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Mikka Liest
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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

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Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 25.04.2017
Ragdoll - Dein letzter Tag / New-Scotland-Yard-Thriller Bd.1
Cole, Daniel

Ragdoll - Dein letzter Tag / New-Scotland-Yard-Thriller Bd.1


sehr gut

Kaum wurde die erste Leiche des "Ragdoll"-Killers gefunden, bizarrerweise zusammengenäht aus den Einzelteilen von nicht weniger als sechs Opfern, wird der Presse auch schon eine Todesliste mit den Namen der nächsten sechs geplanten Opfer zugespielt. Für die Polizei beginnt ein Rennen gegen die Zeit – besonders für Detective William Oliver Layton-Fawkes, denn der steht ebenfalls auf der Liste...

Das Highlight des Buches war für mich die schiere Genialität des Serienkillers. Eigentlich müsste die Polizei mit ihm leichtes Spiel haben, denn sie wissen nicht nur, welche Menschen auf seiner Todesliste stehen, sondern sogar ganz genau, an welchem Tag er sie jeweils umbringen will. Was wäre also einfacher, als sie an diesem Tag irgendwo einzusperren und nicht aus den Augen zu lassen? Als Leser knabbert man deswegen gespannt an den Fingernägeln, wie um Gottes willen er es schaffen will, seine Opfer zu töten... Und das ist tatsächlich superspannend, rasant und unterhaltsam, es gibt jede Menge falsche Fährten und Verwicklungen und massenhaft Action. Ich war immer wieder überrascht, wie der Killer sich um das Unmögliche herummanövriert!

Ein paar Sachen fand ich nicht hundertprozentig logisch und in sich schlüssig, aber im Großen und Ganzen war der Fall in meinen Augen solide und gut konstruiert. Man muss allerdings auf die Kleinigkeiten achten, wenn man bis zum Schluss kein Puzzlesteinchen übersehen will.

Auch den Schreibstil fand ich ansprechend. Der Autor baut einerseits in vielen Szenen eine wunderbar dichte, düstere Atmosphäre auf, andererseits überrascht er immer wieder mit einem bitterbösen Humor, der die Geschichte auflockert und ihr einen unverwechselbaren Tonfall verleiht. Gerade, weil die Morde so grausam und schaurig sind, wirkte der Kontrast auch mich sehr ungewöhnlich und interessant.

Leider muss ich jetzt aber auch auf das eingehen, was für mich das große Manko des Buches war – nämlich die Charaktere, die mir ziemlich klischeehaft vorkamen.

Im Mittelpunkt steht Detective William Oliver Layton Fawkes, genannt 'Wolf: der typische desillusionierte, in Ungnade gefallene Cop, der aber trotzdem so ein wahnsinnig brillanter Ermittler ist, dass er mit allem durchkommt. Ein richtig harter Kerl, der einem Verdächtigen notfalls beim Verhör die Finger bricht und Beweise fälscht – schließlich weiß er ja ganz genau, wer schuldig ist und wer nicht! Wenn es nicht so läuft, wie er sich das vorstellt, knallt er auch schon mal einen Kollegen dermaßen heftig mit dem Kopf gegen die Wand, dass der genäht werden muss, aber das macht nichts, Teamwork ist eh nicht seine Sache. Dass seine Ehe zerrüttet ist, versteht sich da fast von selbst.

Seine Kollegin Baxter übernimmt die Rolle der zynischen, launischen Frau mit der harten Schale. Sie fährt katastrophal schlecht Auto, trinkt zu viel und hat eine merkwürdige und dennoch irgendwie rührende Beziehung zu Wolf. Ein Charakter mit viel Potential: sie ist loyal, clever, hartnäckig und auf interessante Art zwiespältig, da sie mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen hat. Leider wird das Potential meines Erachtens nicht voll ausgeschöpft, so dass sie für mich nicht vollkommen glaubhaft und authentisch wurde.

Auch Wolfs Ex-Frau Andrea konnte sich für mein Empfinden nicht komplett vom Klischee lösen: sie ist wunderschön, sie liebt ihn irgendwie noch immer, und als Journalistin ist sie hin- und hergerissen zwischen ihren Prinzipien und ihrem beruflichen Ehrgeiz.

Mein Lieblingscharakter war der junge Edmunds. Zwar ist auch er ein Typ Mensch, der einem öfter in Thrillern begegnet – nämlich der großäugige Newbie, den keiner so richtig ernstnimmt -, aber ich fand ihn sehr sympathisch, und er stellt sich im Laufe des Buches als einfallsreich, hochintelligent und entschlossen heraus. Mit ihm konnte ich wirklich mitfiebern, und er war für mich auch ein starker Charakter, den ich viel lieber als Hauptcharakter gesehen hätte!

Bewertung vom 23.04.2017
P.S. Ich liebe Dich
Ahern, Cecelia

P.S. Ich liebe Dich


gut

Die Idee ist originell und bewegend, das Buch hatte für mich dennoch deutlich weniger Tiefgang als erwartet. Gerrys Briefe sind sehr kurz und sprechen oft gar nicht über seine Gefühle. So ist die erste Aufgabe zum Beispiel: Kauf dir eine Nachttischlampe. Das hat zwar Gründe, die mit dem gemeinsamen Leben des Paares zu tun habe, aber dennoch fehlten mir tiefere Emotionen. Ich habe den Sinn mancher Aufgaben auch nicht begriffen - warum drängt er Holly zum Karaoke, obwohl sie es hasst?

Holly und ihre Freunde sind sympathisch, benehmen sich allerdings oft wie Teenager. Einmal ziehen sie durch die Clubs, besaufen sich maßlos und versuchen, sich mit peinlichem Benehmen in den VIP-Bereich zu schmuggeln. Ein Freund filmt das Ganze - und es wird zu einem preisgekrönten Dokumentarfilm mit Millionenpublikum! Auch andere Dinge waren für mich nicht ganz glaubhaft.

Der Schreibstil ist einfach und direkt. Hollys Trauer fand ich in manchen Szenen ergreifend, in anderen konnten mich die Emotionen jedoch nicht wirklich erreichen.

Gut fand ich, dass Holly nicht mal so eben die nächste große Liebe findet, sondern erst ihre Trauer bewältigen muss, was als natürlicher, wichtiger Prozess gezeigt wird.

Fazit:
Eine schöne Geschichte, die sich unterhaltsam liest, mich aber deutlich weniger emotional bewegt hat als erwartet, was zum Teil vielleicht am sehr einfachen Schreibstil liegt.

Bewertung vom 05.04.2017
Das Traumbuch
George, Nina

Das Traumbuch


ausgezeichnet

»Ich liebe dich, ich will dich, für immer und darüber hinaus, für dieses und für alle anderen Leben.«
»Ich dich nicht.«

Manchmal sind es die dramatischen Ereignisse, oft sind es aber auch die unbedachten Entscheidungen, die zu Wendepunkten im Leben werden; die Weichen werden neu gestellt, und danach gibt es kein Zurück mehr. Ein einziges kleines Wort hätte für Henri Skinner alles verändern können: wie wäre sein Leben verlaufen, hätte er stattdessen mit »Ich dich auch« geantwortet?

Das Buch beginnt damit, dass Henri sich aufmacht, seinen 13-jährigen Sohn Sam zum allerersten Mal zu treffen - aber auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt rettet er ein Leben, wird daraufhin selber schwer verletzt und fällt ins Koma.

46 Tage lang erlebt er im halb-bewussten Dämmerzustand unzählige Variationen seines Lebens, in jeder davon hat Henri an einem bestimmten Wendepunkt eine andere Entscheidung getroffen. Währenddessen sitzen zwei Menschen hoffnungsvoll an seinem Bett: die Liebe seines Lebens, Eddie, der er mit seinem 'Ich dich nicht' das Herz gebrochen hat, und sein hochsensibler Sohn Sam, der sich immer danach gesehnt hat, seinen Vater kennenzulernen und jetzt Angst hat, zu spät zu kommen.

Nina George beschäftigt sich hier mit grundlegenden existentiellen Fragen: mit nichts Geringerem als der Suche nach dem Sinn des Leben, der Angst vor dem Tod, dem Zweifel daran, ob man die Welt auf seine eigene Art zu einem besseren Ort gemacht hat, der lähmenden Furcht, man könne sein Leben verschwendet haben... Aber sie schreibt darüber nicht aus philosophischer Distanz oder klingt wie eines dieser beschaulichen Geschenkbüchlein, sondern erzählt eine Geschichte, die berührt und zum Nachdenken anregt und trotzdem mitten aus dem Leben gegriffen scheint.

Allerdings enthält das Buch auch eine Prise Phantastik, eine Spur Märchen, einen Hauch von Poesie. Ein Neurologe würde beim Lesen vielleicht milde lächelnd den Kopf schütteln und sagen: Nonsens, ein Komapatient ist gar nicht fähig zu solch komplexen Gedanken, und andere Leben träumen kann er schon mal gar nicht... Das ist Wunschdenken. Das ist Realitätsflucht.

Ich konnte mich jedoch wunderbar darauf einlassen, denn Nina George lässt alles, was geschieht, vollkommen plausibel klingen, und dennoch originell und fantasievoll und einzigartig.

Ein Großteil des Buches spielt sich in den Köpfen der drei Hauptcharaktere ab, die sich alle kaum aus Henris Krankenzimmer fortbewegen. Aber das funktioniert und es ist trotzdem spannend, weil sie außergewöhnliche Menschen sind, die lebendig und vielschichtig geschildert werden und auf ihre jeweilige Art sehr liebenswert sind.

Henri war früher Kriegsreporter, und auch nachdem er diese Karriere an den Nagel hing, blieb er ein Getriebener, der nirgends wirklich zur Ruhe kam.

Eddie ist Verlegerin und ihr kleiner Verlag hat sich spezialisiert auf Phantastik - nicht Fantasy, wie sie rigoros betont. Keine Zwergen, Elfen, Vampire und so weiter. Dafür aber alles, "was nur drei Schritte neben unserer Wirklichkeit sein könnte".

Sam ist 13 und schon Mitglied der Mensa,dem internationalen Netzwerk für Hochbegabte. Er ist Synästhetiker: Zahlen haben für ihn nicht nur eine Farbe, sondern auch eine Persönlichkeit, er kann Lügen sehen und Gefühle schmecken. Bei Menschen im Koma kann er fühlen, ob sie gerade nah an der Oberfläche sind oder ganz weit weg.

Die Beziehungen zwischen diesen vollkommen unterschiedlichen Menschen werden intensiv und überzeugend beschrieben.

Was mich aber am meisten an diesem Buch begeistert hat, war der lyrische Schreibstil, der großartige Metaphern und Bilder findet und dabei mit einer ungeheuren Eindringlichkeit Emotionen vermittelt, ohne jemals ins Pathos abzudriften. Ob es jetzt gerade lustig ist oder traurig, es ist immer authentisch und glaubhaft - und gleichzeitig irgendwie drei Schritte neben der Wirklichkeit.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.04.2017
Die Gerechte (Restexemplar)
Swanson, Peter

Die Gerechte (Restexemplar)


ausgezeichnet

Um es kurz zu fassen: "Die Gerechte" ist ein rundum geniales Buch - für mich definitiv einer der originellsten, raffiniertesten Thriller der letzten Jahre und mehr als genug Anlass, ab jetzt unbesehen jedes Buch des Autors zu kaufen.

Um es nicht ganz so kurz zu fassen:

Die meisten Bücher, egal welchen Genres, haben mindestens einen Hauptcharakter, den der Leser trotz eventueller Schwächen als grundlegend guten Menschen ansehen und mit dem er sich identifizieren kann. Sogar charismatische Psychopathen haben normalerweise einen positiv besetzten Gegenspieler: Hannibal Lecter würde zum Beispiel nicht halb so gut funktionieren ohne Clarice Starling.

Eine Geschichte rund um eine Figur aufzubauen, die überhaupt nicht in das übliche Schema eines guten Menschen passt oder sich nicht mal annähernd in soziale Normen pressen lässt, ist ein literarischer Drahtseilakt - und wenn er gelingt, gebührt dem Autor tosender Applaus für dieses Kunststück.

Zu meinen Lieblingsautorinnen gehört zum Beispiel Gillian Flynn, die unzuverlässige Protagonistinnen mit ernsthaften Persönlichkeitsstörungen schon lange vor ihrem Bestseller "Gone Girl" perfektioniert hatte.Und Peter Swanson braucht sich nicht hinter Mrs. Flynn zu verstecken, denn mit "Die Gerechte" hat er in meinen Augen den perfekten Thriller und die perfekte Anti-Heldin geschrieben.

Die Geschichte wird von vier sehr unterschiedlichen Personen erzählt - und dreien davon kann der Leser nicht über den Weg trauen. Was eigentlich nicht funktionieren kann, es aber trotzdem tut.

Die im Klappentext erwähnte attraktive Frau, die einem Wildfremden aus heiterem Himmel ihre Hilfe bei einem Mord anbietet, heißt Lily, und sie ist es, in deren Kopf der Leser die meiste Zeit verbringt. Schnell wird klar: Man sollte diese Frau nicht mögen. Man sollte ihre Taten nicht gutheißen und ihr ganz gewiss nicht die Daumen drücken. Und trotzdem habe ich all das getan; auf verquere Art und Weise mochte ich Lily, und deswegen bin ich ihr gerne auf ihren dunklen Wegen gefolgt.

Über die anderen Charaktere möchte ich lieber noch gar nichts verraten, daher nur soviel: ich fand sie alle grandios, denn sie sind auch dann glaubhaft, wenn sie Dinge tun, die normale Menschen niemals tun würden.

Auch wenn die Grundidee der Geschichte an "Der Fremde im Zug" von Patricia Highsmith erinnert (was sicher eine beabsichtigte Hommage ist, da Lily am Anfang des Thrillers ein Buch der Autorin liest), macht Peter Swanson doch etwas ganz Eigenes daraus. Die Geschichte ist sehr geschickt und intelligent konstruiert, und gerade die unerwarteten Wendungen sind fantastisch. Besonders die erste davon hat mich kalt erwischt, und ich hatte das Gefühl: Ok, ab jetzt ist wirklich alles möglich - da hätte ich niemals mit gerechnet!

Der englische Titel ist "The Kind Worth Killing", also in etwa: "Die, die es sich zu töten lohnt", und tatsächlich bringt das Buch den Leser immer wieder dazu, darüber nachzudenken, ob wir Mord unverzeihlich finden und falls ja, warum eigentlich.

Spannend fand ich das Buch von der ersten bis zur letzten Seite, und ich war tatsächlich traurig, als ich das (überraschende!) Ende erreicht hatte.

Der Schreibstil passt perfekt zur Geschichte. Ganz sachlich und ruhig werden die unglaublichsten Dinge erzählt, und gerade diese trügerische Ruhe macht die Geschehnisse oft umso erschreckender.

Fazit:
Der Thriller ist meines Erachtens ein Meisterwerk des Genres, mit drastisch unerwarteten Wendungen und einer zwiespältigen, perfiden, komplizierten Protagonistin, die sich über so banale Konzepte wie 'gut' und 'böse' mit unergründlichem Lächeln hinwegsetzt.

Wer Amy Elliot aus "Gone Girl" von Gillian Flynn interessant fand oder Brünhilde Blum aus der "Totenfrau"-Trilogie von Bernhard Aichner mochte, dem könnte auch Lily Kintner aus "Die Gerechte" gefallen.

Bewertung vom 03.04.2017
Zeit
Safranski, Rüdiger

Zeit


sehr gut

Safranski spricht die unterschiedlichsten Themen an, die mal mehr, mal weniger offensichtlich mit der Zeit und ihren Facetten zu tun haben. Darunter ist manches, über das man sich vielleicht selber schon Gedanken gemacht hat, aber auch vieles, für das man sich erst einmal frei machen muss von festgefahrenen Vorstellungen - von dem, was man bisher schlicht als so unumstößlich und unveränderlich angesehen hat, dass es das Nachdenken nicht zu lohnen schien.

Zitat aus dem Kapitel 'Zeit der Langeweile':
"In dem Maße, wie die Ereignisse ausdünnen, wird die Zeit auffällig. Es ist, als käme sie aus ihrem Versteck, denn für unsere gewöhnliche Wahrnehmung ist sie hinter den Ereignissen verborgen und wird nie so direkt und aufdringlich erlebt. Ein Riss also im Vorhang, und dahinter gähnt die Zeit."

Der Autor lädt ein, um die Ecke zu denken, einen anderen Blickwinkel einzunehmen, den Gedanken über die Zeit ganz bewusst Zeit einzuräumen. Man sollte sich vom Klappentext aber nicht verleiten lassen, ein seicht-erbauliches Büchlein für den Kaffeetisch zu erwarten: es erfordert aktives Mitdenken, denn allzu einfach macht es einem dieses Werk nicht. Obwohl ich sonst eine rasche Leserin bin, habe ich ein paar Wochen dafür gebraucht; für mich ist es kein Buch, durch das man nebenher durchhetzen kann. Sätze wie den folgenden musste ich mehrfach lesen und in Gedanken in ihre Einzelteile zerpflücken, um wirklich zu verstehen, was sie aussagen:

Zitat aus dem Kapitel 'Lebenszeit und Weltzeit':
"Ähnlich hat Edmund Husserl das Erlebnis von Gegenwärtigkeit phänomenologisch als ein Zugleich von Protention und Retention analysiert: Nur deshalb fällt uns die Zeit nicht in Zeitpunkte auseinander und nur deshalb können wir sie als sukzessives Kontinuum erleben, weil im jeweiligen Moment das soeben Vergangene noch präsent ist (Retention) und man zugleich erwartend angezogen wird vom Künftigen (Protention)."

Aber die Mühe lohnt sich meines Erachtens, denn Safranski nimmt einen mit auf eine sehr umfassende Reise, die das Thema "Zeit" in all ihren Aspekten abdeckt.

In ruhigem Tonfall und anspruchsvoller, dennoch oft heiterer und unterhaltsamer Sprache teilt er seine Gedanken und Überlegungen mit, durchwebt sie aber stets mit Querverweisen, Zitaten und Quellenangaben. Er lässt sie alle zu Wort kommen: Dichter und Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler, Psychologen - sprich, Denker und große Geister jeglicher Couleur, seien es nun Kafka, Heidegger, Einstein, Demokrit oder sogar literarische Figuren wie Hamlet.

Gelegentlich fand ich die Häufung anderer Quellen ermüdend. Zwar sind sie hilfreich, wenn man sich zu einem Thema weitergehend informieren will, aber ich hatte manchmal den Eindruck, dass Safranksi eigene Worte unter dem Berg von Zitaten begraben wurden, dann hätte ich lieber mehr über seine ganz persönliche Meinung erfahren. Selten verliert er sich auch ein wenig in Allgemeinplätzen, die dem sonstigen Niveau nicht gerecht werden.

Frank Arnold ist meines Erachtens eine gute Wahl für die Hörbuchumsetzung: seine Stimme klingt konzentriert und präzise, aber dennoch lebendig, mit einem sehr angenehmen Sprachrhythmus, dem man gut folgen kann, ohne dass es ermüdend wird oder man den Faden verliert.

Das Hörbuch ist als Download sowohl in einer gekürzten wie einer ungekürzten Version erhältlich, als Audio-CD nur in der gekürzten, die die Essenz des Buches aber ebenfalls gut wiedergibt.

Fazit:
"Zeit" ist kein Selbsthilfebuch; es gibt keine praktischen Tipps zur Entschleunigung des Alltags oder Ähnliches. Es ist eine philosophische Rundreise durch das Wesen der Zeit und all ihre Aspekte (von der Langeweile bis zur Unfähigkeit, sich den eigenen Tod vorzustellen), und als Reiseführer fungieren nicht nur Safranski selber, sondern auch eine Vielzahl an großen Denkern, die er ausführlich und mit Quellenangaben zitiert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.04.2017
Ich bin die Nacht / Francis Ackerman junior Bd.1
Cross, Ethan

Ich bin die Nacht / Francis Ackerman junior Bd.1


weniger gut

Die Grundidee des Buches klingt sehr interessant und verspricht einen originellen psychologischen Thriller.

Francis Ackerman Junior ist ein Serienkiller - aber er ist auch ein Opfer, denn er wurde als kleiner Junge von seinem eigenen Vater mittels Folter und Gehirnwäsche gebrochen und gezielt zum Serienkiller abgerichtet. Das wirft natürlich viele ethische Fragen zu Schuld und Eigenverantwortung auf: Inwieweit ist Ackerman verantwortlich für seine grausamen Taten?

Tatsächlich könnte die Geschichte an sich grandios sein, aber für mich scheitert das Buch leider gnadenlos an der Umsetzung.

Fand ich das Buch auf den ersten 100 Seiten noch spannend und unterhaltsam, kam es mir danach zunehmend vor wie ein schlechter Actionfilm mit vollkommen unrealistischen Stunts und Kampfszenen. Ständig wird irgendjemand mühelos mit nur einem Schlag bewusstlos geschlagen; ein Mann tritt barfuß eine Tür ein (was normalerweise mindestens ein paar gebrochene Zehen nach sich ziehen müsste); jemand befreit sich auf eine Art und Weise von seinen Handschellen, die im echten Leben wohl ein Auskugeln von Gelenken erfordern würde... Und das sind noch die harmlosen Beispiele, denn mit den wirklich unglaublichen würde ich schon zuviel verraten.

Da es mir immer schwerer fiel, die Geschehnisse zu glauben, flaute die Spannung für mich auch immer mehr ab.

Der interessanteste Charakter war für mich der Killer, Francis Ackerman Junior. Denn so unmenschlich und sadistisch seine Taten auch sind, zeigt er doch immer wieder, dass er eigentlich ein ganz anderer Mensch hätte sein können, wenn er als kleiner Junge nicht durch die Hölle gegangen wäre.

Anders, als vom Klappentext her zu erwarten wäre, spielt Ackerman auch nur die zweite Geige, denn meist steht der von seiner Vergangenheit gequälte Ex-Cop Markus im Mittelpunkt. Er und die anderen Charaktere wirkten auf mich sehr klischeehaft, fast wie aus dem Baukasten für Thriller-Charaktere. Zugegeben, gegen Ende wirft das Buch nochmal alles über den Haufen, was man über sie zu wissen glaubte, aber in meinen Augen war das keine geniale unerwartete Wendung, sondern eine gänzlich unglaubwürdige Auflösung.

Während der Leser sich noch verwirrt fragt, wie das alles möglich sein soll, behauptet Markus auf einmal, er hättet sich dies oder jenes ja schon gedacht, weil ihm gewisse Dinge direkt aufgefallen seien... Nur: das wurde vorher mit keinem Sterbenswort erwähnt. Tatsächlich wurde Markus in den Szenen, auf die sich das bezieht, als ganz und gar ahnunglos dargestellt - wäre ihm da wirlich schon etwas aufgefallen, hätte der Leser das an seinen Gedanken oder Taten merken müssen! So wirkte es auf mich lediglich wie der halbherzige Versuch, die Wendung glaubhafter zu machen.

Es gibt auch eine kleine Liebesgeschichte, aber auch die kam mir vor wie rasch zusammengeschustert, damit Markus jemanden hat, den er auf heroische Art retten kann.

Der Schreibstil konnte mich unglücklicherweise auch nicht überzeugen. Mal fand ich ihn sehr flach, dann gab es wieder überzogen dramatische Formulierungen: da öffnen sich "brüllend die Tore zur Hölle", der Wind heult "wie der Schrei einer Todesfee"... In vielen Szenen werden Charaktere wiederholt auf die immer gleiche Art beschrieben: der Mann im dunklen Hemd beobachtete, der Mann im dunklen Hemd sah, der Mann im dunklen Hemd grinste...

Fazit:
Die Grundidee hatte mich noch fasziniert: Ein Serienkiller, der als Kind von seinem Vater gezielt zum Serienkiller abgerichtet wurde? Das klang sehr originell und ungewöhnlich. Tatsächlich war ich auf den ersten 100 Seiten durchaus noch sehr angetan, aber im Laufe des Buches nahmen Glaubwürdigkeit und Spannung immer mehr ab - und das wurde noch gekrönt von einer konstruierten, wenig plausiblen Auflösung, bei der vieles einfach aus dem Nichts herbeigezaubert schien. Die Charaktere wirkten auf mich flach und klischeehaft, und auch der Schreibstil konnte mich überhaupt nicht überzeugen.

Bewertung vom 21.03.2017
Der Herr der kleinen Vögel
Ogawa, Yoko

Der Herr der kleinen Vögel


ausgezeichnet

"Der Herr der kleinen Vögel" ist ein Buch der leisen Töne, der kleinen Dinge, des bescheidenen Glücks oder Unglücks. Der Leser wird eingeladen, zur Ruhe zu kommen und einer Geschichte zu lauschen, auf die man sich einlassen muss, die dann aber einen ganz eigenen poetischen Zauber entfaltet.

Behutsam erzählt Yoko Ogawa die ungewöhnliche Lebengeschichte zweier Brüder, die eine Faszination für Vögel und deren Gesang teilen, auch über den Tod des älteren hinaus. Ihre Namen werde im ganzen Buch niemals erwähnt (sie sind immer nur "der Ältere" und "der Jüngere"), und auch sonst verzichtet die Autorin weitgehend auf Etiketten.

Der ältere Bruder spricht schon seit seiner Kindheit ausschließlich in einer selbst erfundenen Sprache und braucht seine festen Rituale, um glücklich zu sein. Da kann man als Leser insgeheim spekulieren: Selektiver Mutismus? Autismus? Die Autorin verrät es uns nicht, aber das ist auch gar nicht nötig. Der jüngere Bruder findet ein wunderbares Bild: in seiner Vorstellung ist der Ältere der alleine Bewohner einer einsamen Insel, und nur sein Boot findet den Weg dorthin.

Die beiden leben fast vollkommen isoliert, ihr Leben richtet sich noch im Kleinsten nach den Ritualen des älteren Bruders. Sie essen immer das Gleiche, besuchen gemeinsam die Vogelvoliere des nahegelegenen Kindergartens und unternehmen ausgedehnte, metikulös geplante Weltreisen - Letzteres jedoch nur in ihrer Fantasie. Es ist eine Geschichte bedingungsloer Liebe, ruhig und ohne Pathos erzählt und dennoch bewegend.

Nach dem Tod des Älteren ist der Jüngere im Grunde sein ganzes restliches Leben auf der Suche nach dessen Insel. Auch, dass er die Pflege einer zu einem Kindergarten gehörenden Vogelvoliere übernimmt, obwohl er Angst vor Kindern hat, geschieht zunächst im Angedenken an seinen Bruder, entwickelt sich dann aber zu einer echten Liebe zu den Vögeln. Die Kinder nennen ihn daher "Herr der kleinen Vögel".

Die Geschichte hat in meinen Augen keinen ausgeprägten Spannungsbogen. Das Leben des Jüngeren ist meist eher ein stiller See denn ein bewegtes Meer. Menschen treten in sein Leben und verschwinden wieder, gute und schlechte Dinge passieren... All das sind nur Steine, die ins Wasser seines Sees fallen und für kurze Zeit Kreise ziehen. Manches bleibt gänzlich ungeklärt.

Diese Offenheit hat jedoch etwas beinahe Schwereloses, wie ein langer Tagtraum. Ich habe mich beim Lesen keineswegs gelangweilt. Yoko Ogawa findet wunderschön verträumte, zarte Worte. Ich habe immer wieder innegehalten, um mir einen Satz auf der Zunge zergehen zu lassen.

Der Jüngere ist mir sehr ans Herz gewachsen - er ist ein ruhiger Mensch mit einfachen, bescheidenen Wünschen. Sein Leben wirkt unspektakulär und sogar einsam, aber er findet auch immer wieder Erfüllung in den kleinen Dingen. Als ich das Buch zuschlug, hatte ich fast das Gefühl, einen alten Freund verloren zu haben.

Da die Brüder nur wenig mit anderen Menschen interagieren, bleiben die anderen Charaktere eher unvollständig. Manchmal wirken sie wie bloße Kulisse, während die Vögel lebendig und individuell geschildert werden - aber anders könnte diese Geschichte vielleicht gar nicht erzählt werden, und ich habe beim Lesen nichts vermisst.

Bewertung vom 18.03.2017
Schaut nicht zurück
Cash, Wiley

Schaut nicht zurück


sehr gut

"This Dark Road to Mercy" heißt das Buch im englischen Original, also "Dieser dunkle Weg zur Gnade". Und tatsächlich erwartet den Leser eine Art Roadtrip durch den Südosten der USA: die verzweifelte Flucht des gescheiterten Baseballstars Wade Chesterfield, der seine beiden kleinen Töchter nach dem Drogentod ihrer Mutter aus dem Kinderheim entführt, um ihnen endlich der Vater zu sein, der er nie war.

Ein Auftragskiller, der auch noch seine ganze eigene Rechnung mit Wade zu begleichen hat, jagt der kleinen Familie hinterher, so hartnäckig und unerbittlich wie ein Bluthund. Es gibt Tote, jede Menge kleine und große Kriminelle, einen ehemaligen Cop, dessen Leben zerstört wurde, als er den Tod eines Jugendlichen verschuldete... Und dennoch ist das Buch in meinen Augen kein Thriller.

Es ist mal düster, brutal und spannend, mal leise melancholisch, traurig oder bewegend, aber es geht in meinen Augen immer ums Zwischenmenschliche, um enttäuschte Hoffnungen, zerbrochene Träume, aber auch um Liebe, Vergebung, Neuanfang - und ja, Gnade. Über weite Strecken lebt das Buch nicht so sehr von dem, was gerade passiert, sondern von der Atmosphäre und den Gedanken der Charaktere.

Obwohl das Buch nicht auf die gleiche Art spannend ist wie ein Psychothriller oder auch nur ein Krimi, fand ich die Geschichte ungemein fesselnd. Die Geschichte hat etwas Zeitloses, Archetypisches, und dennoch fand ich sie nicht abgedroschen, sondern originell erzählt.

Easter ist erst 12 Jahre alt, aber sie kümmert sich schon seit Jahren um ihre kleine Schwester Ruby - sie kocht ihr Essen (wenn welches im Haus ist), passt auf, dass sie die Hausaufgaben macht und früh genug ins Bett geht, und sorgt vor allem dafür, dass Ruby möglichst wenig darunter leidet, dass die Mutter nur selten aus dem Drogenrausch erwacht. Bis die das eines Tages dann gar nicht mehr tut.

Die Geschichte wird zum Teil von Easter erzählt. Meiner Meinung nach erfordert ein kindlicher Erzähler von einem Autor viel Feingefühl, aber Wiley Cash ist es hier gut gelungen.

Ich hätte erst nicht erwartet, dass der Autor es schaffen würde, mir Verständnis für Wade abzuringen, denn der hat seine Kinder wirklich unsäglich im Stich gelassen. Aber natürlich steckt auch dahinter mehr, als auf den ersten Blick offensichtlich ist, und ich war am Schluss sehr beeindruckt davon, wie Wiley Cash es schafft, Wades Fehler nicht zu beschönigen, ihn aber dennoch als komplexen Menschen mit guten und schlechten Eigenschaften zu zeigen.

Überhaupt sind die meisten der Charaktere keine Helden, die meisten davon sind aber nicht ausschließlich gut oder ausschließlich böse. Nur den Auftragskiller fand ich ein wenig einseitig, denn der hat zwar Gründe dafür, dass er Wade hasst, begeht aber auch manche seiner blutigen Taten, obwohl sie ihn seinem Ziel gar nicht näher bringen oder unnötig grausam.

Brady Weller, der gesetzliche Vormund der beiden Mädchen, war für mich vielleicht die sympathischste Figur, denn er handelt nicht aus Eigennutz, sondern aus Sorge um das Wohlergehen der Kinder. Eine einzige Fehlentscheidung vor ein paar Jahren hat einen Jugendlichen das Leben gekostet, und das hat Bradys Ehe und seine Karriere als Cop zerstört und auch die Beziehung zu seiner Tochter sehr schwierig gemacht, voller Schuldgefühle und Konflikt.

Mit Brady und Wade zeichnet der Autor das Bild zweier sehr unterschiedlicher Väter, die beide nicht perfekt sind, die beide schwerwiegende Fehler begangen haben, und die dennoch beide ihre Töchter lieben. Das Thema Elternliebe und Vergebung zieht sich wie ein Leitmotiv durchs ganze Buch, und es endet mit der Frage, ob Recht und Gerechtigkeit immer dasselbe sind.

Der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen. Oft ist er eher einfach, vermittelt aber trotzdem ganz viel Atmosphäre und wird manchmal sogar poetisch, bleibt dabei aber immer unprätentiös .