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ulrikerabe
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Österreich

Bewertungen

Insgesamt 195 Bewertungen
Bewertung vom 14.03.2021
Sprich mit mir
Boyle, T. C.

Sprich mit mir


gut

Sam ist ungefähr zwei Jahre alt, als er mit seinem Betreuer Professor Guy Schemerhorn einen Auftritt der TV-Show „Sag die Wahrheit“ hat. Er erobert die Herzen der Zuseher, vor allem das von der jungen Studentin Aimee, die sich daraufhin bei Professor Schmerhorn bewirbt um bei der Studie rund um Sam mitzuwirken.
Was ist denn das Besondere an Sam, der in Gebärdensprache kommuniziert und in seinem kleinen Anzug und dem tollpatschigen Gang so niedlich daherkommt? Sam ist ein Schimpanse.
Der amerikanische Autor T. C. Boyle ist ein renommierter Schriftsteller, der sich immer wieder ganz speziellen Themen widmet, sich auf reale Ereignisse und daraus Stoff für seine Romane bezieht. Auch hier hat sich Boyle mit den historischen Studien um Bewusstsein und Spracherwerb bei Schimpansen auseinandergesetzt. Viel und gerne habe ich Boyle bisher gelesen, doch mit „Sprich mit mir“ hatte ich so meine Probleme.
Da ist einerseits die Geschichte seiner menschlichen Protagonisten, Aimee und Guy, die mit den sonst so skurrilen Personen aus dem Boyleschen Universum nichts gemein haben. Im Gegenteil fand ich sie farb- und lieblos hingeklatscht, schablonenhaft. Ein Professor und seine Studentin, da kann es offensichtlich nicht ohne Affäre abgehen. Klassisch wird die Rollenverteilung, wenn es ums „Sorgerecht“ geht, auch wenn das schutzbefohlene Wesen hier kein Kind ist, sondern ein Affe. Das mag auch der Zeit geschuldet sein, in der der dieser Roman angesiedelt ist, irgendwo Ende der 1970er Jahre. (Dass Boyle den Zeitanker anhand von Neuerscheinungen am Musikmarkt setzt, das wiederum fand ich sehr gut gemacht) Ein bisschen mehr Originalität hätte ich mich für das humane Personal trotzdem gewünscht.
Ja, und dann ist da Sam, der Schimpanse, um den alles geht. Ein Forschungsobjekt. Bemitleidenswert, denn nach dem Ausbleiben der Fördergelder, bleibt dem Tier nach der Studie nur mehr ein Käfig im Tierversuchslabor.
„Die Art, wie er reagierte, hatte etwas so Rührendes, dass man ihn am liebsten umarmt hätte. Wie süß, sagte sie. Sowas von süß!“
Boyle gibt Sam eine Erzählstimme. Und das funktioniert. Sam ist liebenswert. Sam ist schützenswert. Das Tier wird vermenschlicht. Hier gerät Boyle aber in meinen Augen genau in das Fahrwasser derer, die ihre Haustiere über alles stellen und beim Schnitzelfleisch die Bioqualität loben. „Es hatte doch so ein gutes Leben“
„Ein Affentheater veranstalten? So nennt man das in der Verhaltensforschung: ein Affentheater veranstalten.“
Die Gameshow zu Beginn des Buches hieß „Sag die Wahrheit“. Zum Schluss lernt Sam sogar zu lügen. Können Forscher, kann Boyle, können wir wissen, wie ein Tier, was ein Tier wirklich denkt. Wenn Boyle Sam „sprechen“ lässt, ist es doch auch nur das, was der Mensch meint und interpretiert. Im Übrigen glaube ich, dass jedes Tier in irgendeiner Form kommuniziert, vielleicht nicht immer mit uns.
Guy Schmerhorn ging es nie um den Affen, sondern um das Projekt. Bei Boyle bin ich mir nicht sicher.

Bewertung vom 11.03.2021
Die Frau vom Strand
Johann, Petra

Die Frau vom Strand


ausgezeichnet

Bei einem Strandspaziergang hat Rebecca Friedrichsen eine seltsame Begegnung: Eine junge Frau, vollkommen nackt, die Kleider wurden ihr gestohlen während sie schwimmen war. Rebecca, die in Rerik seit der Geburt ihrer Tochter Greta nur sehr wenig Gesellschaft hat, hilft gerne aus. Sie freundet sich mit der Frau an, die sich als Julia vorstellt, und will die neue Freundin einige Tage später ihrer Ehefrau Lucy bei einem gemeinsamen Abendessen vorstellen. Doch Julia verschwindet auf ähnlich mysteriöse Weise aus Rebeccas Leben, wie sie aufgetaucht war.
„Ich hatte ein Leben. Es war perfekt. Ich hatte Greta, und ich hatte Lucy. Mehr habe ich nie gewollt.“
Mit dem Verschwinden der Frau vom Strand will sich Rebecca nicht zufriedengeben. Doch bei Ihren Nachforschungen löst sie Ereignisse aus, die ihr Leben kopfüber verändern.
Schon vom Prolog weg wissen wir, dass es einen Todesfall in diesem Buch geben wird. In dem nachfolgenden ersten Teil und auch ganz zum Schluss schildert Rebecca ihre ganz persönliche Sicht der Dinge. Sie wendet sich dabei direkt an die Lesenden, erzeugt das Gefühl, dass man mit ihr an einem Tisch sitzt und ihr zuhört. Schnell ist man hier bereit, Rebecca zu mögen. Der Großteil des Buches ist den Ermittlungen im eingangs erwähnten Todesfall gewidmet. Hier begleiten wir Kriminalpolzistin Edda Timm und ihr Team bei der Arbeit. Edda ist professionell, routiniert und hartnäckig. Fast schon ungewöhnlich ist, dass ihr die Autorin keine privaten Verwirrungen auf den Leib schreibt. Edda hat schlicht kein Privatleben und lebt für den Job.
Die Frau vom Strand ist ein raffiniert, spannend erzählter „Thriller“ (eigentlich mehr Krimi), undurchsichtig bis zum Schluss mit überraschenden Wendungen aus der versierten Schreibfeder von Autorin Petra Johann, die sich der Frage stellt, wie weit wir gehen, um zu schützen, was wir unbedingt lieben

Bewertung vom 10.03.2021
Leichenblume / Heloise Kaldan Bd.1 (eBook, ePUB)
Hancock, Anne Mette

Leichenblume / Heloise Kaldan Bd.1 (eBook, ePUB)


sehr gut

Die Journalistin Heloise Kaldan steckt gerade in einer beruflichen Krise, als sie einen Brief von einer gesuchten Mörderin erhält. Anna Kiel hat vor einigen Jahren einen Anwalt ohne erkennbares Motiv getötet und befindet sich seither auf der Flucht. In Heloise erwacht nicht nur der journalistische Instinkt, sondern sie ist bald auch emotional in diesen Mordfall involviert. Denn Anna Kiel scheint persönliche Dinge über die Journalistin zu wissen, die Heloise lange mit sich herumgetragen hat. Heloise beginnt mit Kommissar Erik Schäfer zusammenzuarbeiten, der gerade zur gleichen Zeit Hinweise auf Anna Kiels Aufenthaltsort erhalten hat.
Die dänische Schriftstellerin Anne Mette Hancock stellt in ihrem Debütthriller ein ungleiches Gespann vor. „Leichenblume ist der Auftakt einer Reihe um das „Team“ Kaldan und Schäfer. Eine Journalistin und ein Polizist, die zusammenarbeiten, das geht nicht immer ganz konfliktfrei ab. Zu unterschiedlich sind die jeweiligen Interessen.
„Und wenn die Leute ihre Schulden nicht bezahlen können, verschwinden sie. Leute sind verschwunden, Heloise. Kapierst du, was ich dir sagen will?“
Verschwimmende Grenzen zwischen Recht und Gerechtigkeit, die Ohnmacht gegenüber skrupelloser krimineller Energie, Dominanz und Missbrauch: Bis Heloise kapiert, wie ihre persönliche Vergangenheit mit der von Anna Kiel zusammenhängt, dauert es ein Weilchen. Die Geschichte entwickelt sich zunächst langsam, das ist auch das einzige Manko an diesem Thriller. Man darf nicht gleich die Geduld verlieren, den letztlich haben wir hier einen Fall, der sich sehr intensiv mit dem Thema Schuld, Rache und Vergebung beschäftigt.

Bewertung vom 08.03.2021
Hard Land
Wells, Benedict

Hard Land


ausgezeichnet

Grady; Missouri: Sam Turner ist 15 Jahre alt in diesem Sommer 1985. Es ist der Beginn der Sommerferien und einige lange Wochen ohne sinnvolle Beschäftigung liegen vor ihm. Er hat keine Freunde, seine Mutter ist schwer krank und der Vater hat sich in dumpfes Schweigen zurückgezogen. Doch da bietet sich ein Ferienjob im örtlichen Kino an und plötzlich ist alles ganz anders in diesem Sommer.
„In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“
Gleich zu Beginn des Buches weist uns Autor Benedict Wells den Weg, den sein Coming of Age Roman Hard Land nehmen wird. Es wird eine Reise ins Erwachsenwerden. Mittendrin im Sound der 80er Jahre erlebt Sam in diesen wenigen Wochen alle Höhen und Tiefen, die ein Heranwachsender zu bewältigen hat. Zusammenhalt Freundschaft, Erste Liebe. Aber auch die Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren.
„Kind sein ist wie einen Ball hochwerfen, Erwachsenwerden ist, wenn er wieder herunterfällt.“
Warum siedelt Benedict Wells diese Geschichte nur 1985 an, dem Jahr, in dem der Schriftsteller gerade einmal ein Jahr alt war? Weil er ein unglaubliches Gespür für Sehnsuchtsorte hat, der Musik und den Filmen dieser Zeit ein Denkmal setzt und damit sein Lesepublikum aller Altersgruppen erreicht. Diejenigen, die diese Zeit selbst in einem ähnlichen Alter wie Sam erlebt haben, vielleicht am Meisten. Alle anderen werden zumindest ein ähnliches Alter wie Sam haben oder gehabt haben, diesen verwirrenden Zustand der Pubertät, die Disharmonie von Gefühl, Körper und Intellekt, kennen.
Zurück in der Vergangenheit, in dieser fiktiven langweilige Kleinstadt Grady irgendwo im amerikanischen Mittelwesten, gehen für den Autor Benedict Wells die Lichter an. Mitten in dem „John Hughes Universum“, zwischen Simple Minds und Billy Idol, dem Zauber von ersten Malen und ersten Sätzen, bleibt Wells ein Magier der Emotionen. Dieses Buch ist Kino, vom Beginn bis zum Abspann und Soundtrack.
Don‘t stop believin‘…!

Bewertung vom 05.03.2021
Vati
Helfer, Monika

Vati


ausgezeichnet

Der Vater war ein kleiner Mann mit einer großen Liebe zu Büchern. Aus dem Krieg kehrte er verletzt zurück, ein Bein wurde ihm angenommen Fortan lebte er mit einer Beinprothese. Im Lazarett lernte er Grete kenne. Mit ihr gründete er eine Familie, leitete ein Kriegsversehrtenheim. Gretes Tod warf ihn aus der Bahn, die Kinder wurden in der Verwandtschaft verteilt.
Eines dieser Kinder ist die Vorarlberger Schriftstellerin Monika Helfer. „Vati“ ist ein Erinnerungsbuch, eine Annäherung an den Vater, eine Entfernung von der kindlichen Sicht.

„Alles kriegt seinen Namen erst hinterher – was Kindheit ist, was Kompliziertheit, Blödsinn, Ruhe, Undurchsichtigkeit…“

Einige Jahre nach dem Tod des Vaters befragte die Autorin die Stiefmutter, lässt sich von den vielen Geschwistern der früh verstorbenen Mutter erzählen. Monika Helfer hat sich Zeit gelassen, mit ihren Erinnerungen, gewartet mit dem Buch, dass niemand mehr da ist, den sie verärgern könnte.

„Wenn man einen Menschen ein Leben lang kennt, und erst spät erfährt man, wer er im Grunde ist, dann kann man das vielleicht schwer ertragen.“

Monika Helfer beschreibt ihre Kindheit, in der es einen mächtigen Einschnitt gibt. Aufgewachsen ist sie auf der Tschengla, einem Hochplateau in Vorarlberg, dem „Paradies“, in dem Kriegsversehrtenheim, das der Vater leitete. Nach dem Tod der Mutter ist auch der Vater fort, unfähig sich um seine Kinder zu kümmern.

Bei allem was die Autorin erzählt, wertet sie nicht, beschreibt, liefert Bruchstücke eines Lebens in sehr einfachen wirtschaftlichen Verhältnissen. Immer wieder kommt sie auf die große Liebe des Vaters zu Büchern zu sprechen. Bücher waren ein Heiligtum. Um eine Bibliothek zu retten, setzt der Vater einiges aufs Spiel. Die junge Monika verspürte damals den heftigen Wunsch, einmal ihren Namen auf einem Buchrücken zu sehen. Sogar der zukünftige Schwiegersohn musste beim Vater den richtigen Eindruck machen, wie er denn ein Buch zur Hand nimmt.

Auf wenigen Seiten schafft die Autorin ein feinfühliges Portrait der Nachkriegszeit. Wie es so ist mit dem Erinnern kommt sie auch vom damals ins heute. Auch die eigene Trauer um ihre viel zu früh verstorbene Tochter lässt sie spüren. Sie wiegt behutsam autobiografische Nähe und erzählerische Distanz ab. Ein ständiges Bemühen, nichts verloren gehen zu lassen. Ein Roman, mehr wahr als erfunden.

Bewertung vom 20.02.2021
Essen gut, alles gut
Niemeier, Heike

Essen gut, alles gut


sehr gut

Ernährungsratgeber gibt es heutzutage wie Sand am Meer. Heike Niemeiers Slogan für ihr Buch „Essen gut, alles gut“ ist „Wie wir wieder lernen, auf unseren Bauch zu hören.“ Die Autorin ist promovierte Ökotrophologin - also Ernährungswissenschaftlerin. Sie erzählt in diesem Buch über ihre Erfahrungen als Ernährungsberaterin gibt kleine Episoden ihrer Klientinnen und Klienten wieder. In einigen kann sich die Leserin wiederfinden. In etlichen Tabellen und Grafiken veranschaulicht sie die Essen-tiala , wie zum Beispiel den „guten Teller“, also wieviel Kohlehydrate, Eiweiß und Fette eine Mahlzeit aus ihrer Sicht enthalten sollte.
Was mir gut an dem Buch gefällt, dass Heike Niemeier nichts von Verboten hält. Diäten sollen - nicht wie gemeinhin in unseren Köpfen verankert – nicht auf Verzicht beruhen, sondern auf der bewussten Entscheidung für eine Ernährungsweise. Die Autorin ist eine Verfechterin von Low Carb, nicht von No Carb. Sie propagiert Proteine und die (richtigen und guten) Fette, macht sich stark für reichlich Gemüse. Sie vertritt keine vegetarische Lebensweise. Das muss auch nicht sein, käme mir aber mehr zupass, und so hätte ich mehr Hinweise auf pflanzliche Proteine gewünscht.
„Das Ziel ist nicht, perfekt zu sein. Das Ziel ist, immer wieder die richtigen Entscheidungen zu treffen.“
Es klingt vielleicht seltsam, aber ich lese solche Bücher gerne, während ich selbst esse. Ich entdecke immer wieder, dass meine Ernährungsweise gar nicht so weit daneben liegt von dem vorgestellten Programm. Ich habe mir angewöhnt, mir - wie beim Essen - die Rosinen herauszupicken, von dem was ich wirklich anspricht. Nichts ist wirklich ganz neu, aber es tut gut, sich wieder einiges davon wieder in Erinnerung zu rufen.
Ich glaube, das Wichtigste, das ich mir aus diesem Buch mitgenommen habe: Genuss ist völlig okay: „Die richtige Menge in der richtigen Qualität“

Bewertung vom 17.02.2021
Der Mädchenwald (eBook, ePUB)
Lloyd, Sam

Der Mädchenwald (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Es sollte ein aufregender Tag sein für die 13-jährige Elissa, an dem sie bei einem großen Schachturnier für Jugendliche teilnimmt. Doch als sie während einer Pause kurz zum Auto ihrer Mutter läuft, wird sie in einen Kleintransporter gezerrt. Benommen wacht sie einige Zeit später in einem dunklen Keller angekettet auf. Ihr Entführer verlangt unbedingten Gehorsam von ihr und stellt eine Videonachricht von ihr online. Während die Polizei eine großangelegte Suche nach dem entführten Mädchen startet, bekommt Elissa in ihrem Verlies Besuch von Elijah, einem Jungen der offensichtlich in der Nähe wohnt, ihr aber nicht helfen kann.
Der Mädchenwald von Sam Lloyd ist das Thriller-Debüt des britischen Schriftstellers Sam Lloyd. Schon als Kind hat sich der Autor Geschichten ausgedacht und Verstecke im Wald gebaut. So hat man bei diesem Buch auch ein bisschen das Gefühl, in einem sehr unheimlichen Märchen gelandet zu sein. Elissas düsteres Gefängnis mitten im Wald unter der Erde wird für Elijah zum „Knusperhäuschen“, er beginnt Elissa „Gretel“ zu nennen.
Wir erfahren die Geschichte in drei Erzählsträngen. Da ist einerseits Elissa, die sich trotz ihrer verzweifelten Lage ihr durch das Schachspiel geschulte analytische Denken bewahrt hat. Sie baut strategisch Vertrauen zu Elijah auf. Auch ihrem Entführer wirkt sie intelligenzmäßig einiges voraus. Hier hat der Autor wirklich eine sehr willensstarke und bewundernswerte Protagonistin kreiert.
Aus der Sicht von Detective Superintendent Mairéad MacCullagh, der leitenden Polizistin, nehmen wir teil an den Ermittlungsarbeiten, aber auch an ihren eigenen privaten Problemen (die für den Verlauf der Handlung nicht nötig sind und daher ein bisschen zu viel Drama in das Geschehen bringen).
Schließlich Elijah: warum nur gibt man einer Hauptfigur diesen Vornamen, wenn der Originaltitel das Wort „wood“ enthält? Hier springt bei mir gleich eine ganz starke Assoziationskette bei mir an. Aus Elijah wird man zunächst nicht schlau. Er ist klug, mag Bücher und schöne Worte, aber er kennt keine modernen Geräte wie Smartphones oder Tablets. Er fühlt sich zu Elissa, seiner „Gretel“ hingezogen, ist aber nicht in der Lage, ihr zu helfen.
„Das hier ist die Wirklichkeit, Elijah. Alles. Du bist wirklich, ich bin wirklich. Meine Mum ist wirklich. Meine Familie. Dieser Ort ist ebenfalls wirklich. Ich will hier nicht sein, und ich hoffe, dass ich hier nicht sterben muss.“
Was wirklich ist und was nicht, das beginnt bald, sich zu vermischen. Bis es zu einer Wendung – die nicht ganz so unerwartet ist – kommt. Da hat der Autor schon sehr gut und spannend erzählt aber eben auch das Rad nicht neu erfunden. Nicht alles an der Konstruktion dieses Thrillers fand ich plausibel und die Eskalation am Ende des Buchs war mir einen Tick zu viel.

Bewertung vom 10.01.2021
Capitana
Love, Melissa Scrivner

Capitana


ausgezeichnet

Zwei Jahre ist es her, seit Lola Vasquez beinahe vom mexikanischen Drogenkartell Los Liones getötet wurde. Seither hat Lola ihr Leben neu geordnet, sich von ihrem Lebensgefährten getrennt, eine Geschäftsbeziehung mit einer neuen Partnerin bildet. Aber noch immer ist Lola die Capitana einer Straßengang, hält ihre Männer fest im Griff. Doch nun ist ein neues Kartell in Los Angeles aktiv, die Lolas Existenz bedroht. Ein weiterer Drogenkrieg eskaliert, der alle beruflichen und familiären Beziehungen Lolas in Frage stellt.
„Capitana“ ist nach „Lola“ nun der zweite rasant spannende Thriller aus der Feder der amerikanischen Schriftstellerin Melissa Scrivner Love. Lola ist immer noch die äußerste interessante und zwiespältige Protagonistin, wie ich sie schon aus dem ersten Band kannte. In diesem Thriller verschieben sich die Grenzen zwischen Gut und Böse bei jedem Szenenwechsel. Wer Freund, wer Feind ist, kann in diesem schmutzigen Geschäft um Drogen, Geld und Macht sehr schnell wechseln.
Lola – klein und zierlich – darf man nicht unterschätzen, sie ist, wenn es darauf ankommt knallhart. Ihr Gangkodex lautet, nicht an Kinder zu verkaufen und schon gar nicht an weiße reiche Kids.
„Wenn die Crenshaw Six an weiße Kids verkaufen, während die Stadt wieder einmal das Drogenproblem bekämpft, wird es Lolas Gang hinter Gitter bringen, nicht die weißen Kids.“
Die Stadt – Los Angeles - hat viele Probleme gleich auf welcher Seite man in dieser Stadt lebt. Ob in Huntington Park, Lolas Viertel, das fast ausschließlich von Latinos bewohnt wird, wo Armut, Arbeitslosigkeit und Straßenkriminalität auf der Tagesordnung stehen, oder in den besseren weißen Vierteln, in denen Menschen wie Lola niemals im Vordergrund sind. Ein Gefälle von Arm und Reich, Diskriminierung, Rassismus: eine explosive Mischung, vor allem wenn rivalisierende Drogenhändler sich an beiden Seiten bedienen.
Lola bewegt sich in diesen beiden Welten, in der einen souverän, in der anderen zögerlich.
„In Huntington Park hat Lola das Sagen. In der Westside ist Lola so etwas wie die „Andere“, eine ruhige Latina, der die meisten Eltern garantiert denken, dass ihre Tochter nur dank der Minderheitenquote und eines Stipendiums einen Platz in der Schule gekriegt hat.“
Lolas angenommene Tochter Lucy ist Lolas Achillesferse. Für Lucy nimmt sie alles in Kauf, für Lucy bringt sie auch schmerzhafte Opfer. Das macht Lola nicht nur angreifbar, sondern zeigt neben der skrupellosen Capitana ein ganz anderes Bild von Lola.
Es gibt in diesem Buch das Kapitel 8, das auf eine derart schockierende und eindringliche Art toxische männliche Gewalt zeigt, wie man es sich kaum vorstellen mag. Wie dieses Kapitel dann auch in die Geschichte passt, ist dramaturgisch fein ausgeführt.
Dieser Thriller kann etwas mehr als nur spannend zu unterhalten. Das Buch ist auch eine Milieustudie einer amerikanischen Großstadt, in der Recht und Ordnung durchaus auch nur Macht und Geld bedeuten kann. Es zeigt Menschen in prekären Situationen, Frauen und Kinder, die durch häusliche Gewalt traumatisiert sind, Menschen, die außerhalb der kriminellen Strukturen keinen Platz in der „normalen“ Welt finden, weil sie dort niemand haben will.
Melissa Scrivner Love spart nicht mit gesellschaftspolitischer Kritik, wenn sich die Polizei nicht für eine Schießerei nur unter Latinos schert, wenn sie Lola darüber nachdenken lässt, dass ihre Tochter noch nie in einem weißen Haushalt war und damit auch noch nie gesehen hat, wie Angehörige ihrer eigenen Minderheit den Dreck anderer Leute wegputzen, wenn schon Kinder der Diskriminierung durch die gleichaltrigen Spielkameraden ausgesetzt werden, oder wenn Lola eine weiße Frau mit ihrem Hund vor einer Kugel rettet.
„Eine Weiße mit einem Pudel, der Donald heißt. Scheißwelt, denkt Lola.“
Lola steht außerhalb jeglicher Konventionen: Leader of the Pack, abgebrüht, verwerflich, verantwortungsvoll und prinzipientreu. Eine Frau, die in einer Männerwelt dominiert. Damit setzt die Autorin einen schöne

Bewertung vom 31.12.2020
Love & Bullets
Kolakowski, Nick

Love & Bullets


ausgezeichnet

Butch & Cassidy, Bonnie & Clyde, Mickey & Mallory. Mr. Smith & Mrs. Smith.
Doch dann kamen Bill & Fiona.
Das aberwitzigste Gangsterpärchen tritt an gegen den Rockaway Mob. Dummerweise hat Bill ein bisschen zu viel Geld aus der Kasse des Dean geborgt. Nichts was der Obergangster mit ein paar kleinen Drogendeals wieder einspielen könnte. Aber Prinzip ist Prinzip. So hetzt er einen Auftragskiller nach dem andern hinter dem flüchtigen Liebespaar her. Ein kleiner Scheunenbrand in Oklahoma, ein paar Kugeln in Mittelamerika, ein furioses Finale zurück in New York City.
Love & Bullets von Nick Kolakowski ist eine skurrile Persiflage auf alles, was sich in der Pulp Fiction so rumtreibt. Diese Gangsterballade punktet mit herrlich schrägen Typen, flotten Wort- und Schusswechseln. Die Handlung springt schnell von einer Szene zur nächsten. Da ist nicht nur der schöne Bill, der zwar bei seiner Kleidung ein sicheres Händchen zeigt, aber die Waffen hat Fiona fest im Griff. Nicht nur einmal holt Fiona Bill aus einer bedrohlichen Situation. Feinde und Freunde wechseln ebenso schnell wie Kugeln. Ein melancholischer Killer mit einem Faible für Elvis schreibt sich selbst aus der Geschichte und fährt zur Hölle. Doch davor geht er mit einem Raketenwerfer zum Soundtrack von Elvis ins letzte Gefecht.
…just a hunk, a hunk of burning love
Der fulminante erste Teil des Buches setzt einen Maßstab, der dann in den nächsten Abschnitten leider nicht mehr ganz aufrecht bleibt.
Die Geschichte ist blutig, exzessiv, rasant und absurd komisch. Ein bisschen, als ob sich Tarantino betrunken in ein Stand Up Comedy Lokal verirrt hätte. Der Witz ist grober, nicht ganz so geschliffen, aber herrlich unkorrekt und stellenweise zum Schießen.

Bewertung vom 14.12.2020
Das Wunder von R.
Cavallo, Francesca

Das Wunder von R.


ausgezeichnet

Nur wenige Tage vor Weihnachten kommt die Familie Greco-Aiden in der Stadt R. an. Es sind die Kinder Manuel, Camila und Shonda mit ihren Mamas Dominique und Isabella, die in R. ihre neue Heimat finden wollen. Doch sie fühlen sich dort nicht sehr willkommen. Die Bewohner von R. bleiben gerne für sich und möchten mit Fremden wenig zu tun haben. Nur das kleine Mädchen Olivia begegnet der Familie freundlich. Doch dann erhalten die Kinder einen erstaunlichen Brief: Der Weihnachtsmann bittet Manuel, Camila und Shonda, ihm bei den Vorbereitungen für das Weihnachtsfest in R. zu helfen.
„Neuer Rekord: Seit fünf Jahren ist in R. nichts Schlimmes passiert. Frohe Weihnachten wünscht Ihr Bürgermeister.“
So heimelig ist es in R. allerdings nicht. Die Menschen in R. vermeiden den Kontakt mit Fremden., kümmern sich nur um sich selbst Erst als deren Kinder den neuen Nachbarn, der Buntheit und Vielfalt unvoreingenommen gegenüberstehen, führt alles zu einem fröhlichen Miteinander.
Die italienische Schriftstellerin Francesca Cavallo war mir schon als Co-Autorin der „Good Night Stories für Rebel Girls“ bekannt. Ihr Kinderbuch „Das Wunder von R.“ ist nun ein sehr zeitgemäßes Weihnachtsmärchen für Kinder ab sieben Jahren. Dabei spricht sie kindgerecht die Themen Flucht, Diversität und Toleranz an. Als erwachsene Leserin wundert man sich vielleicht, dass die Familie gleich eine Wohnung und Isabella sofort einen Job hat, aber ich denke nicht, dass Kinder das so genau hinterfragen. Mir gefielen die fantasievollen Bezeichnungen der Straßen und Gassen in R. und haben mich ein bisschen an Michael Endes Momo erinnert. Die Illustrationen von Irena Wugeditsch runden das Buch stimmig ab.
„Auf den Mut, unsere Häuser und Herzen für das zu öffnen, was wir nicht kennen!“
Francesca Cavallos modernes Weihnachtsabenteuer gibt uns vor allem diesen Auftrag und Botschaft zum Weitersagen mit.