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sleepwalker

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Insgesamt 495 Bewertungen
Bewertung vom 22.11.2021
Der Silberfuchs meiner Mutter
Hotschnig, Alois

Der Silberfuchs meiner Mutter


sehr gut

„Der Silberfuchs meiner Mutter“ von Alois Hotschnig ist in vielerlei Hinsicht kein einfaches Buch. Nein vielmehr ist die Lebensgeschichte von Heinz, dem in Österreich geborenen Sohn einer norwegischen Mutter und eines Wehrmachtsoldaten, wirklich schwere Kost und der für mich sehr sperrige Stil des Autors machte mir das Buch auch nicht zugänglicher. Die Grundlage für das Buch bildet das Leben des Schauspielers Heinz Fitz (der Protagonist heißt Heinz Fritz), allerdings sagte mir auch der Name nichts, ich bin bei österreichischen Mimen nicht besonders bewandert. Und ich gestehe, auch Alois Hotschnig war mir bis dato unbekannt.
Die Norwegerin Gerd Hörvold lernte als Krankenschwester den verletzten Soldaten Anton Halbleben kennen und lieben. Sie verloben sich, Gerd wird schwanger. In Norwegen kann sie nicht bleiben, dort ist sie als Liebschaft eines feindlichen Soldaten nicht sicher. Also reist sie mit einem Silberfuchs um den Hals, der ihr von ihrem Verlobten als Pfand gegeben wurde, von Kirkenes in Nord-Ost-Norwegen, heim ins Reich“. Die Hoffnung, dem ungeborenen Kind im vorarlbergischen Hohenems eine Familie bieten zu können, zerschlägt sich, aus Heirat und Familie wird nichts, wie schon in Norwegen stößt Gerd auf Ablehnung, bis zum Schluss wird sie in Österreich „die Norwegerin“ bleiben.
Als Heinz 1942 geboren wird, landet er erst in einem Lebensbornheim, dann in einer Pflegefamilie. 1946 findet seine Mutter ihn durch das Rote Kreuz wieder. Sie heiratet, Heinz bekommt einen Stiefvater, der ihn ablehnt und mit dem er nur den Nachnamen Fritz gemeinsam hat. Allenfalls wenn es darum ging, ihm beim Schlachten zu helfen, da war der Junge dem Mann der Mutter gut genug. Mit 16 Jahren sucht er Kontakt zu seinem leiblichen Vater, der ihn aber ebenfalls ablehnt. Er behauptet sogar, Heinz sei nicht sein Sohn, sondern der eines ertrunkenen Russen. Und selbst die Mutter glaubt, er sei im Heim vertauscht worden. Obwohl die beiden mit der Liebe zum Schauspiel etwas gemeinsam haben, ist die Mutter nicht immer gut zu ihrem Sohn, so streut sie ihm unerklärlicherweise Putzmittel über sein Essen.
So verbringt Heinz lange Jahre seines Lebens mit der Suche nach seiner Identität und seinen Wurzeln. Die unter epileptischen Anfällen leidende Mutter ist ihm bei den Nachforschungen keine Hilfe, „wann immer ich nach ihm fragte, kam wieder ein Anfall, und so habe ich nicht mehr gefragt. Den einzigen Halt findet Heinz im Schauspiel, anfangs weil er die Anfälle der Mutter erschreckend realistisch nachspielen kann. Mit 60 Jahren wagt er einen neuen Anlauf, seinen leiblichen Vater kennenzulernen und dann kommt plötzlich: „Du darfst Vater zu mir sagen“.
Eine Biografie oder gar Autobiografie ist das Buch nicht, obwohl es manchmal durch die Erzählung aus der Ich-Perspektive den Anschein erwecken mag. Es ist ein teils fiktiver Roman auf Basis einer realen Lebensgeschichte. Und die lässt sich schon allein durch den teils fragmentierten Erzählstil nicht einfach so „weglesen“. Dabei passt der Stil eigentlich sehr gut zu den Puzzleteilen, aus denen sich der Protagonist sein Leben zusammenbaut. Auf mich wirkte er aber eher sperrig und leserunfreundlich. Dazu die Ablehnung und Gewalt, die Heinz erleben muss und den Verlust seiner Identität, die er später mühsam wieder zusammensetzen muss – nein, das Buch ist keine leichte Lektüre. Mit dem Stil tat ich mich schon schwer, mit dem Inhalt aber noch mehr, vor allem mit dem, was sich an Gewalt und Kriegstraumata zwischen den Zeilen herauslesen lässt.
Für die Geschichte über einen, der im eigenen Leben fremd zu sein scheint, von mir wegen des für mich schwierigen fragmentierten Mololog-Stils und der teilweise diffus-vagen Andeutungen vier Sterne.

Bewertung vom 18.11.2021
Die Leuchtturmwärter
Stonex, Emma

Die Leuchtturmwärter


ausgezeichnet

Seit einem Urlaub in Irland und den Erzählungen über die Küste von Bray, üben Leuchttürme einen speziellen Zauber auf mich aus. Daher habe ich mich auf das Buch „Die Leuchtturmwärter“ von Emma Stonex sehr gefreut. Auf einem wahren historischen Hintergrund hat die Autorin eine fiktive Geschichte konstruiert, die Ihresgleichen sucht. Die Idee hinter dem Buch ganz fabelhaft, noch dazu fand ich den Stil der Autorin ganz zauberhaft. Ein paar Abstriche musste ich beim Lesen machen, aber alles in allem fand ich das Buch außergewöhnlich und eine äußerst lohnenswerte Lektüre, bis auf den Schluss, denn den braucht in der Form wirklich niemand.
Aber von vorn.
Im Dezember 1900 verschwanden drei Wärter von einem abgelegenen Leuchtturm auf der Insel Eilean Mòr. Diese historische Tatsache hat die Autorin ihrer Geschichte zugrunde gelegt, die sie aber ins Jahr 1972, beziehungsweise 1992 und von den Äußeren Hebriden ins südenglische Cornwall verlegt. Was bleibt ist aber, dass Arthur Black, William „Bill“ Walker und Vincent Bourne spurlos verschwunden sind und der Leuchtturm auf dem Maiden Rock von innen abgeschlossen ist. 1992 greift der Thriller-Autor Dan Sharp den Fall wieder auf und recherchiert im Umfeld der drei verschwundenen Männer und interviewt dabei ihre zurückgebliebenen Frauen/Freundinnen Helen, Jenny und Michelle. Und nach und nach setzt sich ein Puzzle zusammen, das die Leserschaft in seinen Bann zieht. Und tatsächlich ist das Verschwinden der drei Männer nicht das einzige Geheimnis, das im Lauf der Geschichte ans Tageslicht kommt.
Und so wird aus dem sehr gemächlich beginnenden Roman nach und nach ein unterschwellig spannendes Psychogramm mit sechs äußerst unterschiedlichen und vielschichtigen Charakteren. Jeder einzelne hat sein Päckchen zu tragen und in der Mitte stehen das Meer und der Leuchtturm als feste, reichlich unbeteiligte Größen. Ganz so, als wüssten sie, dass sie am Schluss immer noch da sein werden, egal, was passiert. Zugegeben, ich tat mich anfangs etwas schwer, Zugang zu dem Buch zu finden. Aber dann zogen mich vor allem die Teile in den Bann, in denen aus der Sicht der Männer auf dem Leuchtturm erzählt wird. Klaustrophobische Enge und Einsamkeit, das Aufeinanderprallen der Charaktere und die Macht des Meeres – hier schafft die Autorin eine mystische, packend dichte und sehr düstere Atmosphäre, die Ihresgleichen sucht. Die sich langsam entwickelnde Toxizität zwischen den Männern und der aufkommende Lagerkoller bauen eine bedrohliche Stimmung und eine latente Spannung auf, ohne dass die Geschichte tatsächlich spannend ist, denn die Leserschaft weiß: irgendwann wird irgendetwas passieren. Die Kapitel aus der Sicht der Frauen fand ich dagegen eher platt und fast langweilig. Aber auch sie haben ihre Daseinsberechtigung, denn obwohl die drei auf dem Turm nicht dabei waren, so sind sie an allem, was passiert, nicht unbeteiligt.
Das Konzept des Buchs finde ich wirklich gelungen. Es wird nicht nur aus verschiedenen Perspektiven, sondern auch auf zwei Zeitebenen erzählt. Die Sprache der Autorin ist bildgewaltig, fast poetisch, hier hat auch die Übersetzerin hervorragende Arbeit geleistet. Ich konnte sehr gut damit leben, dass die Charaktere allesamt etwas klischeehaft waren (Traumata, schwere Jugend, unglückliche Beziehung), aber den Schluss fand ich einfach nur enttäuschend. Den hat das Buch eigentlich nicht verdient. Formal kam er für mich nach so vielen so intensiv erzählten Geschichten zu überstürzt, er wirkte auf mich fast wie eine kalte Dusche, die mich aus der Geschichte herausriss, in die ich versunken war. Außerdem fand ich ihn inhaltlich absolut enttäuschend. Zumal das Verschwinden der Männer auf dem „echten“ Leuchtturm ja bis heute nicht geklärt wurde. Da hätte dem Buch ein offenes Ende gut getan, ich wurde das Gefühl nicht los, die Autorin wollte das Thema „abhaken“ und dem Publikum eine Lösung bieten.
Trotzdem fand ich das Buch ganz hervorragend und vergebe 4,5 Sterne, aufgerundet auf 5.

Bewertung vom 09.11.2021
SØG. Dunkel liegt die See / Nina Portland Bd.1
Jensen, Jens Henrik

SØG. Dunkel liegt die See / Nina Portland Bd.1


sehr gut

Jens Henrik Jensens Dänemark-Thriller „SØG. Dunkel liegt die See“ ist der Auftakt zur Trilogie rund um die Ermittlerin Nina Portland. Obwohl der Autor durch seine Bestseller-Serie um den Kriegsveteranen Niels Oxen Bekanntheit erlangt hat, war er mir bislang unbekannt. Allerdings ist die Portland-Serie nicht wirklich ganz neu, der vorliegende erste Teil erschien im Original bereits 2005 und wurde jetzt als überarbeitete Fassung neu aufgelegt.
Aber von vorn. 1993 kamen auf dem Frachtschiff „MS Ursula“ alle fünf Besatzungsmitglieder ums Leben, der einzige Überlebende war natürlich Tatverdächtiger Nummer eins. Allerdings wurde er freigesprochen. Nina Portland hat der Fall um das „Axtschiff“ nie ganz losgelassen, jetzt, zehn Jahre später ermittelt sie in dem Cold Case auf eigene Faust erneut und gerät in einen Strudel der Ereignisse, mit dem sie ganz sicher nicht gerechnet hat. Und die Morde auf der „Ursula“ sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Ermittlungen führen die engagierte Polizistin nach Tallin/Estland und London und wieder zurück ins dänische Esbjerg und er wird sehr schnell sehr viel persönlicher, als sie es sich hätte träumen lassen. Für die Leserschaft wird das Buch allerdings aufgrund der hohen Dichte, des flotten Tempos und der Vielzahl an Informationen zwar enorm spannend, aber auch, vor allem gegen Ende, leicht unübersichtlich. Denn Nina ist nicht nur auf der Suche nach der Lösung im Fall der getöteten Seeleute, sondern auch auf der Suche nach dem Vater ihres Sohnes Jonas und sehr schnell auch auf der Flucht vor Kriminellen und ausländischen Geheimdiensten.
Sprachlich ist das Buch sehr gut und flott zu lesen. Konzeptionell fand ich, dass das Buch anfangs etwas schleppend in Fahrt kommt, im Verlauf allerdings sehr viel besser und vor allem spannender wird, aber auch enorm komplex. Die Fiktion basiert auf einer realen Begebenheit. Auf dem Schiff „MS Bärbel“ kamen tatsächlich fünf Männer zu Tode und ein Täter wurde nie verurteilt. Im Buch wirkt die Geschichte zunehmend so hektisch und getrieben, wie die Protagonistin. Bei der Beschreibung konzentriert sich der Autor hauptsächlich auch auf sie, obwohl er jedem der Charaktere gewisse Eigenschaften und Eigenarten „mitgibt“. Nina steht aber eindeutig als engagierte und zielstrebige Ermittlerin im Mittelpunkt, sie ist aber auch jemand mit einem gewissen Tunnelblick: für das Erreichen ihrer Ziele zählt für sie nichts anderes mehr. Durch ihre Verbissenheit vernachlässigt sie ihren Sohn, ihre Familie und auch ihren eigentlichen Job. Dennoch nimmt Ninas Privatleben einen großen Teil des Buchs ein, Begegnungen mit Nachbarn, ihrem Vater und ihrem Freund sind zwar nett zu lesen, machen aber aus der eigentlich konstanten Spannungskurve eher eine Sinuskurve mit sehr vielen Aufs und Abs.
Insgesamt hat mich das Buch zwar hervorragend unterhalten, aber mit Nina Portland als Person konnte ich mich absolut nicht anfreunden. Natürlich ist ihr Ehrgeiz und ihre Ermittlungsarbeit bewundernswert und ihre Ziele ehrenwert, aber insgesamt bleibt bei ihren Alleingängen eine Menge auf der Strecke und nicht nur ihr Job ist ständig in Gefahr, sondern auch ihr Leben. Während sie ihren eher privaten Feldzug führt, „parkt“ sie ihren Sohn Jonas immer wieder für längere Zeit bei ihrer Familie und ihre Kollegen müssen dauernd für sie einspringen. Daher ist das Buch für mich ein toller, komplexer und spannender Thriller mit einer ebenso komplexen und komplizierten, wie auch unsympathischen Ermittlerin. Trotzdem ist es ein Buch, das mir Lust auf mehr machte, ich lese jetzt die beiden anderen Teile der Trilogie auf Dänisch. Von mir von Herzen vier Sterne.

Bewertung vom 08.11.2021
Franz
Pettinger, Jürgen

Franz


ausgezeichnet

Franz Doms wurde als Homosexueller ein Opfer des Nationalsozialismus, denn er wurde 1944 mit 21 Jahren in Wien hingerichtet. Jürgen Pettinger hat seine Geschichte im gleichnamigen Buch aufgeschrieben, teils fiktiv, teils aber auf authentischen Protokollen und Aussagen fußend. Herausgekommen ist ein einfühlsames Buch, das betroffen und nachdenklich macht. Der Autor schafft damit ein Denkmal, nicht nur für den Protagonisten, sondern stellvertretend für alle „vergessenen Opfer des Nationalsozialismus“.
Das Buch ist für die Leserschaft keine leichte Kost. Der Tod des Protagonisten ist stets präsent, auch wenn sein Leben eigentlich das Thema ist. Die immer wieder eingeflochtenen und in einer anderen Schriftart gesetzten Auszüge aus Vernehmungen und Akten, lassen das Publikum eines nie vergessen: am Ende der Geschichte steht sein Tod. Bis dahin ist das Buch aber die kurze Biografie eines eher unangepassten jungen Mannes. Als einziger in der Familie ging er nach dem Volksschul-Abschluss zur Handelsschule, lernte Kurzschrift und Maschineschreiben. Aber glücklich wurde er damit nicht, irgendwie scheint er das schwarze Schaf in der Familie gewesen zu sein. Sein älterer Bruder interessiert sich nicht wirklich für ihn, aber seine Schwester Josefine kümmert und sorgt sich um ihn, denn der gutaussehende junge Mann pflegt einen Lebensstil, den er sich als ungelernter Bürodiener eigentlich nicht leisten kann. Schnell gibt es in der Nachbarschaft Gerüchte und Gerede, vor allem auch, weil er oft betrunken ist und sich dann lautstark mit seiner Schwester streitet. Aber ihm ist es lieber, dass er für einen Gauner gehalten wird, als für einen „Warmen“, denn tatsächlich waren die Zeiten für Homosexuelle oft gefährlicher als für Kleinkriminelle.
Sprachlich ist das Buch eher schlicht und manchmal mit ganz klar österreichischem Zungenschlag geschrieben. Und dennoch schafft der Autor es, mit seinen einfachen Worten eine packende, tragische, berührende und auch wütend und betroffen machende Geschichte zu erzählen. Über die Suche nach Liebe, Zuneigung und den Platz im Leben, über die Sorge einer Schwester um ihren Bruder, über Gefahren durch Denunzianten und falsche Freunde, Polizeibrutalität und das Leben als Außenseiter in einem Unrechtsstaat. Auch die eher unrühmliche Rolle der Kirche wird am Rande angesprochen.
Die Charaktere sind vom Autor gut und gründlich ausgearbeitet, da das Buch bis auf die Verhörprotokolle aus den verschiedenen Strafverfahren gegen Franz Doms fiktional ist. Aber das „so hätte es sein können“, macht aus dem Buch ein gleichermaßen bedrückendes wie berührendes Werk. Besonders Franz beschreibt der Autor meiner Meinung nach fast liebevoll-freundschaftlich, als hätte er ihn wirklich gekannt. Er schildert ihn als unangepassten, manchmal sehr naiven junger Mann mit Flausen und dem Traum der großen Liebe im Kopf, aber immer loyal und bis zum Schluss eher um andere besorgt, als um sich selbst.
Angesichts der aktuellen politischen Lage in Europa macht dieses Buch traurig und betroffen – und es macht mir persönlich Angst vor dem, was auf die Menschen hier, und nicht zuletzt auf mich selbst, zukommen mag. Daher empfehle ich dieses Buch nicht nur von ganzem Herzen, ich fordere jeden auf, es unbedingt zu lesen und daraus zu lernen. Fünf Sterne.

Bewertung vom 08.11.2021
Der andere Sohn / Karlstad-Krimi Bd.1 (eBook, ePUB)
Mohlin, Peter; Nyström, Peter

Der andere Sohn / Karlstad-Krimi Bd.1 (eBook, ePUB)


gut

„Der andere Sohn” ist der Auftakt zu einer Krimi-Serie des schwedischen Autoren-Duos Peter Mohlin und Peter Nyström. Der Klappentext war vielversprechend, aber leider hielt das Buch nicht ganz das das, was es versprochen hat.
Aber von vorn. 2019 muss der amerikanische FBI-Agent John Adderley nach einem missglückten Undercover-Einsatz mit einer neuen Identität ins Zeugenschutzprogramm. Dass er in sein Geburtsland Schweden zieht, ist nicht ganz regelkonform. Aber sein jüngerer Halbbruder Billy ist in Schwierigkeiten, denn er war 2009 der Hauptverdächtige in einem immer noch ungelösten Kriminalfall. Und jetzt wird der Cold Case um das Verschwinden der Millionärstochter Emelie Bjurwall wieder aufgerollt, von ihr fehlt seit zehn Jahren jede Spur, auch eine Leiche wurde nie gefunden. John heuert bei der schwedischen Polizei an und wird Teil des Ermittlerteams. Hin und hergerissen zwischen der Loyalität zu seinem Bruder, der Abneigung gegenüber seiner Mutter und den Zweifeln an Billys Schuld, stellt er eigene Nachforschungen an und nimmt die Leserschaft mit auf eine spannende Ermittlungsreise mit einem (zumindest für mich) überraschenden Schluss.
Die eigentlichen Protagonisten des Buchs sind der Ermittler John und Heimer, der Vater des verschwundenen Mädchens. Sie sind meiner Meinung nach auch die beiden am besten ausgearbeiteten Charaktere, die anderen sind eher eindimensional und fast lieblos beschrieben. Außerdem fand ich alle Personen sehr plakativ geschildert und keine konnte irgendwelche Sympathiepunkte bei mir gewinnen. Vor allem in Bezug auf John kann ich mit Fug und Recht sagen, dass ich noch selten ein Buch gelesen habe, in dem mir der Ermittler so unsympathisch war, wie er. Er ist zwar sehr intelligent und sicher ein kluger Ermittler, aber er ist auch arrogant und oberflächlich und manchmal konnte ich seine Handlungen absolut nicht nachvollziehen. Oft scheint er nach dem Motto zu handeln „alle blöd außer ich“. Außerdem erfüllt er auch jedes Klischee eines Amerikaners. So kauft er sich als erstes einen amerikanischen Straßenkreuzer, weil ihm der Kleinwagen als Dienstauto zu schlicht ist. Seine Heimatstadt Karlstad ist zwar eine Kleinstadt und sicherlich provinziell, aber er benimmt sich manchmal, als hätte es ihn in ein Entwicklungsland verschlagen.
Alles in allem fand ich den Krimi zwar gut konzipiert, aber thematisch vielleicht ein bisschen zu überladen. Es kommt sehr viel Privates des Ermittlers zur Sprache und auch der missglückte Undercover-Einsatz nimmt im ersten der vier Teile sehr viel Raum ein. Sprachlich ist das Buch gut zu lesen. Die Dialoge fand ich manchmal allerdings ein bisschen hölzern, aber insgesamt ist auch die Übersetzung gelungen.
Der Fall ist am Ende zwar gelöst, aber ein Cliffhanger hält die Spannung hoch und macht Lust auf den Folgeband „Die andere Schwester“. Trotz des unsympathischen Protagonisten und der Tatsache, dass das Buch sehr lang ist und die Spannung lange braucht, um Fahrt aufzunehmen, fand ich es durchaus gelungen und durch die vielen Wendungen etwa ab der Hälfte sehr spannend und der Schluss war für mich eine ziemliche Überraschung. Allerdings reicht das Buch im Genre Scandinavian Noir nicht an die Werke von Henning Mankell, Stieg Larsson oder Jussi Adler-Olsen heran, dafür fehlt die Finesse. Die Idee hinter der Geschichte ist wirklich gut, aber leider hapert es mit der Umsetzung der Serienauftakt ist für mich nicht wirklich gelungen. Vieles ist mir zu platt, klischeehaft und plakativ. Von mir daher drei Sterne.

Bewertung vom 08.11.2021
Die letzte Wahl
Sander, Eric

Die letzte Wahl


sehr gut

„Die letzte Wahl“ ist der Name des Buchs von Eric Sander, der kurz vor der Bundestagswahl erschienen ist. Der düstere Thriller zeigt deutlich die Gefahr eines Rechtstrucks in der Gesellschaft und warnt deutlich davor. Herausgekommen ist ein spannendes Buch, das aufrütteln will, aber auch ein paar Schwächen hat.
Aber von vorn. Durch Zufall wird der Journalist Nicholas Moor im Allgäu-Urlaub mit seiner Tochter Zeuge eines Treffens der Führungsriege der sogenannten „Volkspartei“, die mir ihrem Spitzenkandidaten Markus Hartwig einen „Volkskanzler“ stellen möchte. Der Journalist filmt dieses Treffen zufällig mit einer Drohne und findet sich plötzlich in einer wilden Jagd auf die Speicherkarte und sich selbst wieder und niemand glaubt ihm, wenn er vor den Gefahren warnt und nicht nur er gerät immer tiefer in einen Strudel aus Gewalt und politischem Kalkül. Denn Fakt ist, dass die Partei die Geschichte wiederholen möchte, denn sie plant den Umsturz (wie bereits 1933 geschehen) mithilfe von Fake News. Damals brannte der Reichstag und Notstandsgesetze ermöglichten den Siegeszug der
Nationalsozialisten. Im Buch soll ein angeblicher islamistischer Anschlag auf den Bundestag einen Notstand und damit Notstandsgesetze herbeiführen. Und schnell wird dem Journalisten klar, dass selbst sein Arbeitgeber, das „Abendblatt“, und auch die Polizei schon von der Partei unterwandert werden. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
Angesichts der Ergebnisse der Bundestagswahl ist das Buch ist ein Thriller mit erschreckend realistischem Thema. Klar ist natürlich auch, dass die AfD das Vorbild für die „Volkspartei“ ist, denn ihr Vorsitzender Markus Hartwig klingt über weite Strecken exakt wie Björn Höcke. Die Charaktere sind zwar manchmal ein bisschen zu klischeehaft und plakativ, aber alles in allem gut ausgearbeitet und bildhaft beschrieben. Sprachlich fand ich das Buch sehr gut und flüssig zu lesen. Der Autor schafft es, die Spannung kontinuierlich aufzubauen und erzählt seine Geschichte rasant und packend. Manchmal fand ich die Geschwindigkeit fast ein bisschen zu hoch, da überschlagen sich die Ereignisse zu sehr und das geht für mich zu Lasten des ansonsten sehr klug ausgefeilten Konzepts. So kam für mich auch der Schluss etwas zu plötzlich und konnte mich auch nicht wirklich überzeugen. An manchen Stellen fehlte für mich auch die Logik hinter manchen Handlungen und ich konnte sie nicht wirklich nachvollziehen.
Aber alles in allem fand ich das Buch enorm spannend und packend und leider politisch hochaktuell. Von mir daher dreieinhalb Sterne, aufgerundet auf vier.

Bewertung vom 22.10.2021
Tiefrot tanzen die Schatten / Ben Kitto Bd.4
Penrose, Kate

Tiefrot tanzen die Schatten / Ben Kitto Bd.4


ausgezeichnet

„Tiefrot tanzen die Schatten“ ist bereits der vierte Teil der auf den Scilly-Inseln spielenden Krimi-Serie von Kate Penrose. Und auch in diesem Buch, das auf der Hauptinsel St. Mary’s spielt, schafft die Autorin es, einen bodenständigen und enorm spannenden Krimi abzuliefern, den ich kaum aus der Hand legen konnte.
Ben Kitto und sein Team ermitteln im Mordfall der jungen Studentin Sabine, die aus Lettland für einen Job im Hotel auf die Insel gekommen ist. Sie war bei den Gästen beliebt und zudem Mitglied in Bens Freiwasser-Schwimmgruppe. Zwar sieht es zunächst wie ein Selbstmord aus, aber die am Pulpit Rock hängende Tote trägt ein Brautkleid und Blumenschmuck im Haar. Außerdem trägt sie Schmuck, der schon vor einem Jahr aus dem örtlichen Heimatmuseum gestohlen wurde. Die Insel wird abgeriegelt, Häuser und Wohnungen werden durchsucht, und trotzdem stirbt eine weitere junge Frau. Und die Leserschaft befindet sich mit den Ermittlern in einem Wettlauf gegen die Zeit bei einer wilden Jagd auf den Täter, denn jederzeit könnte die nächste Frau verschwinden.
Ben Kitto kannte ich schon aus dem Vorgängerband „Kalt flüstern die Wellen“. Daher habe ich mich auf den neuen Teil der Serie sehr gefreut, man kann das Buch aber auch problemlos ohne Vorkenntnisse lesen. Auch der bodenständige Schreibstil und die tollen Beschreibungen der Autorin hatten es mir schon damals angetan und auch dieses Mal hat sie mich nicht enttäuscht. Die eigentliche Idylle der Insel im Kontrast zu den grausamen Morden schafft eine ganz spezielle Atmosphäre. Auch die Tatsache, dass bei Verbrechen die Insel komplett abgeriegelt wird und keiner sie verlassen kann, schafft fast einen Hauch von Klaustrophobie. Die Charaktere sind genauso gut und bildhaft beschrieben, wie die Landschaft. Die ruhige, zurückhaltende und sachliche Art von Ben Kitto finde ich sehr angenehm, vor allem habe ich mich aber über ein „Wiedersehen“ mit der Chefkriminaltechnikerin Liz Gannick gefreut, die mich im vorherigen Teil schon begeistert hat.
Im Zentrum steht Ben, aus dessen Sicht auch der größte Teil der Geschichte erzählt wird. Von ihm erfährt die Leserschaft auch ein bisschen aus seinem Privatleben. Lily Jago kommt ebenfalls zu Wort. Sie ist nicht nur eine Freundin und Kollegin des ersten Opfers, ihr Bruder Harry ist als Affäre des ersten Opfers auch der erste wirklich Verdächtige in dem Fall. Die Teile, in denen sie im Mittelpunkt steht, sind zur Unterscheidung kursiv gesetzt.
Die Geschichte beginnt mit einem Auftakt rund um das erste Opfer. Wobei der Auftakt für eine Weile der einzige wirkliche Paukenschlag bleibt, denn die folgenden Ermittlungen bringen die Geschichte eher langsam in Fahrt und der Spannungsbogen bleibt eher kontinuierlich flach. Aber mit zunehmender Zahl an Verdächtigen, dem Fortschreiten der Ermittlungen und natürlich mit dem zweiten Opfer steigt die Kurve stark an und die Spannung steigt ins Fingernägel-abknabber-Unermessliche. Der Schluss hat mich vollkommen überrascht, auf diese Auflösung wäre ich nie im Leben gekommen. Alles in allem vergebe ich für diesen wirklich guten Krimi fünf Sterne.

Bewertung vom 21.10.2021
Nach dem Fest ist vor dem Fest
Bergmann, Renate

Nach dem Fest ist vor dem Fest


ausgezeichnet

„Während man noch das Schleifenband aus den Bergen von Kartons und Geschenkpapier sammelt (Das ist doch noch gut! Das kann man prima aufbügeln!), macht man sich schon Gedanken um das nächste Fest.“ – konstatiert Renate Bergmann. Und damit man sich die Gedanken nicht selbst machen muss, hat sie sie sich in ihrem Buch „Nach dem Fest ist vor dem Fest“ für ihre Leserschaft gemacht und dabei 99 Tipps für ein entspanntes Weihnachten zusammengestellt.
Von aufgebügeltem Geschenkpapier und dem richtigen Termin für die Entsorgung des Tannenbaums (bevor die alte Krücke nadelt), hangelt sich die Internet-Omi durch das Planungs-Jahr. Von Anfang Januar bis kurz vors Fest gibt sie mehr oder weniger gute, und vor allem mehr oder weniger neue, Tipps für ein entspanntes Weihnachtsfest. In ihrer gewohnten Art rät sie so, sich frühzeitig Gedanken zu machen, wen man zusammen einladen kann und wen nicht, geschmacklose Geschenke fürs Schrottwichteln aufzuheben und rechtzeitig ein Hotelzimmer für die Gäste von auswärts zu besorgen.
Ob man nun aus der obersten Astgabel des alten Weihnachtsbaums einen Quirl für die Mehlschwitze schnitzen muss, kann ich nicht sagen. Und auch die Aussage, dass der Kräuterschnaps beim Verdauen hilft, könnte von meiner Oma kommen, die so mit meinem Onkel immerhin einen Alkoholiker großgezogen hat. Ebenso eher kritisch sehe ich den Tipp, den Arzttermin wegen des Zuckertests noch vor die Feiertage zu legen, denn „der nächste Termin ist dann erst im Frühjahr, wenn die Plätzchen aus dem Kreislauf sind.“ Und der Tipp, vorher zu kontrollieren, ob die richtige Schallplatte in der richtigen Hülle steckt, ist ebenso nicht mehr ganz zeitgemäß wie die abfällige Bemerkung über Prostituierte („man will ja nicht flimmern wie eine Dirne vom Gewerbe, nich wahr?“) oder, dass sich jeder über gehäkelte Topflappen oder selbstgestrickte Socken freut. Aber ich denke, die Leserschaft weiß, wie sie die Online-Oma und ihre Tipps zu nehmen hat.
Andere Kniffe finde ich hingegen sehr gut und sinnvoll. Die mehrfache Verwendung von Geschenkpapier oder, dass man das Eiweiß vom selbstgemachten Eierlikör für die Kokosmakronen verbrauchen kann und damit keinen Abfall hat. Und dank Frau Bergmann weiß ich jetzt auch, wann man am besten die Gans bestellt (und ein paar Keulen dazu), den Frisörtermin für die festliche Haarpracht macht und dass man älteren Leuten auf keinen Fall etwas aus der Apotheke schenken soll. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass Frau Bergmann mit einem absolut recht hat: „Wenn der Besuch da ist, gibt es eine eiserne Regel: Es wird nicht über Politik gesprochen! Das gehört sich nicht und gibt meist nur Ärger an der Kaffeetafel.“
Für mich war das neue Buch (eigentlich ist es ja nicht viel mehr als ein Büchlein) von Frau Bergmann (also von Torsten Rohde) wieder mal etwas zum Schmunzeln und verstehend Nicken und den einen oder anderen Tipp kann vielleicht sogar ein Weihnachtsmuffel wie ich gebrauchen. Daher bin ich mal auf der Suche nach Zigarrenasche zum Polieren des Silberbestecks und vergebe vier Sterne.

Bewertung vom 19.10.2021
Caravaggios Schatten / Kunstdetektei von Schleewitz Bd.2
Jaumann, Bernhard

Caravaggios Schatten / Kunstdetektei von Schleewitz Bd.2


sehr gut

Nachdem ich Bernhard Jaumanns „Der Turm der blauen Pferde“ gelesen hatte, habe ich mich auf die Fortsetzung dieser sehr speziellen Krimireihe gefreut. Mit „Caravaggios Schatten“ hat der Verfasser einen meiner Meinung nach zwar nicht ganz so guten und packenden Kunst-Krimi wie den Vorgänger abgeliefert, aber dennoch ein lesbares und unterhaltsames Buch.
Alban Posselt teilte sich vor 25 Jahren mit dem Kunstdetektiv Rupert von Schleewitz im Internat ein Zimmer. Plötzlich taucht er durch ein Ehemaligentreffen wieder in Ruperts Leben auf und lädt ihn zu einem Besuch der Gemäldegallerie von Schloss Sanssouci ein. Unvermittelt zieht Alban ein Messer und sticht auf Caravaggios Gemälde „Der ungläubige Thomas“ ein. Er wird verhaftet, das Bild soll restauriert werden. Aber noch auf dem Weg zum Restaurator wird es ge-„artnappt“, also gegen Lösegeld entführt. Bei den Ermittlungen, die Rupert in seine Jugend- und Internatszeit zurückführen, stehen ihm wie schon im ersten Band Klara und Max zur Seite. Und mit ihnen befindet sich die Leserschaft unversehens in einem Strudel aus Ereignissen rund um Kunst und Verbrechen. Was hat die Zeit im Internat mit der Tat zu tun? Und welche Rolle spielt eigentlich Klaras an Parkinson erkrankter Vater wieder?
Die Geschichte an sich fand ich etwas sehr konstruiert und die Handlung wechselte zwischen belanglos und hochspannend hin und her und auch sonst zeigt der Krimi ein paar Schwächen. Dennoch schaffte der Autor es, mich über lange Strecken zu fesseln und ich war wirklich gespannt auf die Auflösung. Die zahlreichen Ermittlungsansätze brachten mich auf jeden Fall zum Mitraten und Mitfiebern, vor allem durch das Katz-und-Maus-Spiel mit den Bilderdieben und der ständig aufflammenden Frage, was denn Albans und damit auch Ruperts Vergangenheit im Internat mit der Messer-Attacke auf das Bild zu tun hat.
Sprachlich ist das Buch bodenständig und eher schlicht, die Charaktere sind auch eher flach und oberflächlich beschrieben. Höchstens bei der Darstellung von Klaras Vater Ivanovic und des Detektei-Mitarbeiters Max konnte der Autor bei mir punkten, eigentlich schaffen es auch nur die beiden wenigstens ein bisschen dreidimensional zu wirken. Der Verfasser scheint den Fall und seine Lösung eher in den Mittelpunkt zu stellen als die Ermittler, was ich ziemlich schade finde, weil da meiner Meinung nach nicht das gesamte Potential ausgeschöpft wurde. Und irgendwie gerät Rupert von Schleewitz trotz seines direkten Bezugs zum Fall sehr an den Rand der Ermittlungen. Die Hauptrollen spielen in diesem Buch ganz eindeutige andere, nicht zuletzt das Gemälde von Caravaggio, über das der Leser sehr viel erfährt.
Ich habe das Buch auf jeden Fall gerne gelesen und war sehr gespannt auf die Auflösung, vor allem, weil ich über weite Strecken absolut keine Ahnung hatte, wohin die Geschichte führen würde. Von mir daher wegen der ab und zu langatmigen Beschreibungen und der im Großen und Ganzen eher unsympathischen Charaktere vier Sterne.

Bewertung vom 11.10.2021
Vati
Helfer, Monika

Vati


ausgezeichnet

„Vati“ heißt der neue Roman von Monika Helfer, mit dem sie ihre Familiengeschichte aus „Die Bagage“ fortsetzt. Zugegeben, ich kannte die Autorin vorher nicht, aber das muss sich ändern. Denn mit „Vati“ hat sie für mich ein wirklich lesenswertes, wenn auch nicht ganz einfaches Werk abgeliefert. In „Die Bagage“ schreibt sie über die Familie mütterlicherseits, in „Vati“ konzentriert sie sich, wer hätte es gedacht, auf ihren Vater. Aber so plump, wie sich dieser Satz von mir liest, ist das Buch natürlich nicht. Ist die Geschichte wahr oder erfunden? „Beides, aber mehr wahr als erfunden.“ – das Erfundene ist vermutlich wichtig für die Annäherung an den Vater, denn in Wirklichkeit weiß sie gar nichts über ihn. Und so versucht sie, sich autofiktional an den besessenen Büchersammler anzunähern und die Lebensgeschichte des Mannes zu rekonstruieren, der sie geprägt hat und der in den 1980ern mehr oder weniger durch seine Bücherleidenschaft mit 67 Jahren zu Tode kam.
Ihr Vater wollte von den Kindern „Vati“ genannt werden, weil er es moderner findet. Und nach dem Krieg waren neue Zeiten angebrochen, auch er will fortschrittlich sein, „einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste“. Dieses „Hineinpassen“ zog sich wohl durch sein ganzes Leben. Als uneheliches Kind einer Magd geboren, war er schon früh ein Außenseiter. Zwar durfte er auf Initiative eines Bauunternehmers und des örtlichen Pfarrers aufs Gymnasium, wurde aber kurz vor dem Abitur zum Kriegsdienst eingezogen. In Russland verlor er durch Erfrierungen ein Bein und verliebte sich im Lazarett in die Krankenschwester Grete, die (als uneheliches Kind) ebenfalls eine Außenseiterin war. Die beiden „Versehrten“ gründeten eine Familie, geprägt von Depressionen und den Traumata der Kriegsgeneration, die auch an den vier Kindern nicht spurlos vorbeigingen.
Neben dem Kriegsopfererholungsheim auf der Tschengla, das er leitete, waren Bücher die wahre Leidenschaft von Monika Helfers Vater. Mit einer Menge Bücher, die er vom dankbaren Vater eines Gastes erbte, richtete er eine Bibliothek ein. Als das Heim von den Besitzern in ein Hotel umgebaut wurde, verlor er, der nach dem Krieg so gerne die Matura gemacht und Chemie studiert hätte, mehr oder weniger alles: seine Existenzgrundlage, seine Bibliothek und beinahe sein Leben durch einen Suizidversuch. Als seine Frau verstarb, verteilte er die Kinder auf die Verwandtschaft. Auch nach seiner Neuvermählung fand die Familie nicht mehr zusammen.
Die Autorin hält ihre Leserschaft stets auf Distanz. Sie liebte es als Kind, wenn ihr Vater mit einem geliehenen Filmprojektor im Speisesaal des Erholungsheims „Kino spielte“ – ähnlich kam ich mir beim Lesen des Buchs vor: wie jemand, der das Leben von anderen auf einer Leinwand sieht. Die Charaktere sind allesamt nur in den Einzelheiten beschrieben, die für die Geschichte wichtig sind. Exakt und auf den Punkt, kein Wort zu viel. So schreibt sie weitgehend emotionslos und nie wertend, manchmal sogar in aller Tragik lustig und voller absurd anmutender Anekdoten. Kompliziert fand ich, da ich „Die Bagage“ nicht gelesen habe, die Zeitsprünge und die vielen Tanten und Onkel in der Geschichte, vor allem, weil jeder zweite Josef zu heißen scheint.
Das Buch ist ein Denkmal für ihren Vater, einen Typ Mann, den es nach dem Krieg zu Tausenden gab. Einen traumatisierten, versehrten Kriegsheimkehrer, der in seinem Trauma und in sich selbst durch Schweigen gefangen zu sein scheint, manchmal aber eine Leidenschaft findet, die ihn glücklich macht und ihm eine Basis für das Miteinander mit anderen bieten kann („Wir hatten ein spezielles Buch-Verhältnis miteinander“). Mich hat das Buch tief berührt und angesprochen. Die viele Distanz im Buch machte mich allerdings traurig, sowohl die Distanz der Charaktere zueinander und die Mauer, die die Autorin zwischen der Leserschaft und den Charakteren zieht, fand ich fast greifbar. Von mir 5 Sterne und eine klare Lese-Empfehlung.

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