Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 467 Bewertungen
Bewertung vom 02.08.2021
Das Heim
Strandberg, Mats

Das Heim


ausgezeichnet

Zwanzig Jahre ist es her, dass Joel, Protagonist in Mats Strandbergs Roman „Das Heim“, zu Hause war. Jetzt ist er in das westschwedische Städtchen gekommen, um seine demenzkranke Mutter Monika zu pflegen. Als sich ihr Zustand rapide verschlechtert, besorgt er ihr einen Platz im Seniorenwohnheim „Nebelfenn“, wo sich die Ereignisse nach und nach überschlagen und das Buch von einer tragischen Familiengeschichte schnell zu einem Horror-Roman wird. Denn Monika scheint immer weniger sie selbst zu sein. Aber wer ist sie, wenn sie nicht sie selbst ist? Ist es ihre Krankheit, die sie so „seltsam“ werden lässt? Und wieso weiß sie Dinge, die sie eigentlich gar nicht wissen kann?
Der Autor erzählt die Geschichte alternierend aus den Perspektiven von Joel und seiner Jugendfreundin Nina, die als Pflegekraft im Seniorenheim arbeitet. Die beiden hatten ebenfalls 20 Jahre lang keinen Kontakt, nachdem Nina eine gemeinsame Musikkarierre zugunsten eines bürgerlichen Lebens aufgegeben hatte. Joel versuchte es alleine, rutschte in eine Drogensucht und scheiterte in jeder Hinsicht. Trotz ihrer Differenzen stellt sich zwischen ihnen schnell wieder eine Vertrautheit ein.
Die erste Hälfte des Buchs ist langsam, fast träge erzählt. Der Autor beschreibt Monikas Umzug ins Heim und ihre neuen Mitbewohner:innen. Aber dann wird die Geschichte packend, spannend und enorm gruselig. Vor allem der immer wieder auftauchende „Fettfleck“, der sich durch das ganze Buch zieht, erinnerte mich an „Das verräterische Herz“ von Edgar Allan Poe und steigerte bei mir den Gruselfaktor enorm.
Und abgesehen vom Grusel-Element ist das Buch für mich sehr realistisch. Die Demenz der Heimbewohner hat der Autor treffend beschrieben, ebenso die teilweise Überforderung der Angestellten. Ihre Arbeit ist auch ohne einen Dämon eine stetige Herausforderung. Joel kämpft gegen seine eigenen Dämonen: seine Sucht (auch wenn er sechs Jahre clean ist, hat er oft das Verlangen danach), seinen Bruder Björn, der ihm die ganze Arbeit alles überlässt, weil er meint, Joel sei es der Mutter schuldig und noch dazu sein schlechtes Gewissen, weil er die Mutter im Heim „abgeliefert hat“.
Ich finde das Setting und die Protagonisten sehr gut ausgearbeitet. Die Charaktere sind gut in ihren Stärken und Schwächen gut und vielschichtig beschrieben. Auch sprachlich fand ich das Buch gut, es ist sehr flott zu lesen und bis auf wenige holprige Stellen ist es auch sehr gut übersetzt. Die „Zwischenkapitel“, die mit „Nebelfenn“, also dem Namen des Seniorenheims überschrieben sind, beschreiben das Leben im Heim und die dort lebenden Personen näher und geben einerseits einen tiefen Einblick in das Leben mit Demenz, andererseits zeigen sie, wie das vorher friedliche Leben im Heim angespannter und zunehmend ungemütlich wird. Der Horror des Dämons war für mich ebenso greifbar wie die Verzweiflung, mit der die 95jährige Wiborg immer wieder versucht, ihre schon lange verstorbenen Eltern anzurufen.
Das Buch war daher für mich auf mehreren Ebenen eine unbehagliche, aber lohnende Lektüre. Einerseits, weil das Horror-Element gut ausgearbeitet ist, andererseits sind die Elemente Demenz, Ausgeliefertsein, Einsamkeit hervorragend damit verflochten. Eingesperrt sein ist ein sehr zentrales Element. Die Menschen sind physisch im Heim mehr oder weniger eingesperrt, die Haustüren sind nur mit Codekarten zu öffnen. Sie sind aber auch irgendwie in sich selbst eingesperrt, denn ihre Erinnerungen und das, was einmal ihre Identität ausmachte, schwinden. Aber auch Joel ist in seinem Leben und seinen Schuldgefühlen gefangen, ebenso wie Nina in ihrer Ehe.
Der Roman ist düster und hintergründig. Der Verfall, der mit der Demenz einhergeht, die klaustrophobische Atmosphäre im Heim, ein bisschen Rassismus, Überforderung und Überlastung von Pflegepersonal – das alles macht die bedrückende, ergreifende Stimmung aus, die der Autor stets eher subtil und leise erschafft. Wer das mag, ist mit dem Buch hervorragend bedient. Von mir 5 Sterne.

Bewertung vom 29.07.2021
Das Nest / Kørner & Werner Bd.4
Engberg, Katrine

Das Nest / Kørner & Werner Bd.4


ausgezeichnet

„Das Nest“ ist schon der vierte Teil von Katrine Engbergs Krimi-Serie um die Ermittler Anette Werner und Jeppe Kørner und ich frage mich wirklich, wie mir die Reihe bislang entgehen konnte. „Das Nest“ bietet alles, was ich mag: Spannung, eine ausgewogene Balance aus Ermittlungen und Privatem und ganz viel Kopenhagen. Die drei anderen Teile warten jetzt darauf, von mir gelesen zu werden.
Aber von vorn. Der 15jährige Oscar verschwindet spurlos. Ein seltsamer Abschiedsbrief stellt das Ermittler-Duo Anette Werner und Jeppe Kørner vor Rätsel und die Eltern des verschwundenen Jungen benehmen sich mehr als eigenartig. Kurz darauf wird eine Leiche in einer Müllverbrennungsanlage gefunden und der Leser findet sich samt der Polizei inmitten der Ermittlungen zwischen Trekroner Fort im Hafen von und der Müllverbrennungsanlage Amager Bakke wieder und in einer wahren Achterbahnfahrt, die mal hierhin und mal dorthin, aber (zumindest mich) immer in die falsche Richtung führte. Mehr möchte ich zum Inhalt gar nicht sagen, denn er ist lange sehr verworren und es ist fast unmöglich, etwas dazu auszuführen, ohne zu spoilern.
Denn bei den Themen greift die Autorin tief in die Wunderkiste. Von CO2-Emissionen über krude Familienverhältnisse und alkoholkranke Eltern, bis hin zu Korruption und Betrug, lässt sie praktisch nichts aus und schafft völlig unvorhergesehene Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Stränge, die anfangs parallel und voneinander unabhängig zu laufen scheinen. Nach und nach verbindet sie sie und schafft es, alles zu einem für mich völlig überraschenden aber durchaus stimmigen Ende zu bringen. An manchen Stellen wirkte die Geschichte für mich zwischen Totenmasken, Kunstwerken, Müllverbrennung und Toten ein bisschen überladen, aber die Autorin schafft es gekonnt, eventuell aufkommende Verwirrung zu beseitigen und ein konstant hohes Spannungslevel zu halten.
Sprachlich fand ich das Buch locker aus der Hüfte geschrieben und sehr flüssig zu lesen, manche Stellen fand ich sogar sehr poetisch („Die blassgrauen Augen erzählten die Geschichte eines gelebten Lebens, von Liebe, die aufgeblüht und verschwunden war, von Freundschaften, Arbeit, drei Kindern und einer Scheidung. Von kleinen Knien mit Pflastern, Pausenbroten, Sommerferien, Feierabendbieren und Segeltouren, von Versagen und Missverständnissen, von Beziehungskrieg und gebrochenen Herzen.“) Soweit ich es im Vergleich mit dem dänischen Original beurteilen kann, hat der Übersetzer in der Hauptsache gute Arbeit geleistet. Da es mein erstes Buch der Reihe ist, kann ich die Entwicklung der Protagonisten nicht beurteilen, aber ich finde sie sehr gut beschrieben und gut ausgearbeitet. Die Ermittler haben beide mit ihren privaten Problemen zu kämpfen, was sie aber insgesamt sehr sympathisch und menschlich macht. Am besten gefällt mir allerdings Jeppes „alte“ Freundin Esther, die ihm bei den Ermittlungen tatkräftig unter die Arme greift, und ihr Mitbewohner Gregers. Aber insgesamt fand ich die Umgebung, in der die Autorin ihren Krimi angesiedelt hat, schlicht atemberaubend. Ich hatte stets die Bilder vor Augen, die sie so lebendig beschreibt, konnte Trekroner, die kleine Meerjungfrau, Vesterbro und auch die (inzwischen eröffnete) Skipiste Copenhill auf Amager Bakke vor mir sehen.
Für mich war das Buch ein wirklicher Page-Turner, ich fand es enorm spannend und gut konzipiert, nach ein paar wenigen Anlaufschwierigkeiten konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen und habe es in einer Nacht durchgelesen. Von mir daher eine klare Lese-Empfehlung für alle, die Skandinavien im Allgemeinen und Kopenhagen im Speziellen mögen und spannende Krimis mit vielen Abartigkeiten zu schätzen wissen. Fünf Sterne

Bewertung vom 29.07.2021
Trümmerland / Edith - Eine Frau geht ihren Weg Bd.1 (eBook, ePUB)
Hofmann, Sabine

Trümmerland / Edith - Eine Frau geht ihren Weg Bd.1 (eBook, ePUB)


sehr gut

„Trümmerland“ ist der Titel von Sabine Hofmanns Roman und genau dort spielt die Geschichte sich auch ab: in den Trümmern einer Stadt im Ruhrgebiet im Jahr 1946. Für mich war das Buch Nachkriegsgeschichte auf die unterhaltsame Art.
Die Autorin schafft es, die Probleme der Menschen in den in Schutt und Asche gelegten Städten anschaulich und unterhaltsam in die Geschichte um die zwölfjährige Hella, ihre Mutter Martha und die bei ihnen einquartierte Edith zu verpacken. Hella wird Zeugin, als ein Mann in einem Bombenkrater auf dem ehemaligen Zechengelände stirbt. Sein Mantel hat es ihr angetan, er scheint warm und kuschelig zu sein – Vorkriegsware eben. Und der Mantel hat es in sich, wie ihre Mutter später feststellt, denn in seinem Futter sind Bezugsscheine für große Mengen Butter versteckt.
Und plötzlich befinden sich die drei Frauen mitten in einer spannenden Geschichte um Schwarzmarktschiebereien, echte und gefälschte Dokumente, größere und kleinere Gauner und Gaunereien und der Leser findet sich in einem Krimi wieder, den ich so nicht erwartet hätte. Denn, nachdem das Buch anfangs eher harmlos und historisch daherkommt, nimmt es mehr und mehr Fahrt auf und wird packend spannend. Not, Hunger und der Kampf ums nackte Überleben bekommen Gesichter und Geschichten. Und auch die britische Besatzung, entnazifizierte Polizisten und solche mit „Persilschein“ haben ihren Platz in dem Roman.
Alle Charaktere sind gut und authentisch ausgearbeitet. Alle haben ihre spezielle Vergangenheit, die mal klar und deutlich, mal eher angedeutet beschrieben wird. Deutlich beschrieben wird auch das Leben in der Nachkriegszeit. Brennnessel- und Kohlrübensuppe, hauchdünn geschnittene Brotscheiben, Lebensmittelmarken, Tauschhandel und Schwarzmarkt kennen die meisten, wenn überhaupt, nur aus dem Geschichtsunterricht oder aus Erzählungen der (Ur)Großeltern. In diesem Buch wird alles lebendig und anschaulich geschildert.
Sprachlich fand ich das Buch flott geschrieben und flüssig zu lesen. Als der Roman dann Fahrt und Spannung aufgenommen hatte, konnte ich ihn praktisch nicht mehr aus der Hand legen. Es ist eine gelungene Mischung aus Roman und Krimi, gestrickt um tolle und in allen Stärken und Schwächen sehr gut beschriebene Charaktere in einer ebenso authentisch beschriebenen Umgebung. Das Szenario ist so enorm lebendig, man meint an manchen Stellen fast, den Schutt, die Ruinen und Trümmer sehen, den Staub fast riechen zu können. Schade, dass die wirkliche Spannung erst verhältnismäßig spät aufkommt, daher von mir vier Sterne.

Bewertung vom 23.07.2021
Meine Amy
James, Tyler

Meine Amy


ausgezeichnet

Zehn Jahre sind seit dem Tod von Amy Winehouse vergangen, jetzt hat sich ihr bester Freund Tyler James mit einem Buch von ihr verabschiedet. „Ein Abschied in Worten” – so lautete der Untertitel des Buchs „Meine Amy” und der Titel ist Programm. Es ist ein bewegendes und berührendes Denkmal, das er der Ausnahmekünstlerin setzt. Obwohl ich absolut kein Fan von Amy Winehouse war und bin, hat das Buch mich tief beeindruckt.
Die Geschichte von Amy Winehouse kennt vermutlich jeder, der ihre Musik schon einmal gehört hat: talentiertes Mädchen, später hochtalentierte junge Frau, überragender und überraschender Erfolg mit dem ersten Album „Frank“, On-Off-Beziehung zu Blake Fielder-Civil, Heirat, Scheidung, Drogen, Alkohol, Bulimie und immer wieder Skandale. Eine abgesagte, eine misslungene Tournee. Und ihr Tod mit nur 27 Jahren. Wer aber der Mensch war, der hinter den Skandalen steckte, beschreibt Tyler James in seinem Buch, das zum zehnten Todestag der Musikerin erscheint.
Er vermischt seine eigene mit der Biografie von Amy Winehouse, denn sie sind einen großen Teil ihres Lebens gemeinsam gegangen. „Sie war zwölf, fast dreizehn, sah aber aus wie neun, knapp eins fünfzig groß mit langem dunklem Haar, ein kleines jüdisches Mädchen aus North-London.“ – so fing ihre Freundschaft an, die bis zu ihrem Tod andauern sollte, wobei der nur ein Jahr ältere James nach und nach eine Beschützer-, ja eine Vaterrolle für Amy übernehmen sollte. „Es war Liebe auf den ersten Ton. Und dann Liebe auf den ersten Blick.“ Und sie waren trotz aller später aufkommenden Probleme Seelenverwandte, ihre Beziehung war allerdings immer nur geschwisterlicher Art.
„Unsere Freundschaft begann in genau diesem Moment, war nicht nur von unserer gemeinsamen Liebe zur Musik getrieben, sondern auch von einer tieferen Gemeinsamkeit: Wir waren zwei abgef**te Teenager und erkannten uns im jeweils anderen wieder. Wir waren depressiv, ängstlich, verunsichert.“ Er kümmerte sich über mehrere Jahre um Amy, „Wenn du dich um jemanden kümmerst, dem es so schlecht geht, dann wirst du selbst krank und verlierst dich selbst. Aber du gibst nicht auf. Es war mir egal, was es mit mir machte. Man darf nicht aufgeben. Und ich habe nie aufgegeben.“ Gemeinsam rutschten sie in die Sucht – nur einer von ihnen kam lebend wieder heraus.
Es ist ein Buch über Amy Winehouse, aber auch über Sucht, Selbstverletzung, Überforderung mit dem plötzlichen Ruhm und dem damit verbundenen Reichtum und natürlich über ihr tragisches Ende. Der Verfasser wertet nicht, er klagt weder Amys Vater Mitch noch das Management an, die ihrem Verfall viel zu lange zugesehen haben. Und er klagt mit keiner Zeile Amy selbst an. Weder für ihr Abrutschen in die Sucht, ihre Selbstzerstörung oder dass sie ihn in alles mit hineingezogen hat. In seinen Augen konnte sie nicht anders und er liebte sie wie eine Schwester, bedingungslos und grenzenlos. Aber eine unterschwellige Kritik an der Gesellschaft kann der Verfasser nicht verbergen: erst Gesellschaft und Medien haben das schüchterne Mädchen, das eigentlich immer nur Songs schreiben, und gar nicht berühmt werden wollte, zu dem gemacht, was sie zum Schluss war: jemand, der Grenzen suchte, aber nicht fand („Amy sagte oft: »Das Gesetz gilt nicht für mich.« Und das meinte sie nicht als Scherz. Es war nicht so, dass sie sich für was Besseres hielt, im Gegenteil. Aber es war einfach wahr. Amy kam mit allem davon.“)
Ich lese sehr viel, auch viele Bücher zu schwierigen Themen. Aber dieses war für mich eines der berührendsten, ein Buch, das mich zutiefst traurig und fassungslos zurückließ. Dabei fand ich es sprachlich nicht einmal besonders gut, denn es ist nicht wirklich ausgefeilt. Aber der Tiefgang, der Schmerz und die bedingungslose Freundschaft zwischen den beiden, all das machte mir schwer zu schaffen. Tyler James hat für mich ein herausragendes Buch geschrieben. Ein Einblick in das Leben des Menschen abseits der Kunstfigur Amy Winehouse und schlicht ein Denkmal für seine beste F

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.07.2021
Zwischen Du und Ich
Funk, Mirna

Zwischen Du und Ich


weniger gut

Die Mittdreißigerin Nike hat die Chance, für ihren Arbeitgeber DAAD (Deutscher Akadamischer Auslandsdienst) für ein Jahr nach Tel Aviv zu gehen, um von dort aus eine Konferenz vorzubereiten. Damit beginnt Mirna Funks Roman „Zwischen du und ich“. Da sie durch ihre Mutter Jüdin ist, nutzt Nike Chance, sich in Israel einbürgern zu lassen (Alija zu machen), obwohl sie den Glauben nie praktiziert hat. Außerdem möchte sie die Zeit nutzen, um mehr über ihre Familie herauszubekommen, denn ihre Familienverhältnisse in Deutschland sind zu kompliziert, als dass sie dort etwas erfahren könnte. In Tel Aviv trifft sie auf Noam, einen bekannten ehemaligen Zeitungskolumnisten, der ebenfalls aus komplizierten familiären Verhältnissen stammt.
So weit, so interessant. Und vor allem die Passagen, die die Autorin aus Nikes Sicht beschreibt, fand ich im Großen und Ganzen auch wirklich gut. Die Schilderungen ihrer Vergangenheit in einer toxischen und gewaltvollen Beziehung mit einem älteren Mann, ihre komplizierte Familie, in der viel über die anderen geredet wird, aber kaum jemand mit dem anderen zu reden scheint und die mutige Entscheidung zum Umzug nach Tel Aviv – das alles las sich spannend und interessant. Noam hingegen fand ich nicht sehr sympathisch. Zwar hat er es auch nicht leicht im Leben und auch seine Familienverhältnisse sind schwierig, aber er ist für mich ein Macho, dazu ist er egozentrisch, sexistisch, unbeherrscht und rücksichtslos. Frauen scheinen für ihn nur Objekte zu sein, dafür nimmt er sich selbst aber das Recht heraus, eifersüchtig zu sein und auch seinen Vaterpflichten gegenüber seinem Sohn Amit kommt er nicht wirklich nach.
Nachdem Nike ihn getroffen hat (besser gesagt: nachdem er sie erst bei Instragram gestalkt und dann um ein Treffen gebeten hat), interessiert sie sich kaum noch für etwas anderes. Obwohl sie schon eine toxische Beziehung hinter sich hat, lässt sie sich Hals über Kopf auf ihn ein und ihre Arbeit und die Suche nach ihren Wurzeln geraten völlig in den Hintergrund („Ich war die gesamte Woche nicht zum DAAD gegangen, sondern hatte die Tage nur mit Noam verbracht.“). Und so wandelt sich auch die Handlung des Buchs zu einer eher platten Liebesgeschichte zweier traumatisierter Menschen. Die erwarteten Themen Religion, Kultur, jüdisches Leben in Deutschland und Israel, die Unterschiede zwischen „Ost-Juden“ und „West-Juden“ zu DDR-Zeiten finden fast ausschließlich im ersten Teil des Buchs statt und dann wird zugunsten einer hanebüchenen unguten Liebesbeziehung alles über den Haufen geworfen. Und auch das Thema der häuslichen Gewalt und der „vererbten Traumata“ (also Epigenetik) wird zwar erwähnt, aber nicht wirklich ausgeführt. Einzig der Zusammenhang zwischen deutscher Kolonialherrschaft und dem Bürgerkrieg in Ruanda wird ziemlich gut herausgearbeitet.
Schon beim Lesen hatte ich immer wieder das Gefühl, ich hätte irgendwas verpasst. Ständig wartete ich auf Erleuchtung oder echte Handlung zwischen Sex oder Gewaltbeschreibungen für die ich mir durchaus eine Triggerwarnung gewünscht hätte. Also habe ich zurückgeblättert, noch einmal gelesen – und war doch nicht schlauer. Ich fand das Buch an sich nicht wirklich schlecht, aber ganz sicher auch nicht gut. Sprachlich ist es gut und flüssig zu lesen, die Autorin sagt durch Andeutungen und Rückblicke sehr viel, ohne es wirklich zu sagen. Insgesamt fand ich es stellenweise aber zu derb und zu vulgär.
Für mich war das Buch gewollt und nicht gekonnt, vor allem Ende ließ mich auch nach mehrmaligem Lesen völlig ratlos zurück. Wichtige Themen werden nur angerissen, aber zu wenig verfolgt, die Charaktere waren eher unsympathisch und in ihren Motiven undurchsichtig. Alles in allem fehlte mir im Buch die Tiefe und es kam mir eher wie mit dem Vorschlaghammer erzählt vor, denn einfühlsam. Schade, das Thema hätte eine Menge Potential geboten, aber über jüdisches Leben gibt es sicher weitaus bessere Bücher. Von mir daher für die gute Idee eher ratlose und enttäuschte 2 Sterne.

Bewertung vom 19.07.2021
Der silberne Elefant
Wayne, Jemma

Der silberne Elefant


sehr gut

Drei völlig unterschiedliche Frauen. Drei Schicksale, die alle irgendwie miteinander verflochten sind – und doch kämpft jede für sich allein. Aus dieser Konstellation hat Jemma Wayne ihren Roman „Der silberne Elefant“ gestrickt. Ein gelungenes Werk, das aber auch Kritikpunkte aufwirft.
Emilienne hat als 12Jährige als Mitglied des Stammes der Tutsi den Genozid in Ruanda überlebt. Sie versucht, sich nach ihrer Flucht in London mehr schlecht als recht durchzuschlagen, immer wieder heimgesucht von Flashbacks und Alpräumen. Sie musste im Bürgerkrieg erfahren, wie schnell aus Freunden Feinde werden können und sie plötzlich kein Mensch mehr, sondern nur noch „Langnase, Bohnenstange, Parasit, Kakerlake“ war. Eigentlich arbeitet sie als Reinigungskraft und landet bei der unheilbar an Krebs erkrankten Lynn.
Lynn ist Mitte 50 und hat nicht mehr lang zu leben, durch die Erkrankung hat sie oft starke Schmerzen und hadert mit ihrer Gebrechlichkeit, trauert aber auch den im Leben verpassten Chancen nach. Sie hatte aus eigenem Willen heraus ihre eigene Karriere zugunsten der ihres Mannes aufgegeben, noch bevor sie begonnen hatte. „Erst viele Jahre später ging ihr auf, was für einen schwerwiegenden, folgenreichen Fehler sie damit begangen hatte.“ Ihre Wut darüber lässt sie vor allem an der dritten Protagonistin Vera aus.
Diese ist die Verlobte von Lynns Sohn Luke. Sie hat eine Vergangenheit mit Drogen und Sex und eine (vermeintliche) schwere Schuld auf sich geladen. Luke möchte sie von ihrer Schuld befreien. Er zwingt ihr seinen Glauben auf und will aus dem Partygirl eine brave und gottesfürchtige Ehefrau machen. Allerdings beginnt er im Lauf der Geschichte selbst, mit dem Glauben zu hadern, „denn er konnte das Tempo, in dem sich der Zustand seiner Mutter verschlechterte, nicht beeinflussen, selbst wenn er noch so eifrig die Bibel studierte, noch so viel Geld an wohltätige Einrichtungen spendete, noch sooft betete und auf Alkohol und Sex verzichtete“.

Die drei Schicksale, die die Autorin der Leserschaft serviert, sind sehr unterschiedlich und doch in vielem ähnlich. Aber zwei davon sind im weitesten Sinne hausgemacht, denn Lynn hat sich aus freien Stücken für ihr Leben entschieden und auch nach dem Tod ihres Mannes keine Versuche unternommen, etwas zu ändern. Vera hat ebenfalls ihre (im Nachhinein für sie falsche) Entscheidung selbst getroffen. Einzig Emily hatte keine Möglichkeit, in ihr Schicksal einzugreifen. Ihre Wahl (z. B. ob sie eine Therapie beginnt) steht noch an.
Sprachlich fand ich das Buch gut zu lesen, denn es ist flüssig und wortgewaltig geschrieben. Manchmal fand ich die Beschreibungen sogar zu heftig, vor allem bei Emily Erlebnissen hätte ich mir eine Triggerwarnung gewünscht. Die Charaktere sind gut ausgearbeitet, allerdings schwankte ich immer wieder zwischen Sympathie und Unverständnis. Vor allem Vera wollte ich immer mal wieder packen und schütteln und sie fragen, was sie an dem verklemmten Luke eigentlich findet. Und Lynn sollte zügig ihre Gemälde einem Publikum zugänglich machen, damit sie wenigstens noch einen Erfolg im Leben hat.
Können weiße Autor:innen über BIPOC-Themen und Traumata schreiben, die sie nicht wirklich nachvollziehen können?
Jein. Denn es sind Geschichten, die erzählt werden müssen. Aber sie müssen gut erzählt werden und das gelingt der Autorin in diesem Fall so semi-gut. Das Buch ist sicher mit den besten Absichten geschrieben, aber bei der Verflechtung der drei Frauenschicksale wäre weniger vermutlich mehr gewesen. Auch die vielen Themen, die die Autorin aufgreift (Vergebung, Trauma, Schuld, Glaube, Sexualität, Tod und der Bürgerkrieg in Ruanda) wären, ebenso wie die komplexen Charaktere, eigentlich Stoff für mehr als einen Roman.
Das Ende fand ich wegen vieler offener Fragen eher unbefriedigend. Auch mit dem Titel wurde ich nicht warm, denn die Figur spielt im Buch so gut wie keine Rolle. Dennoch: ich fand das Buch gut und in jeder Hinsicht eindrucksvoll. Trotz der Kritikpunkte vergebe

Bewertung vom 14.07.2021
Enna Andersen und der trauernde Enkel
Johannsen, Anna

Enna Andersen und der trauernde Enkel


ausgezeichnet

Hauptkommissarin Enna Andersen habe ich bereits in „Enna Andersen und die Tote im Mai“ kennenlernen dürfen. Jetzt hat Anna Johannsen nachgelegt. „Enna Andersen und der trauernde Enkel“ heißt der dritte Teil der Serie und auch der hat mich schwer begeistert.
Die Abteilung für Cold Cases erwartet dieses Mal ein drei Jahre alter Fall, der ihnen durch Ben, einen Freund der Kollegin Pia Sims, angetragen wird. Bens Großvater, ein wohlhabender Bauunternehmer, war angeblich eines natürlichen Todes gestorben, aber der junge Mann hat Zweifel an dieser Todesursache. Denn sein Großvater war immer gesund gewesen – und er hatte vermutlich Feinde. Nach einigem Hin und Her beschließt das Team um Enna Andersen zu ermitteln und stößt schnell auf Ungereimtheiten und nach und nach kommen auch den Ermittlern Zweifel am „Herzversagen“, an dem der alte Herr gestorben sein soll. Und mit der Zeit gibt es auch eine Reihe von Menschen, die von seinem Tod profitiert haben könnten, allen voran seine eigenen Kinder.
Und schon sieht sich die Leserschaft mitten in einem rasant geschriebenen Krimi rund um das sympathische Ermittler-Team. Die Geschichte ist gekonnt konzipiert, plausibel konstruiert und hervorragend erzählt – und das alles praktisch ohne einen Tropfen vergossenes Blut oder effektvolle Gewaltszenen. Dass da keine Langeweile aufkommt, ist dem erzählerischen Talent der Autorin geschuldet, der es gelingt, eine durchweg packende Atmosphäre zu schaffen. Sie verflicht die Ermittlungen und das Privatleben der Ermittler geschickt miteinander, legt falsche Fährten in alle möglichen Richtungen und liefert damit einen flüssig und in lockerem Stil geschriebenen Krimi, den man gar nicht mehr aus der Hand legen möchte.
Ich konnte mich von dem Buch jedenfalls nur schwer losreißen, ich hatte auch lange keine Ahnung, wo die Geschichte hinführen würde. Die Balance zwischen Ermittlungen und Nebenhandlungen finde ich ausgewogen. Die fast schon schüchternen Liebesgeschichten sind leises Beiwerk und ein gelungener Kontrast zu den hässlichen Ereignissen rund um den Fall. Gefreut habe ich mich über das Wiedersehen Ennas Sohn Elias (sie ist nach dem Unfalltod ihres Mannes Simon alleinerziehend) und mit dem Anwalt Aaron Bernard, den ich schon aus dem Vorgänger-Band kannte. Er arbeitet immer noch an dem Wiederaufnahmeverfahren des Mannes, der vor über 20 Jahren wegen des Mordes an Ennas Eltern verurteilt wurde.
Das Ende des Buchs hat mich allerdings ziemlich überrascht, nicht zuletzt, weil es für mich ein bisschen überstürzt kam. Natürlich ist es schlüssig, aber irgendwie fehlte mir da etwas und ich musste die letzten paar Seiten noch einmal zurückblättern und nachlesen, ob ich irgendetwas verpasst habe. Vor allem der Epilog ist fast schon stichwortartig knapp, als hätte die Autorin noch schnell alle möglichen offenen Fragen abhaken wollen.
Aber alles in allem fand ich das Buch wirklich gut. Die Haupt-Charaktere sind wie gewohnt gut beschrieben und aus den vorherigen Teilen stimmig weiterentwickelt. Natürlich kann man das Buch auch problemlos ohne Vorkenntnisse lesen und verstehen, da die Teile in sich abgeschlossen sind. Allerdings empfehle ich natürlich jedem, auch die Vorgängerbände zu lesen, da diese ebenfalls tolle und spannende Krimis sind. Die Atmosphäre in Enna Andersens Team finde ich immer sehr harmonisch und wenn es doch einmal Unstimmigkeiten gibt, dann werden sie sachlich und konstruktiv besprochen. Auch der neue Kollege im Team, den die Autorin in diesem Band einführt, passt gut dazu, obwohl ich ihn manchmal etwas übertrieben zuvorkommend fand.
Auf jeden Fall freue ich mich jetzt schon auf den nächsten Teil und vergebe für diesen fünf Sterne.

Bewertung vom 14.07.2021
In all seinen Farben
Lester, George

In all seinen Farben


sehr gut

Robin Cooper, der offen homosexuelle fast 18jährige Protagonist in George Lesters Jugendroman „In all seinen Farben“, steht kurz vor dem Schulabschluss. Sein größter Traum ist es, an der LAPA, der renommierten britischen Schauspielschule London Academy of Performing Arts (sie existiert übrigens nicht mehr) zu studieren. Als dieser Traum in Form einer Absage platzt, muss sich der junge Mann neu orientieren und findet in der Londoner Drag-Szene eine neue Möglichkeit. Und damit ist die bunte Geschichte über Homosexualität, Erwachsenwerden, Selbstfindung und Träume auch leider im Klappentext schon fast komplett fertig erzählt. Noch dazu zeigt der englische Titel „Boy Queen“ sehr deutlich, wo die Reise für Robin hingehen wird. Noch ein Hauch Liebesgeschichte und eine Gewalterfahrung (die aber länger zurückliegt und von der nur rückblickend erzählt wird) – fertig ist der bunte LGBTQ+-Roman und ein lesenswertes und unterhaltsames Buch mit ein paar (aus meiner Erwachsenen-Sicht) Schwachpunkten.
Das Buch wird aus Robins Sicht in der „Ich“-Perspektive erzählt und die Leserschaft erlebt alles auch nur aus seiner zum Teil sehr subjektiv-eingeschränkten Sicht auf die Dinge. So kommt er einerseits als sehr zielstrebiger und fordernder junger Mann rüber, andererseits wirkt er aber auch oft verletzlich und unsicher. Die Absage der Schauspielschule wirft ihn zuerst völlig aus der Bahn, außerdem hat er Liebeskummer, da sein Freund Connor ungeoutet ist und in der Öffentlichkeit nicht zu ihm steht. Allerdings hat er auch sehr großes Glück im Leben und scheint sich dessen nicht immer wirklich bewusst zu sein. Das ist mein großer Kritikpunkt an der Geschichte, wobei es natürlich perfekt zum „Coming-of-Age“-Genre passt: Robin legt viel pubertäres Verhalten an den Tag, in seinem Egoismus und seiner Egozentrik stößt er seine Freunde vor den Kopf, denn als er Drag für sich entdeckt, interessiert er sich für nichts anderes mehr.
Das belastet auch das sonst sehr gute Verhältnis zu seiner Mutter enorm. Seine Mutter steht voll hinter ihm, unterstützt ihn in allem und arbeitet hart, um den Lebensunterhalt finanzieren zu können („»Was glaubst du wohl, warum ich nicht hier bin, Robin?«, schreit sie. »Ich bin nicht hier, weil ich mir den Ar* aufreiße, um dir ein gutes Leben zu ermöglichen. Ich mache das komplett allein. Ich bezahle deinen Tanzunterricht, ich bezahle deine Gesangsstunden, ich sorge dafür, dass dir alle Möglichkeiten offenstehen, und du merkst das nicht mal!«“) Oft scheint er es nicht wirklich zu schätzen, schwänzt Tanzunterricht und Schule und setzt alles bislang Erreichte aufs Spiel. Trotz aller Zielstrebigkeit ist er halt ein echter Teenager und manchmal wollte ich ihn einfach nur schütteln und anbrüllen, er möge ein bisschen mehr Respekt und Dankbarkeit zeigen. Aber dann habe ich mir die Zielgruppe ins Gedächtnis gerufen, dann passte es wieder. Auch der Schreibstil ist der Zielgruppe angemessen, locker aus der Hüfte, leicht zu lesen, wenn auch mit einem ernsten Unterton in den Zwischenzeilen. Die Haupt-Charaktere sind gut ausgearbeitet, die Nebencharaktere (darunter auch Robins Freund Connor) bleiben allerdings eher schemenhaft und blass, da wäre noch etwas Luft nach oben gewesen.
Und bei den vielen Klischees, die der Autor bedient (angefangen vom Dramadramadrama des Protagonisten bis hin zum ungeouteten Freund, der sich in homophoben Kreisen bewegt) muss man sich als Leser:in über eines klar sein: nicht jeder hat es so gut wie Robin. Sein Outing verlief wohl sehr entspannt, seine Mutter steht voll hinter ihm, egal, was er macht – das erleben auch im Jahr 2021 nicht alle. Schade, ist aber so. Da zeichnet das Buch für mich ein etwas zu konstruiert-rosarotes Bild.
Aber sonst fand ich es wirklich gut, es gab mir Einblicke in die Drag-Welt (der Autor tritt selbst als Drag Queen auf, kennt die Szene also genau), die ich so nicht kannte und es war auch sonst sehr flott zu lesen. Von mir daher vier Sterne.

Bewertung vom 09.07.2021
Wut
Martenstein, Harald

Wut


sehr gut

„Ich bin in der Wohnung meiner Mutter, morgen kommen Möbelpacker. Sie ist jetzt im Heim und versteht nicht mehr, was um sie herum geschieht.“ Mit diesen Worten beginnt Harald Martensteins Roman „Wut“, ein Buch über eine gewaltvolle Mutter-Kind-Beziehung. Der Autor sagt selbst: „Und dies ist ein Roman, keine Biographie und keine Reportage. Ein Anderer als ich könnte ihn nicht schreiben, denn ich arbeite, wie jeder Romanautor, im Steinbruch meiner Erinnerungen, eigne mir dieses an, verwerfe jenes, erfinde dazu und vergesse. Ich habe mir alle Freiheiten genommen, die das Genre Roman gestattet.” Diese Aussage lässt vermuten, dass autobiographische Elemente verarbeitet sind.⠀
Martensteins Ich-Erzähler Frank leidet von frühster Kindheit an unter den unvorhersehbaren Wutausbrüchen der Mutter (die er nur „Maria“ nennt), die nicht selten in wahren Prügel-Orgien gipfelten. („Ich habe gemerkt, wie sie immer hin- und hergerissen war zwischen Liebe und Hass. Sie war kein Mensch, der Gefühle unterdrücken kann, das konnte sie überhaupt nicht, und so wechselte das eben manchmal innerhalb weniger Minuten, Küsse, Schläge, dann wieder Küsse.“) Das Leben der Mutter war nicht einfach. Das weiß auch Frank, der für ihr Verhalten Erklärungen findet, es aber nicht entschuldigen kann. („Es gibt Dinge, die ich ihr nicht verzeihen kann, obwohl ich sie verstehe.“) Sie kannte als Kind selbst kaum Liebe, vor allem nicht von der eigenen Mutter, die sie mit 18 Jahren zur Welt brachte. Nach dem Krieg fand sie Unterschlupf in einem Bordell und landete dann auf einer Klosterschule. Durch ihre Intelligenz standen ihr trotz ihrer rebellischen Art alle Wege offen – letztendlich verließ sie die Schule kurz vor dem Abitur ohne Abschluss. Sie heiratete und bekam nach zahllosen Abtreibungen, die ihr Schwiegervater, ein Tierarzt, illegalerweise durchführt, ein Kind.
„Als sie sehr jung Mutter wurde, war ich wohl so etwas Ähnliches wie jetzt die Krankheit, etwas, das sie daran hinderte, frei zu sein.“ - Die Mutter hatte zwar noch Ziele und Träume, verwirklichte aber nichts. Im Endeffekt macht ihren Sohn für ihr verpfuschtes Leben verantwortlich. Und er sie für seines, denn auch er ist ein getriebener und weitgehend bindungsunfähiger Mensch. Frank bricht den Kontakt zur Mutter ab und lange Zeit verbindet ihn mit der Frau, die ihn geboren hat, nur eines: eine tiefe innere Wut, die auch ihn nicht loslässt. „Maria sagte immer, dass ich alles ihr verdanke, dass ich nur ihre Kreatur bin, mein Talent, mein Geld, der Erfolg, alles ihr Erbe, ihre harte Schule, und in gewisser Weise hat sie damit recht. Ich verdanke ihr alles, was ich bin, im Guten und Schlechten.“
Soweit konnte ich dem Buch folgen. Ich fand die Erzählung bedrückend, aber realistisch und nachvollziehbar. Doch dann scheint Frank Zweifel an seinen bruchstückhaften Erinnerungen zu bekommen und die Geschichte rutschte für mich ins Philosophisch-Hypothetische ab. „Niemals weiß ich, ob mir meine Erinnerung nicht einen Streich spielt. War es denn wirklich so?“ Zwar habe er nichts aus seiner Vergangenheit verdrängt, er erinnere sich schlicht nicht an Dinge, die nicht wichtig sind, um im Leben zurecht zu kommen. Nicht nur schlimme Erinnerungen sind weg, sein „Gehirn speichert auch angenehme Erinnerungen nicht.“ Und nach und nach wurde das Buch für zunehmend wirr und undurchsichtig.
Sprachlich fand ich das Buch ansprechend und wegen der vielen oft völlig unvorhersehbaren Handlungen, teilweise sogar spannend. Es ist ein bemerkenswertes, schwer zu verdauendes Werk. Enttäuschend fand ich aber den Schluss. Nach viel psychologischem Tiefgang, einem Mäandern zwischen Mitleid, Verständnis, Wut und Hoffnung, fand ich ihn verworren und verwirrend. Was bleibt, ist die Frage, wie wir zu dem werden, was wir sind, mit dem Fazit: „„Und irgendwann muss man sowieso damit aufhören, den Eltern die Schuld an dem fehlerhaften Menschen zu geben, der man ist.“ Für ein tiefgründiges Buch aus dem ich viel mitnehmen konnte von mir vier Ster

Bewertung vom 07.07.2021
Die Verlorenen / Jonah Colley Bd.1
Beckett, Simon

Die Verlorenen / Jonah Colley Bd.1


ausgezeichnet

Zwei Jahre hat Simon Beckett seine Leserschaft nach „Die ewig Toten“ warten lassen. Jetzt hat er endlich nachgelegt. „Die Verlorenen“ heißt sein neuestes Werk und er stellt auch mit Jonah Colley einen neuen Protagonisten vor.
Jonah Colley ist Scharfschütze und arbeitet bei der Londoner Polizei. Als ihn sein ehemaliger bester Freund telefonisch um Hilfe bittet, zögert er kurz, dann siegt aber seine Loyalität und er fährt zum Slaughter Kay, einer eher heruntergekommenen Gegend Londons. Als er vier in Plastikfolie eingewickelte und mit Brandkalk bedeckte Leichen findet, beginnt für ihn ein Alptraum – und für den Leser eine wilde und spannende Achterbahnfahrt durch Ermittlungen und private Probleme. Und das Buch kommt wirklich einer Achterbahn gleich: so viele Verdächtigungen, so viele Wendungen und so viel Hin und Her und Auf und Ab. Ein atemberaubend schneller Thriller eben.
Bei Beckett passt halt einfach alles: Setting, Wortwahl und auch die Geschichte ist überwiegend stimmig. Sprachlich ist das Buch eher schlicht, dafür sehr flüssig zu lesen. Schon der Anfang fesselte mich enorm. Die bedrückende nächtliche Stimmung, der Name „Slaughter Quay“, als Schlachterkai und dann noch die Menschen in Plastikfolien-Kokons, von denen einer noch am Leben ist – ich konnte das Buch schlicht nicht mehr aus der Hand legen. Der Spannungsbogen ist konstant hoch, nur wenige Nebenhandlungen erlauben dem Lese-Publikum kurze (aber dringend benötigte) Atempausen. Denn Simon Beckett spart in üblicher Manier nicht mit grausamen Beschreibungen und spickt alles mit ein bisschen Privatleben und einem in der Vergangenheit liegenden Schicksalsschlag, der seinen Protagonisten nachhaltig geprägt hat.
Mit Jonah Colley hat der Autor einen interessanten und sehr vielschichtigen, impulsiven und nicht immer sympathischen Charakter eingeführt, der die Geschichte absolut beherrscht. Neben ihm gibt es zwar eine Menge anderer Figuren, aber niemand ist so dominant wie er. Er ist in der Hauptsache ein getriebener Mensch. Jonahs Aktionen sind nicht immer logisch, meistens eher impulsiv und unüberlegt, oft aber menschlich nachvollziehbar. Getrieben wird er von der Frage, was mit seinem vor zehn Jahren verschwundenen Sohn Theo passiert ist, dessen Verlust nicht nur seine Ehe vollends zerstört, sondern auch sein Leben nachhaltig verändert hat. Seine Schuldgefühle lähmen ihn immer noch, sein Leben dreht sich fast nur um seinen Beruf und die immer wiederkehrende Frage nach dem Schicksal des Vierjährigen. So verläuft ein Teil der Geschichte in zwei Zeit-Ebenen, dem Hier und Jetzt und der Zeit vor zehn Jahren.
Gut, der Schluss ist eventuell ein bisschen sehr konstruiert und auch zwischendrin ist nicht alles ganz logisch und es sind ein oder zwei Fehler in der Übersetzung, aber alles in allem fand ich das Buch einen echten Pageturner und mit seinen rund 300 Seiten fast ein bisschen kurz. Von mir daher für einen durchgehend spannenden, fesselnden und schlicht hervorragenden Thriller klare fünf Sterne. Wer David Hunter mag, wird Jonah Colley vermutlich ebenfalls mögen.