raum bot, auf dem zweiten Bildungsweg der Student und später der Autor Timm wird. Martin Hielscher skizziert - von der Studentenbewegung bis zur Wiedervereinigung Deutschlands - den historischen Hintergrund, vor dem Timms Bücher verfasst wurden. 2007 erschienen, umfasst Hielschers Biografie Timms 1972 bis 2005 publizierte Werke und endet mit "Der Freund und der Fremde" (2005). Diese Biografie erläutert Timms Rolle als Chronist der deutschen Nachkriegsgeschichte und weist auf zahlreiche biografische Bezüge hin, die neben dem Auftreten von Vater, Onkel, Bruder, Mutter, Tante und Freund in Timms Romanen zu finden sind. Enthält eine Zeittafel, zahlreiche Fotos und Dokumente, Bibliografie und Hinweise auf weiterführende Literatur.

Bewertung vom 04.01.2017
Arthur oder Wie ich lernte, den T-Bird zu fahren
Harvey, Sarah N.

Arthur oder Wie ich lernte, den T-Bird zu fahren


ausgezeichnet

Der 17-jährige Royce muss in Victoria/Kanada noch einmal von vorn anfangen. Weil sein betagter Großvater nicht mehr allein leben kann, sind Royce und seine Mutter von der Ostküste nach Victoria gezogen. Seinen Kumpels aus Lunenburg trauert der Junge noch immer nach, neue Freunde hat er noch nicht kennengelernt. Großvater Arthur konnte man schon immer schwer etwas rechtmachen. In kürzester Zeit hat er es sich mit seiner Tochter verdorben und die privaten Pflegerinnen vergrault, die sich um ihn kümmern sollten. Durch seine beginnende Demenz realisiert Arthur offenbar nicht, dass er jetzt hilfsbedürftig ist, nicht mehr der Herzensbrecher von einst. Royces Mutter hat die Nase voll von der Streitsucht ihres Vaters. Ihre rettende Idee: Anstelle einer fremden Hilfskraft könnte der alte Streithansel doch Royce dafür bezahlen, sich während der Ferien um ihn zu kümmern. Im Vergleich zu anderen Ferienjobs muss das leicht verdientes Geld sein - glaubt Royce, der von einer Fahrt zurück nach Lunenberg im eigenen Auto träumt.

Arthur meckert wie gewohnt, Royce macht seiner Ansicht nach alles falsch. Doch Royce gewinnt allmählich Interesse am Leben seines Großvaters, der einst ein gefeierter Cellist war. Nachdem Arthur einmal ins Erzählen gekommen ist, erfährt Royce Geschichten aus seiner Familie, von denen selbst seine Mutter noch nicht gehört hat. Als Clou erweist sich Arthurs Thunderbird von 1956. Das Auto ist verkehrstüchtig und tadellos gepflegt. Für seinen Oldtimer schleppt Arthur sich nämlich ganz ohne Rollator regelmäßig in die Garage. Royce darf erst in Begleitung eines Erwachsenen Auto fahren. Arthur fällt für diese Rolle leider aus; denn nach seinem letztem Unfall hat seine Tochter seinen Führerschein kassiert. Dennoch wird der Thunderbird zum besonderen Band zwischen Großvater und Enkel. Die Idee mit dem Thunderbird zurück nach Lunenburg abzuhauen, lässt Royce nicht mehr los.

Sarah Harvey bringt in ihren Jugendroman eigene Erfahrungen mit ihrem betagten Vater ein. Ohne Arthurs Hinfälligkeit zu realistisch zu vertiefen, folgt sie mit viel Humor der Annäherung zwischen Großvater und Enkel. Arthur findet seinen Meister in Royce, dem ich anfangs kaum zutrauen wollte, dass er den knurrigen Alten kräftig zusammenstauchen würde. Während Arthurs Kräfte schwinden, gelingt es Royce, Erinnerungen an die Musikerkarriere seines Großvaters zu entstauben und so eine Versöhnung in seiner Familie in Gang zu setzen.

Bewertung vom 04.01.2017
Tigermilch
Velasco, Stefanie de

Tigermilch


ausgezeichnet

Nini und Jameelah sind Freundinnen seit der Grundschule. Als wäre Pubertät für 14-jährige Mädchen allein nicht schon grausam genug, - "Alles wird immer anders, obwohl man gar nicht will," - droht Jameelah und ihrer Mutter in diesem Sommer die Abschiebung aus Deutschland in den Irak. Die Gefahr misst Jameelah an der Farbe der Behördenbriefe im Briefkasten. Dass es für Jameelah um Alles oder Nichts geht, würde die Icherzählerin Nini am liebsten komplett verdrängen - und ihr Kneifen könnte die Freundinnen zum ersten Mal in ihrem Leben trennen. Doch vor einem möglichen Ende ihrer Freundschaft liegt für die beiden Mädchen ein letzter gemeinsamer Sommer. Nicht allein mit Klauen, Kiffen und Saufen testen sie die Grenzen ihrer Teenager-Welt aus. Sie reißen auf dem Straßenstrich Männer auf, denen sie eine Wohnung mit Stuckdecke zutrauen, um mit denen gegen Bezahlung schon einmal für das richtige Leben zu üben. Nahtlos gelingt ihnen anschließend der Übergang in eine Kinderwelt, in der sie sich, auf einem Verteilerkasten mit ringelstrümpfigen Beinen baumelnd, schwerwiegende Gedanken über sich und die Welt machen. In dieser Welt verlaufen unsichtbare Linien zwischen deutschen, bosnischen, russischen und arabischen Jugendlichen. Linien, von denen einige aus dem Jugoslawienkrieg stammen und die es einem Jungen unmöglich machen, die Beziehung seiner Schwester oder Cousine mit einem Partner "der anderen Seite" zu tolerieren. Jameehlas Mutter erträgt nur schwer, dass sie vor Gewalt nach Deutschland geflüchtet ist und sich auch hier Menschen gegenseitig umbringen. "Du bist so deutsch!", schleudert Jameelah ihrer Freundin entgegen, als die die Naive mimt, die nicht wahrhaben will, dass Jameelahs Vater in einem Unrechtsstaat kein Straftäter sein musste, um getötet zu werden. Am Ende dieses Sommers wird eine kleine Schwester zur Frau geworden und für die Freundinnen das Spielhaus, in dem sie sich zu nächtlichen Abenteuern verabredeten, endgültig zu klein geworden sein.

Die melancholische Stimmung des letzten Sommers einer Kindheit, widersprüchliche Gefühle ihrer pubertierenden Figuren zwischen großer Klappe und Angst vor dem ersten Sex trifft Stefanie de Velasco authentisch und auf den Punkt genau. Tigermilch ist der grandiose Pubertätsroman zweier Großstadtgören. Vergleiche von Büchern mit "Tschick" verbieten sich meiner Ansicht nach von selbst. Wie von der Autorin auf dem Vorsatzblatt angekündigt, ein Roman für Mädels - und für alle, die noch immer wehmütig ihren Gefühlen für Tschick und seinen Kumpel nachhängen.