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MaWiOr
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Halle

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Insgesamt 3573 Bewertungen
Bewertung vom 27.12.2023
Mrs Dalloway
Woolf, Virginia

Mrs Dalloway


ausgezeichnet

Der Roman „Mrs Dalloway“ der englischen Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941) ist eines der wichtigsten Werke der literarischen Moderne. Das ganze Buch spielt sich an einem einzigen Tag im Juni des Jahres 1923 ab. Die 52-jährige Clarissa Dalloway, eine feine Dame der Londoner Gesellschaft, bereitet eine ihrer berühmten Partys vor. Die Vorbereitungen werden nur unterbrochen von dem unerwarteten Besuch von Peter Walsh, einem alten Verehrer, der gerade aus Indien zurückgekehrt war. Seit der Ablehnung seines Heiratsantrags vor mehr als 30 Jahren hatte Clarissa ihn nicht mehr gesehen. Die neuerliche Begegnung bringt Mrs Dalloway an diesem Tag dazu, ihr Leben zu reflektieren; selbst über das Altern und den Tod denkt sie nach.

Ein besonderer Tag wird es auch für den Kriegsheimkehrer Septimus Warren Smith, der von Wahnvorstellungen geplagt wird. Er ist mit seiner Ehefrau Lucrezia auf dem Weg zu dem Psychiater Sir William Bradshaw. Als Smith von seinem alten Arzt aufgesucht wird, stürzt er sich aus dem Fenster. Nachdem Mrs. Dalloway davon erfährt, missfällt es ihr, dass in ihrer Party über den Tod geredet wird, obwohl sie sich selbst mit Selbstmordgedanken trägt.

Meisterhaft und mit inneren Monologen zieht Virginia Woolf die Leser immer tiefer in die Gedanken ihrer Figuren hinein und stellt damit zugleich deren Leben in Frage. Die Ausgabe des Fischer Verlages wird durch Anmerkungen und eine Nachbemerkung ergänzt, die Hilfestellungen bei der Lektüre geben.

Bewertung vom 27.12.2023
Die Wellen
Woolf, Virginia

Die Wellen


ausgezeichnet

Der 1931 veröffentlichte Roman „Die Wellen“ ist das wohl bekannteste Werk der amerikanischen Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941). In der Erzähltechnik ist es ein äußerst radikales Werk, da die Autorin hier völlig auf einen Erzähler, eine greifbare Handlung oder einen Schauplatz verzichtete.

Der gesamte Roman besteht aus den inneren und kunstvollen Monologen von sechs recht unterschiedlichen Charakteren (drei Männer und drei Frauen), die sehr sinnlich und poetisch ihr gemeinsames Leben heraufbeschwören. Im Bewusstsein von Bernard, Louis, Neville, Rhoda, Jinny und Susan spiegeln sich Erlebnisse und Erfahrungen von der frühen Kindheit bis ins reife Erwachsenalter wider. „Die Wellen“ ist also gewissermaßen ein Entwicklungsroman.

Der Entwicklungsprozess der einzelnen Personen wird in neun Phasen dargestellt, denen jeweils symbolhafte Schilderungen von Tages- und Jahreszeiten an der Meerküste gegenübergestellt werden. So entspricht die frühe Kindheit dem Frühlingsmorgen oder die Schulzeit dem Frühsommer. Eingebettet in den verlässlichen Rhythmus der Natur, kommen so in diesem experimentellen Werk viele Geschichten zusammen, wie die Wellen in einem Ozean. Es ist ein Roman, der in lyrischer Prosa daherkommt und vom Leser viel Aufmerksamkeit verlangt, dafür aber mit einer erstaunlichen Lektüre belohnt wird. Immerhin wird „Die Wellen“ heute als das Werk angesehen, in dem Virginia Woolf ihre neuartige Erzähltechnik zur Vollendung bringt.

Bewertung vom 26.12.2023
Manfred Krug. Ich sammle mein Leben zusammen
Krug, Manfred

Manfred Krug. Ich sammle mein Leben zusammen


ausgezeichnet

Als Manfred Krug (1937-2016) 1996 mit knapp sechzig Jahren anfing, ein Tagebuch zu führen, wusste er nicht, wie dramatisch die folgenden Jahre für ihn werden würden. Anfang 2022 erschien dann der erste Band „Ich sammle mein Leben zusammen“ der bis dahin geheimen Tagebücher des Schauspielers und Sängers. Das Leserinteresse ist so groß, dass jetzt bereits die 3. Auflage erschienen ist.

In den Tagebucheinträgen der Jahre 1996 bis 1998 drehte sich vieles um das Liebesver-hältnis mit einer 25 Jahre jüngeren TV-Kleindarstellerin und das verheimlichte Doppelleben. Bis schließlich der Ehebruch aufflog. Außerdem starb im März 1997 sein langjähriger Freund Jurek Becker, und drei Monate später erlitt Krug einen schweren Schlaganfall. Am Krankenbett begegneten sich Ehefrau und Geliebte samt Tochter.

Krug ist unzufrieden mit sich und der Welt. Ehrlich und schonungslos sind seine Tagebuchnotizen, so wie man gemeinhin Manfred Krug zu kennen glaubt. So übt er viel Selbstkritik und denkt viel über sich nach. Hier lernt man auch andere Seiten des Schau-spielers kennen, seine Macken und Widersprüche, seine Traurigkeit, seinen Zorn. Aber vielfach ist aus dem einstigen TV- und Film-Raufbold ein kränkelnder und grantelnder Senior geworden. Trotzdem darf man auf die Fortführung seiner Tagebücher gespannt sein: Band 2 „Ich bin zu zart für diese Welt – Tagebücher 1998-1999“ (2023) und „Ich passe nicht in diese Welt. Tagebücher 2000-2003“ (2024).

Bewertung vom 26.12.2023
Uli der Pächter
Gotthelf, Jeremias;Theisohn, Philipp

Uli der Pächter


ausgezeichnet

„Uli der Pächter“, erschienen 1849, ist die Fortsetzung von „Uli der Knecht“, eines zweiteiligen im ländlich-bäuerlichen Milieu angesiedelten Entwicklungsromans des Schweizer Schriftstellers und Pfarrers Jeremias Gotthelf (eigentlich Albert Bitzius, 1797-1854).

Uli und Vreneli übernehmen den Glunggenhof, während Joggeli mit seiner Frau in den „Stock“ übersiedelt. Uli drückt jedoch ein jährlicher Pachtzins von 800 Talern. Da darf es keine Missernte geben. Zunächst hat man jedoch mit dem Wetter Glück. Allerdings ist Uli unentwegt am Kalkulieren, stets macht er sich finanzielle Sorgen. Das wirft auch einen Schatten auf die Beziehung zu seiner Frau Vreneli. Uli entwickelt eine Sparsamkeit, die in den folgenden Jahren durch schlechte Ernten sich zu einem unverhüllten Geiz entwickelt. Zu allem Überfluss schürt Joggeli Unfrieden, indem er Misstrauen und Verärgerung zwischen die Hofleute trägt.

Schließlich vernichtet ein schweres Hagelunwetter, in dem Uli ein göttliches Strafgericht sieht, die gesamte Ernte. Er verfällt in ein lebensgefährliches Nervenfieber, das er nur durch Vrenelis selbstlose Hilfe übersteht. Die Krankheit heilt ihn jedoch von seiner Raffgier. Mit neuer Kraft nimmt er seine Arbeit wieder auf. Doch dann droht neues Ungemach und der Glunggenhof soll versteigert werden, doch Uli wird erneut als Pächter eingesetzt. Der Übergang vom Pächter zum Hofbesitzer wird für ihn eine neue Prüfung sein, die er jedoch mit Unterstützung von Vreneli meistern wird.

Mit seinem Bildungsroman versuchte Gotthelf seine Leser zu überzeugen, dass soziale Missstände durch verantwortungsbewusstes Handeln verändert werden können. Die gediegene Diogenes-Ausgabe wird ergänzt durch ein Nachwort der österreichischen Schriftstellerin Monika Helfer, die sich vorstellt, Uli würde mit Vreneli in unserer Zeit leben, die in einem Skigebiet ein Hotel übernehmen. Doch mit dem Erfolg werden sie immer geschäftlicher. Das stolze Hotel, muss versteigert werden? Die ganze Anstrengung – wofür? Editorische Notizen des Herausgebers Philipp Theisohn und ein Glossar geben weitere Lektürehilfen.

Bewertung vom 26.12.2023
Uli der Knecht
Gotthelf, Jeremias;Theisohn, Philipp

Uli der Knecht


ausgezeichnet

Der Schweizer Schriftsteller und Pfarrer Jeremias Gotthelf (eigentlich Albert Bitzius, 1797-1854) ist vor allem durch seine beiden bäuerlichen Bildungsromane „Uli der Knecht“ und „Uli der Pächter“ bekannt geworden. Der erste Band „Uli der Knecht“ erschien 1841 und erzählt die Geschichte desgroßen und schönen Stallburschen Uli, der als Knecht bei einem Bodenbauer dient. Als Säufer und Frauenheld vernachlässigt er häufig seine Pflichten.

Unter Schwierigkeiten, gelegentlichen Entmutigungen und mancherlei Versuchungen entwickelt sich der zwanzigjährige Uli jedoch schrittweise zu einem vorbildlichen Knecht, der zu einer großen Hilfe des Bauern wird. Da trifft Uli seinen alten Vetter, den Bauern Joggeli, der sein großes Anwesen, den Glunggenhof, nicht mehr allein besorgen kann. Uli wird von ihm für 60 Kronen Jahreslohn als Meisterknecht in Dienst genommen. Er bringt den völlig verwahrlosten Hof wieder in Ordnung, dabei findet er Unterstützung durch die Bäuerin und Vreneli, einer armen Verwandten, die auf dem Hof groß geworden ist. Sie ist der gute Geist des Hauses. Doch Uli hat eine Zeit lang ein Auge auf Joggelis verwöhnte und reiche Tochter Elisi geworfen.

Der Glunggenbauer Joggeli schmiedet aber immer wieder Intrigen gegen Uli, um ihn auf die Probe zu stellen. Uli hat bald genug davon und will den Hof verlassen, doch Vreneli und die Meistersfrau fordern ihn zum Bleiben auf. Schließlich entscheidet er sich für die tatkräftige Vreneli. Am Schluss gibt Gotthelf einen kleinen Ausblick auf die Ehe, die eine glückliche zu werden scheint.

Die gediegene Diogenes-Ausgabe wird durch ein Nachwort des Schweizer Schriftstellers Peter von Matt ergänzt, der in Vreneli die weibliche Schlüsselfigur des Romans sieht. Die junge Frau erscheint beim Lesen zunehmend eindrücklich. Gotthelf zeigt hier eine frei fühlende, selbstverantwortliche Frau. Editorische Notizen des Herausgebers Philipp Theisohn und ein Glossar geben weitere Lektürehilfen.

Bewertung vom 11.12.2023
Munch
Westheider, Ortrud; Philipp, Michael; Zamani, Daniel

Munch


ausgezeichnet

Der norwegische Maler Edvard Munch (1863-1944) gilt als einer der bedeutendsten Künstler der Moderne. Über sechzig Jahre lang experimentierte er mit Gemälden, Grafiken und Zeichnungen sowie mit Skulpturen, Foto und Film. Seine Werke entstanden vorrangig im Stile des Symbolismus. Gleichzeitig gilt er aber auch als Wegbereiter des Expressionismus.

Weltberühmt sind seine Werke wie „Der Schrei“, dagegen wurde die Darstellung von Landschaft in Munchs Werk bisher wenig untersucht. Die Ausstellung „Munch. Lebenslandschaft“ im Museum Barberini Potsdam (18.11.2023-1.4.2024) mit über 100 Werken erforscht erstmals die Bedeutung von Munchs Naturdarstellungen und hinterfragt gängige Vorstellungen. Auch der umfangreiche Begleitkatalog widmet sich diesem Forschungsthema.

Die Beiträge von renommierten Kunstwissenschaftler*innen im Essayteil des Katalogs beleuchten Munchs Auseinandersetzung mit der Natur in ihrem ganzen Facettenreichtum. Der Künstler verstand die Natur als sich zyklisch erneuernde Kraft, andererseits sah er sie als Spiegel menschlicher Empfindungen. In vielen Werken setzte Munch diese lebendige, dynamische und sich wandelnde Natur ins Bild. Außerdem werden die Querverbindungen zwischen Munchs Werk und den philosophischen und naturwissenschaftlichen Theorien um 1900 untersucht. In machen seiner Werken lässt sich auch Munchs Klimaangst (z.B. eine neue Eiszeit) ablesen.

Der reich illustrierte Katalogteil der ausgestellten Werke (meist ganz- oder doppelseitige Abbildungen) ist in acht thematische Kapitel unterteilt – von „Im Wald. Mythen und Märchen“ über „Garten und Feld. Kultivierung der Natur“ oder „Schrei der Natur. Mensch und Umwelt“ bis zu „Licht und Wissen“. Im Anhang findet man neben einer Auswahlbibliographie auch eine Auflistung von ausgewählten Titeln aus Munchs Bibliothek. Fazit: Ausstellung und Katalog machen mit einem bisher wenig beachteten Aspekt in Munchs Werk bekannt.

Bewertung vom 10.12.2023
Modigliani
Lange, Christiane; Westheider, Ortrud

Modigliani


ausgezeichnet

Der italienische Bildhauer, Maler und Zeichner Amedeo Modigliani (1884-1920) war ein Vertreter der École de Paris. Er galt als künstlerischer Einzelgänger am Pariser Montmartre, der einen einzigartigen, modernen Stil mit lang gezogenen und maskenartigen Gesichtern entwickelte. Seine Aktgemälde wurden zu seiner Zeit als skandalös empfunden und fanden erst später Akzeptanz.

Die Ausstellung „Modigliani – Moderne Blicke“ (24.11.2023 – 17.3.2024) in der Staatsgalerie Stuttgart (danach Museum Barberini Potsdam, 27.4. - 18.8.2024) betrachtet das Werk Modiglianis aus einer europäischen Perspektive und bettet ihn in das kosmopolitische Pariser Umfeld der damaligen Zeit ein. Außerdem wird das Frauenbild Modiglianis neu bewertet und zeigt den Maler als Chronist eines erstarkenden weiblichen Selbstbewusstseins. Die Ausstellung ist die erste Modigliani-Schau in Deutschland seit 2009 und vereint mehr als 80 Werke aus internationalen Museen und Privatsammlungen.

Im Prestel Verlag ist der umfangreiche und üppig illustrierte Katalog zu dieser bemerkenswerten Ausstellung erschienen. Der Essayteil versammelt Vorträge von renommierten Kunstwissenschaftler*innen, die bereits auf dem Modigliani-Symposium in Potsdam im Oktober 2022 gehalten wurden. In den Texten werden verschiedene Aspekte im Schaffen von Modigliani beleuchtet – u.a. Modiglianis androgyne Frauenbildnisse, die italienische Avantgarde in Paris 1906-1920 oder die Modigliani-Ausstellung 1917, wo eine Serie von etwa 30 Aktgemälden gezeigt wurde. Darüber hinaus werden seine Arbeiten den Werken von Künstlern wie Wilhelm Lehmbruck, Egon Schiele, Ernst Ludwig Kirchner und Gustav Klimt gegenübergestellt. Auch der Katalogteil der ausgestellten Werke, chronologisch und thematisch unterteilt, ist mit Beiträgen versehen.

In einem abschließenden Kapitel wird neben Modiglianis Biografie auch auf den bisher unbekannten Briefwechsel zwischen Modigliani und Ludwig Kirchner eingegangen. Ausstellung und Katalog gewähren einen neuen Blick auf das Schaffen von Modigliani.

Bewertung vom 10.12.2023
Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben
Oliver, Mary

Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben


ausgezeichnet

Die Schriftstellerin Mary Oliver (1935-2019) war wohl die bekannteste amerikanische Lyrikerin der letzten Jahrzehnte. Schon in jungen Jahren begann sie damit, sich für die Poesie zu interessieren. 1963, bereits im Alter von 28 Jahren, veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband. Am Ende sollten es weit über zwanzig Lyrikbände sein. Oliver hatte viele Vorbilder, vor allem Walt Whitman und Henry David Thoreau.

Im Diogenes Verlag ist nun ein umfangreicher Auswahlband erschienen, den Oliver noch selbst zusammengestellt hat. Er versammelt Gedichte aus den verschiedensten Schaffensperioden und fast allen Lyrikbänden der Autorin. Mary Oliver ließ sich in ihrem Werk insbesondere von der Natur inspirieren. Ob Schneegänse, die Schaumkronen der Wellen oder die Kiefernwälder - die Natur war ihr ständiger Freund und Begleiter. Auf ihren Spaziergängen – in den Ohio-Wäldern ihrer Kindheit, an der Küste von Cape Cod als Erwachsene und an anderen Orten – war sie aufmerksame Beobachterin und drückte ihr Erstaunen aus.

Auf den über 400 Seiten begegnet den Lesern eine Sammlung leidenschaftlicher und scharfsinnigen und Naturbeobachtungen. Darüber hinaus hat sich Oliver immer auch gegen gesellschaftliche Normen aufgelehnt. Die Diogenes-Ausgabe, die quasi ein Best-of von ihrem Schaffen ist, wird durch ein Vorwort von Doris Dörrie und ein Nachwort des Schriftstellers und Übersetzers Jürgen Brôcan ergänzt. Fazit: Eine willkommene Gelegenheit das Lyrikwerk von Mary Oliver kennenzulernen.

Bewertung vom 07.12.2023
Großeltern

Großeltern


ausgezeichnet

Großeltern und Enkel sind meist ein tolles Gespann, das innige Beziehungen verbindet. Die Großeltern vermitteln ihren Enkeln viel Geborgenheit und Liebe. Das kommt auch in den meisten Geschichten des Diogenes-Auswahlbandes zum Ausdruck. Er versammelt siebzehn Geschichten internationaler Schriftsteller*innen, die die Großeltern in den Mittelpunkt rücken.

In der Auftaktgeschichte beschreibt Reinhart G.E. Lempp das erste Lebensjahr des Enkelkindes als die „Hoch-Zeit“ des Großelterntums. Auch Ingrid Noll bekennt sich in ihrer Geschichte zur Liebe auf den ersten Schrei. Hans Fallada erinnert sich an seine Großmutter, deren schlichtes, einfaches, gütiges Herz ihn über manche Sorgen der Kindheit half. Oma Henriette in Christian Schünemanns Geschichte ist dagegen eine eher resolute Frau.

Andere Autor*innen sind Bernhard Schlink, Elena Fischer, Peter Härtling, Amélie Nothomb oder Marco Balzano. Franz Hohler erzählt von einem Enkeltrick, doch dann kommt die Stunde der 88jährigen Amalie Ott und sie besteigt den Schnellzug nach Mailand. In der Schlussgeschichte berichtet Michael Krüger in Versform von seinen Großeltern auf dem Dorf, das er kürzlich besuchte, wobei ihm wieder alles einfiel – vom Kohlenstaub über den Kunsthonig bis zu den mehligen Kartoffeln.

Fazit: Eine abwechslungsreiche Auswahl (von Ursula Baumhauer), wobei einige Geschichten auch erstmals in Buchform erscheinen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.12.2023
Der Prozess
Kafka, Franz

Der Prozess


ausgezeichnet

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Ausgerechnet an seinem 30. Geburtstag. Mit dieser Ausgangssituation beginnt Franz Kafkas berühmter Roman „Der Prozess“. Josef K. arbeitet als angesehener Prokurist einer Bank. Die Stellung. Durch sein äußerst zurückgezogenes Privatleben sind seine menschlichen Kontakte stark reduziert.

Die Umstände seiner Verhaftung sind grotesk, niemand kennt das Gesetz, und das mysteriöse Gericht bleibt stets anonym. Josef K. erfährt nicht, worin die Anklage besteht und welche Schuld ihm vorgeworfen wird. Je mehr er seine Unschuld beweisen will, umso tiefer sinkt er ins Gestrüpp undurchschaubarer Gesetze und menschlicher Verwirrungen. Josef K. und mit ihm die Leser*innen werden immer tiefer in ein rätselhaftes Geschehen hineingezogen. Da er mit seinem Verteidiger unzufrieden ist, übernimmt er schließlich seine Verteidigung selbst. Im letzten Kapitel des Romans wird Josef K. abends um neun Uhr von zwei Männern zu einem alten Steinbruch abgeführt und hingerichtet. Seine letzten Worte sind: „Wie ein Hund!“.

Der Roman, der 1914/15 entstand, blieb jedoch ein Fragment und wurde 1925 posthum veröffentlicht. Er ist eine Kritik an einer verselbstständigten und unmenschlichen Bürokratie und am Fehlen bürgerlicher Freiheitsrechte. Bis heute wandeln sich immer wieder die Deutungen des Romans. Neben einer Zeittafel wird die Reclam-Ausgabe mit einer Nachbemerkung von Michael Müller ergänzt. Der Literaturwissenschaftler widmet sich darin der Entstehung des Manuskriptes und der posthumen Veröffentlichung durch Kafkas Freund, dem Schriftsteller Max Brod.

Die Neuerscheinung, die anlässlich des bevorstehenden 100. Todestages von Franz Kafka (3. Juni 2024) erscheint, ist eine willkommene Gelegenheit, ein rätselhaftes Werk der Weltliteratur kennenzulernen.