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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Tasha
Wohnort: 
Braunschweig

Bewertungen

Insgesamt 47 Bewertungen
Bewertung vom 18.09.2022
Yadriel und Julian. Cemetery Boys
Thomas, Aiden

Yadriel und Julian. Cemetery Boys


sehr gut

Julian hat keinen größeren Wunsch als ein Brujo zu werden, wie alle anderen männlichen Mitglieder seiner Familie. Diesen Status zu erlangen würde bedeuten, dass er Geister von Verstorbenen beschwören und an sich binden kann. Außerdem kann er sie zu gegebener Zeit von dieser Welt erlösen und sie ins Jenseits schicken. Frauen hingegen können Brujas werden, die die Fähigkeit haben, zu heilen. Doch Yadriels Vater, der kaum Verständnis für seine trans Identität aufbringt und sich nicht damit auseinanderzusetzen will, ist dagegen, dass er sich dem notwendigen Ritual vor Lady Death unterzieht. Also nimmt Yadriel kurz vorm Tag der Toten die Sache selbst in die Hand und bittet gemeinsam mit seiner Cousine Maritza Lady Death persönlich, ihn zu einem Brujo zu machen. Sie gewährt ihm seinen Wunsch.
Noch in der gleichen Nacht stirbt Yadriels Cousin Miguel, doch die Brujos können weder seinen Geist noch seinen Körper finden. Und dann beschwört Yadriel aus Versehen den Geist des rebellischen Julian, der gerade verstorben ist. Und auch er weiß nicht, wer für seinTod verantwortlich ist.
Die Rätsel bieten den Hintergrund für Yadriels Entwicklung und zeigt wie er immer mehr zu sich selbst findet. Die Geschichte nimmt sich Zeit für Innensichten und Gespräche, lässt einen mitverfolgen, wie Yadriel wächst. Ebenso wunderbar fand ich die Darstellung von Yadriels lateinamerikanischer Bruhx Familie mit ihren Geschichten und Ritualen, in der er schließlich seinen Platz findet. Die Beziehung zwischen Yadriel und Julian entwickelt sich langsam und ist von Respekt und Wertschätzung geprägt. Hin und wieder gab es für mich kleine Längen, aber ich empfinde diesen Roman als ein sehr wichtiges Werk mit viel Identifikationspotential. Die Stimmung rund um den Dia de Muertos ist unglaublich gut eingefangen. Bis auf ein Detail fand ich das Ende wundervoll.

Bewertung vom 29.07.2022
Die Welt vor den Fenstern
Beek, Tatjana von der

Die Welt vor den Fenstern


sehr gut

In Tatjana van der Beeks "Die Welt vor den Fenstern" begegnen wir der jungen Maia, die mit ihrer Familie ein Haus in den Wäldern bewohnt. Ihr gesamtes Leben spielt sich zwischen diesen vier Wänden ab, die sie noch nie verlassen hat. Außer ihr leben dort ihre Großmutter, ihre Mutter, ihre Tante, ihr Onkel und ihre Cousine Alrischa. Sie alle sind nach Sternen benannt und um diese und ihre Vorfahren ranken sich auch die Mythen und Geschichten die im Haus erzählt werden. Laut den Erwachsenen wächst alles, was sie benötigen im Haus. Es gibt fest verteilte Aufgaben und Rituale, von denen nicht abgewichen wird.
Maia ist klug und lernt schnell, und ihre Großmutter überträgt ihr immer mehr Aufgaben im Gefüge. Doch Maia kommt der Verdacht, dass nicht alles, was ihr erzählt wird die Wahrheit ist und sie entdeckt immer mehr Unstimmigkeiten in ihrer Welt. Außerdem gibt es Hinweise, dass das Haus einst noch andere Bewohner hatte, von denen sie nicht weiß.
Von Anfang an fesselt der Roman mit einer bedrohlichen Stimmung, trotz der eigentlich friedlichen und fest strukturierten Situation im Haus. Es hat mir extrem gut gefallen, wie man die klaustrophobische Stimmung als Leser*in fühlen konnte. Stets hat man das Gefühl, dass noch etwas düsteres im Verborgenen liegt. Auch die Stimme der jungen Protagonistin fand ich überzeugend. Man spürt ihre Unsicherheit, tastet sich mit ihr näher an die Wahrheit heran.
Einziges Manko für mich war, dass die Beschreibungen der Rituale manchmal sehr lange gedauert haben und extrem detailliert waren. Das Ende hingegen kam abrupt und ich kann nicht leugnen, dass ich mir hier noch die ein oder andere Erklärung gewünscht hätte.
Erwähnen möchte ich, dass mir die Gestaltung und insbesondere das Cover unheimlich gut gefallen haben.

Bewertung vom 20.07.2022
Eine Nebensache (eBook, ePUB)
Shibli, Adania

Eine Nebensache (eBook, ePUB)


sehr gut

Eine Nebensache" von Adania Shibli gehört zu diesen Romanen, die ich so sehr bewundere, weil er extrem kurz ist und dennoch eine Wucht hat, von der ich weiß, dass sie mir im Gedächtnis bleiben wird. Im August 1949, ein Jahr nach der Gründung des Staates Israel, kommt es in der Negev Wüste im Lager israelischer Soldaten zu einer Vergewaltigung eines Beduinenmädchens. Viele Jahre später liest eine junge Frau aus dem palästinensischen Ramallah einen Zeitungsartikel, der dieses Ereignis schildert. Da er sich auf den Tag genau 25 Jahre vor ihrer Geburt ereignete, wird ihr Interesse geweckt und sie begibt sich auf Spurensuche und dabei in Lebensgefahr. Denn um ihre Nachforschungen zu betreiben, muss sie sich mit einem geliehenen Ausweis in schwer bewachte Gebiete begeben.

Im ersten Teil, begleiten wir einen israelischen General, der von einem Skorpion- oder Spinnenbiss vergiftet wurde. Mit großer erzählerischer Distanz, fast schon Kälte, beobachten wir, wie es zu der Vergewaltigung des jungen Mädchens kommt. Aber gerade diese scheinbare Emotionslosigkeit im Erzählen ist es letztlich, die Lesende mitnimmt, Gefühle von Erschütterung und Abscheu entstehen lässt.
Der zweite Teil, in welchem es darum geht, inwieweit es möglich ist, Ereignissen aus der Vergangenheit nachzuspüren, hat mir viel Konzentration abverlangt und ich habe mich manchmal ebenso verloren gefühlt, wie die Ich-Erzählerin, die offenbar an einer Angststörung leidet. Sie stellt Verbindungen zu dem Ereignis vor ihrer Geburt her, reelle und imaginäre, besucht Museen und vergleicht Orte und Landkarten, um das damals Geschehene besser zu erfassen. Innerlich fühlt sie sich dem jungen Mädchen immer näher. Hier musste ich viele Teile mehrmals lesen und habe ehrlich gesagt noch immer das Gefühl, nicht alles erfasst zu haben. Insgesamt gefiel mir aber diese Komplexität und auch die Idee, ein Ereignis zu erzählen und dann den Nachforschungen über dieses Ereignis zu folgen. Der Roman ist ein statement gegen Gewalt und die Willkür, die aus Kriegen entsteht. Ein hochspannendes Leseerlebnis.

Bewertung vom 17.07.2022
Aus unseren Feuern
Müllensiefen, Domenico

Aus unseren Feuern


sehr gut

2014. Heiko arbeitet als Bestatter in Leipzig. Sein Leben ist geprägt von seinem fordernden Chef und einem inneren Gefühl der Perspektivlosigkeit. Eines Tages bekommt er den Auftrag, ein Unfallopfer zu bergen und ins Bestattungsinstitut zu bringen. An der Unfallstelle muss er feststellen, dass es sich um seinen Jugendfreund Thomas handelt. Heiko fragt sich, ob es wirklich ein Unfall war, denn er weiß von einem Geheimnis, das Thomas und er geteilt haben und das auch jetzt noch gefährlich werden könnte.
Ausgehend von diesem Ereignis erinnert er sich an seine Jugend, die nach der Öffnung der Mauer keineswegs die großen Chancen und Möglichkeiten bot, die sich manche vielleicht erhofft haben. Die Menschen in Heikos Umgebung fühlen sich allein gelassen, oft auch herabgesetzt und eine gewisse Hoffnungslosigkeit breitet sich aus. Solange Heiko jedoch seine Freunde Thomas und Karsten hat, gibt es immer wieder gloriose Momente. Auch wenn seine Beziehung zu Jana zum Scheitern verurteilt scheint und die Arbeit als Elektriker alles andere als erfüllend ist.

Mich hat das Thema des Buchs sehr interessiert und dennoch musste ich mich ein wenig hindurchkämpfen, obwohl die Sprache sehr zugänglich ist. Die Figuren wirken greifbar, die Erzählstimme authentisch, viele Erfahrungen hat der Autor selbst gemacht. Aber die unterschwellige Hoffnungslosigkeit und auch Wut, die ich zwischen den Zeilen spürte, haben mir das Weiterlesen oft schwer gemacht. Der Titel „Aus unseren Feuern“ wirkt zunächst irreführend, er passt aber letztlich wunderbar, denn die drei Freunde, um die es geht, möchten etwas erschaffen oder zerstören. Und auch wenn das letztlich nicht wirklich gelingt, ist es doch etwas, das sie und ihre Geschichte prägt. Ein ungewöhnlicher Roman, dem es gelingt ein Lebensgefühl wunderbar einzufangen.

Bewertung vom 20.06.2022
Butter
Yuzuki, Asako

Butter


sehr gut

Essen, worauf man gerade Lust hat, kann in unserer Gesellschaft durchaus als Akt der Rebellion angesehen werden. In Japan, wo Schlanksein einen noch höheren Stellenwert hat, gilt das umso mehr. Auch die Journalistin Reiko erntet in ihrer Umgebung viel Missbilligung als sie zum ersten mal in ihrem Leben mit Appetit isst und zunimmt. Vielleicht ist Rika auch deswegen so fasziniert von Manako Kajii, die im Gefängnis sitzt, da sie im Verdacht steht, mehrere ihrer Liebhaber getötet zu haben. Sie hat Rika ein Interview gewährt und Rika ist vom ersten Augenblick an fasziniert von Kajii, die scheinbar der Erwartungshaltung der Gesellschaft trotzt. Aber ist Kajii wirklich die einnehmende Persönlichkeit, die sie vorgibt zu sein, oder eine manipulative Mörderin? Gerät vielleicht auch Rika in Gefahr?
Letztlich geht es in Asako Yuzukis „Butter“ um Selbstwert und darum, was man sich zugesteht oder verwehrt, um in einer Gesellschaft mit ganz bestimmten Anforderungen zu bestehen. Und es geht um einen Findungsprozess. Darum, wie man in einem System, das einem Selbstaufgabe für den Beruf abverlangt, trotzdem seinen eigenen Weg finden kann. Für Rika spielt das Kochen und das Entdecken von Gerichten und anderen Dingen, die ihr selbst gut tun, eine immer größere Rolle. Immer wieder wird deutlich, wie schwer es ihr gemacht wird, nicht dem Ideal zu entsprechen, das von einer Frau erwartet wird, nicht nur ihren Körper betreffend.
Es hat ein Weilchen gedauert, bis der Roman mich ganz in seinen Bann gezogen hat, doch dann habe ich die Geschichte von Rika und auch ihrer besten Freundin Reiko mit großem Genuss verfolgt. Mich hat der Blick auf die japanische Gesellschaft, in deren Toxizität ich auch vieles von unserer wiedererkannt habe, sehr bereichert.

Bewertung vom 20.06.2022
Singe ich, tanzen die Berge
Solà, Irene

Singe ich, tanzen die Berge


sehr gut

"Und dann begannen wir, Wasser zu vergießen, in Tropfen so groß wie Geldstücke, auf die Erde und das Gras und die Steine und der dröhnende Donner ließ allen Tieren den Brustkorb erbeben.“

Irène Solàs „Singe ich, tanzen die Berge“ ist eine wunderbare Symphonie vieler Stimmen. Hier erzählen die Regenwolken, ein Rehbock, ein Bär und die Erde selbst. Alle haben ihre eigene Wahrnehmung, ihre eigene Art zu erzählen. Aus vielerlei Perspektiven nehmen wir am Leben einer vom Schicksal gebeutelten Familie teil, die wir über mehrere Generationen begleiten. Aber nicht ihr Glück und ihre Todesfälle sind es, die im Vordergrund stehen, sondern das Leben selbst, im Einklang mit der Natur oder mit ihr als Antagonist. Jedes Kapitel ist eine neue Überraschung, muss zunächst erschlossen werden, damit klar wird, an welchem Punkt der Geschichte wir uns gerade befinden, denn nur selten wird stringent erzählt und Zusammenhänge erschließen sich oft erst im Nachhinein. Doch gleichzeitig wird beim Lesen immer klarer, dass es diese Stringenz gar nicht braucht, damit die Geschichte ihre Kraft entwickelt. Weder Berge, noch Wetter und Tiere messen der Zeit und ihrer Linearität die gleiche Bedeutung bei wie wir und das spiegelt sich im Roman wider.
Meiner Meinung nach ist Irene Solà hier ein großer Wurf gelungen, der zurecht den Europäischen Literaturpreis 2020 gewann. Ich bin verzaubert von der Lebendigkeit und Eindringlichkeit ihrer Sprache. Für meinen ganz persönlichen Geschmack hätten die Geschichte und die Charaktere noch etwas mehr im Vordergrund stehen dürfen, aber dennoch war es ein einmaliges Leseerlebnis, das ich sehr gerne mit Elloinor @1001books.and.more geteilt habe. Viele Kapitel hätte ich mir länger gewünscht, ganz besonders die, die aus nicht-menschlicher Sicht erzählt waren. Für mich ein Beispiel dafür, wie Naturphänomene fühlbar gemacht werden können.
Übersetzt wurde der Roman äußerst kunstvoll von Petra Zickmann. (OT: Canto jo i la muntanya balla)

Bewertung vom 09.06.2022
Die Lüge
Franko, Mikita

Die Lüge


ausgezeichnet

Eine Familie, das bedeutet im besten Fall Geborgenheit und Zusammenhalt. Auch Miki verbindet diese Gefühle mit seiner Familie. Und dennoch muss er lügen, wenn jemand ihn fragt, bei wem er aufwächst. Denn außer seinem Onkel Slawa, bei dem er lebt seit er vier ist und seine Mutter an Krebs verstarb, gibt es auch noch Slawas Lebensgrfährten Lew. Auf Grund der in Russland herrschenden Homophobie muss Mikis Familie eine Lüge leben. Sowohl die Beziehung der beiden Männer leidet darunter als auch Miki, der ständig Angst haben muss, sich zu verraten und damit seinen Eltern weggenommen zu werden. Es fällt ihm schwer, Menschen an sich heranzulassen und er bleibt oft ein Außenseiter, der sich seinen eigenen Weg suchen muss. Mit dem strengen Lew gibt es häufiger Konflikte, die sogar zu Misshandlungen führen, woran die Familie einmal fast zerbricht. Auch Miki hat mit seinen eigenen Aggressionen zu kämpfen, fühlt sich in der Zeit seines Heranwachsens oft allein und unverstanden und findet doch in seinem Zuhause immer wieder einen Hafen, der ihm Kraft gibt. Letztlich ist der Zusammenhalt zwischen den dreien stärker und sie bieten der oft feindlichen Welt die Stirn.
Franko hat einen mutigen Roman geschrieben, in dem es um Familie in all ihren Facetten und mit all ihren Schwächen geht. Deswegen kann meine Meinung nach jede*r etwas aus dieser Erzählung mitnehmen. Deutlich wird auch, wie vergiftend die Queerfeindlichkeit der Umgebung sich auf Miki und seine Väter auswirkt, wie ein ganzes System sich dadurch schwächt, dass es Menschen ausgrenzt und vorverurteilt. Ich habe unheimlich mit Miki gefühlt und habe es bewundert, wie die kleine Familien die mitunter riesigen Hürden nimmt, die ihnen gestellt werden. Ein Roman, der mich absolut begeistert hat. Ein eindringlicher Aufruf zu Akzeptanz und Menschlichkeit. Übersetzt von Maria Rajer.

Bewertung vom 03.06.2022
Wo die Wölfe sind
McConaghy, Charlotte

Wo die Wölfe sind


sehr gut

Nachdem mich Charlotte Mc Connaghys erster Roman „Zugvögel“ total überzeugt hatte, war ich extrem gespannt auf ihren zweiten. Und auch „Wo die Wölfe sind“ hat mich keineswegs enttäuscht.
Auch die Prämisse des Romans fand ich unglaublich spannend: Inti Flynn, eine extrem gute Fährtenleserin, die selbst mit ihrer Zwillingsschwester im Wald aufgewachsen ist, reist mit dieser und einer Gruppe von Experten in die schottischen Highlands, wo ein wildes Wolfsrudel angesiedelt werden soll. Allerdings stößt dieses Vorhaben bei den Bewohnern der umliegenden Dörfe auf wenig Gegenliebe. Diese haben Angst um ihr Vieh. Eine absolut aktuelle Debatte, die ja auch in Deutschland immer mal wieder geführt wird, wenn Wildtiere Nutzvieh reißen. Mit einem der Farmer legt Inti sich an und dieser verschwindet eines Tages spurlos.
Wieder einmal konnten mich die Sprache und der sehr eigene Stil der Autorin vollkommen überzeugen und besonders am Anfang hat mich die Geschichte in den bann gezogen. Die Landschaftsbeschreibungen sind wunderbar und geben einem das Gefühl, selbst neben der Erzählerin zu stehen. Ich mochte es auch sehr, wie die Beziehung zur Schwester dargestellt wurde und die Rückblicke, in denen ihr gemeinsames Aufwachsen in den Wäldern geschildert wird. Auch die Beschreibung der innigen Bindung, die Inti zu den Wölfen entwickelt fand ich absolut überzeugend.
Die Themen Natur- und Tierschutz sind natürlich hochaktuell und hier wiederum spannend aufbereitet, so dass der Roman zum Nachdenken anregt. Unwillkürlich stellt sich ein Bewusstsein dafür ein, wie zerstörerisch Menschen oft agieren, im privaten Raum, wie auch in der Natur. So wohnt dem Text eine ganz eigene Melancholie inne.
Am Ende ist mir dann aber fast ein wenig zu viel passiert und dennoch konnte für mich die Spannung vom Anfang nicht ganz gehalten werden. Stellenweise wurde es für meinen Geschmack fast etwas zu absurd.

Bewertung vom 02.06.2022
Skabelon
Rønning, Malin C. M.

Skabelon


ausgezeichnet

Für Urd ist der Wald, in dem sie zusammen mit sechs Geschwistern aufwächst, mehr als ein Zuhause. Er ist ihre Zuflucht, der Ort mit dem sie sich verbunden fühlt. Sie kann mit den Bäumen verschmelzen und ist den Käfern und Elchen näher als ihren Mitmenschen. In der Schule, der einzigen Verbindung mit der Zivilisation, die sie hat, fühlt sie sich fremd. Auch innnerhalb ihrer Familie, die kaum Geborgenheit und wenig Nähe kennt, ist sie eine Außenseiterin. Es ist Urds ungewöhnlicher Blick, durch den wir die Entwicklungen innerhalb der Familie erleben. Die Mutter, die sich im Wald wie eine Gefangene fühlt und nicht in der Lage scheint, ihren Kindern Wärme zu geben und für sie zu sorgen. Die Geschwister, die nach und nach fliehen. Der oft abwesende Vater und der zwielichtige Opa, mit dem die Mutter sich trifft.

"Die Schatten unter den Fichten gehören mir, und die Furchen, wenn sich das Wasser tief in die Erde gräbt und darin fließt. (S. 156)
Rønnings Sprache wohnt eine unglaubliche Kraft inne, wenn sie uns tief in die Gefühlswelt ihrer Erzählerin tauchen lässt, die Menschen mit Tieren vergleicht, um sie zu begreifen, die in der Schule fremd ist, wie eine Fledermaus. Während sie alles versteht, was im Wald passiert muss sie immer wieder mühsam Verbindungen herstellen, um zu begreifen, was in ihrer Familie vor sich geht. Der Zerfall kommt schleichend, und hilflos muss Urd erleben, wie alte Traumata und Geheimnisse dazu führen, dass ihre Familie sich immer mehr zersetzt. Manches bleibt im Unklaren, als würde es durch Dickicht hindurch erzählt. Und hierin liegt für mich auch ein Teil des Zaubers dieses ungewöhnlichen Romans.
Großes Lob an Andreas Donat für die Übersetzung und den Karl Rauch Verlag, der dieses Kleinod auf Deutsch herausgebracht haben.

Bewertung vom 02.06.2022
Reinheit
Greenwell, Garth

Reinheit


sehr gut

Wie in einem Taumel fällt man in die Welt des Ich-Erzählers, ein amerikanischer Lehrer, der in Sofia arbeitet. Im postsozialistischen Bulgarien können schwule Beziehungen nur im Geheimen gelebt werden. Ganz tief lässt einen Garth Greenwell in die Gedanken seines jungen Protagonisten eintauchen, lässt einen teilhaben an seiner zärtlichen Liebe zu dem Studenten R., die trotz der großen Zuneigung, die zwischen den beiden besteht, keine Zukunft haben kann. Auch sein Begehren und seine Sehnsüchte werden offen dargelegt und wir erleben, wie er es genießt sich beim Sex zu unterwerfen, sich erniedrigen und Gewalt antun zu lassen bei flüchtigen SM Begegnungen. Pornographische Darstellungen stehen im Roman im Kontrast zu den von großer Zuneigung zeugenden Beschreibungen seines Geliebten R. Dies geschieht mit einer großen erzählerischen Kraft, die einen die Momente wie am eigenen Leib erleben lässt, die Situationen minutiös wiederzugeben vermag. Und dennoch ist da eine letzte Schwelle, eine Distanz, die ich als Lesende nicht überschreiten konnte. Fast so als würde der Erzähler stets ein letztes Geheimnis für sich bewahren. Das hat dazu geführt, dass ich ihn unbedingt verstehen wollte, unbedingt mehr erfahren wollte über seine Beweggründe, seine Vergangenheit. Aber wir bekommen nur einzelne Szenen, die Augenblicke, an denen er entscheidet, uns teilzuhaben lassen. Genau darin lag für mich aber auch die große Anziehungskraft dieses Buches.
Für mich hat es sich angefühlt, als würde ich einen Menschen, der mich fasziniert näher kennenlernen und versuchen, seine Persönlichkeit in dem Kaleidoskop aus Erlebnissen, die er mir mitteilt zusammenzusetzen.
Für mich eine faszinierende Leseerfahrung und ich freue mich jetzt schon auf „Was zu dir gehört.“ Ich habe das Hörbuch auf Englisch gehört und einige Kapitel auf Deutsch gelesen und bin sehr begeistert von der Übersetzung von Daniel Schreiber.