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Xirxe
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Insgesamt 876 Bewertungen
Bewertung vom 25.07.2019
Christophersen, Jan

Ein anständiger Mensch


sehr gut

Steen, studierter Philosoph, Schriftsteller und Anstandsonkel der Nation, verbringt mit seiner Frau Frauke und einer guten Freundin und ihrem neuen Partner ein Wochenende auf ‚seiner‘ Insel, wohin er sich immer wieder für einige Wochen zurückzieht, um dort zu schreiben. Von Beginn an besteht ein gewisses Ressentiment zwischen Steen und Gero, dem neuen Freund von Ute, das sich deutlich verstärkt, als ihn einige Zeit nach deren Ankunft Frauke an die Einhaltung eines Versprechens erinnert, das sie sich vor Jahren gegeben haben: sich gegenseitig in der Liebe die größtmögliche Freiheit zu lassen. Steen trifft dies sehr, doch es bleibt nicht bei dieser Kränkung: das Wochenende endet in einem Drama, dass das Leben fast aller Anwesenden verändert.
Für dieses Buch eine Rezension zu schreiben, empfinde ich als richtig schwierig. Für einen herkömmlichen Roman plätschert die Geschichte häufig so dahin, da ‚nur‘ die Gedanken und Überlegungen von Steen dargelegt werden, die fast schon philosophisch anmuten. Dennoch gibt es immer wieder überraschende Wendungen und Ereignisse, die einen regelrecht an das Buch fesseln – nur nicht allzu lange. Liest man das Buch somit mit der Erwartung einer spannenden Lektüre, könnte man ziemlich enttäuscht werden.
Sprachlich jedoch ist das Ganze auf jeden Fall ein Genuss; einerseits in seinen hervorragenden Beschreibungen der Landschaften und Atmosphären, andererseits wie er weiter- und tiefergehende Gedanken klar und verständlich formuliert. Gleich zu Beginn haben mich die ersten drei Sätze völlig für das Buch eingenommen: „Eins passierte nach dem anderen. Wie hätte es auch anders sein können? Die Gegenwart, in der wir uns befanden, wusste nicht, was nach ihr kam, und der Scheinwerfer der Erinnerung leuchtete noch nicht mit seinem voreingenommenen Licht die Szene aus.“
Liest man es als eher philosophisches Werk, wird man vermutlich auch nicht richtig glücklich damit, da die dafür notwendige Tiefe fehlt. Fragen wie ‚Wie wichtig ist Moral und Anstand? Stehen sie über dem Menschsein?‘ werden nicht explizit ausformuliert, stehen aber bei der Geschichte stets im Raum; Antworten ergeben sich dazu jedoch nur indirekt. Und noch eines wird deutlich, ohne dass es überhaupt konkret niedergeschrieben wurde: Wie wichtig es ist, dass Menschen MITEINANDER reden, ohne Mutmaßungen über die anderen anzustellen, dass man ja eh schon weiß, was die denken und wollen.
Ein sehr vielschichtiges Buch, das viele Anregungen zum Selberdenken liefert, aber bei der eigentlichen Geschichte ein bisschen schwächelt. Ich fand es trotzdem lesenswert.

Bewertung vom 12.07.2019
Mitchell, Caroline

Silent Victim


gut

Emma hat eine furchtbare Kindheit und Jugend hinter sich. Ihre unglückliche Mutter misshandelte sie und verschwand von einem Tag auf den anderen. Ihre etwas ältere Halbschwester verließ ebenfalls kurz darauf das Haus, sodass Emma bei ihrem Vater aufwuchs, der häufig abwesend war. Doch nun ist sie glücklich, hat einen liebevollen Ehemann und einen süßen kleinen Sohn. Doch niemand weiß, dass sie ein entsetzliches Geheimnis bewahrt: Sie hat einen Menschen getötet. Als Emma die Leiche nach vier Jahren endgültig beseitigen will, muss sie entsetzt feststellen, dass diese verschwunden ist. Jemand scheint ihr Geheimnis zu kennen.
Das Buch beginnt vielversprechend mit einem Prolog, in dem Emma im Jahre 2013 versucht, einen Toten zu begraben. Die Stimmung ist angsterfüllt und auch als die Geschichte vier Jahre später wieder einsetzt, bleibt eine unterschwellige Spannung. Doch leider dauert diese nur während des ersten Drittels an. Als mehr oder weniger klar wird, was mit dem Toten geschah, war für mich die Luft raus. Zwar wollte ich schon noch wissen, was sich tatsächlich weshalb und warum ereignet hat, aber dieses unterschwellige Unheimliche war dahin.
Erzählt wird abwechselnd aus den Perspektiven Emmas und ihres Mannes sowie aus dem Jahre 2002, sodass man nach und nach erfährt, was sich tatsächlich damals Alles abspielte. Es ist nicht allzu schwierig dem Ganzen zu folgen, obwohl die Autorin es offensichtlich darauf anlegt, ein gehörig Maß an Verwirrung zu stiften. Bedauerlicherweise hat Verwirrung nun nichts mit Spannung zu tun, sodass ich zwar wissen wollte, wie Alles zusammenhängt, allerdings ohne allzu sehr von der Geschichte gefesselt zu sein.
So bleibt es bei einem mittelmäßigem Krimi, den man lesen kann, aber sicherlich nicht muss.

Bewertung vom 08.07.2019
Visser, Judith

Mein Leben als Sonntagskind


gut

Wie fühlt es sich an, ein autistischer Mensch zu sein, zwischen all den 'normalen'? Was denkt so jemand, was geht in so einer Person vor? Es gibt ja mittlerweile eine Reihe von Romanen, die dieses Thema ernst wie auch humorvoll aufbereitet haben: man denke nur an 'Das Rosie-Projekt'. Doch so nah wie in diesem Buch kommt man einer autistischen Persönlichkeit wohl selten.
Judith Visser, die bereits einige Bücher veröffentlicht hat, beschreibt in diesem 600-Seiten-Wälzer aus eigener Erfahrung wie es ist, als autistischer Mensch zwischen ansonsten mehr oder weniger 'normalen' erwachsen zu werden. Schnell ist klar: Ohne ihre liebevollen Eltern, die sie so akzeptieren wie sie ist, hätte sie ihre Kindheit und Jugend bestimmt nicht so gut überlebt. Denn fast jeder Tag ist für die kleine wie auch schon grössere Jasmijn (wie die Protagonistin heisst) ein Kampf ums Überleben - oder zumindest nahe dran. Voller Unsicherheit, wie sie sich verhalten soll, verkrampft sie in Gesellschaft und verstummt, was Andere so deuten, dass sie arrogant oder dumm oder vielleicht sogar beides sei. Doch nichts davon trifft zu, aber Jasmijn gelingt es nicht, sich verständlich zu machen. Nur ihre Hündin Senta ist ihre engste Vertraute und einige Jahre später gesellt sich Elvis hinzu, der verstorbene Superstar. Als es ihr als Teenager gelingt, zu einer Klassenkameradin Freundschaft zu schliessen, macht sie weitere Schritte in Richtung eines 'normalen' Lebens. Doch der Weg ist voller Hindernisse, über die sich unsereins noch nie die geringsten Gedanken gemacht hat.
Es ist ein beeindruckendes und bewegendes Buch, keine Frage. Aber 200 Seiten weniger hätten der Geschichte sicherlich gut getan, denn letzten Endes wiederholen sich stets aufs Neue die Beschreibungen der jeweiligen Überforderungen Jasmijns. Immer wieder und wieder erklärt sie, wie der Schmerz sich in ihrem Schädel und Körper ausbreitet; wie sie Migräneanfälle bekommt und diese übersteht; die Ohnmacht, wenn sie Dinge, die sie tun möchte, nicht tun kann. Natürlich hat dies alles ihr junges Leben bestimmt und ist das Thema des Buches. Aber wenn ich es auf Seite 424 zum 27. Mal lese, dann tritt ein gewisser Gewöhnungseffekt ein, der mich die Seiten schon etwas schneller umblättern ließ. Schade, denn so habe ich das Buch zugeschlagen mit dem Gedanken: Endlich - jetzt reicht es auch. Denn eigentlich wird dies Jasmijns Geschichte nicht gerecht, die wirklich etwas Besonderes ist.

Bewertung vom 26.06.2019
Bonné, Mirko

Lichter als der Tag


gut

Raimund Merz, um die 50, Familienvater, Ehemann und lustloser Angestellter einer Wochenzeitung, sieht eines Tages überraschend von Weitem seine Jugendliebe Inger. Dies löst Ereignisse mit ungeahnten Konsequenzen aus, die Raimunds Leben vollständig auf den Kopf stellen. Nichts scheint mehr Bestand zu haben und nach einem intensiven Abtauchen in die Vergangenheit fasst er einen radikalen Entschluss.
Was mich an diesem Buch wirklich begeistert hat, ist die wunderbare Sprache des Autors. Ja, stellenweise klingt sie etwas gestelzt und bemüht, doch das ist nicht allzu häufig wie ich finde. Meist fand ich seinen Stil herrlich poetisch und die Bilder, die er heraufbeschwört, sehr aussagekräftig (zum Beispiel "... war er überzeugter gewesen, dass was er aus den Flaschen so lange weltvergessen in sich hineingoss, bis es wieder aus ihm herausfloss, gar nicht Wein war, sondern in Wahrheit Tränen."). Wenn jetzt noch die Geschichte gestimmt hätte, wäre dies ein grandioses Buch.
Aber mich haben fast alle der Mitwirkenden schlicht genervt. Dass Menschen eine falsche Entscheidung treffen und in dieser aus den unterschiedlichsten Gründen verharren - keine Frage, das ist garantiert keine Seltenheit. Aber was hier an den unterschiedlichsten Personen dargestellt wird, ist doch wirklich kaum glaubwürdig. Praktisch heiraten Alle in vollem Bewusstsein den falschen Menschen, den sie entweder nicht lieben oder genau wissen, dass er jemand andern sein Herz geschenkt hat. Der Protagonist harrt über Jahrzehnte in endloser Lethargie aus und ergeht sich in Selbstmitleid, seine Ehefrau holt sich ihre Befriedigung in der Karriere und züchtet ihre Wut; die wahre Liebe des 'Helden' ist traumatisiert und weiß deshalb nicht so recht, was sie will; und deren Ehemann muss das haben was er will, damit es kein Anderer bekommt. Wunderbar - und dann macht man noch einen auf Friede Freude Eierkuchen und gute Freundschaft. Was für ein Blödsinn! Aber immerhin alles in einer wirklich schönen Sprache.
Tja, damit ist es ein bisschen besser als der Durchschnitt (guter Stil ist nicht so häufig wie eine gute Geschichte, finde ich ;-)), aber nicht wirklich des Lesens wert.

Bewertung vom 25.06.2019
Dion, Katharine

Die Angehörigen


gut

Völlig überraschend ist Gene Ashes Frau Maida gestorben. Bei der Vorbereitung einer Rede für eine Gedenkfeier einige Monate später kreisen seine Gedanken immer mehr um die Fragen: War seine Frau überhaupt glücklich? Und wenn ja, weshalb? Und ihre gemeinsame Tochter Dary: Ist sie glücklich? Was braucht es überhaupt zum Glück? Je mehr er sich mit diesen Fragen beschäftigt, umso klarer wird ihm, wie wenig er von seinen Nächsten weiss.
Es ist ein sehr gefühlvolles und teilweise auch fast schon poetisch geschriebenes Buch über die Liebe, den Tod und vieles mehr, was das Leben ausmacht ("... vielleicht sorgte der immer näher rückende Tod für eine Steigerung der Lebensintensität, die zwar nicht das Problem der Endlichkeit des Lebens löste, aber die Schwierigkeiten, mit denen er stets gehadert hatte."). Doch trotzdem blieb mir die Hauptfigur Gene, deren Gedanken und Empfindungen man hier zu lesen bekommt, merkwürdig fern. Eigentlich sind alle Zutaten vorhanden, dass man mit ihm fühlt und leidet, trauert und lacht. Und trotzdem - bei mir klappte es nicht.
Gene ist ein zurückhaltender, ruhiger und eher langsamer Mensch, der all sein Tun einem Zweck unterordnet und sich stark an Äusserlichkeiten und Erwartungen orientiert; vielleicht auch, weil sein Selbstbewusstsein nicht allzu gross ist. Auch das Glück scheint für Gene etwas zu sein, dass sich bei einem bestimmten Verhalten praktisch automatisch einstellt bzw. einstellen müsste, was er wiederholt versucht, seiner erwachsenen Tochter nahe zu bringen.
Möglicherweise ist es dieses extrem 'vernünftige' Verhalten und das ständige Hinterfragen Genes von allem und jedem, das ihn mir so fremd bleiben liess. Fast schon am Ende des Buches gibt es einen Abschnitt über das Lesen, der Genes Einstellung überdeutlich macht ("... er hatte die Bücher nicht frei gewählt, obwohl niemand da war, der ihm kritisch über die Schulter schaute. Stattdessen hatte er die korrekte Wahl getroffen - das Sachbuch über die Eisenbahnarbeiter, weil es ihn über ein wichtiges Thema informierte, und den Krimi, weil man sich ein solches Vergnügen nach allgemeiner Übereinkunft im Urlaub gönnen durfte, ja, musste. In Wirklichkeit aber ..."). Vielleicht war mir zu wenig 'echter' Gene vorhanden, um mich ihm nahe zu fühlen oder dieser Wesenszug ist mir schlicht zu fremd. So bleibt es bei einer anteilnehmenden Aussenansicht mit 3,5 Sternen.

Bewertung vom 23.06.2019
Ani, Friedrich

All die unbewohnten Zimmer


ausgezeichnet

Das Buch beginnt, wie viele Kapitel in diesem Buch beginnen: mit einem Personalpronomen, von dem man nicht weiss, wen es bezeichnet. Erst mit den fortlaufenden Sätzen wird deutlich, um wen es sich im Einzelnen handelt. Und vielleicht ist dies auch eine der Quintessenzen des Buches: Nichts ist so wie es scheint. Und nur eine Kleinigkeit - und schon könnte Alles anders sein. Oder hätte anders sein können.
Der Prolog beginnt mit einer Szene aus dem letzten Viertel, der mit dem direkt daran anschliessenden 1. Teil nichts zu tun hat, in dem ein vermeintlicher Amokschütze eine Frau erschiesst und einen Polizisten verletzt. Erzählt wird dies von Fariza Nasri, die vor acht Jahren von einem Kollegen denunziert und daraufhin in die Provinz abgeschoben wurde; doch der Leiter des K111 holte sie vor kurzem wieder zurück.
Fast zeitgleich zum Amoklauf wird im 2. Teil in der Nähe einer rechten Demonstration ein erschlagener Polizist aufgefunden, ohne jeden Hinweis auf mögliche Täter. Um diese Tat und die Aufklärung herum ranken sich die Geschichten unterschiedlichster Personen, die in irgendeiner Weise mit dem Fall zu tun haben, was meist nicht sofort offensichtlich ist. Es sind Menschen, die schwere Schicksalsschläge erfuhren, manchmal schleichend, die meisten plötzlich. Praktisch Alle haben sich nie davon erholt, doch verbergen sie ihre Verletzungen unter Vorspiegelung einer scheinbaren Normalität, zumindest ein Teil von ihnen.
Auch die verschiedenen ErmittlerInnen sind hiervon nicht ausgenommen, insbesondere Tabor Süden, den gelegentliche neue Suchaufträge seiner früheren Chefin ihn aus seiner Verdüsterung herausreissen.
Friedrich Ani ist ein feinsinniger und geistvoller Erzähler, der seine Figuren in all ihrer Vielschichtigkeit darstellt, sodass sie auf mich beinahe wie real existierende Menschen wirkten.
Es ist keine 'normale' spannende Mordermittlung, die die Lesenden hier erwartet; sie ist vielmehr das Band, das all die beschriebenen Personen miteinander verbindet, deren Geschichten wir hier erfahren. Völlig zu Recht bezeichnet der Verlag dieses Buch als einen Roman und nicht als Krimi.
Eine beeindruckende Lektüre!

Bewertung vom 18.06.2019
Whitehead, Colson

Die Nickel Boys


ausgezeichnet

Anfang der 60er Jahre wird der 16jährige Elwood unverschuldet in die Besserungsanstalt Nickel Academy, Florida, gesperrt. Elwood ist ein intelligenter, strebsamer schwarzer junger Mann, dem sich gerade die Möglichkeit geboten hat, trotz des alltäglich herrschenden Rassismus das College zu besuchen. Sein grosses Vorbild ist Martin Luther King und wie er glaubt er fest daran, dass die Zeit kommen wird, in denen er leben kann wie weisse Menschen. Doch die Nickel Academy stellt seinen Glauben schwer auf die Probe. Dort herrschen Willkür, Gewalt und das Recht des Stärkeren; in diesem Fall der Aufseher. Die Jungen werden misshandelt, zu Frondiensten herangezogen, gefoltert und missbraucht - und es interessiert niemanden.
Die Geschichte ist in drei Teile gegliedert: das Leben vor, während und nach dem Aufenthalt in der Nickel Academy, wobei insbesondere im letzten Drittel deutlich wird, dass sich die Zeit in der Besserungsanstalt noch immer bis in die Gegenwart auswirkt. Ebenso deutlich ist bereits von Beginn an, dass das Leben eines schwarzen Jugendlichen nicht nur von seinem eigenen Wohlverhalten abhängt, denn irgendwo existiert immer eine latente Gefahr. Dass beispielsweise einem Weissen die Nase nicht passt, man eine weisse Frau zu intensiv angesehen hat - schon hat man die Polizei im Nacken, die offensichtlich nichts lieber macht, als Schwarze in den Knast zu stecken. Ich hielt immer wieder den Atem an, weil ich dachte, 'Oh je, jetzt rutscht er in etwas rein.' Doch Alles ging gut, bis ... - und das kam wirklich überraschend.
Elwoods Zeit im Nickel ist gleich zu Anfang geprägt von enormer Grausamkeit und Brutalität. Und doch behält er seinen Traum von einem Leben in Freiheit und Gleichheit, auch wenn er immer wieder mit sich ins Hadern kommt. Fast schon beiläufig erfährt man auch die Geschichten von anderen Jungen, deren Leben schon von Beginn geprägt ist durch Armut und Gewalt und immer wieder deutlich macht, was diese Rassentrennung den Menschen antut.
Zuguterletzt, der dritte Teil, scheint sich zumindest oberflächlich betrachtet alles zum Guten gewendet zu haben. Doch die Vergangenheit hat solche Spuren hinterlassen, dass sie sich immer wieder in Erinnerung bringt und auch in der Gegenwart ihren Tribut fordert.
Ein beeindruckendes wie auch bedrückendes Buch über eine Zeit, die Viele wohl vergessen machen wollen. Denn ohne Schuld waren die Wenigsten - und wer will das schon wissen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.06.2019
Lansdale, Joe R.

Wilder Winter / Hap & Leonard Bd.1


sehr gut

Hap und Leonard sind trotz ihrer Gegensätzlichkeiten Freunde, sogar sehr gute Freunde. Während der weisse Kriegsdienstverweigerer Hap noch immer seiner Ex-Frau Trudy hinterhertrauert, versucht der schwarze schwule Vietnamveteran Leonard ihn davon abzuhalten, bei ihrem nächsten Erscheinen wieder schwach zu werden. Doch er hat keine Chance. Als Trudy erneut auftaucht und Hap um Hilfe bittet bei der Suche nach dem verschwundenen Geld eines Bankraubs, ist er sofort damit einverstanden. Allerdings nur, wenn Leonard dabei ist. Widerwillig stimmt sie zu und sie machen sich auf den Weg, um den Rest des Teams zu treffen. Die Suche beginnt, doch dann geht Alles schief.
Von den rund 230 Seiten erinnern vielleicht gerade einmal 60 an einen Krimi oder Thriller. Dennoch ist das Buch keine Enttäuschung, denn die Dialoge der beiden Freunde machen richtig Spaß und Joe R. Lansdales Beschreibungen des Lebens der beiden, ihrer Umgebung und der Verhältnisse sind einfach sehr unterhaltend und ausdrucksvoll. Wie auch in seinen anderen Büchern beschreibt der Autor den Süden der USA auf eine Weise, dass man ihn förmlich vor sich sieht und manchmal sogar glaubt, ihn riechen zu können ;-)
Im letzten Viertel wandelt sich die Geschichte dann von einer eher harmlosen Schatzsuche hin zu einem fast schon splatterhaften Finale. Dazu die ziemlich vulgäre Ausdrucksweise - für allzu zart besaitete Lesende dürfte dieses Buch nicht gerade die erste Wahl sein.
Mir hat es aber gefallen. Ich habe mich gut amüsiert und war durchaus über die ein oder andere Wendung überrascht. Mehr von Hap & Leonard!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.06.2019
Natt och Dag, Niklas

1793 / Winge und Cardell ermitteln Bd.1


ausgezeichnet

Stockholm im Jahre 1793. In einer Stadtkloake wird der Torso eines jungen Mannes gefunden, dem bei lebendigem Leib Arme und Beine, Zunge und Augen entfernt wurden. Der geniale, schwer tuberkulosekranke Ermittler Cecil Winge und Jean Michael Cardell, ein einarmiger Veteran, machen sich auf die schier aussichtslose Suche nach dem Monster, das einem anderen Menschen so etwas antun konnte.
Niklas Natt och Dag, der Autor, zeigt uns Lesenden in seinem Erstling die schwedische Hauptstadt, wie wir sie uns in unseren schlimmsten Träumen wohl nicht hätten vorstellen können. Der Grossteil der Bevölkerung lebt in bitterster Armut; Sauberkeit, Hygiene und medizinische Unterstützung gibt es nur für den Adel und die vermögenden Bürger. Der Rest kämpft täglich ums Überleben und wenn es sein muss, auch auf Kosten aller Andern. Es ist eine Gesellschaft voller Erbarmungslosigkeit, Gewalt und Bestialität, ein Menschenleben zählt praktisch nichts. Dennoch machen sich die zwei Protagonisten auf die Suche nach einem Mörder, der ihnen nichts ausser einem Torso hinterlassen hat.
Die Geschichte besteht aus vier Teilen, beginnend mit dem Fund der Überreste. Als der Punkt erreicht ist, an dem die Suche nach dem Mörder beendet sein könnte, setzt der zweite Teil zu einem früheren Zeitpunkt im selben Jahr ein. Man glaubt zu wissen, was kommen wird - und wird doch überrascht. Und wieder scheint ein Kapitel in einer Sackgasse zu enden, worauf der dritte Teil noch etwas früher, aber ebenfalls im selben Jahr beginnt. Hier braucht es etwas Zeit, bis sich die Handlungsstränge anfangen sich zu verbinden, doch das Erzählte ist eine eigene Geschichte wert. Wie durch Verleumdung Leben zerstört werden und Menschen zu Bestien werden, wenn sie glauben, unantastbar zu sein. Es ist kaum vorstellbar, welchen Leiden und Qualen Gefangene im damaligen Schweden (wie sicherlich auch im Rest Europas) ausgesetzt waren. Im schlussendlich letzten Kapitel wird der Fall zu Ende gebracht, wobei auch hier wieder einige Überraschungen zu erwarten sind. Weniger was den Täter anbelangt, als vielmehr der Umgang mit dem gesamten Fall.
Gut gefallen haben mir neben den intensiven Darstellungen auch, wie geschickt der Autor Zusammenhänge erstellt. Im ersten Kapitel sind die beiden Protagonisten in einem entsetzlichen Stockholm unterwegs: verdreckt, verroht, einfach widerlich. Doch die beiden Männer passen gut dort hinein: der eine blass wie ein Gespenst, hohlwangig, ständig Blut hustend. Der Andere verschmutzte Kleidung, Blessuren und Narben im Gesicht, roh und brutal aussehend wie die Stadt. Ganz anders der zweite Teil: ein gut aussehender Jüngling schreibt voller Liebe über Stockholm, die Schönheit der Stadt, der Häuser. Man könnte glauben, es handle sich um zwei verschiedene Städte.
Es ist ein überaus beeindruckendes Buch über eine Zeit, in der fast jeder Mensch des Menschen Wolf war. Und über die Frage, ob es sich überhaupt lohnt, sich auf die Suche nach einem Warum zu begeben.

Bewertung vom 25.05.2019
Hausmann, Romy

Liebes Kind


sehr gut

Seit 14 Jahren ist Lena verschwunden ohne dass es ein Lebenszeichen von ihr gibt. Dann findet man nach einem Autounfall eine schwer verletzte Frau, neben ihr ein kleines Mädchen, das behauptet, die Frau wäre ihre Mutter und heisse Lena. Nach und nach stellt sich heraus, dass Beide gefangengehalten wurden in einem Haus mitten im Wald, offenbar jahrelang. Doch ist die Frau tatsächlich die vermisste Lena?
Die Geschichte entwickelt sich nur zögerlich aus den Erinnerungen zweier Hauptfiguren, Lena und der kleinen Hannah, was der Spannung jedoch keinen Abbruch tut. Während die vermeintliche Lena voller Emotionen die beängstigte Atmosphäre und ihre Demütigungen schildert, sind Hannahs Erinnerungen völlig sachlich und scheinbar gefühllos. Doch vermutlich ist es genau dieser extreme Gegensatz, der das Ganze so eindringlich wirken lässt. Ich mochte mir kaum vorstellen, was dieses kleine Mädchen erlebt haben musste, um sich so zu äussern wie sie es tut.
Der dritte Protagonist ist Lenas Vater, der nie über den Verlust seiner Tochter hingekommen ist und nun all seinen Frust und Ärger an der Polizei auslässt ('Alles Deppen ausser mir' oder so ähnlich ;-)). Mir war das stellenweise wirklich zuviel, wie er seiner Wut ungebremst freien Lauf lässt und nicht nur im übertragenen Sinn wild um sich schlägt.
Ansonsten gibt es nicht allzu viel Action wie beispielsweise Mord und Totschlag bis auf die letzten 60 Seiten; dennoch läuft das Kopfkino auf Hochtouren. Ich habe die mehr als 400 Seiten in gerade einmal zwei Tagen durchgelesen, weil ich das Buch nur schwer aus der Hand legen konnte. Hätte es dann noch diesen übertrieben dramatischen Showdown nicht gegeben, würde ich diesen Thriller bedenkenlos Allen nahe legen, die dieses Genre lieben. So bleibt es bei einer Empfehlung mit Einschränkung.