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frau pelikan
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Rostock

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Insgesamt 51 Bewertungen
Bewertung vom 17.10.2023
Das Buch der Phobien und Manien
Summerscale, Kate

Das Buch der Phobien und Manien


sehr gut

Zu allererst einmal: Herzlichen Glückwunsch an den Verlag Klett-Cotta. Was für ein schönes Buch. Und zwar nicht nur von außen sondern auch von innen. Das kommt alles very, very British rüber. Und auch die Autorin, Kate Summerscale, ist ein durch und durch britisches Gewächs, mit kleinen Abstechern über den großen Teich. Für ihre zahlreichen Sachbücher hat sie bisher etliche Preise und Ehrungen erhalten.

Nun also ein Buch über Manien und Phobien, Obsessionen und Ängste, ein Kuriositätenkabinett, sauber nach Alphabet sortiert. Das könnte wie eine Anekdotensammlung klingen. Jeden Abend, vor dem zu Bett gehen, ein Kapitelchen, mit dem wohligen Schauer „Puh, wie gut, dass ich das nicht habe.“ Über „Puh, das könnte ja auch ich sein.“ Zu „Puh, das ist ja eins zu eins die Schwiegermutter, die Kollegin, der Gartennachbar.“

Auch dafür wäre dieser Band gut, aber schade drum wär’s. Denn in den Hinweisen zur Benutzung des Textes wird es ganz klar gesagt: Es handelt sich hier um ein gut recherchiertes und gekonnt geschriebenes Manual für den interessierten Laien über diverse psychische Störungen. Diese haben Krankheitswert, entweder für die Patientinnen und Patienten selbst oder für deren Umfeld, Familie, Freunde, Kollegen. Oft geht die Autorin lang zurück in die Erforschung und Systematisierung von verschiedenen Verhaltensweisen, hat aber auch immer unterhaltsame Fallbeispiele oder gegenwärtige Vertreter, die wir alle kennen.

Wichtig ist bei der Lektüre: Nicht zu viel auf einmal. Vorsicht auch an alle, die zur Hypochondrie neigen, sonst habt Ihr gleich jede Störung, über die Ihr gelesen habt. Und für die, die sich schadenfroh über die Bettdecke wälzen: Passt auf! Stichwort: Leidensdruck. In zwei Wochen wacht Ihr auf und reißt Euch die Haare vom Kopfe. Oder traut Euch nicht mehr aus der Haustür. Oder rennt panisch weg, wenn Ihr einen Luftballon seht. Und was dann?

Hippophobie – Geraskopie – Pyromanie - Monophobie - Trichotillomanie – Erotomanie - soziale Phobie - Oniomanie - ....

Bewertung vom 13.10.2023
Kajzer
Kaiser, Menachem

Kajzer


gut

Menachem Kaiser hat ein Buch geschrieben. Und weil er ein junger Wilder ist, muss er auf gar keine Regel achten. Über den Autor, seinen Hintergrund und seine Motivationen erfährt man mehr aus einem Interview, das der österreichische Standard am 7. Oktober 23 veröffentlichte (https://kurier.at/kultur/buch/menachem-kaiser-ueber-die-obsession-mit-nazi-geheimnissen/402604277).

Darin erleben wir einen jungen Menschen, Jahrgang 1985, der sehr entspannt, scheinbar wenig zielgerichtet und gerade zu ruckartig aus seiner Familiengeschichte berichtet. So wie Kaiser durch das Leben treibt, treibt der Stoff auch durch sein erstes Buch. Das ist für eine Leserin, die in „der Nation der Dichter und Denker“ in eine Rezeptionskultur und -geschichte eingeführt und auf diese geprägt wurde, eine ganz schöne Herausforderung. Weder geht die Causa stringent noch irgendwie logisch vonstatten. Was als Autofiction oder Biopic beginnt, müht sich bald, ein Sachbuch zu werden, um dann in eine Reihe geschwätziger Essays abzuschweifen, und das ist dann spätestens der Punkt, an dem Kaiser sich selbst fragt, ob er wohl gerade in einer soziologischen oder historischen Abhandlung sei. Der Autor hat kreatives Schreiben an der University of Michigan studiert, und zumindest das mit dem Kreativen scheint gelungen.

Steht man über diesen Ärgerlichkeiten, kann man sich selbst eine sehr interessante, wenn auch partiell aus dem Märchenreich zu stammen scheinende Geschichte zusammenbasteln. Als Kind fährt Menachem einmal im Jahr mit seinem Vater an das Grab des Opas. Nur an diesem Tag, niemals sonst, spricht dieser über seinen Vater. Einmal, ganz unvermittelt, erzählt der Vater, dass der Großvater lange Jahre seines Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg in Kanada damit verbracht habe, das Haus der Familie in einem kleinen polnischen Ort namens Sosnowiec, zurück zu erhalten. Recherchiert hat der alte Herr, nach Papieren und Fotos. Als der Enkel zufällig in Polen ist, fährt er spontan nach Sosnowiec. Doch auf dem Grundstück, auf dem das alte Haus stehen soll, steht ein Mietshaus, das ganz offensichtlich nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut wurde. Wenn man sich davon verabschiedet hat, eine irgendwie konsistente Handlung lesen zu können, egal ob erfunden oder historisch sauber recherchiert, dann hat der Text einzelne lesenswerte Blitzlichter.

Mit Freunden zusammen, sie geben vor, für ein Filmprojekt zu arbeiten, betritt Menachem das vermeintliche Haus des Großvaters und spricht mit einzelnen Bewohnern. Irgendwann später gibt es eine Passage, in der der Autor sich damit auseinandersetzt, wie es wohl sei, wenn man als Jude, dessen große Familie, selbst enteignet, deportiert und ermordet wurde, nun Jahrzehnte nach dem Holocaust in der Rolle der Enteigner wieder auf den Plan der Geschichte tritt.

Herrlich böse das Zusammentreffen des Autors samt juristischer Entourage mit verschiedenen polnischen Gerichten. Wäre das Thema nicht so emotional, könnte der Leser sich fast amüsieren. Jahre dauert es, und den Gang durch verschiedene Instanzen, bis klar wird, dass die polnische Gerichtsbarkeit sich nicht dazu durchringen kann zu erklären, dass Menachems Angehörige tot seien. Es gäbe schließlich Überlebende des Holocaust und keine Zeugenaussagen über das Sterben der Personen. „Wäre es bloß eine Überschwemmung gewesen, sagte ich zu meinem Vater. Dann wären sie tot.“

Der Autor findet durch Zufall die Spuren des Bruders seines Großvaters, der in Polen als Schatzgräber zu einer gewissen Bekanntheit gekommen ist. Großonkel Abraham Kajzer führt uns in die Relikte des Projektes "Riese", ein Bauwerk der Nazis, unterirdisch in der polnischen Natur, zum einen touristisch erschlossen, zum anderen verborgen im Untergrund. Vor allem aber: Ort der Präsentation von allerlei Schatzgut und Nazinippes. Und eine regelrechte Schatzsucher-Industrie. Das alles bleibt leider vollkommen unreflektiert. Hier wäre deutlich mehr Potential gewesen, aber: vielleicht im nächsten Buch.

Bewertung vom 04.10.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Nach gut fünf Jahren kommt Mitte Oktober ein neuer Titel von Daniel Kehlmann in den Handel. „Lichtspiel“ erscheint im Verlag Rowohlt. Einem großen Publikum wurde der Autor mit dem Roman „Die Vermessung der Welt“ im Jahr 2005 bekannt; in 2017 erschien „Tyll“, ein Buch, das von Kritik und Leserschaft gleichermaßen gemocht wurde.

In „Lichtspiel“ erzählt Kehlmann Teile der Lebens- und Schaffensgeschichte des Filmregisseurs Georg Wilhelm Pabst. Der berühmte „rote Pabst“ ist kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges vor den Nazis nach Kalifornien geflohen, vorher hat er etliche Jahre in Frankreich gearbeitet. Pabst hat zu Stummfilmzeiten mit den Größten gedreht, Greta Garbo, Asta Nielsen, Werner Krauß, Louise Brooks, Fritz Kortner, Carl Goetz. Die Garbo hat er entdeckt, für die Brooks hätte er seine Frau verlassen. Er dreht in der Liga von Lang, Murnau und Lubitsch. Nun sucht er in der kalifornischen Hitze Geld für seine neue Filmidee und findet „the American Way of Life“ einfach grauselig. Komplette Ahnungslosigkeit wird in der Regel mit lauter Begrüßung kaschiert: „Oh, the famous Pabst, you are the one who did „Metropolis“! Nein, das war Fritz Lang. Schließlich wird Pabst in ein schlechtes Drehbuch gedrängt. „A Modern Hero“ wird ein Flop. Neue Projekte sind somit in weiter Ferne. Ein Exilantenschicksal wie Tausende andere. Wie zum Beispiel Alfred Döblin und Lion Feuchtwanger, die großen Dichter, die zur gleichen Zeit in den Büros der großen Produktionsstudios sitzen und dazu angestellt sind, geistlose Dialoge zu schreiben.

Doch Pabst ist ein tragischer Held. Ein manischer Künstler, ein Genie, das nur zum Leben erwacht, wenn es kreativ tätig sein kann. Und das unbeugsam, nur zu seinen Konditionen. Wider alle Vernunft geht die Familie Pabst zurück nach Europa. Nach Frankreich, vielleicht in die Schweiz, Filme drehen, Geld von verschiedenen Konten holen, danach eventuell wieder in die USA, er ist ja mit allen Papieren ausgestattet. Und dann wird dieser Spuk in Deutschland auch vorbei sein. Allein an den Franzosen wird Deutschland sich im Kriegsfall die Zähne ausbeißen.

Die Familie fährt nach Schloss Dreiturm, (das ganz ohne Türme auskommt), in der Ostmark, im Dorf Tillmitsch. Das Schloss gehört dem Regisseur, ein Erwerb aus besseren Zeiten. Da hat allerdings inzwischen die Hausmeisterfamilie das Regiment übernommen, die Naziuniform wird mit Stolz getragen. Als G.W. und seine Frau Trude endlich entscheiden, das deutsche Einflussgebiet zu verlassen, beginnt Hitler den Krieg. Die Grenzen zu, keine Züge, die Papiere nutzlos. Als das Regime nach dem berühmten G.W. Pabst greift, kann dieser sich nicht entziehen. Unter immer schwieriger werdenden Bedingungen dreht Pabst nun auf Geheiß der Machthaber Film um Film.

Nur, wenn er ein Projekt hat, erwacht er zum Leben, ansonsten ist er geistig abwesend, sitzt in der Bibliothek, macht lange Spaziergänge. Man schickt ihn zur Unterstützung als Leni Riefenstahl versucht, ihr Projekt „Tiefland“ zum Ende zu bringen. Pabst soll „sich um die Gesichter kümmern“. Die Regisseurin ist auch ihre eigene Hauptdarstellerin. Bei einem Flamenco hat G.W. den Eindruck, sie wirbele so steif mit den Armen umher als wolle sie eine Fliege verscheuchen.

Für das letzte große Projekt während des Krieges, muss die ganze Truppe aus Sicherheitsgründen nach Prag gehen. Gedreht wird „Der Fall Molander“, ein Drehbuch, das Pabst aus dem Unterhaltungsroman eines Nazi-Günstlings herausgeschnitzt hat. Das Regie-Genie arbeitet auch hier wie besessen, doch wenn die Scheinwerfer ausgehen, fällt er in sich zusammen „wie ein Kostüm, dass keiner trägt.“

Bis dahin ist „Lichtspiel“ ein spannendes Buch, lehrreich und unterhaltsam, detailreich und akribisch recherchiert. Vielleicht sagt der ein oder andere: „Hmmm, da hätte ich mir einen Tick mehr erwartet.“ Und genau diese Leser werden im letzten Viertel des Buches belohnt. In einem kathartischen Höhepunkt verschmelzen Literatur und Film, Realität und Erdachtes.
Die kleine und große Wortgewalt des Autors und vielleicht seine Nähe zum „besessenen Genie“, vermögen es, in einer einzigen Szene, Tempo, Rhythmus und inneres Erleben, das Finale des Kampfes zwischen Kunst und Macht, meisterlich darzustellen.

Bewertung vom 11.09.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


sehr gut

„Alles hin.“ Die Mutter, das Geld, das Leben.

Ich bin eine Nicht-Haasianerin. Denn beim Haas ist das so: Man liebt das, oder man hasst das. Ich gehöre zur letzteren Kategorie. Diese Krimi-Reihe, in der immerzu alles Mögliche im Vordergrund steht, nur nicht der Fall. Diese Ermittlerfigur, dieses ganze Wienerische, dieser für hochdeutsche Zungen nicht zu entschlüsselnde Dialekt, dieses bräsige Erzähltempo. Diese Schachtelsätze von oben links nach unten rechts, mit den komplett gar nicht nachzuvollziehenden Gedankenpurzlern irgendeiner abseitigen Nebenfigur. Doch - da ich sozusagen umzingelt bin von Haas-Groupies und –Groupisten, habe ich in den letzten Jahren immer wieder Rezeptionsversuche unternommen. Ohne Erfolg.

Nun also ein „Mutter-Roman“, ein schmaler Band Autofiktion. Sterbende oder dahin- siechende Eltern sind als Sujet ja gerade nah am Zeitgeist. Die erfolgreich schreibende Zunft dieser Tage kommt oft aus den Jahrgängen 1955 – 1975, da ist das fällig. Wie nun also hier.

Der Plot: Mutter Haas, Mitte neunzig, stirbt. Sohn Wolf ist in der Nähe, auch der ältere Bruder hält sich bereit. Mutter und Sohn erinnern sich an das Leben, manchmal gemeinsam, manchmal getrennt. Mutters leben war geprägt von Arbeit und Armut, vom Krieg und der Arbeit im und nach dem Krieg. Eine kluge Frau, aber vor allem auch eine schlaue und mutige, die wir in der Rückschau gut kennenlernen.

Der Rahmen: Während Wolf auf Exkursion in das Leben seiner Mutter geht, auf Briefe und Fotos stößt, drückt ihn der Gedanke, dass er eine Poetikvorlesung zugesagt habe, für die es zurzeit nicht mehr gibt als einen kargen Titel: „Kann man vom Leben schreiben?“. Nur wenige Seiten später gibt es schon die Titel zu drei Kapiteln. 3. Kapitel: Die Aufgeblasenheit der Literatur. Diese Ausführungen bekommen wir nicht zu lesen, denn aus dem Off des Autors brüllt der berühmte österreichische Dichter und Schriftsteller Ernst Jandl dem Haas ins Ohr: Lass weg, Haas.

Das nimmt der sich zu Herzen, und es entsteht ein Roman, ein Brief des Sohnes an die Mutter, in dem alles beglückend knapper dasteht als es könnte. Von vorn nach hinten ist der Text wie ein Obstsaft auf dem Herd, der binnen dieser knapp 160 Seiten zum Sirup, zur Essenz einkocht. Man bekommt einfach die Abschleckfinger nicht aus dem Topf. Worte wie ein Linolschnitzmesser, böse Spiele mit der Sprache und dem Dialekt, und der Kampf um die Quadratmeter. Da sparst du, dann kommt die Inflation und alles ist weg. Nun, zum Schluss hat Mutter ihre Quadratmeter: 1,7 in ihrem eigenen Grab.

Bewertung vom 13.08.2023
Die Akte Madrid / Lennard Lomberg Bd.2
Storm, Andreas

Die Akte Madrid / Lennard Lomberg Bd.2


gut

Nach getaner Lektüre habe ich mich schwergetan, etwas zu diesem Buch zu schreiben, das die Leserin oder den Leser auch „informierter“ macht. Also habe ich den Computer befragt, ob er wohl noch meinen Text zum ersten Band der Reihe „Das neunte Gemälde“ aufbewahrt habe. Hatte er.

Ich schrieb: „Schon bevor Autor und Verlag wissen, ob der Erstling beim Lesepublikum Gefallen findet, wird schon eine ganze Serie angekündigt. Und so sind die Handlungen und vor allem das Personaltableau dann auch angelegt.“ Check.

„Die Akte Madrid“ hat die offensichtliche Stammbesetzung: Lennard Lomberg, Kunstsachverständiger und Amateurdetektiv, seine Tochter Julie und seinen guten Freund, Peter Barrington. Für die Übersicht über alle anderen Personen gibt es im Anhang ein Personenverzeichnis. Dringend notwendig. Die Figur Lomberg hat im zweiten Band eine Entwicklung gemacht. Die bloße Kunstexpertise reicht ihm nicht mehr, dieses Feld überlässt er mehr und mehr seiner Assistentin, auch diese Figur wird sicherlich im dritten Band mehr in den Vordergrund rücken. Auch Tochter Julie wird präsenter.

„Protagonist des „Neunten Gemäldes“ ist ein Bild. … Und es übt einen ungemeinen Reiz auf jeden Betrachter aus.“ Check.Protagonist der „Akte Madrid“ ist ein Bild. Tormento in ciernes – Ein Sturm zieht auf.

„Doch, um die Handlung in Gang zu bringen, braucht es erst einmal eine Leiche.“ Das ist im Nachfolger, der überhaupt sehr un-gewalttätig und in der Gegenwart leichenfrei ist, anders. Hier ist es der Diebstahl eben jenes Tormento in ciernes der Trigger. Und natürlich, eine verschwiegene Stimme aus dem Hintergrund, die uns in die Bundespolitik der Gegenwart führt.
Auch im Folgeband arbeitet Storm wieder auf drei Zeitebenen 2016, 1968, 1943.

„Nach und nach setzt sich das Puzzle zusammen. Und hier muss der Leser wirklich am Ball bleiben. Die Anzahl der Figuren, die entweder auf- und dann gleich wieder abtauchen oder aber vom Autor durch alle drei Zeitebenen geführt werden, ist unglaublich hoch.“ Check. Warum greift denn da kein Lektor ein? Das Streichen von drei oder vier Handlungsschleifen machte das Buch nicht schlechter sondern wahrscheinlich besser.

Im „Neunten Gemälde“ geht es um ein Gemälde, das beim letzten Zusammensein der Freunde Picasso, Braque und Derain. In der „Akte Madrid“ geht es um ein Gemälde, dass das letzte Zusammensein von Salvador Dalí, Luis Buñuel und Federico García Lorca zeigt.

„Mit Spannung und üblem Erwachen kann der Leser dann in den 1966er Abschnitten verfolgen, wie nahtlos Personen, Funktionsträger und ganze Eliten vom Dritten Reich in das schöne, neue Westdeutschland rutschen. In Behörden und Ministerien – bis ganz nach oben. Und Rache ist eine Mahlzeit, die am besten kalt genossen wird.“ Check. Dieses Mal nur in 1968.

„Am schwächsten ist dem Autor die Gegenwartsschiene geraten.“ NICHT Check. Die Gegenwartsschiene ist in diesem Band deutlich plastischer als im Erstling. Lomberg ist professioneller, weniger exaltiert. Es gibt ein paar sehr starke Frauenfiguren, von denen, wie schon gesagt, einige das Potential zur Entwicklung haben.

Lieber Herr Storm, für den dritten Band soll es nach UK gehen. Wir haben die Reißbrett-Vorlage jetzt erkannt. Bitte also nicht ein drittes Mal. Aber, für den Spätsommer und lauschige Abende ist "Die Akte Madrid“ eine unterhaltsame Lektüre, die die Leserin oder den Leser nicht dümmer macht.

Bewertung vom 01.08.2023
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


ausgezeichnet

„Manchmal ist das Beste, worauf man hoffen kann, ein kleiner Moment des Friedens und eine kleine Gnade“.

Dieses Buch kennt keine Gnade. Es fühlt sich an als bisse man mit vielen Amalgam-Füllungen im Mund in eine Kugel aus Alufolie. Es ist wie ein schwerer Unfall auf der anderen Seite der Autobahn: Man will nicht hingucken, kann aber den Blick nicht abwenden, das Buch nicht weglegen.

Das Setting ist schnell beschrieben. Der Roman spielt im Jahre 1974 in Boston. Das ist das Jahr des Rücktritts von Richard Nixon vom Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten wegen der Watergate-Affäre, das Jahr des Rücktritts von Willy Brandt als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wegen der Affäre Guillaume und das Jahr von „the Rumble in the Jungle“ zwischen Muhammad Ali und George Foreman in Zaire.
Und es ist das Jahr von Rassenunruhen zwischen Afroamerikanern und Weißen in Boston. Ein Gericht dort hat geurteilt, dass entgegen den Bestimmungen der amerikanischen Verfassung in öffentlichen Schulen de facto noch Rassentrennung herrscht. Also sollen zum neuen Schuljahr Busse weiße Kinder zu schwarzen Schulen und schwarze Kinder in weiße Schulen bringen. Das Fachwort für diese Maßnahme lautet: „Desegregation busing“.
Die Stadt ist in Aufruhr. Überall sammelt sich Protest. Schilder werden gemalt, Demos organisiert. Die Gewalt, die kommen wird, ist schon mit Händen zu greifen. Der Autor, der zu diesem Zeitpunkt als neunjähriger Junge in seiner Familie mit irischen Wurzeln in Boston lebte, erinnert sich lebhaft. Er habe deswegen auch nicht all zu viel für diesen Plot recherchieren müssen, seine eigenen Erinnerungen waren stets präsent.
Im Mittelpunkt des Plots steht vom Anfang bis zum Ende Mary Pat Fennessy. Mary Pat wohnt mit ihrer Tochter „Jules“, eigentlich Julia im Stadtteil Projects. Einem weißen Stadtteil! In Projects hat jeder einen Spitznamen und niemand Geld. Auch Mary Pat nicht, obwohl sie zwei Jobs macht. Das Viertel wird von Gangs, Gangstern und Gewalt beherrscht. Überall ist Hass und Diskriminierung. Die Polizei tut entweder nichts oder steht auf der Payroll der Mörder, Dealer, Waffenhändler. Mary Pat’s erster Mann ist verschwunden, der zweite hat sie gerade verlassen, ihr Sohn war in Vietnam und ist später zuhause an Drogen krepiert. Jules ist ihre ganze Familie, und eines nachts kommt die 17jährige nicht mehr nach Hause.
„Und sie weiß, dass ihre Tochter tot ist.
Sie weiß, ihre Tochter ist tot.“

Mary Pat nimmt die Dinge selbst in die Hand. Sie zieht in den Krieg gegen die Mörder ihrer Tochter. Sie hat niemanden mehr zu verlieren. Sie vergilt Gewalt mit Gewalt. Brutal und planvoll. Manchmal spricht sie mit dem Polizisten Bobby Coynes. Dann blitzt sie auf, diese Sekunde der Gnade, aber eben nur eine Sekunde, keinen Deut länger. Am Ende sehen wir eine Tragödie Shakespear’schen Ausmaßes. Wer nicht im Knast sitzt, ist tot.

Einer der Gangster kommentiert es so: „Jemanden umbringen ist wie Schneeschaufeln – ich mach’s nicht gern, aber es muss getan werden.“

Bewertung vom 24.07.2023
Der Frühling ist in den Bäumen
Revedin, Jana

Der Frühling ist in den Bäumen


gut

Von heute aus gesehen, ist das, was Jana Revedin auf den ersten Seiten ihres Buches beschreibt, ganz und gar unfasslich. Ein Ehemann vergewaltigt seine Frau. Aber nicht einfach mal „nur so“ sondern planmäßig, um seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Dazu lädt er auf einem Kongress ein befreundetes Paar ein, betäubt seine eigene Ehefrau, und es gibt einen Dreier plus der willenlosen Gattin, an der die anderen sich vergehen.
Dummerweise wird das Opfer am folgenden Morgen zu früh wach und begreift, was geschehen ist. Als Renina Dietrich, so ist ihr Name, ihren Mann Fred damit konfrontiert, reagiert der mit Herablassung und verbaler Gewalt. In Zeiten von # me too, Gleichberechtigung und scharfem Umgang mit jeglicher Art von sexueller Gewalt, wissen wir alle, was als Nächstes passiert. Vor 70 Jahren gab es für das Opfer nur zwei Möglichkeiten: in den See gehen oder den Mann um die Scheidung bitten. So die Rechtslage. Um dann „schuldig“ geschieden zu werden. Was für eine Schmach! Was für eine Rufschädigung. Renina, denk‘ an den Verlag, denk‘ an die LADY. So warnt sie sinngemäß ein guter Freund.
Konstanz am Bodensee, 1. Mai 1953. Im Inselhotel findet ein großer wissenschaftlicher Kongress statt, zu dem Fred Dietrich mit seiner Frau Renina angereist ist. Sie leben zwar ganz in der Nähe, sind aber wegen der informellen Kontakte mit den Kollegen aus der ganzen Welt für diese Tage in das Hotel gezogen. Der Höhepunkt des Abends soll das Konzert eines japanischen Wunderkindes sein, es gibt Mozart, was sonst.
Der größte Teil der Handlung spielt an diesem Feiertag, doch jegliche James-Joyce-Parallele ist strikt verboten. Renina ist 24 Jahre jung, war die jüngste Assistentin des berühmten Philosophen Martin Heidegger und somit die Nachfolgerin von Hannah Arendt. Nun ist sie auf dem Weg, ihre erste eigene Zeitschrift, ein Blatt für die neue Frau, die LADY im Verlag ihres Vaters herauszugeben. Was soll das für eine Zeitschrift sein? „ … sie wäre ein Fenster, durch das man eine schöne, aber auch gefährliche, eine tragische, aber auch hoffnungsvolle, kurzum, eine ergreifende, reale Welt betrachten könnte. Oder sogar eine Tür, durch die viele Frauen gehen könnten, in eine Wirklichkeit, die auf sie wartete …“. Der Titel des Leitartikels, den Renina am Nachmittag geschrieben hat, lautet bedeutungsvoll: „Wer lehrt uns Nein-Sagen?“
Was könnte also aus dieser Konstellation für ein spannendes, Erkenntnis förderndes Stück Literatur werden. Wird’s aber nicht. Der Text springt als sprichwörtliche Tiger los, um sich sturzflugartig zum Bettvorleger zu wandeln. Ein einziges Mal wird Martin Heidegger paraphrasiert: „Faseln sie nicht herum, kommen sie zum Punkt. Ein Satz, ein Gedanke.“ Schade. Das hätte dem Plot gut getan. So verplaudert die Autorin die Brisanz des Stoffes unter anderem durch einen elend langen Exkurs in die Reiterei, in die Songtexte von Ella Fitzgerald, Studien der Konstanzer Gesellschaft und ein künstlich konstruiertes Geflecht (offensichtlich von keinem Lektor bemängelt) von Name Droppings, in dem Erica Taut, Christian Dior und Konrad Adenauer sich quasi die Klinke in die Hand geben. Und eine Schuss Sartre darf natürlich auch nicht fehlen. Autofiktion kann eine gute Methode sein, um Literatur zu erzeugen. Muss aber nicht.

Bewertung vom 28.04.2023
Wenn Worte töten / Hawthorne ermittelt Bd.3
Horowitz, Anthony

Wenn Worte töten / Hawthorne ermittelt Bd.3


gut

„Seit Lucrezia Borgia bin ich die Frau,
die am meisten Menschen umgebracht hat,
allerdings mit der Schreibmaschine.“

Agatha Christie (1890-1976)

Death by text

Häufig geht es in dieser Rubrik um das Ernste und das Tiefe in der Literatur, um die Komposition von Worten und Sätzen, um Weltgeschichte, Politik und Provinz, um Liebe und Tod. Jetzt mal nicht so.

Um den Tod, genauer gesagt: den gewaltsamen Tod, geht es in „Wenn Worte töten“ von Anthony Horowitz auch. Aber der wird bald zur Nebensache, je schneller und gründlicher der Leser in diesem Buch versinkt. Das hier ist einfach „nur“ ein äußerst unterhaltsames Lesevergnügen.

Anthony Horowitz ist in Großbritannien einer der bekanntesten Autoren der Gegenwart und ein medialer Tausendsassa. Er wurde 1955 in der Grafschaft Middlesex geboren und lebt heute mit seiner Familie in London.

Er schreibt Bücher für Jugendliche und Erwachsene, Drehbücher für TV-Serien, Theaterstücke sowie Filme und ist auch als Journalist tätig. Auf seiner Werkliste stehen weit mehr als 40 Bücher, darunter die Bestseller-Jugendserie „Alex Rider, für deren Verfilmung er auch die Drehbücher schrieb. Außerdem ist er u.a. Autor mehrerer Folgen der auch in Deutschland sehr beliebten Serie „Inspector Barnaby“ (Original: The Midsomer Murders). Von den Nachfahren Sir Arthur Conan Doyles (The Conan Doyle Estate) und dem Verlag Orion Books erhielt er den Auftrag, zwei neue Sherlock Holmes Romane zu schreiben. Daraufhin erschienen „Das Geheimnis des weißen Bandes“ und „Moriarty“ auch in Deutschland. Einige Folgen der Sherlock Homes Verfilmungen mit Benedict Cumberbatch sowie die zurzeit auf ONE laufenden Folgen „Agatha Christies MARPLE“ gehen auf sein Konto. Ebenso schrieb er den James-Bond-Roman „Trigger Mortis“, der 2015 erschien.

Die Hawthorne-Reihe geht: „Ein perfider Plan“, „Mord in Highgate“, „Wenn Worte töten“. Jedes Buch steht für sich und funktioniert auch ohne Kenntnis der Vorgänger, aber kuscheliger wäre eine chronologische Reihenfolge schon. Man versteht einfach bestimmte Anspielungen besser.

Das Ganze funktioniert nach der guten, alten Sherlock Holmes Methode, ein klassischer Who Dunnit. Weswegen an dieser Stelle auch nicht allzu viel über die Handlung verraten wird.

Horowitz und Hawthorne werden zu einem Literaturfestival auf die Kanalinsel Alderney eingeladen. Ein ganz neues Event, gesponsert von einem Menschen, der sein Geld mit einem Internet-Casino gemacht hat. Und ein Sympath ist dieser Charles Le Mesurier auch nicht. Aber, die illustre Runde der eingeladenen Schreiberlinge, die in der Zusammenstellung ein bisschen wie von „Rudis Resterampe“ eingekauft wirkt, steht ihrem Gastgeber in fast nichts nach. Fast niemand ist, wie er oder sie scheint. Und das Geschäft mit der Literatur ist durchaus brutal merkantil.

Horowitz ist auch nicht amused, weil Hawthorne ihn bei jeder Möglichkeit aussticht. Alle wollen „den echten Detektiv“ sehen und sprechen; der „Jugendbuchautor“ in seinem Schlepptau ist nicht mehr als ein lästiges Anhängsel. Eitelkeit und Selbstwert sind böse, aber sehr schön selbstironisch gekränkt. Die Dinge nehmen ihren Lauf und am Ende stehen wir amtlich mit drei Leichen knietief im Blut.

Das ist keine Literatur, aber ähnlich unterhaltsam geschrieben wie Martin Suters Texte. Horowitz weiß, wozu Adjektive gut sind, und er benutzt sie reichlich. Er beschreibt Natur und Menschen sehr pointiert. Auch die Insellage kommt dem Plot zugute. Abgeschiedene Orte, in denen sich die Verdächtigen gegenseitig belauern, und die Situation nicht verlassen können, sind immer von Vorteil. Bald ergibt sich ein Netzwerk von Verbindungen, Lügen, (falschen) Alibis, Seitensprüngen, Neid und Eifersucht, das sich wirklich erst auf den letzten Seiten löst.

Eine passende Lektüre für die anstehende Urlaubssaison.

Bewertung vom 09.04.2023
Samuels Buch
Finzi, Samuel

Samuels Buch


sehr gut

Sein „Schreibpate“ ist Maxim Biller. Was kann da schief gehen?

Als Samuel vor einigen Jahren einen Geburtstagstext für den Regisseur Dimiter Gotscheff schrieb, dieser (der Text) es auf merkwürdige Art bis in die Zeitung schaffte und dort unter Literaturverdacht geriet, riet Maxim Biller seinem Freund Samuel, er solle schreiben. Das Cover des Buches ist beredt: Samuels Kopfstand auf einem Foto, das Kopf steht. Umringt von lustigen jungen Menschen macht es den Eindruck als trüge er wie Atlas die Last der Welt.

Als Samuel nach zwei Jahren das Schauspielstudium an der Hochschule in Sofia abbrechen will, ist der Professor fassungslos und sagt, er wüsste genau, dass Samuel das Zeug zum Regisseur hätte, und er solle doch bleiben. Jetzt, wo alles anders würde! Ein paar Wochen später landet Finzi in Berlin.

Dies ist nicht der Anfang des Buches sondern das Ende. Bis dahin haben wir den kleinen Sancho, so sein Spitzname, durch Kindheit und Jugend begleitet. Durch den real existierenden Sozialismus der Marke „Balkan“. Durch glühend heiße Sommer auf dem Land, durch ein rätselhaftes Gewirr an Familien-bande(n), durch Freundschaften und Verbindungen, aber auch den unvermeidlichen Antisemitismus.

Samuel wächst beschützt und lange Zeit als Einzelkind auf, seine Mutter war bis zu seiner Geburt eine gefeierte Konzertpianistin, sein Vater Schauspieler mit einigem musikalischem Gespür. Er lebt zwischen Büchern, Mutters Flügel, Vaters Geige und dem Theater. Bei jeder Gelegenheit verschwindet er ins Kino.

Finzi schreibt aus der Küche seiner Berliner Wohnung. Deren Terrazzoboden, den er etüdenartig immer wieder beschreibt, erdet ihn einerseits, andererseits ist er die Startbahn für Erinnerungsreisen in die 70er und 80er Jahre Bulgariens, einem Land, über das wir ehrlich gesagt, alle nicht so viel wissen.

Der Text ist mit „autobiografischer Roman“ bezeichnet, will also vielleicht sagen: Das Meiste ist realistisch, über manches ist vielleicht auch der Weichzeichner drüber gegangen. Vor allem ist aber der Anekdotenstilist dabei gewesen. Jedes der kurzen Kapitel hat mindestens eine Pointe. Finzi weiß instinktiv, wann er aufhören muss. Oft genug bricht der Text im Mittendrin ab, mehr muss nicht sein. Alles Weitere ist im Kopf des Lesers.

Herrlich, wie Samuel und seine Eltern auf einer Reise durch Europa, Devisen sind knapp, sich die Zerstrittenheit des Clans, des der Finzis und des der Fintzis, zunutze machen. Bittersüß, als Samuels Vater an Montmarte die Geige auspacken muss, den Kopf in einem Schuhkarton versteckt. Aus Angst vor verräterischen Landsleuten. Bitter die Erzählungen um den zweijährigen Wehrdienst, den auch Samuel absolvieren muss.

Dreißig Jahre nach dem Ende des Ostblocks tut es uns gut, wieder einmal zu hören, wie anstrengend es war, sich durch die Hürden des Alltags zu schlagen, wie sehr man sich vor geparkten schwarzen Autos und den Kleiderständern darin in Acht nehmen musste. Eine Mahnung an uns Gegenwärtige, gerade in diesen Tagen. Obwohl die bulgarische Spielart im Gegensatz zum Beispiel zur ostdeutschen an manchen Stellen entspannter gewesen zu sei scheint.

Heute kennen wir ihn als gefeierten Bühnen- und Filmdarsteller. Als Ensemblemitglied des Deutschen Theaters in Berlin und der Wiener Burg. Als Flemming bewies er seine Serientauglichkeit und als Carlos in den Allmen-Verfilmungen besteht immer mal wieder die Gefahr, dass er seinem Freiherren die Show stiehlt.

In einer der Kritiken, die ich zur Recherche gelesen habe, wird eine Fortsetzung ins Spiel gebracht, da schließen wir uns gern an.

Bewertung vom 20.03.2023
Mythen und Sagen der Griechen
Seelert, Sylvia

Mythen und Sagen der Griechen


sehr gut

Aus dem Pappumschlag fiel ein Buch – ein blaues Buch. Von außen und auch innen. Versprochen wird: Eine fesselnde Reise durch die griechische Mythologie. Für junge Menschen. Leider gibt es nirgends eine Altersangabe. Der Verlag sagt: Zum Vorlesen und Schmökern. Oh ha, ich weiß nicht, ob ich einem Kind, das selbst noch nicht lesen kann, die Geschichte vom kleinen Hermes vorlesen will, der eine Schildkröte tötet, um daraus seine erste Lyra zu bauen. Und das ist nicht die schlimmste Grausamkeit, die das „gewitzte Kerlchen“ im Portfolio hat. Aber, daran müssen wir uns eben gewöhnen, auf und um den Olymp ging es damals durchaus handfester zu als heute unsere verweichlichten Gemüter so gewohnt sind.

Wir haben also hier den legitimen „Alters-Vorläufer“ zu Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“. Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die sich mit den blanken Texten im Schwab’schen gedrechselten Deutsch der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert schwertun. Und das sind garantiert mehr als es zugeben, denn mal ernsthaft: Wer von Euch hat den Schwab, den er oder sie im Buchregal stehen hat, auch von vorn nach hinten durchgelesen?

Der vorliegenden Band ist viel freundlicher gestaltet. Man merkt sofort, dass da jemand schreibt, die ihre Zielgruppe genau vor Augen hat. Sylvia Seelert ist im echten Leben Kulturmanagerin und betreibt www.mythentor.de. Sie hat also Routine im „Übersetzen“ der antiken Mythen in eine heutig konsumierbare Form und Sprache. Und so beherbergt das Buch im Grunde eine Reihe von spannenden Abenteuergeschichten, verwickelten Detektivgeschichten und natürlich auch viel Herzschmerz. Wir hören vom Kampf der Titanen und Giganten, lesen die Geschichte von Daidalos und Ikaros und ziehen zum Trojanischen Krieg ins Feld. Und merken dabei, wie sehr die antike Welt bis heute in unserer Sprache geborgen ist. Wir kennen alle die Redewendung vom „Trojanischen Pferd“, sind alle schon einmal vor dem „zu hoch fliegen“ gewarnt worden, und „Ödipuskomplexe“ durchziehen unser Leben.

Um das für uns verständlicher zu machen, gibt es eine Einführung in die Götterwelt, in der die Autorin erklärt, was zum Beispiel einen Mythos von einer Religion unterscheidet, welche Gottheit welche Zuständigkeiten zugeschrieben bekommen hat oder wie olympische Verwandtschaftsverhältnisse entstanden sind. Mit den Illustrationen und Schautafeln wird das alles anschaulich, und wir können immer wieder nachschlagen, wer da eigentlich wie mit wem verwandt ist.

Ein Buch wie ein Tor zu einer vergangenen Welt.