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fraedherike

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Insgesamt 70 Bewertungen
Bewertung vom 12.02.2024
Klarkommen
Hartmann, Ilona

Klarkommen


sehr gut

Hätte ich mitgezählt, wie oft ich mich in diesem Text wiedergefunden habe, ich hätte meine Socken ausziehen müssen zum Zählen, denn beide Händen hätten nicht gereicht. Ich musste so oft peinlich berührt bis melancholisch verträumt grinsen oder lauthals auflachen, gegen den Kloß im Hals anschlucken oder stumm nicken ob der Erlebnisse und Erinnerungen der Protagonist:innen, die Ilona Hartmann so lebensnah, klar und präzise eingefangen hat. Ihre Sprache ist lakonisch, humorvoll und frech, bisweilen von einer intensiven, verlangsamenden Stille, die Höhen und Tiefen auslotend. Ich musste immer an diesen einen Song von Nina Nesbitt denken, in dem sie singt: My life's uncertain and sometimes it's strange / But one thing I've learned is it won't stay the same / Even in the darkness, I'll be okay / The sun will come up, the seasons will change - und so findet auch die namenlose Protagonistin ihren Weg, unmerklich, die Rollen kehren sich um. Ein:e jede:r von uns. Ein wundervoller Text, der von Freundschaft erzählt, vom Kindsein und Erwachsenwerden, von Abschieden und Neuanfängen und dieses besondere Lebensgefühl wie kein anderes einfängt. Große Empfehlung!
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Bewertung vom 15.01.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


ausgezeichnet

Zärtlich und unendlich behutsam zeichnet Iris Wolff in „Lichtungen“ die Bande einer Freundschaft, die von den Jahreszeiten geformt wurde, aber noch die kältesten Winter überdauert hat. Lev und Kato kennen sich bereits seit ihrer Kindheit, gingen gemeinsam zur Schule. Sie ist ein Samstagskind, wie ihre Mutter sagte, neugierig und klug, doch in den Augen der anderen eine Außenseiterin. Kato hatte einen eigenen Zugang zur Welt, erfuhr sie mit ihren Sinnen, ihrer Fantasie, um dem Jetzt zu entfliehen, denn ihr Vater war Alkoholiker, ihre Mutter nicht mehr da; wann immer möglich, war sie bei Lev zu Hause, um dem Zorn des Vaters zu entfliehen. Lev hingegen ist still und pflichtbewusst, bedacht mit seinen Worten und Handlungen; ein Beobachter. Einer, der bleibt, der festhält an Erinnerungen. An Gefühlen. An drei Worten, die ein Anfang, ein Aufbruch sein können. 
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Zunächst nur vage Pinselstriche, Schattenwurf auf weißem Papier, gibt Iris Wolff Lev und Kato und ihrer Umgebung immer mehr Tiefe, Konturen, Merkmale, die sie besonders machen - den suchenden, unsicheren Blick; lockig-glattes Haar; raue Gebirgszüge, karges Land. Beginnend in der Gegenwart, fernab ihrer beider Heimat, bewegt sich die Handlung der Vergangenheit entgegen, in die Maramuresch im Norden Rumäniens. Szenen eines Lebens ziehen vorbei: Grenzen verändern ihre Linienführung, aus einem Land wird ein anderes, aus einer Staatsform eine andere. Angst weicht Erleichterung, Krankheit wird zu Gesundheit, Menschen kommen, bleiben - und sie gehen, flüchten, träumen von einem besseren Leben, von Freiheit, von Geborgenheit. Welchen Sinn und Zweck haben Grenzen, haben Staatsangehörigkeit in diesen Zeiten?
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Es ist magisch, wie geschickt Iris Wolff die einzelnen Versatzstücke aufeinander aufbaut, mit dem Innen und Außen, der Dynamik zwischen Lev und Kato, ihrer Familie und ihrer Umwelt spielt, und vermeintliche Lücken in der Erzählung, sind sie für die handelnden Personen bereits bekannt, mit jedem Schritt der Vergangenheit entgegen schließt. Die Geschichte entwickelt so eine ganz besondere Dramaturgie, die ich bis dahin noch nicht in der Form erlebt habe: unaufgeregt und subtil, aber doch so kraftvoll, unterschwellig drängend, vorantreibend. Einfach richtig gut. Jeder Atemzug, jedes Wort ist poetisch, wärmend, legt sich wohltuend um Herz und Seele. Und dort behalte ich Lev und Kato, ihre Geschichte, diese zarte Flamme tiefer Freundschaft. 

Bewertung vom 07.11.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

„Weiße Wände, nahezu leuchtend. Ich betastete meinen Bauch. Aus der Ferne drangen Stimmen zu mir. Ein Laken, das fest um mich gespannt war, hielt mich in dem Bett gefangen. Mein Kopf war unnatürlich schwer. Wo ist mein Kind?, fragte ich mit heiserer Stimme.“ (S. 260)

Es war Anfang März 1963, als sie sich kennenlernten; die Waal war von einer dicken Eisschicht überzogen. Nie wird die junge Floristin Frieda den Moment vergessen, als er plötzlich vor ihr stand, mehr Mantel als Mann: Otto. Noch Tage, Wochen nach ihrer Begegnung denkt sie an ihn, Ot-to, Ot-to skandiert sie in Gedanken, schilt sich, ihm nicht einmal ihren Namen genannt zu haben – wie soll er sie so jemals wiederfinden? –, doch da steht er eines Tages plötzlich vor ihr im Blumenladen, ihr Otto – und eben auch nicht, denn er ist verheiratet. Dennoch lassen sie einander nicht mehr los, begehren einander stürmisch, Mund und Wangen rot vor Liebe. Ihre Veränderung ist vor den Eltern nicht unbemerkt geblieben; Frieda merkt, wie sich das Band ihres streng katholischen Elternhauses immer enger um sie schlingt, zu ersticken droht. Dann bleibt ihre Periode aus. Tausende Fragen und keine Antworten, nur Einsamkeit und Angst, die wie ein Stein auf ihrer Brust liegen. Denn eine uneheliche Schwangerschaft, das war ein Skandal. Ihre Eltern verweisen sie des Hauses, versagen ihr jegliche Liebe und Fürsorge, versagen ihr, noch länger Teil der Familie zu sein. Aber auch ihrem heimlichen Kind würde sie nie Mutter, nie Familie sein.

„Ich hatte das große Bedürfnis, alles zu erzählen, wusste aber nicht, wem.“ (S. 85)

Niemals wird sie den Anblick der kleinen Füßchen vergessen, die Stille. Umso mehr schmerzt es, dass nun, sechzig Jahre später, seine Füße das letzte waren, was sie von ihrem Ehemann gesehen hat. All die stille Traurigkeit, die sie ihr Leben lang in sich trug, tritt wieder zu Tage, hallt umso lauter wider zwischen den Wänden des Zimmers der Seniorenresidenz, in der sie nun wohnt. Frieda ist inzwischen einundachtzig Jahre alt, das Laufen fällt ihr schwer, aber die Erinnerung an den Schmerz und die Ungewissheit, die der Anblick der stillen Füße in ihr wachgerufen hat, bringt sie dazu, sich ihre Geschichte zu stellen und sie zu teilen.
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Manchmal kann man nichts dagegen tun, es übermannt einen einfach. Mein Herz ist gebrochen und gleichzeitig seltsam ruhig. Tränen tanzen auf den Wimpern, der Nasenspitze, tropfen auf die Seiten, auf die "Kontur eines Lebens", die niemals ausgefüllt werden durfte, immer nur als blinder Schemen dessen, was hätte sein können, gegen die Brust pocht. Über diese stille Traurigkeit, den Verlust eines möglichen Lebens, das geheim gehalten werden musste, bedeutete eine Schwangerschaft ohne den heiligen Bund der Ehe für viele Frauen Mitte des 20. Jahrhunderts (und ganz sicher auch davor - und jetzt noch) den Ausschluss aus der (gläubigen) Gesellschaft, erzählt Jaap Robben in seinem Roman, der von Birgit Erdmann aus dem Niederländischen übertragen wurde. Zärtlich und gefühlvoll skizziert er das Leben der Protagonistin Frieda in ihrer Adoleszenz in den 60er Jahren und gegenwärtig als alte, hilfsbedürftige Dame, arbeitet die für die jeweilige Zeit und das Alter entsprechenden Charakterzüge, Eigenheiten - und Traumata - sensibel heraus, und lässt sie zu jeder Zeit so nahbar und echt erscheinen. Umso stärker traf mich ihr Schicksal: wie die Gesellschaft und ihre Eltern mit ihr umgingen, und was sie erleiden musste - während der Schwangerschaft, unter der Geburt und danach. Leer und einsam, abgeschnitten. Währenddessen kam Otto ungescholten davon, obgleich er: A) seine Ehefrau betrog, B) ein uneheliches Kind zeugte, C) sogar noch sagte, er habe genug Liebe für sie beide, wo sei da das Problem. Seriously? Aber leider nichts Neues, damals wie heute. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es all den Frauen ihr Lebtag ergangen sein mag, die sie all die Jahre dieses unaussprechliche Packerl mit sich tragen, die Bilder vor Augen, der Schatten einer Berührung auf der Haut. Und dennoch ein "normales Leben" weiterführen mussten.
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Ich habe wahrlich nur warme Worte für diese große, intensive Geschichte, die kritische Betrachtung einer Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Von Beginn an hat mich die Erzählung von Friedas Leben in den Bann gezogen, diese kluge und stringente Komposition aus den jeweiligen Zeitsträngen mein Herz erwärmt. Einzig Tobias, der Sohn Friedas, ging mir zeitweise auf den Geist mit seiner teils herabwürdigen Art. Geschenkt. Nein, ich bin selig. Und zerstört. Ein unbedingtes Jahreshighlight!

Bewertung vom 05.11.2023
Die weite Wildnis
Groff, Lauren

Die weite Wildnis


ausgezeichnet

"Sie fiel in einen schweren, traumlosen Schlaf, und als sie mitten in der Nacht aufwachte, waren sämtlich Sterne aufgegangen, und der Mond, nur einen Spalt von einem vollen Rund entfernt, leuchtete hell von oben herab. Sie lauschte den nächtlichen Geräuschen aus dem Wald und hatte zum ersten Mal keine Angst." (S. 126)

Nordamerika im 17. Jahrhundert. In weißen Wolken treibt ihr Atem in die kalte Nacht, das feuchte Schmatzen des Waldbodens unter ihren schnellen Schritten das einzige Geräusch in der Dunkelheit. Das junge Mädchen ist auf der Flucht, allein, hatte sich allem entsagt, was sie kannte; ihrem Namen, ihrer Sprache, der kleinen Bess - ihr Herz sticht. Sie rennt, rennt immer weiter: weg von ihren Dämonen, in Richtung der Lebenden. Im Kopf hat sie die vagen Umrisse einer Karte, die sie einst sah: zarte Linien, wo Land und Wasser sich berühren, Gebirgszüge und Ländereien. Die neue Welt, das große Unbekannte.

Sie kämpft ums Überleben, jeden Tag aufs Neue, doch ihre Furcht vor der Wildnis ist nicht so groß wie die Wut, die sie auf die Menschen verspürt, auf ihren frevelhaften Umgang mit diesem gottgegebenen Wunder, das die Natur ist. Ihr Blick verändert sich, sie verändert sich – und etwas in ihr beginnt zu wachsen: ein neuer Blick und eine Liebe, die sie am Leben hält.

„Die Welt, das wusste das Mädchen, war noch schlimmer als wild, die Welt war gleichgültig. Es kümmerte sie nicht, was mit ihr geschah, es konnte sie nicht kümmern, nicht im Geringsten. Sie war ein Sandkorn, ein Sprenkel, ein Flugstaub im Spiel des Windes.“ (S. 29)

Hm, was soll ich sagen. Gefunkt hat es wirklich oft, jedes Mal nämlich, wenn das Mädchen versuchte, ein Feuer zu machen – aber auf mich ist der Funke leider nicht gänzlich übergesprungen. Lauren Groff schafft es, „[D]ie weite Wildnis“ mit ihren Worten, mit ihrem unnachahmlichen Blick für Licht und Schatten, für das Sichtbare und Unsichtbare erfahrbar zu machen. Und das mit allen Sinnen. Unendlich zart, ehrfurchtsvoll und poetisch lässt sie das Mädchen Teil dieser unberührten Natur werden, den Zauber der Vollkommenheit auf sie übergehen und sie formen. Während sie gegenwärtig ums Überleben kämpft, schweifen ihre Gedanken immer wieder zurück zu den Menschen, die sie zurückließ, um die rauschende Einsamkeit zu ummanteln: sie denkt an Bess, an die Schifffahrt von England in die neue Welt, die sie alle beinahe das Leben kostete, an die zarten Berührungen des Schiffsjungen, die sie innerlich brennen ließen, an die scharfen Worte ihrer Herrin und ihre Ehegatten. Nach und nach füllt Groff blinde Flecken mit Licht und Farbe, und mit Gewissheiten, die umso schwerer auf dem Herzen liegen. Grausamkeiten und Gewalt werden manifest, dunkle Schatten, die das Mädchen in der traumwandlerischen Schönheit der Natur verfolgen – bis sie die Welt mit einem neuen Blick zu betrachten lernt.
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Etwas fehlte. Zu leise war der Wind, mich vollends mitzureißen, fallenzulassen in das weiche Moos, denn es sind eben die Rückblicke, die mich in Atem hielten, das Leben fernab des Waldes und des Überlebenskampfes des Mädchens, ihrer Heldinnenreise – obwohl gerade dem ja ein naturgegebener Spannungsbogen innewohnt. Keine Frage, sprachlich ist diese Geschichte herausragend, nicht zuletzt wegen der grandiosen Übersetzung von Stefanie Jacobs. Aber der Zeitpunkt passte einfach nicht. Ich komme wieder, mit leichterem Gepäck.

Bewertung vom 05.11.2023
Marschlande
Kubsova, Jarka

Marschlande


ausgezeichnet

"Diese Frauen waren tot, aber was ihnen widerfahren war, war noch immer in der Welt, in einem anderen Gewand, zerstoben, verändert, aber es war noch da, es widerfuhr wieder, es wiederfuhr anderen." (S. 134)

Winterkahle Baumkronen wogen im rauen Wind; feiner Dunst steigt von der flachen Marschwiese auf. Vor drei Monaten waren sie nach Ochsenwerder gezogen, Britta und ihre Familie; ein Neuanfang, fernab der Stadt. Sie hatte ihren Job als Geografin aufgegeben – für die Familie –, fand nach der Geburt ihres zweiten Kindes keinen Anschluss mehr im Institut. Für ihre Kinder Ben und Mascha kommt der Umzug einem Weltuntergang gleich, doch sie versucht sie zu besänftigen, dass es Zeit brauche, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Doch wem macht sie etwas vor. Auf ihren Streifzügen durch die herbstkargen Marschwiesen lernt Britta das dem Gebiet so eigene Relief kennen und beginnt, die Spuren der Vergangenheit aus den Bracks, Deichlinien und alten Bauernhäusern zu lesen. Dabei stößt sie auf Abelke Bleken, eine Bäuerin, die um das Jahr 1580 in den Hamburger Marschlanden lebte – und sie bleibt hängen. Bleibt hängen am Schicksal dieser Frau, das geprägt ist von Ausgrenzung und Ungerechtigkeit. Je mehr sie erfährt, desto klarer treten ihr die Parallelen zur ihrem Leben, zu dem Leben von Frauen* in der heutigen Zeit auf, und sie beginnt zu verstehen.

"Die Wiesen haben Augen, die Felder haben Ohren." (S. 53)

Mehr als 450 Jahre ist sie her, die Allerheiligenflut des Jahres 1570, die als die verheerendste Sturmflut an der Nordsee vor dem 20. Jahrhundert gilt. Abelke Bleken besaß zu eben dieser Zeit einen Hof in den Marschlanden südwestlich Hamburgs, bestellte Felder und fuhr Ernten ein, pflegte ihren Deich. Die Menschen lebten mit der Natur und den Gezeiten, sie prägten ihr Leben, zeichneten sie, und entsprechend lehnten sie alles Frevelhafte, Übernatürliche ab. Als Töversche bezeichneten sie Frauen, die die Chuzpe besaßen, sich zu wehren, ihre Stimme gegen die Männer des Bauerndorfes zu erheben – mit weit reichenden Folgen.
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Mit zarter, wohltuender Sprache zeichnet Jarka Kubsova in „Marschlande“ ausdrucksstarke Bilder des Hamburger Marschlands und seiner Bewohner:innen, gegenwärtig wie in der Vergangenheit, und lässt insbesondere die Parallelen in Brittas und Abelkes Leben hervortreten. Eindrucksvoll beschreibt Kubsova die Einflüsse der Natur auf ihre Menschen, und wie die Menschen wiederum ihre Natur beeinflussen: das Außen im Innen und das Innen im Außen (so auch der Titel der Lesung zum Buch im Rahmen einer Ausstellung in der Alfred Ehrhardt Stiftung in Berlin, der besser nicht hätte passen können). Mir haben besonders die Passagen über Abelke Bleken gefallen, die Szenen eines möglichen Lebens zu einer Zeit, in der eben diese Unabhängigkeit, die sie so auszeichnet, nicht gern gesehen war, ihre Standhaftigkeit ein Dorn im Auge der anderen Dorfbewohner.
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Doch auch in der Gegenwart ist das kein unbekanntes Szenario, und auch ein Grund dafür, dass Britta immer mehr über Abelke erfahren mag, diese Frau, deren Namen sie zufällig auf einem Straßenschild sah – und bei weitem nicht die Einzige ist, die unerhört war, aus der Norm fiel oder für etwas gekämpft hat: „[Es führte] sie an den Ursprung. An die Quelle so vieler Dinge, die sie in ihrem Leben als Hindernis spürte. In ihrem Leben als Frau." (S. 306) Die Atmosphäre der Gegenwart ist eine andere, eine kühlere, distanzierte, und ich wurde mit Britta nicht wirklich warm, viel eher strengte sie mich zeitweise an; das als einzige kritische Anmerkung. Denn ansonsten hat mir die Geschichte ungemein gut gefallen, habe ich doch so viel mitnehmen können (insbesondere auch aus dem Nachwort): eine gewisse Awareness ob des Ursprungs heutiger Verhaltensweisen der Gesellschaft und der unmittelbaren Nähe geschichtsträchtiger Orte, der Vergangenheit in der Gegenwart, und das Wesen der Hexenprozesse als Processi Extraordinarii. Ein so klug komponiertes, berauschendes Buch. Empfehlung!

Bewertung vom 16.10.2023
Und wir tanzen, und wir fallen
Newman, Catherine

Und wir tanzen, und wir fallen


sehr gut

Man sollte meinen, ein Buch über das Sterben, über den Abschied von einem geliebten Menschen sei schwermütig, mehr Schatten als Licht, doch all das ist diese Buch ganz sicher nicht. Voller Wärme erzählt Catherine Newman in "Und wir tanzen, und wir fallen" eine Geschichte inniger Freundschaft, der Freude am Leben und des Loslassens. Aus der Sicht von Ash beschreibt sie die Tage und Wochen im Hospiz, ihre Fürsorge und Beharrlichkeit, der Freundin jeden noch so kleinen Wunsch zu erfüllen, wie sie ihre PEG-Sonde spült, Nachthemd und Bettzeug wechselt, ihre Hand hält, wenn die Schmerzmittel ihr wieder die Luft zum Atmen nehmen. Und sie hört zu. Hört zu und schreibt all die Dinge auf, die Edi ihrem siebenjährigen Sohn Dash mit auf den Weg geben mag, für die Zeit, wenn sie nicht mehr da ist; Kuchenrezepte, Lebensweisheiten, Mutterküsse. Doch sie schreibt auch für sich, über sie beide und ihre Freundschaft, um nicht zu vergessen.
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Die Geschichte besteht aus drei Strängen, die nahtlos ineinander übergehen und aufeinander aufbauen. So werden die Gegenwart und das Leben im Hospiz, dieser großen, kauzigen Familie, die wie von einem grauen Schleier überzogen, gedämpft und leise, beschrieben wird, durchkreuzt von Rückblenden in Ashs und Edis Kindheit und Jugend, ihrem gemeinsamen Aufwachsen und Erwachsensein, von verstummten Lügen und alter Liebe, die neu aufflammt, wenn es zum Äußersten kommt; und von Ashs aus den Angeln gehebelter Gegenwart. Sie leidet nicht nur unter dem nahenden Abschied von ihrer besten Freundin, sondern auch unter der Trennung von ihrem Ehemann, dem Vater ihrer beiden Kinder, und sehnt sich danach, gesehen zu werden, gewollt, nicht einmal geliebt, sie möchte nur ihre eigenen Gefühle verdrängen, nur für die Dauer einer schwitzigen Nacht nicht an ihre sterbende Freundin denken. Und sie verdrängt. Oft. Ein bisschen zu oft für meinen Geschmack, aber ich hatte Ash über die Zeit wirklich lieb gewonnen, ihre gleichermaßen humorvolle wie leidenschaftliche, fürsorgliche Art, und diese liebevolle Dynamik zwischen ihr und Edi, ihren Kindern und den anderen Hospizbewohner:innen. Auch wenn sie manchmal wirklich sehr egoistisch und lichtsuchend war. Aber so kennt Edi sie ja.
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Die Geschichte ist ungemein leicht erzählt, und ließ mich von den ersten Seiten an nicht mehr los; es war genau der richtige Zeitpunkt dafür. Teilweise war die Sprache meiner Meinung nach ein wenig drüber, overly enthusiastic und inflationär im Gebrauch von Ausrufezeichen, wo ein ruhigerer Ton angemessener wäre - und ich kann durchaus verstehen, wenn man das überhaupt nicht mag -, aber die bisweilen humorvolle, nachdenkliche und herzzerreißend traurige Atmosphäre trug und umarmte mich, während die Straßen Frankreichs an mir vorbeizogen. Eine herzliche Empfehlung. Aus dem amerikanischen Englisch von Alexandra Baisch.

Bewertung vom 13.10.2023
Simone
Reich, Anja

Simone


ausgezeichnet

Sie beginnt, sich zu erinnern: an ihr erstes Kennenlernen, ihre gemeinsame Jugend, wie fröhlich sie waren im Osten Berlins, noch vor der Wende. Wie sie eigene Wege beschritten, erwachsen wurden unter dem Regime, denn: obwohl Simone nur ein halbes Jahr jünger war, hätten ihre Leben, hätten sie unterschiedlicher nicht sein können. Im Gespräch mit Simones Eltern, ihrem Bruder und Freundinnen, ihren Expartnern nähert sie sich den vielen Facetten ihrer Freundin, erhält Einblick in ihre Tagebücher, sichtet alte Fotos, und lernt Seiten von ihr kennen, die ihr bis dahin unbekannt waren. Und Anja beginnt zu schreiben. Mehr als zwanzig Jahre dauerte es, bis sie einen Punkt setzen und abschließen konnte, bis „Simone“ bei den Aufbau Verlagen erscheint.
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Chronologisch, wie einem Countdown folgend, skizziert Anja Reich zunächst die Lebensumstände von Simones Eltern, ihre Herkunft und die Zeit ihrer Kindheit und Jugend bis hin zu ihrem schicksalsgetriebenen Aufeinandertreffen. Liebe auf Umwegen, Heirat, Kinder; doch so einfach war es nicht, damals. Häufig zogen sie um, waren Spielbälle des Systems, und doch lief letztlich alles zu ihren Gunsten. Simone stand schon früh unter Druck: Leistung und Erfolg, das zählte, es ihren Eltern recht zu machen, ein Leben gemäß ihren Erwartungen zu führen. Und sie wusste: Wenn etwas nicht gut lief, würden ihre Eltern es schon richten. Doch je näher Anja sich zeitlich ihrem Kennenlernen annähert, desto deutlicher fallen ihr bestimmte Verhaltensweisen auf – sowohl in Simones Tagebucheinträgen als auch im Gespräch mit Freund:innen und Angehörigen.
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„Wer bin ich? So viele Ichs und ich bin immer noch auf der Suche.“ (S. 212)
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Anja Reich beginnt, einen Schritt weiterzugehen, Psycholog:innen und Forscher:innen zu befragen, denn immer öfter begegnet ihr das Wort Depression, immer mehr fällt ihr auf, wie sprunghaft, impulsiv sie war, wie kurzlebig ihre Beziehungen, wie enorm ihre Eifersucht. Und: wie fröhlich sie war, damals, im Osten. Bis die Mauer fiel und mit ihr das System, das sie bis dahin „pseudostabilisiert“ zu haben scheint (vgl. S. 250), ebenso wie die Strenge ihrer Eltern. All die neuen Möglichkeiten, die der Systemwechsel plötzlich bot, sie nahmen ihr die Ordnung und Struktur, die Simone gebraucht hätte; Wesenszüge einer Borderline-Erkrankung.
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„Einer gibt dem anderen die Schuld, denke ich. Die Eltern den Freunden. Die Freunde den Eltern. Wir brauchen einen Sündenbock, einen Grund, eine Erklärung, versuchen zu verstehen, was wir nicht verstehen können, um selbst weiterleben zu können.“ (S. 277)
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Mit 27 Jahren hat Simone ihr Leben beendet, vor mehr als zwanzig Jahren. Anja Reich hat ihr, ihrer Freundschaft und der gemeinsamen Zeit mit ihren detaillierten, liebevoll und sorgsam gezeichneten Betrachtungen einen Ort geschaffen, an dem sie weiterleben können. Mir hat die reflektierte, zarte und respektvolle Art ihres Schreibens sehr gefallen, ebenso die kritische Einordnung in die jeweiligen sozialen und politischen Umstände und die tiefergehenden Recherchen bezüglich psychischer Erkrankungen in diesem (gesellschaftlichen) Kontext. Gerade letzteres beschäftigt mich noch immer, lässt mich nicht mehr los. Was gut ist, denn: Die Awareness um die Gesichter und Auswirkungen psychischer Erkrankungen kann nicht groß genug sein. Eine große Empfehlung!

Bewertung vom 13.10.2023
Paradise Garden
Fischer, Elena

Paradise Garden


ausgezeichnet

Einfühlsam und sanft erzählt Elena Fischer in ihrem Debütroman „Paradise Garden“ vom Zauber der kleinen Dinge, des Alltäglichen und der ihnen entgegengebrachten Wertschätzung, von Flucht und Freiheit, von der Suche nach der eigenen Herkunft, der Familie, und davon, mutig zu sein, für die Welt und ihre Möglichkeiten, und vom Tod; von Trauer und dem Prozess des Abschieds. Aus der Sicht der vierzehnjährigen Billie beschreibt sie ihr Leben mit ihrer aus Ungarn stammenden Mutter in der Hochhaussiedlung am Stadtrand, die herzlich-kuriose Gemeinschaft mit ihren Nachbarn Luna und Ahmed, die sowas wie eine Familie für sie sind, und den Übertritt in eine „andere“, eine scheinbar heile und sorgenfreie Welt, wenn sie bei ihrer Freundin Lea zu Hause ist. Anhand ihrer Freundschaft wird die Diskrepanz zwischen ihren unterschiedlichen sozialen Schichten deutlich, und die Haltung und Abschätzigkeit der Begünstigten, die damit einhergeht. Doch Mutter und Tochter sind glücklich – auch ohne viel Geld, ohne Swimmingpool und Esszimmer, denn sie haben einander und ihre Fantasie, den Eisbecher am Anfang des Monats und den Dreier im Schwimmbad. Nur eine Frage hat Billie, die ihr noch mehr auf dem Herzen brennt, als ihre Großmutter bei ihnen einzieht. Und sie im Danach in Flammen aufgehen lässt.
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Mit dem Tod ihrer Mutter tritt Billie in eine neue Phase ihres Lebens ein. Plötzlich ist sie auf sich alleingestellt, muss erwachsen sein, erwachsen handeln und denken – und das mit vierzehn Jahren. Jetzt mehr denn je findet sie Zuflucht im Schreiben, war es schon immer ihr Traum, Schriftstellerin zu werden. Alles, was sie für wichtig erachtet, die Puzzleteile ihrer Herkunft, ihrer Geschichte zusammenzufügen, schreibt sie in ein Notizbuch. Um nicht zu vergessen, um ihre Mutter lebendig zu halten.
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Ich habe mich gefühlt wie in einer Schneekugel mit Zuckerperlen, unendlich geborgen und gewärmt von dieser leichten, feinen Sprache, ihrer Lebendigkeit und Soghaftigkeit, habe jede einzelne Figur auf ihre Art ins Herz geschlossen, ganz besonders jedoch Billies Mutter. Von ihr hat Billie ihren Mut und ihre Beherztheit, Fantasie und den Schneid, sich durchzuboxen, so widrig die Umstände auch sind. Vordergründig eine Coming-of-Age-Geschichte, entwickelt sich "Paradise Garden" im zweiten Teil weiter, bricht Billie aus den Grenzen der Strandrandsiedlung aus. Und ab hier verlor die Geschichte für mich ein wenig ihres Flows, wirkte es doch nun stellenweise konstruiert und, naja, nach Wishful Thinking, aber ich meine, nach alldem, was sie durchgemacht hat, diese kleine Heldin auf ihrer Reise mit ihrem letzten Hab und Gut, den letzten Dingen ihrer Mutter, wünscht man sich doch auch genau das, oder? Dass am Ende des Weges... Lest selbst, los! Denn dieses Buch ist etwas ganz Besonderes, versprochen. Große Empfehlung!

Bewertung vom 13.10.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


sehr gut

Vor und zurück. Jahrzehnte voller Liebe und Schmerz vergehen, überschneiden einander, kehren wieder; ein immerwährender Kreislauf. In seinem neuen Roman „Endstation Malma“ zeigt Alex Schulman auf, welchen Einfluss Vergangenes auf unsere Gegenwart haben kann, oder: wie die Tränen unserer Eltern Jahrzehnte später unsere Sicht verschwimmen lässt. Einfühlsam verbindet er die Geschichten dreier Generationen einer Familie, die durch mehrere traumatische Ereignisse über die Zeit miteinander verbunden sind, ihren Schmerz und ihre Eigenheiten an ihre Kinder und Enkel weitergeben, eine „gerade Linie von der Kindheit bis in die Gegenwart hinaus“ (S. 233). Sie alle sitzen und saßen – alles eine Frage der Perspektive – im Zug nach Malma, wollten mit etwas abschließen, etwas beweisen, alte Dämonen zum Schweigen bringen. Immer klarer, intensiver werden die Bilder, je näher sie ihrem Ziel kommen, was sie an einem Punkt in ihrem Leben verletzt hat, und desto deutlicher treten die Parallelen hervor; die Abstände werden kleiner, die Brust enger, das Atmen fällt schwer. Es kribbelt unangenehm unter der Haut, letzte Worte, angespanntes Flüstern, das Geräusch von brechendem Knochen.
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„Alles, was man jetzt ist, kann und muss durch das erklärt werden, was einem früher widerfahren ist.“ (S. 233)
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Schulman zeichnet mit wenigen Worten sensible, eigenwillige Charaktere, die jede:r für sich ungemein interessant sind, die Sorgen haben, Ängste, nach der Sicherheit suchen, die sie in jungen Jahren nie erhalten haben. Doch obgleich man sie fast zu atmen hören meint, konnte ich zu niemandem wirklich eine Verbindung aufbauen, fühlte ich mich seltsam entfernt - und doch so nah, es ist paradox, spürte ich manches doch so intensiv, als würde es mir selbst wiederfahren. Vielleicht, wer weiß, wollte mein Kopf mich schützen, dass ich mich nicht zu sehr in den Fallstricke verfange, hatte ich beim Lesen doch selbst den Halt verloren, hier, in meiner Welt. Was jedoch kritisch angemerkt werden muss, ist die Beschreibung von Yana, die des Öfteren lediglich über ihr Aussehen und ihre Körperform charakterisiert und somit beschämt wird. Das hätte schöner, anders gelöst werden können, hinterließ es doch einen bitteren Nachgeschmack. Was mich an "Endstation Malma" jedoch sehr begeistert hat, ist der besondere, thrilleresque Handlungsaufbau mit seinen zarten Überblendungen, und der sie verbindende Gedanke. Denn insbesondere darüber musste ich noch lange nachdenken.

Bewertung vom 19.09.2023
The Magic Border
Parks, Arlo

The Magic Border


gut

Zaghafte Striche auf dem Papier, die zu Buchstaben, zu Wörtern werden, Wahrheiten und Gedanken. Wortketten, die sich um das Herz gelegt hatten, sie lösen sich auf, fallen wie Herbstlaub aufs trockene Gras, auf die Seiten. Werden etwas Handfestes, werden sichtbar, diffundieren vom Innen ins Außen. Sie überschreiten die magische Grenze: „The Magic Border“.

Arlo Parks ist eine britische Singer-Songwriterin, die 2021 mit ihrem Debütalbum „Collapsed by Sunbeam“ weltweit bekannt wurde. Im Vorwort ihrer Sammlung von Gedichten und Fragmenten beschreibt sie, wie wichtig das Schreiben für sie ist, weil sie an einem Punkt feststellte, dass es ihr hilft, „[to] feel visible both to others and to myself“, dass alles Schwere leicht wird, einfacher; Schreiben erde sie, es sei der Schlüssel, zum Kern ihrer Persönlichkeit vorzudringen. Und doch gebe es Unterschiede zwischen dem Schreiben von Songs und Gedichten. Gedichte zu schreiben, das gehe tiefer, sei intimer: „Poetry was my place, my little clearing in the forest, where I could quietly put everything I was holding.“ (XIV)

"Walking by myself is the only thing that calms me down. The record is nowhere near finished and it's hurting me. I am what I make and sometimes I wish things were different." (Arlo Parks: Lanterns [Outside Tabaré])

Flüchtige Fragmente wechseln sich ab mit Songtexten, Fotografien, kurzen Gedichten; Licht- und Schattenwurf, inhaltlich wie gestalterisch. Über achtzehn Monate schrieb sie an den Texten, die von unerwiderter Liebe und Hingabe sprechen, von Hilfslosigkeit, Orientierungslosigkeit, von Trauma und Schmerz, psychischer Gesundheit. Um ein noch weiteres Bild zu erschaffen, sind der englische Originaltext und die klangvolle deutsche Übersetzung von Amanda Mukasonga gegenübergestellt, was hier sehr passend ist, bezieht sich Arlo Parks auf einige Namen und Orte, die ansonst nicht unbedingt nachvollziehbar wären. Ich mochte besonders die Songtexte gerne, ist es nochmal eine neue Art der Beschäftigung mit den Inhalten, wenn Melodie und Dynamik nicht vorgegeben sind und man selbst einen Klang entwickelt. Davon abgesehen waren die Texte und auch die Übersetzungen sehr fein zu lesen, mehr haben sie mir aber leider nicht gegeben.